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{"created":"2022-01-31T16:36:15.227053+00:00","id":"lit32817","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lummer","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 34: 52-59","fulltext":[{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nLiteraturbericht.\nLeo K\u00f6niosbekoer. Hermans tos Helmholtz. Braunschweig, Vieweg & Sohn. I 1902, 375 S., 10 Mk.; II 1903, 383 S., 10 Mk.; Kt 1903, 142 S.\n\u201eWer einmal mit M\u00e4nnern ersten Ranges in Ber\u00fchrung gekommen ist, dessen geistiger Mafsstab ist f\u00fcr das ganze Leben ver\u00e4ndert\u201c, so \u00e4ufserte Hermann von Helmholtz 1891 in seiner Dankrede an seinem 70j\u00e4hrigen Geburtstage. Ihm bl\u00fchte dieses Gl\u00fcck, als er zu den F\u00fcfsen von Johannes M\u00fcller safs, dem Begr\u00fcnder der Empirie auf dem Gebiete der Physiologie, dem genialen Sch\u00f6pfer der Lehre von den spezifischen Sinnesenergien. Auch Alexander von Humboldt durfte Helmholtz zu seinen G\u00f6nnern z\u00e4hlen.\nWie viel mehr gilt jenes Wort f\u00fcr die Gl\u00fccklichen, wrelche bei dem gr\u00f6fsten deutschen Naturforscher in die Lehre gehen und gar ihm menschlich n\u00e4her treten durften.\nGleichviel wie weit man ihm auf seinem geistigen Fluge folgen konnte, sicher ist es, dafs uns Sch\u00fclern seine ideale Weltauffassung, welche dem Streben nach dem Erhabenen, dem Sch\u00f6nen, dem Wahren alles Irdische unterordnete, voranleuchten wird auf unserem ganzen Erdenwege. Die Verehrung aber und die aufrichtige kindliche Liebe zu Helmholtz, dem Menschen, d\u00fcrfte li\u00f6clistens noch \u00fcbertroffen werden durch die staunende Bewunderung seines Genies.\nIn unseren ersten Semestern freilich hatten auch wir noch keine Ahnung von der Bedeutung dieses Meisters. Ja, ich mufs zu meiner Schande gestehen, dafs sein Ruhm uns nicht hinderte, \u00fcber ihn zu raisonnieren. Erlaubte Helmholtz eich doch in einem auch f\u00fcr Mediziner bestimmten Experimentalkolleg mathematische Exkursionen \u00fcber das Potential und die Niveaufl\u00e4chen, die selbst uns \u201eMathematikern\u201c im ersten Semester schleierhaft blieben! Ach, wie leerten sich da die B\u00e4nke, wie lichteten 6ich da die Reihen, um erst zur Zeit des Testierens zur anf\u00e4nglichen \u00dcberf\u00fclle wieder anzuschwellen!\nErst in sp\u00e4teren Semestern lernten wir den Wert der HELMHOLTZschen Art ganz kennen und sch\u00e4tzen, aus sich heraus die Lehren der Physik stets wieder neu zu entwickeln und bis zur \u00e4ufsersten Tiefe zu dringen, welche die Darstellung ohne mathematisches R\u00fcstzeug erlaubte.\nWie sehr Helmholtz sich abm\u00fchte, die popul\u00e4re Form zu finden, um auch die neuesten Erkenntnisse (damals die Lehren der mechanischen","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturberich t.\n53\n\u2019W\u00e4rmetheorie und kinetischen Gastheorie) in seinem Experimentalkolleg darzulegen, weifs ich aus meiner Zeit als Vorlesungsassistent.\nAls solcher wurde mir \u00fcbrigens das einst zum Teil geschw\u00e4nzte Kolleg geradezu zum Genufs und angesichts des immer leerer werdenden H\u00f6rsaals konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, wie schade es sei, dais ein Meister wie Helmholtz f\u00fcr erste Semester und angehende Mediziner lesen m\u00fcsse.\nUm die Bedeutung von Helmholtz und seine geniale Eigenart nur einigermafsen w\u00fcrdigen zu k\u00f6nnen, dazu geh\u00f6rt unbedingt das tiefe Studium und Verst\u00e4ndnis seiner Schriften. Und wie merkw\u00fcrdig: Je mehr man in der physikalischen Erkenntnis weiterschreitet, um so ragender wird der Fels, anf dem er einsam thronte, um so heller leuchtet der Stern seines Genies.\nIn uns J\u00fcngeren, die wir ihm als anerkannten F\u00fchrer begegneten, hatte sich fast der Glaube eingenistet, als ob dieser gewaltige Meister fertig vom Himmel hernieder gestiegen sei.\nDenn je l\u00e4nger und n\u00e4her man Helmholtz kennen und verstehen lernte, um so reiner strahlte sein Bild der Vollkommenheit.\nFrei von menschlichen Schw\u00e4chen, war Helmholtz ausger\u00fcstet mit den edelsten Tugenden des Herzens und von wahrhaft vornehmer Gesinnung. Zur Bescheidenheit und nachsichtigen Milde des wahren Genies gesellte sich die abgekl\u00e4rte Ruhe des Philosophen. Wenn sein verkl\u00e4rtes Auge weitabgewandt in das Unendliche schaute, gleich als ob es g\u00e4lte, der Wahrheit letzten Grund dort draufsen weit ab vom subjektiven Scheine zu suchen, da wuchs er zum Bilde der Wahrheit selbst. Mit diesem weitabgewandten Blick schritt er sinnend, wenn er im Tiergarten sich nach des Tages M\u00fchen erholte, so schaute er beim Dozieren und auch beim leichteren Salongespr\u00e4ch weilten seine Blicke in unendlicher Ferne.\nEtwas Goethe-\u00c4hnliches lag im ganzen HELMHOLTzschen Wesen und Ausdruck. Und wie man bei Goethe die Jugendwerke kaum minder sch\u00e4tzen m\u00f6chte als seine reifsten Sch\u00f6pfungen, so tr\u00e4gt bei Helmholtz das Werk des 26j\u00e4hrigen Eskadronchirurgus den Stempel des geborenen, gottbegnadeten Genies und w\u00e4re wert das letzte Glied in der Kette seiner genialen Sch\u00f6pfungen zu bilden. Wie bei den GoETHEschen Werken, so kann man sich auch beim Studium der HELMHOLTzschen Schriften schwer vorstellen, dafs diese beiden Geistesheroen je Werdende gewesen sind. Und wenn man, wie wir J\u00fcngeren, einem solchen Heros in seiner ganzen Reife und auf dem h\u00f6chsten Gipfel des Ruhms begegnet, so keimt und w\u00e4chst ein brennend Verlangen, seinen Werdeprozefs und Entwicklungsgang von fr\u00fchester Jugend auf genauer kennen zu lernen, als er in den Jahreszahlen der Geburt und seiner verschiedenen Schriften zum Ausdruck kommt. Denn so nahe ich Helmholtz dienstlich und menschlich auch treten durfte, all den still im Innersten sich t\u00fcrmenden Fragen und W\u00fcnschen ward keine Antwort ! Im allgemeinen wortkarg und auch bei heiterer Geselligkeit meist nur froh l\u00e4chelnd, mehr nehmend als gebend, geriet Helmholtz erst bei einer rein sachlichen Diskussion in W\u00e4rme, Nie aber habe ich ihn von pers\u00f6nlichen Dingen reden h\u00f6ren, noch h\u00e4tte ich jemals gewagt, ihn darnach zu fragen. So blieb den meisten das Leben des jungen Helmholtz auch nach seiner herrlichen Rede","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nLiteraturbericht.\nzum 70j\u00e4hrigen Geburtstage ein Buch mit 7 Siegeln und als der unerwartete Tod ihn j\u00e4h une entrifs, da fragten wir bangend, ob je wohl der Schleier gelichtet w\u00fcrde.\nGl\u00fccklicherweiee ist diese Bef\u00fcrchtung gehoben, seitdem das vorliegende Werk Leo K\u00f6nigsbergers erschienen ist, in welchem der langj\u00e4hrige Freund in schlichter Weise das Leben und die Sch\u00f6pfungen des grofsen Meisters schildert und im Zusammenhang damit viele Briefe und Aufzeichnungen aus der Jugendzeit und dem reiferen Mannesalter wiedergibt Wie dem Schreiber dieser Reminiszenzen, so ist es dem Autor der dreib\u00e4ndigen Biographie ergangen : hell lodert die Begeisterung f\u00fcr den genialen Forscher und warm schl\u00e4gt das Herz f\u00fcr den trotz seiner beispiellosen Erfolge immer bescheidenen, von jeder Eitelkeit freien Menschen Helmholtz. Dank dem noch vollst\u00e4ndig vorhandenen Briefwechsel zwischen dem jungen Helmholtz und seinen Eltern, erhalten wir einen tiefen Einblick in den Entwicklungsgang unseres Meisters von den J\u00fcnglingsjahren an und auch aus der Sch\u00fclerzeit sind manch wichtige Dokumente vorhanden. Von den drei B\u00e4nden behandelt der erste die Zeit von der Geburt 81. Aug. 1821 bis zum Jahre 1861 seiner Verheiratung mit Anna von Mohl, der zweite umfafst die Jahre 1861 bis 1887, der dritte die letzte Lebensjahre, in denen Helmholtz ale Pr\u00e4sident der Physik. Techn. Reichsanstalt eine so segensreiche T\u00e4tigkeit entfaltete.\nWie ein Roman liest sich der erste Band und staunend bewundert man den logisch nnd harmonisch nach ehernen Regeln sich abspielenden Werdeprozefs dieses Genies. Welche Anh\u00e4ufung von Geist und F\u00e4higkeiten in einem Hirn, welche Summe von Tugenden in einer Seele! Wie mit Naturnotwendigkeit der sprudelnde Giefsbach talabw\u00e4rts fliefst und auf \u2022einem Wege alle Hindernisse siegreich nimmt, um als immer m\u00e4chtiger anschwellender Strom im breiten Bett dem Meere sich zn verm\u00e4hlen, so sucht dieser junge Titane, von unwiderstehlichem Wahrheitsdurst und Tatendrang getrieben, im wirren Gestr\u00fcpp scheingl\u00e4nzender Metaphysik seinen eigenen Pfad, Vorurteile umstofsend, und neue Werte pr\u00e4gend. Alles bezwingend formt er in seiner Hand jeden fragenden Gedanken zu einer neuen Frucht des Baumes der Erkenntnis. Von fr\u00fcher Jugend ein hehser Bewunderer der g\u00f6ttlichen Natur, schenkt er liebevoll seine Aufmerksamkeit den unscheinbarsten Vorg\u00e4ngen, sucht er auch der geringf\u00fcgigsten Frage die Antwort. Aber als ob er mit Seherblick begabt, l\u00f6st sich ihm jede unscheinbare Frage auf in die Erkenntnis neuer, gewaltiger Gesetze, welche oft ganze Gebiete umfassen. Die gl\u00fcckliche Vereinigung des sch\u00e4rfsten Beobachtungstalentes mit logisch mathematischem Denken l\u00e4fst unseren Meister stets nur solche Probleme erfassen, deren Durchf\u00fchrung m\u00f6glich und aussichtsreich ist. Nur so erkl\u00e4rt sich die ungeheuere Fruchtbarkeit bei der aufreibenden amtlichen T\u00e4tigkeit. Seinem ausgesprochenen Talent f\u00fcr Musik, seiner Begeisterung f\u00fcr die edlen Sch\u00f6pfungen der Kunst aber verdanken wir seine grundlegenden Studien \u00fcber die Musik und Malerei.\nMit der beim Lesen der Biographie immer mehr -wachsenden Bewunderung f\u00fcr den geliebten Meister sinkt nur zu sehr die Wertsch\u00e4tzung des eigenen Schaffens. Um so wohltuender ist die Erinnerung an die Freude, welche Helmholtz auch \u00fcber den kleinsten experimentellen Fort-","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturberieht.\n55\nschritt empfand und an die Herzensg\u00fcte, mit der er auf den h\u00f6chsten H\u00f6hen menschlichen Ruhms auch das Schaffen der Kleinen anerkannte.\nWer h\u00e4tte geahnt, dafs dieser abgekl\u00e4rte Forschergeist und Philosoph einst Sinn f\u00fcr lustigheiteres Possenspiel besessen, httbsche Poesien f\u00fcr junge M\u00e4dchen gedichtet and in keckem \u00dcbermut die Schw\u00e4chen der Mitwelt geschildert? Das vorliegende Werk ist ein gl\u00e4nzendes Denkmal, das sich Helmholtz selbst errichtet hat! Dem Verf. aber ist Gl\u00fcck zu w\u00fcnschen, dafs es ihm gelungen ist, bei aller Gr\u00fcndlichkeit der Darlegung der HsuraoLTzschen und der zeitgen\u00f6ssischen Bestrebungen seinem Werke den Stempel der Autobiographie aufzudr\u00fccken und das dokumentarische Gepr\u00e4ge zu wahren. Und wenn, wenigstens f\u00fcr die speziell Interessierten, die Inhaltsangaben der HamtHOi/rcschen Arbeiten vielleicht etwas zu ausf\u00fchrlich sein d\u00fcrften, so wollen wir uns doch freuen, dafs wir so schnell in den Besitz einer so wertvollen und ergiebigen Biographie gelangt sind, welche sicher den Anstofs bilden d\u00fcrfte zu einer Reihenfolge neuer Biographien, sei es mehr pers\u00f6nlicher Art, sei es mehr wissenschaftlicher Natur. Denn noch lange ist das Bild des groisen Meisters nicht ann\u00e4hernd ersch\u00f6pfend gezeichnet; auch vermag ein einzelner dieses gewaltige Genie nicht zu umspannen, nm alle seine Taten in das hellste Licht zu r\u00fccken.\nHelmholtz war ein gottbegnadetes Menschenkind, dem alle Musen reiche Gaben in seine Wiege gelegt hatten. Nicht blind waltender Zufall spielt bei der Entwicklung dieses seltenen Lebens mit, sondern die Entfaltung und folgerichtige Anwendung gl\u00e4nzender Geistesgaben werden die Quelle der Erkenntnis, mit welcher Helmholtz die Wissenschaft bereichert hat. Aber nicht weil er mit seinem Pfunde wuchern wollte, wird er zum irr\u00f6fsten F\u00f6rderer empirischen Wissens, sondern weil er nicht anders kann, sucht er das Sein vom Schein zu trennen, mnfs er der ewigen Wahrheit, dem Gesetz in der Erscheinungen Flucht nachsp\u00fcren. In seiner grofsen Bescheidenheit und Wahrheitsliebe bekennt er sich selbst einmal zu dieser Meinung. Denn als man ihn an seinem 70j\u00e4hrigen Geburtstage als \u201eWohlt\u00e4ter der Menschheit\u201c preist und hierdurch seinem Wirken und Schaffen einen Zweck unterschiebt, erkl\u00e4rt der Gefeierte, dafs er bei seinen Arbeiten niemals an die Menschheit gedacht und stets nur die Antwort auf eine in ihm aufgestiegene Frage zu finden gesucht habe.\nEin helles Schlaglicht auf seine edlen Herzenseigenschaften und auf sein liebevolles Wesen wirft die tiefe Verehrung f\u00fcr seinen Vater und das ideale Freundschaftsband, das eng ihn umschlang mit den gleichstrebenden j\u00fcngeren Physiologen du Bois - Reymond, Br\u00fccke und Ludwig. Besonders hat sich Emil du Bois-Reymond ein bleibendes Denkmal errichtet durch seine stets neidlose Anerkennung der \u00dcberlegenheit und Genialit\u00e4t des j\u00fcngeren Freundes, durch seine Selbstlosigkeit, mit der er Helmholtz zu st\u00fctzen und zu f\u00f6rdern sucht. Unvergessen in der Geschichte wird ihm sein Verdienst bleiben, mit wahrer Seherkraft die enorme und allumfassende Bedeutung schon des ersten Entwurfs vom Gesetz der Erhaltung der Kraft erkannt zn haben. Wer objektiv und nicht voreingenommen die Entwicklung der \u00dcELMHOLTzschen Ideen von seinen ersten Arbeiten (1842) an verfolgt, erkennt wieder von neuem, wie geh\u00e4ssig alle jene Angriffe gegen Helmholtz","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nLiteraturbericht.\nsind, welche bezwecken, sein Verdienst um dieses gr\u00f6fste naturwissenschaftliche Gesetz zu schm\u00e4lern. Ebenso sicher wie Helmholtz Robert Mayers Verdienste stets und r\u00fcckhaltslos anerkannt hat, ebenso zweifellos ist es, dafs die HELMHOLTzschen Ideen zur Auffindung dieses Gesetzes fast in die Zeit zur\u00fcckreichen, wo Robert Mayers erste Publikation in den Annalen der Chemie erfolgte, von der weder einer der Freunde noch Helmholtz als Eskadronchirurgus in Potsdam eine Ahnung gehabt haben d\u00fcrfte. Aber abgesehen davon, geb\u00fchrt von der Nachwelt vor allem demjenigen der Dank und die Palme, der das Gesetz zuerst exakt formuliert und seine allgemeine Bedeutung f\u00fcr alle Naturvorg\u00e4nge klar erkannt hat. Und wenn neuerdings sogar versucht wird, Helmholtz, den reinen Empiriker, ala Metaphysiker hinzustellen, so richtet sich ein solches Verfahren von selbst. Sapienti sat! Auch in dieser Beziehung d\u00fcrfen wir uns des vorliegenden Werkes erfreuen, da es sicher kl\u00e4rend wirkt.\nAuch den Vater des Meisters lernen wir als einen charaktervollen,, sympathischen und zielbewufsten Menschen kennen. Selten wohl hat Vater und Sohn ein so eigenartiges, auf gegenseitige Duldsamkeit gegr\u00fcndetes Verh\u00e4ltnis verbunden wie Helmholtz Vater und Sohn. Selten hat ein Sohn soviel Anregung empfangen und Anleitung erhalten von seinem geistig ebenfalls hervorragenden und begabten Vater wie er.\nWar der Sohn gezwungen, das Studium der Medizin in Kauf zu nehmen, um die von ihm erkorenen Naturwissenschaften studieren zu k\u00f6nnen, so gab der liberal denkende und der Philosophie mit Leib und Seele ergebene Vater wegen schwerer Seelenk\u00e4mpfe das Studium der Theologie auf und w\u00e4hlte als Brotstudium die klassische Philologie. Ein Idealist durch und durch ist Helmholtz Vater so von der philosophischen Weltanschauung durchdrungen, dafs er mit aller Beredsamkeit den auf experimenteller Bahn schreitenden Sohn Hermann von diesen ihm ver\u00e4chtlich erscheinenden und nach seiner Meinung irreleitenden empirischen K\u00fcnsten abzubringen sucht. Es ist ein merkw\u00fcrdiges Schauspiel zu sehen, wie in einer Familie, im Vater und Sohn, zwei Weltanschauungen hart aufeinanderstofsen und grofs ist die Entt\u00e4uschung des Vaters, dafs der Sohn bei aller Liebe und kindlichem Respekt auf der absch\u00fcssigen Bahn der Empirie unbeirrt weiterschreitet.\nEs entbehrt nicht der Komik, wenn man sieht, dafs der Vater erst dann von seinen Bekehrungsversuchen abl\u00e4fst, als sein 27j\u00e4hriger Sohn die ordentliche Professur in K\u00f6nigsberg mit 800 Talern Gehalt erh\u00e4lt, eine Summe, wie er sie als Gymnasialprofessor erst nach einer recht langen verdienstvollen Wirksamkeit erreicht hat. Eine wissenschaftliche Richtung mit solch \u00e4ufseren Erfolgen verdient doch wohl mindestens ernste Beachtung!? Und w\u00e4hrend in den letzten Jahren der pers\u00f6nliche Verkehr zwischen Vater und Sohn nur selten einen Austausch der Ideen \u00fcber des Sohnes Ziele und Arbeiten gestattete und fast zu bedenklicher Spannung gef\u00fchrt hatte, entbrennt jetzt im Vaterherzen der sehnlichste Wunsch, an allen Pl\u00e4nen und Ideen seines grofsen Sohnes den regsten Anteil nehmen zu d\u00fcrfen. Diesem v\u00e4terlichen Wunsche verdanken wir den hochinteressanten Briefwechsel zwischen Vater und Sohn, der sich \u00fcber einen Zeitraum von 10 Jahren erstreckt und einen tiefen Einblick in die Geisteswerkstatt","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Li ter a tu rberich t.\n57\nunseres grofsen Forschers gestattet. Dieser Briefwechsel geh\u00f6rt m. E. mit zum Sch\u00f6nsten, was die physikalische Literatur aufzuweisen hat. Wohl tadelt der Vater anfangs noch \u00f6fter den Stil und findet die Klarheit des popu* l\u00e4ren Vortrags nicht gen\u00fcgend, aber er beugt sich der Autorit\u00e4t seines Sohnes, sucht durch ihn Belehrung und wird bald sein begeistertster Bewunderer.\n\u201eM\u00f6ge Gott Dich immer mehr zu einem reichen Propheten der Wahrheit und einem Mehrer der Erkenntnis machen, damit Du nicht vergebens f\u00fcr die ewige Menschheit gelebt habest, sondern als einer ihrer Eckpfeiler f\u00fcr ewig auf Erden lebest, dann tr\u00f6ste ich mich gern, dafs mein Leben so resultatlos vor\u00fcbergegangen ist. Gott erhalte Dir und den Deinen Gesundheit und g\u00f6nne Dir fort und fort eine \u00e4ufsere Lage, die Dein geistiges Leben immer mehr f\u00f6rdert nach seiner Weisheit.............\u201c\nNeben dem begreiflichen Wunsche des pekuni\u00e4ren Wohlergehens (Helmholtz Vater wufste, was f\u00fcr Sorge der Mangel an gen\u00fcgenden Mitteln einem Familienvater mit sich bringt), welche Resignation, welch\u2019 herrlicher Idealismus I Und doch wird Helmholtz Vater hierin noch \u00fcbertroffen durch Helmholtz den Sohn.\nWar da ein junger talentvoller, mir bekannter Privatdozent, welcher an seinem Beruf zur reinen Wissenschaft irre wurde und seinem Vater erkl\u00e4rte, lieber ins praktische Leben treten zu wolleii. Vom Vater befragt, schreibt Helmholtz zur\u00fcck, er m\u00f6ge seinen Sohn der Wissenschaft erhalten, denn wenn er selbst ungl\u00fccklich werden sollte, so wird er sicher der Wissenschaft noch manchen wichtigen Dienst erweisen. Kann man in der Aufopferung des einzelnen zugunsten der Vielheit weitergehen?\nHoch \u00fcberm niedern Erdenleben baut sich des genialen Geistes Gl\u00fcck 1 Wohl fand Helmholtz mitten in seiner geistigen Sturm- und Drangperiode Zeit und Mufse sich zu verloben und nach erlangter Professur in K\u00f6nigsberg zu heiraten. Und wie er ein Mustersch\u00fcler und ein Musterz\u00f6gling an der milit\u00e4r\u00e4rztlichen Bildungsanstalt gewesen ist, so darf er auch als ein Musterehemann hingestellt werden, sowohl in seiner ersten, so \u00fcberaus z\u00e4rtlichen Ehe mit Olga von Velten als auch in seiner begl\u00fcckenden Verbindung mit der geistig hochbegabten Tochter Roberts von Mohl. Aber auch die Ehe war ihm eine St\u00e4tte vor allem, an der er ruhig seinen Idealen nach gehen konnte. \u201eIch gratuliere Ihnen von ganzem Herzen\u201c4 sagte er, als ich ihm meine Verlobung mitteilte, \u201eSie haben ja eine Stellung, worauf man heiraten kann ; heiraten Sie, denn es ist doch nur die Ehe, in der man am ruhigsten arbeiten kann.\u201c\nUnd er hatte das grofse Gl\u00fcck, in Anna von Mohl eine Frau gefunden zu haben, die von tiefer Verehrung f\u00fcr ihren Gatten erf\u00fcllt war, an seinen Bestrebungen den regsten Anteil nahm und stets sich bem\u00fchte, die allt\u00e4glichen Dinge von ihm fernzuhalten. Ihr heiteres und warmes Temperament blieb nicht ohne R\u00fcckwirkung auf seine oftmals allem Irdischen entr\u00fcckte Denkerseele. Durch ihre energische und widerstandsf\u00e4hige Natur bewirkte sie, dafs die ununterbrochene Sorge um die geistige und k\u00f6rperliche Entwicklung der von Geburt an einem fr\u00fchen Tode geweihten S\u00f6hne Robert und Fritz das Gem\u00fct des geliebten Mannes nicht verd\u00fcstere. Und als dann die Katastrophe eintrat und der talentvolle Robert seinen Gebrechen","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nLiteraturbericht.\nerlag\u00bb da war es Helmholtz, der diesen herben Verlust mit stoischer Ruhe zu tragen wufste, w\u00e4hrend Frau von Helmholtz in ihrer tiefen Traurigkeit kaum ihres Mannes Ruhe zu begreifen vermochte. Wie klar wnrde ihr da, was die gottbegnadeten Geister vor den anderen Sterblichen auszeichnet. Wo diese vom Ungl\u00fcck zu Boden geschmettert werden, heben sich jene hoch \u00fcber alles menschliche Elend hinweg, indem sie arbeiten und schaffen und sich eine ideale Welt errichten. Bei diesen Grofsen der Erde besteht das wahre Gl\u00fcck in der Freude am Gestalten und Schaffen!\nWenn Helmholtz abends sp\u00e4t am Schreibpult stand, um oft nach des Salons anregendem und heiterem Spiel in seine Gedankenwelt sich zu vertiefen, da lagerte ein ernster Zug erhabener Gl\u00fcckseligkeit \u00fcber seinem sch\u00f6nen Antlitz, wie ihn Lenbach in einem seiner Portr\u00e4ts festzuhalten gesucht hat. Was uns \u00fcbermenschliche Anstrengung erscheint, ihm bedeutet es Erholung und Genufs. Oder grenzt es nicht an das Unglaubliche, dafs er sich bei seinen Studienjahren in der Pause nach dem Mittagessen, wo andere Sterbliche dem tr\u00e4gen Nichtstun verfallen, die M\u00fcdigkeit durch das Studium rein mathematischer Schriften vertreibt? Zu solcher Leistung kann sich ein Mensch nicht zwingen. Nur dem geborenen mathematischen Genie war es Bed\u00fcrfnis und Erholung zugleich, mathematisch zu denken. Und wenn auch der \u00fcberanstrengte K\u00f6rper oft zusammenbrechen will, der Geist und der eiserne Wille befl\u00fcgeln die Kr\u00e4fte immer von neuem.\n\u201eMens sana in corpore sano\u201c bei Helmholtz will mir scheinen, als ob der gesunde und grofse Geist den von Geburt schw\u00e4chlichen K\u00f6rper gez\u00fcgelt und gefestigt habe. Von unl\u00f6schbarem Durst zur Wissenschaft getrieben, entwickelt er einen eisernen FleifB und mehrmals stellen sich Migr\u00e4ne- und Ohnmachtsanf\u00e4lle als Folgen ein. Aber auch diese werden \u00fcberwunden wie sp\u00e4ter die herbsten Schicksalsschl\u00e4ge, und der in der Jugend zarte und schw\u00e4chliche K\u00f6rper entwickelt sich mit der Zeit zu jener sympathischen, ebenm\u00e4fsigen Gestalt mit dem edel geschnittenen Haupte, welchem die hohe Denkerstirn und der tiefe Ausdruck der Augen den Stempel der Genialit\u00e4t aufgedr\u00fcckt hat. Aber so sehr sich sein K\u00f6rper auch st\u00e4rkt, wenn der Geist seinem Fluge ins Reich des Idealismus folgen darf, die Zeit der Erholung wird mit zunehmender Ber\u00fchmtheit immer k\u00fcrzer, die Last der Gesch\u00e4fte als Direktor des physikalischen Instituts und Universit\u00e4tsprofessors zu Berlin immer gr\u00f6fser. Da noch einmal verj\u00fcngt sich seine Kraft, und sein Gem\u00fct belebt sich zu fast jugendlicher Frische, sein Geist zu k\u00fchnen Taten, als er zum Pr\u00e4sidenten der physikalisch-technischen ReichsanBtalt berufen wird (1888), wo er endlich frei von den Fesseln zeitraubender Examina und popul\u00e4rer experimenteller Vorlesungen sich mehr seinen wissenschaftlichen Problemen hingeben darf.\nAVer h\u00e4tte da geahnt, dafs dieser r\u00fcstige Siebziger so bald von uns gehen sollte!\nDas Schicksal hat ihn in der Vollkraft seines Schaffens abgerufen. Von Amerika, wohin er trotz vieler Bitten ging, \u201eda die Regierung ihn doch schicke\u201c, kam er als ein k\u00f6rperlich gebrochener Mann zur\u00fcck. Ein Sturz auf dem Schiff hatte seine Gesundheit bedenklich ersch\u00fcttert. Aber noch einmal bezwingt","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n59\nder Geist den K\u00f6rper und trotz aller Warnungen der \u00c4rzte, schon den Todeekeim im Herzen, h\u00e4lt er seine geistreichen, gr\u00fcndlichen und anziehenden Vorlesungen \u00fcber theoretische Physik. Wie ein Feldherr in der Schlacht, so f\u00e4llt er in der Aus\u00fcbung seiner ihm lieb gewordenen Pflicht\nNoch auf dem Sterbebette war sein Geist mit ernsten Problemen besch\u00e4ftigt, als ob ihm noch im letzten Moment die L\u00f6sung einer ihn lange besch\u00e4ftigenden Frage gelingen m\u00fcfste. Es war zu sp\u00e4t, denn seine Kr\u00e4fte verliefsen ihn, da er die vermeintliche L\u00f6sung diktieren wollte und so schied sein Geist, eine ganze Welt mit sich begrabend. Nacht ward es ringsumher! Hellstrahlend aber wird uns immer voranleuchten der Stern des Idealismus, dem unser unvergefslicher Meister bei seinem Suchen nach der Wahrheit bis zum letzten Atemzuge treu geblieben ist.\nL\u00fcmmkr (Berlin).\nRobbst Eisler. Stadien zur Werttheorie. Leipzig, Duncker & Hnmblot, 1902.\n112 S.\nVerfasser, der auf dem Standpunkte des \u201e\u00d6konomieprinzipes\u201c steht, versucht demgem\u00e4fs gegen\u00fcber der bisherigen eine rein biologische, psychologiefreie Auffassung der Wertph\u00e4nomene.\nDie Werttheorie ist ihm die Philosophie der historischen Tatsachen, d. h. die Zur\u00fcckf\u00fchrung des durch eine Tatsache und ihre Vergangenheit gebildeten Verlaufes auf die einfachsten \u201eFunktionalbeziehungen11. In diesen Verlauf ist bei Wertungen allemal ein biologischer Faktor \u201eeingeschaltet11, der sich in den \u201egenerellen Funktionsformen\u201c (einer endlichen Anzahl organisch bestimmter konstanter Reaktionen, die dem \u201ePrinzip der organischen Selbsterhaltung\u201c folgen) \u00e4ulsert. Die verschiedene Ausbildung der den generellen Funktionsformen entsprechenden \u201ePartialsysteme\u201c folgt dem Gesetz der Anpassung durch \u00dcbung (f{S) -f- f(R) = 0, Avenaeius\u2019 Einflufs der historischen Vergangenheit). Die organische Selbsterhaltung ist die m\u00f6glichste Ann\u00e4herung der Organismen als \u201eenergetischer Systeme\u201c an einen bestimmten dynamischen Gleichgewichtszustand. Reaktionsformen, die einer solchen Ann\u00e4herung hinderlich w\u00e4ren, k\u00f6nnten \u2014 als Quellen des Energieverlustes \u2014 nie generelle werden.\nPositiv oder negativ \u201ebewertet\u201c erscheint nun eine Erscheinungskomplexion dann, wenn ihre Verwirklichung durch die T\u00e4tigkeit eines biologischen Faktors (\u201evoluntativ\u201c) gef\u00f6rdert oder gehemmt wird. Jede \u201eEndlage\u201c ist ihrer \u201eAnfangslage\u201c gegen\u00fcber positiv bewertet. Absoluter Wert liegt dort vor, wo die Endlage auf eine Anfangslage bezogen wird, die als Endlage rein negativ (als non-a) determiniert w\u00e4re. \u2014 Die Gr\u00f6fse der \"Werte l\u00e4fst sich bestimmen, da der \u201eEntschlufs\u201c durch die \u201eMotive\u201c ebenso bestimmt wird, wie physikalisch eine Bewegung durch ihre Komponenten. Sind die Richtungen aller bekannt, dann lassen sich daraus (f\u00fcr gewisse F\u00e4lle; die Gr\u00f6fsen entnehmen, zun\u00e4chst durch die Methode der Wahl zwischen zwei Objekten, von denen immer nur eines realisierbar ist, dann mittels einer auf einen Speziallfall des vorigen verwendbaren Methode, die der Autor als \u201eobwohl f\u00fcr experimentelle Zwecke von geringerem Belang, doch zur Durchbildung der Werttheorie im allgemeinen von h\u00f6chster Bedeutung\u201c (sic!) bezeichnet, n\u00e4mlich der Werte, welche nur durch Arbeit","page":59}],"identifier":"lit32817","issued":"1904","language":"de","pages":"52-59","startpages":"52","title":"Leo K\u00f6nigsberger: Hermann von Helmholtz. Braunschweig, Vieweg & Sohn. I 1902, 375 S.; II 1903, 383 S.; III 1903, 142 S.","type":"Journal Article","volume":"34"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:36:15.227059+00:00"}