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{"created":"2022-01-31T16:34:46.839341+00:00","id":"lit32872","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Dessoir","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 34: 155-158","fulltext":[{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"I\u00e2tcraturbericht.\n155\nHubbbt Rokttkkkn. Poetik. I. Allgemeine Analyse der psycbiscben Torg\u00e4nge beim Gennfs einer Diebtnng. M\u00fcnchen, Beck, 1902. XIII u. 315 6.\nDas Werk i\u00dft auf drei B\u00e4nde berechnet. Der vorliegende erste Teil \u201euntersucht im allgemeinen die Vorg\u00e4nge, die eich beim Genufs einer Dichtung abspielen, sucht festzustellen, wie aus dem unmittelbaren Genufs ein Werturteil zu gewinnen ist, und behandelt im Anschlufs daran noch den aufser\u00e4\u00dfthetischen Wert der Poesie\u201c. Ausgegangen wird vom Verh\u00e4ltnis der Sprache zum inneren Bild; dann folgt ein Kapitel \u00fcber die \u00e4sthetische Anschauung, worin auch der Eindruck der Lebenswahrheit und die Illusion er\u00f6rtert werden; hierauf wird die Gef\u00fchlswirkung analysiert, und zwar spricht der Verf. dabei vom assoziativen Faktor und von der \u201eEinschmelzung\u201c, von den einzelnen Gef\u00fchlsanl\u00e4ssen und den allgemeinen Bedingungen der Gef\u00fchlswirkung; zum Sehlufs stehen Betrachtungen \u00fcber den \u00e4sthetischen und den aufser\u00e4stheti\u00dfchen Wert der Poesie. Das Ganze scheint der Absicht entsprungen, mit Hilfe der gegenw\u00e4rtigen Psychologie und im Zusammenhang mit der jetzt so lebhaften \u00e4sthetischen Er\u00f6rterung der Poetik neue Grundlagen zu geben.\nDas Handwerkszeug, mit dem die Poetik \u00fcberall zu arbeiten hat, ist die psychologische Analyse. Sie wird zun\u00e4chst, nach methodologischen Vorbemerkungen, auf den Genufs eines Dichtwerkes angewendet, da dieser Zustand uns allen aus eigener Erfahrung bekannt ist. Wir k\u00f6nnen Poesie nur durch Vermittlung der Sprache geniefsen; die Frage ist also, wie aus der Rede des Dichters oder aus der Rede seiner Personen innere Bilder zustande kommen. R. schildert nun, inwieweit wir die Beschreibungen der Dichter versinnlichen und inwiefern der bekannte Kunstgriff, die Beschreibung in Handlung umzusetzen, Nutzen gew\u00e4hrt; er betont den wechselnden Anteil der jeweils geniefsenden Individualit\u00e4t und zeigt, dafs wir uns oft mit einem bildlosen Verst\u00e4ndnis der Worte begn\u00fcgen. Die optischen Bilder, die in uns auftauchen, repr\u00e4sentieren auch im besten Falle die vom Dichter geschilderten sichtbaren Erscheinungen der Aufsen weit nur sehr unvollkommen; der Eindruck der Plastik mufs noch durch andere Vorg\u00e4nge entstehen als durch das Sehen von Bildern (58). Es scheint, dafs Empfindungen des Muskelsinns und verwandte Empfindungen dabei eine gewisse Rolle spielen. Doch k\u00f6nnen offenbar solche Empfindungen sich auch an Werke der Sprache anschliefsen, die nicht Dichtungen sind. Hieraus, sowie aus einigen anderen Erw\u00e4gungen folgt die Unm\u00f6glichkeit, mit festen Bestimmungen das Reich der Poesie zu umgrenzen. Es gibt, sagt R. (81), kein objektives Merkmal, das, in jeder Dichtung auftretend, mir immer mit Sicherheit erm\u00f6glichte, sie als Dichtung zu erkennen; vielmehr ist jedes sprachliche Werk f\u00fcr mich eine Dichtung, sobald und solange ich mich ihm gegen\u00fcber in dem eigent\u00fcmlichen mir wohlbekannten Zustande der \u00e4sthetischen Anschauung befinde.\nF\u00fcr die \u00e4sthetische Anschauung gilt dem Verf. als kennzeichnend, dafs bei ihr die Aufmerksamkeit auf die blofsen Angaben des Dichters gesammelt ist, und dafs diese Sammlung auf die vom Dichter gegebenen Vorstellungen durch Kr\u00e4fte erfolgt, die in der Dichtung selbst vorhanden sind, nicht in einem aufserhalb gelegenen Motiv beruhen (91). Unlust ist","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nLiteraturberich t.\ndiesem Zustande feindlich, mancher Faktor, wie z. B. die Spannung1, ist ihm wenigstens fremd. Und vor allem findet sich darin nicht eine Anh\u00e4ufung vieler anschaulichen Vorstellungen, wie die \u00e4ltere Poetik glaubte. Vielmehr beruht der Eindruck der Lebenswahrheit und Plastik, von dem schon oben die Rede war, ganz wesentlich darauf, \u201edafs sich eine Reihe m\u00f6glichst eindeutig bestimmter, zusammen ein Objekt oder eine Handlung repr\u00e4sentierender Dispositionen in einem starken Erregungszust\u00e4nde befindet und dadurch scharf aus der \u00fcbrigen entweder gar nicht oder doch viel schw\u00e4cher erregten Dispositionsmasse hervortritt\u201c (129). Ferner gibt es eine innere Wahrheit, die sich auf den ungest\u00f6rten Verlauf von Wirkungstendenzen zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4fst.\nDie Gef\u00fchlswirkung untersucht der Verf., indem er von der bekannten Unterscheidung eines direkten und eines assoziativen Faktors ausgeht. Zum direkten Faktor rechnet er die akustischen Wortvorstellungen mit Klangfarbe und Betonung, und aufserdem noch die unmittelbare Gef\u00fchlswirkung dieser Elemente; zum assoziativen Faktor die Empfindungs- und Vorstellungsmassen, die durch die mit Klangfarbe und Betonung aufge-fafsten Worte in uns erregt werden nebst der Gef\u00fchlswirkung dieser Massen (154). Es kommen nun Assoziationen vor, bei denen die durch den direkten Faktor in uns erregten Empfindungen und Gef\u00fchle in diesen selbst hineingetragen werden, wie wenn man von einem \u201eheiteren\u201c Gelb spricht. Dieses Einf\u00fchlen oder Symbolisieren bezeichnet R. besser als Einschmelzung. Die zur Einschmelzung gelangenden Massen sind entweder Vorstellungen von aufser uns befindlichen leblosen Objekten oder Vorstellungen von fremden lebenden Wesen oder das eigene Ich und seine Teile. An den letzten Fall schliefst sich die Unterscheidung von Reaktionsund Substitutionsgef\u00fchlen an: das Gef\u00fchl, das ich einem Objekt odereiner Person gegen\u00fcber habe, heifst bei R. Reaktionsgef\u00fchl, das Gef\u00fchl, das ich in der Rolle einer anderen Person, auch eines in ein Objekt erst eingeschmolzenen lebenden Wesens habe, heifst Substitutionsgeftihl (190). \u2014 Die weiteren Er\u00f6rterungen des dritten Kapitels scheinen mir nicht so bedeutsam wie die bisher berichteten, da sie \u00fcber eine blofse Feststellung zumeist \u00e4ufserlicher Umst\u00e4nde nicht hinauskommen. Es bleibt alles ein wenig unbestimmt und ohne recht greifbares Ergebnis.\nDie abschliefsende Betrachtung \u00fcber den Wert der Poesie wird mit folgenden Worten eingeleitet: \u201eWir schreiben allem einen Wert zu, das in uns unmittelbar oder durch Vermittlungen ein Lustgef\u00fchl hervorruft oder ein Unlustgef\u00fchl beseitigt. Dabei unterscheiden sich aber diese beiden\n1 Hier\u00fcber habe ich mich \u00e4hnlich in meinen \u201eBeitr\u00e4gen zur \u00c4sthetik\u201c (Arch. f. syst. Philos. 1897\u20141901) ge\u00e4ufsert. \u00dcberhaupt findet man dort meine Ansicht von der Poesie, auf die ich hier nicht zur\u00fcckkommen will, in einigen ihrer Grundz\u00fcge dargestellt. F\u00fcr das im Text Folgende verweise ich namentlich auf die im Beitrag lila berichteten Experimente. Ferner darf ich wohl auf einen Aufsatz aufmerksam machen, der von der Anschauung und Beschreibung handelt und im Februarheft des genannten Archivs erscheinen wird : ich habe darin \u2014 noch vor meiner Kenntnis von R.s Buch \u2014 die gleichen Probleme mit manchmal \u00e4hnlichen Ergebnissen er\u00f6rtert","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Litera turberidi t.\n157\nArten dea Wertes, die sich einerseits im Hervorbringen eines Lustgef\u00fchls, andererseits in der Beseitigung eines Unlustgef\u00fchls \u00e4nfsern, in einem wesentlichen Punkte. Der ersten Art werde ich in dem Lustgef\u00fchl, das augenblicklich mein Bewufstsein erf\u00fcllt, unmittelbar inne, die zweite kann ich unmittelbar niemals erleben, sondern nur durch eine Vergleichung meines fr\u00fcheren von Unlustgef\u00fchlen erf\u00fcllten Zustandes mit dem jetzigen von Unlustgef\u00fchlen freien erkennen. Eine Dichtung kann \u00e4sthetischen und aufser\u00e4sthetischen Wert haben. Den \u00e4sthetischen Wert bildet der \u00dcberschufs s\u00e4mtlicher Lustgef\u00fchle, die wir im Zustande der \u00e4sthetischen Anschauung erleben, \u00fcber die in diesem Zustande erlebten Unlustgef\u00fchle. Da wir w\u00e4hrend der \u00e4sthetischen Anschauung eine Vergleichung unseres fr\u00fcheren Gef\u00fchlszustandes mit unserem jetzigen nicht vornehmen, so geh\u00f6rt die Wirkung, die eine Dichtung etwa im Sinne einer Befreiung von Unlustgef\u00fchlen auf uns auszu\u00fcben vermag, zu ihren aufser\u00e4sthetischen Werten. Zu ihnen geh\u00f6ren dann auch noch eine Reihe anderer erfreulicher oder n\u00fctzlicher Wirkungen, die nicht w\u00e4hrend des Zustandes der \u00e4sthetischen Anschauung sich geltend machen\u201c (269). An der Ausf\u00fchrung dieser Gedanken interessiert am meisten die Art, wie R. aus individuellen, nationalen, zeitlichen Werten eine Reihe bildet und sie in einen absoluten Wert auslaufen l\u00e4fst. W\u00e4hrend er den sittlich vollkommenen Menschen als Mafsstab ablehnt, konstruiert er dennoch eine Gruppe, \u201edie alle Menschen von hoher allseitiger \u00e4sthetischer Empf\u00e4nglichkeit umfafst\u201c. Die Folge ist, dafs erstens Eigenschaften, die dem Verf. nicht genehm sind, den Menschen jener Idealgruppe nicht anhaften d\u00fcrfen (291), und dafs zweitens die wertvollen Wirkungen allzusehr im Rationalen (283) und Einfachen (287) gesucht werden.\nEine Beurteilung des wichtigen Buches wird dadurch erschwert, dafs es ja nur ein Drittel des ganzen Werkes ist. Wenn ich mir manches anders geordnet denke, dieses \u00fcberfl\u00fcssig finde, jenes vermisse, so wird der Fortgang der Darstellung vielleicht erweisen, dafs der Verf. mit seiner Stoffverteilung doch das Richtige getroffen hatte. Ich unterdr\u00fccke daher alle solche Bedenken. Auch hebe ich nur die Punkte heraus, die f\u00fcr den Leserkreis dieser Zeitschrift von Bedeutung sind und die aufserdem eine Gegen\u00fcberstellung meiner eigenen Ansichten nicht erfordern.\nUnter solchen Einschr\u00e4nkungen ist zun\u00e4chst das Verh\u00e4ltnis dieser Poetik zur Psychologie zu pr\u00fcfen. Ich finde, dafs R. namentlich \u00fcber die Assoziation und verwandte Vorg\u00e4nge sehr viel Gutes sagt, und empfehle daher die einschl\u00e4gigen Abschnitte auch dem Psychologen. Vielfach indessen reichen die vom Verf. bevorzugten Richtungen unserer Psychologie f\u00fcr eine L\u00f6sung seiner Probleme nicht aus. Daraus ist ihm nat\u00fcrlich kein Vorwurf zu machen, es sei denn, man verlangte von ihm ein eigenes, alles umfassendes System der Psychologie. Nur w\u00fcnschte ich f\u00fcr die Fortsetzung, dafs er sich zu den Einseitigkeiten und Schematen etvras freier stellen m\u00f6chte als es bisher geschehen ist. Einen r\u00fchmenswerten Versuch dazu macht der Verf., indem er durchg\u00e4ngig auf eigene seelische Erfahrungen zur\u00fcckgreift. Indessen gerade deshalb kann er sich nicht wundern, dafs anders geartete Individuen sich zu den gegebenen Beispielen anders verhalten: so geht es mir in vielen F\u00e4llen. Gelegentlich f\u00fchrt R.","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nLitcraturbericht.\nselbst Unterschiede der Theorie auf Unterschiede des Erlebens zur\u00fcck (265). Wohin aber kommen wir mit solchen Partikularit\u00e4ten ? Sie n\u00fctzen nur, wenn bedeutende Pers\u00f6nlichkeiten dahinter stehen oder die Erlebnisse sehr fein zergliedert werden. Ferner mufs nun deutlich gezeigt werden, wie auf diesem Gebiete vom Einzelnen zum Allgemeinen zu gelangen ist, wie die inkommensurable Sondererfahrung zur wissenschaftlichen Erkenntnis umzugestalten ist. Das geschieht, meinem Gef\u00fchl nach, in dem vorliegenden Bande nicht mit der n\u00f6tigen Durchschlagskraft und teilweise auch ohne bewufste Methode.\nEine \u00e4hnliche Schwierigkeit entsteht aus dem Widerstande, den die subjektivistische Grundlegung dem Gewinne objektiver Merkmale entgegensetzt. R. beginnt damit, dafs er alle Werke der Sprache Dichtungen nennt, solange sie \u00e4sthetisch aufgefafst werden; auch er mnfs aber auf bleibende und gegenst\u00e4ndliche Kennzeichen der Poesie gelangen. Der \u00dcbergang vollzieht sich m. E. nicht kenntlich und sicher genug. Und die Schuld liegt nicht in mangelnder F\u00e4higkeit, sondern darin, dafs der Verf. einerseits zu abh\u00e4ngig von Schultheorien bleibt, andererseits \u00fcber Einzeluntersuchungen und Notizen den Zusammenhang im grofsen vernachl\u00e4ssigt. Die kritischen Auseinandersetzungen mit Fechner (sie folgen der \u201eVorschule der \u00c4sthetik\u201c bis in Ungeschicklichkeiten der Anordnung) und mit gegenw\u00e4rtigen Forschern verdunkeln sowohl die Eigenart als auch den Fortschritt der Gedanken. Mehr als ein Drittel des Buches h\u00e4tte in gelehrten Zeitschriften seine richtige Stelle gehabt. Ich w\u00fcnschte wohl, der Verf. k\u00f6nnte die noch ausstehenden B\u00e4nde in b\u00fccherfreier Einsamkeit und ohne R\u00fccksicht auf die Tagesf\u00f6rderungen schreiben.\nTrotz allem ist der Wert dieser \u201ePoetik\u201c nicht gering. Sie ist, relativ betrachtet, die unseren heutigen Bed\u00fcrfnissen am besten entsprechende, und, absolut betrachtet, eine gr\u00fcndliche und besonnene Untersuchung. Wenn die Fortf\u00fchrung unter gl\u00fccklichen Zeichen erfolgt, so wird Roettekess Werk ein solches werden, aus dem Psychologen, \u00c4sthetiker und Literarhistoriker gleichm\u00e4fsig lernen k\u00f6nnen.\tDbssoib (Berlin).\nF. da Costa Gotharaens. Le besoin de prier et ses conditions psjchologlqoes.\nRev. philos. 54 (10), 391\u2014412. 1902.\nDas Gebet zu Gott unterscheidet sich vom Bitten im gew\u00f6hnlichen Leben nur bez\u00fcglich des Wesens, an welches das Bitten gerichtet ist. Die Art des Betens unterscheidet sich bei den einzelnen Individuen je nach ihrem Temperament, Alter, Geschlecht, Rasse, Milieu, Umst\u00e4nde, Erziehung, Gewohnheit, Klima, historischer Epoche, Zeit und Ort. Das Beten kommt h\u00e4ufiger bei Melancholikern als bei Sanguinikern vor, h\u00e4ufiger in der Jugend und im Greisenalter als im mittleren Alter. Die Frauen neigen mehr dazu als die M\u00e4nner. Erziehung und Milieu haben grofsen Einflufs darauf. Die Einsamkeit regt besonders dazu an. Im Mittelalter war das Beten h\u00e4ufiger als im Altertum und in der neuen Zeit. Die V\u00f6lker des heifsen Klimas haben mehr das Bed\u00fcrfnis zu beten als die V\u00f6lker des Nordens. Die intellektuelle Kultur wirkt ihm entgegen. Es gibt zur Fr\u00f6mmigkeit neigende Familien, bei denen das Bed\u00fcrfnis zu beten sich vererbt. Besondere Umst\u00e4nde, wie z. B. drohende Gefahren, provozieren das Beten.","page":158}],"identifier":"lit32872","issued":"1904","language":"de","pages":"155-158","startpages":"155","title":"Hubert Roetteken: Poetik. I. Allgemeine Analyse der psychischen Vorg\u00e4nge beim Genu\u00df einer Dichtung. M\u00fcnchen, Beck, 1902. XIII u. 315 S.","type":"Journal Article","volume":"34"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:34:46.839346+00:00"}