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{"created":"2022-01-31T16:32:41.534601+00:00","id":"lit32857","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Piper, H.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 34: 141-143","fulltext":[{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"141\nLiteraturbericht.\nAdolf Str\u00fcmpell. \u00dcber die St\u00f6rungen der Bewegung bei fest vollst\u00e4ndiger An\u00e4sthesie eines Armes dnrch Stichverletxnng des R\u00fcckenmarkes. Deutsche Zeitschrift f\u00fcr Nervenheilkunde 23. 38 S. 1902.\nBeim Studium der als Muskelsinn, Ortssinn, Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn etc. bezeichneten zentralen Funktionen, welche die Koordination des motorischen Apparates in erster Linie beherrschen, versagen die physiologischen Methoden, die Tierexperimente und die Untersuchung normaler Menschen, bereits in einem Stadium der Bearbeitung des Problems, welches nichts weniger als das der Reife bezeichnet werden darf. Es liegt in der Natur der Sache, dafs ein genauer Aufschlufs \u00fcber den Zustand der Sensibilit\u00e4t nur beim Menschen gewonnen werden kann und auch eine exakte Analyse des Bewegungsapparates lftfst sich nur beim Menschen durchf\u00fchren. Die seltene Gelegenheit, Ausfallserscheinungen im Gebiete dieser beiden Grundfunktionen des Bewegungs-\u00dfinnes zu beobachten, bieten sich hie und da dem Kliniker, wenn chronische Krankheitsprozesse oder Verletzungen, diese vivisektorischen Experimente der Natur, die Organe dieses Apparates betreffen. Hier ist dann von der sorgsamen Anwendung klinisch-anatomischer Untersuchungsmethoden einer wirksamen F\u00f6rderung unserer Kenntnisse von den verwickelten Vorg\u00e4ngen der motorischen Innervationen und ihrer Regelung durch die sensiblen zentripetalen Erregungen zu erwarten. Die Untersuchung der Sensibilit\u00e4t hat sich nat\u00fcrlich auf die Organe der \u00e4ufseren Haut zu erstrecken, wichtiger aber f\u00fcr die Analyse des Muskelsinnes ist zweifellos die Feststellung von An\u00e4sthesien etc. in den tieferen Teilen, Muskeln, Faszien, B\u00e4ndern etc. Dabei ist von der allzu ausgiebigen theoretischen Verwertung der F\u00e4lle von hysterischer An\u00e4sthesie abzusehen, da es sich hier weniger um St\u00f6rungen im eigentlichen sensiblen und motorischen Leitungsapparat handelt, sondern um St\u00f6rungen der psychischen Aufnahmef\u00e4higkeit der ins Bewufstsein eintretenden sensiblen Reize. Kein Wunder, dafs in solchen F\u00e4llen auch bei ausgedehntesten An\u00e4sthesien eine St\u00f6rung der motorischen Funktionen, Ataxie etc., nicht selten fehlt.\nAnschliefHend an die Beobachtung eines der seltenen F\u00e4lle, bei welcher eine schwere, aber in Heilung ausgegangene Stichverletzung des Halsmarkes den vollst\u00e4ndigen Ausfall der Sensibilit\u00e4t bei erhaltener Motilit\u00e4t am rechten Arm und der Hand rein zur Ausbildung brachte, teilt Str\u00fcmpell in einer kurzen, aber inhaltreichen und wohl durchdachten Abhandlung die Gedanken und Schl\u00fcsse mit, welche sich ihm aus der Analyse der Erschei-","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nLitera turbericht.\nnungen bez\u00fcglich des ganzen Apparates der koordinierten Muskelbewegungen zugrunde liegenden Apparates ergaben. Die Diagnose lautete auf Verletzung des rechten Hinterhorns und des \u00e4ufseren Teiles des rechten Hinterstranges im oberen Zervikalmark und der Symptomenkomplex bestand haupts\u00e4chlich im Fehlen s\u00e4mtlicher Qualit\u00e4ten der Empfindung im rechten Arm und einer vollst\u00e4ndigen Ataxie desselben, die ganz besonders zu Erscheinung kam, wenn die vikarierende Kontrolle anderer Sinnesorgane, Auge etc. 'ausgeschlossen wurde. F\u00fcr die anatomische Diagnose war die Erfahrung mafsgebend, dafs die Leitung der Muskel-, Ber\u00fchrungs- und tieferen D\u00c4ickempfindungen durch die weifsen Hinterstrange, die Leitung der Schmerz- und Temperaturempfindung aber vorzugsweise durch die grauen Hinterh\u00f6rner erfolgt.\nUm die Bedeutung der Regulierung der motorischen Innervationen durch sensible zentripetale Erregungen im einzelnen n\u00e4her zu ergr\u00fcnden, wurde eine sehr detaillierte Analyse der bestehenden Ataxie vorgenommen und es wurde der Nachweis gef\u00fchrt, dafs folgende besondere Formen der koordinierten Muskelleistungen hochgradig gest\u00f6rt waren : 1. Die Abgrenzung einer bestimmten, auch noch so einfachen Bewegung auf ein bestimmtes r\u00e4umliches Mafs (Neigung des Armes bis zu einem bestimmten Winkel etc.). 2. Die anhaltende Fixation einer bestimmten Muskelaktion zur festen Einhaltung der bestimmten Stellung eines Gliedes (statische Koordination). 3. Die zeitlich gleichm\u00e4fsige langsame Bewegung auf einem bestimmten Muskelgebiet. 4. Die Ausf\u00fchrung einer Reihe von einfachen Bewegungen in bestimmter Reihenfolge (z. B. bestimmte Finger\u00fcbungen.) 5. Die Ausf\u00fchrung komplizierterer Bewegungen, bei welchen verschiedene Muskelgruppen in richtiger synergischer T\u00e4tigkeit Zusammenwirken m\u00fcssen.\nVon Interesse ist die Beobachtung, dafs die lokalen St\u00f6rungen der Sensibilit\u00e4t, auch die der tieferen Teile durch das vikarierende der noch vorhandenen sonstigen Empfindungsqualit\u00e4ten, insbesondere der optischen zum Teil kompensiert werden k\u00f6nnen. Schliefst man die Mitwirkung dieser Faktoren aus, so wird dann die Koordinationsst\u00f6rung allerdings ganz aufser-ordentlich evident.\nDie anatomisch - physiologische Erfahrung, dafs die muskulo-sensiblen Eindr\u00fccke durch die Hinterstr\u00e4nge durch die Oblongata teils ungekreuzt ins Kleinhirn, teils nach Passierung der Schleifenkreuzung zum Thalamus und zur Grofshirnrinde einstrahlen, l\u00e4fst als zentralen Sit2 der Koordinationszentren sowohl das Kleinhirn, wie die motorischen Rindenzentren erscheinen. Str\u00fcmpell ist nun geneigt, die Zentren gewisser allgemeiner teils ererbter, teils fr\u00fchzeitig sich ausbildender \u201egenereller Bewegungsformen\u201c, zu denen die Gleichgewichtserhaltung, die Ortsbewegung, die koordinierten Muskelleistungen, bei der Atmung, dem Kauen, Schlucken etc. im Kleinhirn zu suchen und f\u00fcr dieselben die ungemein fein wirkende zerebellare Koordination in Anspruch zu nehmen ; St\u00f6rungen der selben zeigen sich in zerebellarer Ataxie. Die morphologische Grundlage anderer gesteigerter motorischer Leistungen, welche zum Teil m\u00fchsam durch \u00dcbupg zu erlernen sind, manueller Kunstfertigkeiten etc., welche als \u201eindividuelle Bewegungsformen\u201c bezeichnet werden, sucht St\u00fcmpell mit","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Li ter a turberich t.\n143\nRecht in der motorischen Hirnrinde und spricht hier von zerebraler oder kortikaler Koordination. Die zentripetale Regelung dieser motorischen Leistungen ist offenbar eine sehr ausgebildete. Neben der Inanspruchnahme der gesamten peripherischen Sensibilit\u00e4t, des Haut- und Muskelsinnes, spielen hier auch optische Eindr\u00fccke eine wichtige Rolle. Schwierig ist, es diese physiologischen Regulationen in ihren Beziehungen zum Bewufstsein, zur bewufsten Sensibilit\u00e4t, klar zu verstehen. Deutet schon das h\u00e4ufige Fehlen motorischer Ataxie bei an\u00e4sthetischen Hysterischen, deren sensible Erregungen nicht ins Bewufstsein gehoben werden, darauf hin, dafs dieses psychische Element keine mafsgebliche Rolle f\u00fcr dies Zustandekommen koordinierter Muskelleistungen spielt, so spricht noch viel kr\u00e4ftiger f\u00fcr diese Ansicht die Beobachtung, dafs Tiere und neugeborene Menschen, sogar Embryonen in utero, denen wir doch Bewufstsein nicht zuerkennen, vollst\u00e4ndig zweckm\u00e4fsige Bewegungen beim Schlucken etc. ausf\u00fchren.\nJedenfalls aber ist ein gewisser Einflufs des Bewufstseins namentlich bei erlernten komplizierten Bewegungen nicht zu verkennen und es ist anzunehmen, dafs wahrscheinlich weit zentral eine Sonderung der zentripetalen Leitungen in die der bewufsten Sensibilit\u00e4t und die der motorischen Koordination stattfindet. Indessen mit der richtigen Zuleitung der s\u00e4mtlichen zentripetalen regulierenden Erregungen ist der ganze Vorgang der Koordination nicht erledigt; wenn auch das Problem der koordinierten Muskelleistung und das damit zusammenh\u00e4ngende Problem der Ataxie von der Voraussetzung ausgehen mufs, dafs die normale Koordination der Bewegungen eine Funktion der sensorischen Nerven ist, so ist doch nicht zu verkennen, dafs auch die Intaktheit der motorischen Bahnen garantiert sein mufs und gerade das Studium dieses letzten Faktors d\u00fcrfte sich als fruchtbar empfehlen.\nDie Er\u00f6rterung der generellen Bewegungsformen mit ihren \u201efertig pr\u00e4formierten organischen Apparaten\u201c und der individuellen durch \u00dcbung erlernten und durch \u00dcbung zu verbessernden Bewegungsformen f\u00fchrt Stb\u00fcmpell zum Schlufs zu einigen allgemeinen philosophischen Ausblicken, in welchen er sich auf Grund der Deszendenztheorie ein Bild von der Entstehung der zugrunde liegenden feinen Nervenapparate zu bilden sucht, die Rolle des Bewufstseins als rein subjektiven Faktor w\u00fcrdigt und die hier deponierten \u201elatenten Erregungen\u201c in ihren Beziehungen zum Problem der Freiheit des Willens, der \u201emoralischen Koordination\u201c und \u201esittlichen Ataxie\u201c beleuchtet. Im ganzen bekennt sich S. hinsichtlich der Entstehung der psychischen Vorg\u00e4nge als Anh\u00e4nger der empiristischen Theorie. Der sensible Reiz, die Erregbarkeit ist die Grundeigenschaft der lebenden Substanz, auf welcher sich das Nerven- und Seelenleben aufbaut; gewifs ist nicht zu leugnen, dafs die \u201egenerellen\u201c koordinierten Bewegungen zum Teil als Erbteil mit gebracht werden, aber das ist philosopisch gedacht, kein Beweis daf\u00fcr, dafs hier etwas a priori gegebenes vorliege, vielmehr ist diese Tatsache so aufzufassen, dafs die zugrunde liegenden Nervenautismen im Laufe der Phylogenese sich herausgebildet haben, also im Prinzip empiristisch erworben sein, wenn auch diese Empirie sich auf viele Generationen verteilt.\tH. Pipeb (Berlin).","page":143}],"identifier":"lit32857","issued":"1904","language":"de","pages":"141-143","startpages":"141","title":"Adolf Str\u00fcmpell: \u00dcber die St\u00f6rungen der Bewegung bei fast vollst\u00e4ndiger An\u00e4sthesie eines Armes durch Stichverletzung des R\u00fcckenmarkes. Deutsche Zeitschrift f\u00fcr Nervenheilkunde 23. 38 S. 1902","type":"Journal Article","volume":"34"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:32:41.534607+00:00"}