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{"created":"2022-01-31T15:33:14.536251+00:00","id":"lit32877","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Groethuysen, B.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 34: 161-270","fulltext":[{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"161\nDas Mitgef\u00fchl.\nYon\nB. Gboethuysen.\nEinleitung.\nMitgef\u00fchl ist ein in der psychischen Erfahrung gegebener emotioneller Zustand, wie Zorn, Furcht u. dgl. F\u00fcr diesen psychischen Zustand hat sich im wissenschaftlichen Sprachgebrauch in Analogie mit dem englischen Sprachgebrauch der Terminus \u201eSympathie\u201c in Deutschland und Frankreich eingeb\u00fcrgert. \u201eSympathie\u201c in diesem Sinne hat nat\u00fcrlich nichts mit dem zu tun, was man im gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch \u201eSympathie\u201c im Gegensatz von Antipathie nennt, und was man ganz roh als Zuneigung bezeichnen kann1, oder besser als Wohlgefallen beim Wiederfinden von Lust- oder Unlustgef\u00fchlen bei anderen, die den eigenen Gef\u00fchlen \u00e4hnlich sind.2\nDen Begriff des Mitgef\u00fchls oder der Sympathie n\u00e4her zu bestimmen, das Mitgef\u00fchl zu beschreiben, zu analysieren und gegen\u00fcber verwandten psychischen Tatsachengebieten abzugrenzen, ist die Aufgabe dieser Abhandlung. Der Versuch, diese Aufgabe zu l\u00f6sen, wird dadurch gerechtfertigt, dafs die bisherigen Begriffsbestimmungen des Mitgef\u00fchls nicht gen\u00fcgen k\u00f6nnen. Den Beweis f\u00fcr diese Behauptung zu liefern, ist die Aufgabe des ersten Abschnittes.\nErster Teil.\nDarstellung und Kritik der Begriffsbestimmungen des Mitgef\u00fchls in der neueren Psychologie.\nDie Psychologen, deren Ansichten wir in nachfolgendem darzustellen und zu kritisieren haben, stimmen dar\u00fcber \u00fcberein,\n1 Hobwicz: Ps. Anal, auf physiol. Grundlage. 8. 319 f.\n* N. H. Bang, zitiert bei H\u00f6ffding: Ethik. 8. 608. \u00dcber Sympathie in diesem Sinne cf. auch Fbchneb: Vorschule der \u00c4sthetik. I, S. l\u00f6Off. Zeitschrift f\u00fcr Psychologie 34.\t11","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nB. Groethuysen.\ndafs das Mitgef\u00fchl ein Gef\u00fchl ist, das dem Gef\u00fchl eines anderen Wesens der Qualit\u00e4t nach gleich ist, ein Gef\u00fchl, das ich mit jemand anderem teile oder anders ausgedr\u00fcckt \u2014 der K\u00fcrze halber sei es erlaubt, einen neuen Terminus anzuwenden \u2014 dafs das Mitgef\u00fchl ein Gleichgef\u00fchl ist. Hat A. Mitgef\u00fchl mit B., so f\u00fchlt A. dasselbe wie B. Hierbei bleiben individuelle Unterschiede der f\u00fchlenden Individuen unber\u00fccksichtigt1 Nur Meinong2 hat sich vorsichtiger ausgedr\u00fcckt; er fordert nur, dafs das Gef\u00fchl des anderen und das Mitgef\u00fchl \u201egleiche Vorzeichen\u201c haben. Wir sehen hier von dieser vorsichtigen Formulierung zun\u00e4chst ab.\nDafs diese Bestimmung zur Charakterisierung des Mitgef\u00fchls nicht ausreicht, ist wohl keinem Forscher entgangen. W\u00e4hrend ich hier traurig bin oder mich freue, sind Tausende ebenfalls traurig oder freudig, ohne dafs ich berechtigt w\u00e4re, zu sagen, dafs ich Mitgef\u00fchl mit diesen Tausenden habe. Wenn A. das gleiche f\u00fchlt wie B, was mufs hinzukommen, damit wir sagen k\u00f6nnen, A. hat Mitgef\u00fchl mit B.? Es ist also die Aufgabe, sich nach weiteren f\u00fcr das Mitgef\u00fchl charakteristischen Merkmalen umzusehen. In der Qualit\u00e4t des Mitgef\u00fchls kann ein charakteristisches Merkmal nicht gefunden werden ; denn\n1\tF\u00fcr Spencer ist sympathetisch gleichbedeutend mit gleichempfindend (Prinzipien d. Psychol, [deutsch], II, S. 641); nach Bain f\u00fchlt man in der Sympathie die Gef\u00fchle anderer (Emotions et volont\u00e9 [franz.], S. 139); f\u00fcr B\u00f6sch ist das Mitgef\u00fchl ein abgeschw\u00e4chter Doppelg\u00e4nger (Das menschliche Mitgef\u00fchl, S. 12); Sutherland h\u00e4lt die Sympathie f\u00fcr ein durch Ansteckung entstandenes Gef\u00fchl (The origin and growth of moral instinct, II, S. 302 u. a.) ; f\u00fcr L. Stephen ist Sympathie \u201eto feel what he feels1* (Science of Ethics, S. 230); Schubert -Soldern fafst das Mitgef\u00fchl als F\u00fchlen des Gef\u00fchls eines anderen auf (Grundlagen zu einer Ethik, S. 32 u. a.); Lipps: sympathetische Einf\u00fchlung: zornig sein mit dem Zornigen (\u00c4sthetische Einf\u00fchlung. Zeit sehr. f. Psychol. 22, S. 421); Ribot fafst die Sympathie anf als \u201ela possibilit\u00e9 de sentir avec un autre et comme un autre\u201c (Psychologie des sentiments, 7. Aufl., S. 287) ; Hobvicz, das Mitgef\u00fchl als Gef\u00fchlsresonanz (a. a. O. Il*, S. 307); H\u00f6ffding: Sympathie als psychologische Verdoppelung (Psychol, [deutsch] 1887, S. 314).\nWir wollen mit dem Satze: \u201ezwei Menschen f\u00fchlen ein qualitativ gleiches Gef\u00fchl\u201c nur ausdr\u00fccken, dafs sie beide Freude oder Trauer oder Furcht oder Zorn oder dgl. f\u00fchlen. Es ist f\u00fcr unseren Zweck irrelevant, ob solche Gef\u00fchle wirklich qualitativ verschieden sind, wie ich es annehmen m\u00f6chte, oder ob es sich dabei nur um verschiedene begleitende Organempfindungen und andere aufseremotionelle Zust\u00e4nde handelt.\n2\tMeinong: Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie. S. 46f.","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n163\nhierin soll ja nach dem Vorhergehenden das Mitgef\u00fchl dem idiopathischen Gef\u00fchl eines anderen Wesens gleich sein. Auch in der Intensit\u00e4t des Gef\u00fchls kann ein charakteristisches Merkmal des Mitgef\u00fchls nicht gefunden werden. Zwar behaupten manche Forscher, dafs mein Mitgef\u00fchl schw\u00e4cher ist als ein Gef\u00fchl, das ich f\u00fchlen w\u00fcrde, wenn ich in der Lage des anderen w\u00e4re, dessen idiopathisches Gef\u00fchl meinem Mitgef\u00fchl qualitativ gleich ist; das Mitgef\u00fchl w\u00e4re also ein Gleichgef\u00fchl, das schw\u00e4cher ist, als ein Gef\u00fchl, das ich in der Lage des anderen f\u00fchlen w\u00fcrde; aber abgesehen von der Unklarheit einer solchen Begriffsbestimmung finden wir, dafs diese Forscher doch wieder Ausnahmen von dieser Regel der geringeren Intensit\u00e4t annehmen. Dafs auch in einer bestimmten Dauer des Mitgef\u00fchls ein solches charakteristisches Merkmal nicht gefunden werden kann, ist wohl ohne weiteres klar.\nDie Psychologen mufsten sich also nach anderen charakteristischen Merkmalen Umsehen. Diese Merkmale fand man entweder\na)\tin der Entstehungsweise des Mitgef\u00fchls;\nb)\tin einem das Mitgef\u00fchl begleitenden psychischen Pro-zefs; oder\nc)\tin dem Inhalt des Mitgef\u00fchls.\nWir haben den Inhalt des Mitgef\u00fchls vom begleitenden psychischen Prozefs hierbei unterschieden. Dieser Unterschied rechtfertigt sich dadurch, dafs der Inhalt eines Gef\u00fchls mehr ist, als nur ein das Gef\u00fchl begleitender psychischer Prozefs, wie wir im nachfolgenden zeigen werden.\nDie Merkmale des Mitgef\u00fchls k\u00f6nnen mm wieder innerhalb der oben bezeichneten Grenzen verschieden bestimmt werden.\nad a) N\u00e4here Bestimmung der Entstehungsweise.\nDas Mitgef\u00fchl entsteht a) durch Assoziation: Das Mitgef\u00fchl ist ein Gleichgef\u00fchl, das durch die Wahrnehmung eines Gef\u00fchl sausdrucks assoziativ entsteht: Assoziationstheorie, \u00df Durch Nachahmung (Ansteckung); und zwar wird behauptet, dafs das Mitgef\u00fchl durch Nachahmung der Ausdrucksbewegungen eines anderen Wesens entsteht; oder das Mitgef\u00fchl wird selbst schon als nachgeahmtes Gef\u00fchl bezeichnet: Nachahmungstheorien.\nad b) N\u00e4here Bestimmung des psychischen Prozesses, der das Mitgef\u00fchl begleitet Das Mitgef\u00fchl ist begleitet von a) einem\npsychischen Prozefs nicht-emotioneller Art, und zwar wird dieser\nll*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nB. Groethuysen.\npsychische Vorgang bezeichnet 1. als Sichhereinversetzen in die Lage eines anderen, 2. als Einf\u00fchlen, oder genauer gesprochen, als der Prozefs, der das Gef\u00fchl zu einem eingef\u00fchlten macht \u00df) von einem Gef\u00fchl, und zwar wird dieses Gef\u00fchl als z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung bezeichnet\nad c) N\u00e4here Bestimmung des Inhalts des Mitgef\u00fchls. Der Inhalt des Mitgef\u00fchls wird bezeichnet a) als Vorstellungsinhalt oder Urteilsinhalt, \u00df) nur als Urteilsinhalt.\nZu dieser Einteilung der verschiedenen Begriffsbestimmungen des Mitgef\u00fchls ist zu bemerken, dafs wir hierbei nur diejenigen Behauptungen ber\u00fccksichtigen k\u00f6nnen, die der Anforderung eines Minimums von wissenschaftlicher Exaktheit und Pr\u00e4zision gen\u00fcgen, dafs wir dagegen alle gelegentlichen Andeutungen, die meistens noch in metaphorische Form gekleidet sind, als wissenschaftlich nicht diskutierbar betrachten m\u00fcssen.\nI. Charakterisierung des Mitgef\u00fchls als Gleichgef\u00fchl mit einen\nbestimmten genetischen Merkmal.\na) Assoziationstheorie.\nDie Behauptung der Assoziationstheorie ist, das Mitgef\u00fchl sei ein Gef\u00fchl, welches durch die Wahrnehmung des Gef\u00fchlsausdrucks eines Wesens assoziativ entsteht und dem von diesem Wesen ausgedr\u00fcckten Gef\u00fchl qualitativ gleich ist. Als Hauptvertreter dieser Ansicht sind zu nennen Spencer und Bain in England und B\u00f6sch in Deutschland. Am reinsten ist die Assoziationstheorie vertreten worden von Spencer, w\u00e4hrend Bain und B\u00f6sch sie durch weitere Ausf\u00fchrungen zu erg\u00e4nzen suchen. F\u00fcr Spencer ist das Mitgef\u00fchl im Sinne der obigen Behauptung ein wiederbelebtes Gef\u00fchl ; B\u00f6sch nennt das Mitgef\u00fchl ein erinnertes Gef\u00fchl Indessen k\u00f6nnen wir diese Behauptungen hier zun\u00e4chst aufser acht lassen, da ein wiederbelebtes oder erinnertes Gef\u00fchl im Sinne dieser Forscher, abgesehen von seiner Entstehungsweiae, sich von einem urspr\u00fcnglichen Gef\u00fchl nur durch geringere Intensit\u00e4t unterscheidet.1\nWenden wir uns nun zu Spencer.\n1 Vgl. Spencer: Pr. d. Ps. II, S. 690; I, S. 238. B\u00f6sch a. a. O. S. 66, 90.","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Dan Mitgef\u00fchl.\n165\nS P E N C E B. 1 * * * * * *\nSpencers Hauptinteresse konzentriert sich auf die Entwicklungsgeschichte der Sympathie. Doch kommt Spencer dabei nat\u00fcrlich ohne Begriffsbestimmung des Mitgef\u00fchls nicht aus. Seine Versuche einer Begriffsbestimmung der Sympathie und die Illustrierung dieser Begriffsbestimmung innerhalb seiner entwicklungsgeschichtlichen Darstellung sind es, die uns zun\u00e4chst interessieren. Ich gebe eine knappe Skizze der Entstehung des Mitgef\u00fchls nach Spencer, um dann die f\u00fcr die Begriffsbestimmung des Mitgef\u00fchls wesentlichen Punkte kritisch zu beleuchten. Doch mufs zuvor ein kurze \u00dcbersicht \u00fcber Spencers Terminologie, soweit sie f\u00fcr uns in Betracht kommt, gegeben werden.\nSpencer teilt die geistigen Vorg\u00e4nge ein in \u201efeelings\u201c und Beziehungen zwischen \u201efeelings\u201c.8 Die ersteren umfassen die zentral erregten Bewufstseinserscheinungen (emotionelle Vorg\u00e4nge) und die peripherisch erregten (Empfindungen). Es gibt prim\u00e4re oder reale und sekund\u00e4re oder ideale oder wiederbelebte\n1 Spencer schrieb zuerst \u00fcber die Sympathie im Jahre 1846 oder 1847\nund zwar in demselben Sinne, wie in A. Smiths Theory of moral senti-\nmente die Sympathie behandelt wird, ohne damals A. Smiths Ausf\u00fchrungen\nzu kennen. Vgl. H\u00f6ffding: Grundlagen der humanen Ethik, S. 24 Anm. und H\u00f6ffding: Geschichte der neueren Philosophie, II, S. 608. Durch die G\u00fcte des Herrn Professor H\u00f6ffding erfuhr ich, dafs die betreffende Abhandlung im Philosophical Magazine oder im Zooist erschienen ist. Zooist war mir leider nicht zug\u00e4nglich, im Philosophical Magazine findet sich allerdings ein .Aufsatz von Spencer \u201eThe form of the earth no proof of original fluidity\u201c; doch kein Aufsatz \u00fcber die Sympathie.\nWeiterhin hat Spencer \u00fcber die Sympathie geschrieben in den \u201eSocial statics\u201c (1851, 1868), S. 214 ff. auch diesmal im Sinne von A. Smith, aber diesmal unter Berufung auf A. Smith. Ausf\u00fchrlich hat dann Spencer \u00fcber die Sympathie gehandelt in seinen \u201ePrinciples of psychology\u201c (1870). Die Ausf\u00fchrungen in den \u201ePrinzipien der Psychologie\u201c ([deutsch] Bd. I, 1882; Bd. II, 1886) liegen unserem Referate zugrunde. Psychologische Bemerkungen \u00fcber Sympathie und Altruismus finden sich auch in Spencer: Data of Ethics (1879); \u00fcber die Sympathie beim primitiven Menschen: Principles of Sociology (1876 ff.); [deutsch] Bd. I, S. 83 ff.\n* Spencer: Pr. d. Ps. I, Kap. 2, \u00dcber feelings vgl. Essays Bd. I, S. 322:\n\u201eFeelings, or those modes of mind, in which we are occupied, not with the relations subsisting between our sentient states, but with the sentient states\nthemselves.","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nB. Grofihuytm.\n\u201efeelings\u201c.1 Weiterhin teilt Spencer die \u201efeelings'\u201c nach genetischen Gesichtspunkten ein, und zwar je nachdem die \u201efeelings\" im ersten, zweiten, dritten, vierten Grade entfernt sind von jenen einfachen Sinnesverm\u00f6gen, welche die gemeinsame Wurzel aller Geistesf\u00e4higkeiten sind.\u00ae Danach zerfallen die rfeelings\" in: 1. pr\u00e4sentative \u201efeelings\u201c, gew\u00f6hnlich Empfindungen genannt 2. Fr\u00e4sentativ-repr\u00e4sentative \u201efeelings\": sie umfassen einen grofsen Teil der Emotionen : Es sind diejenigen, bei denen Empfindungen ein Aggregat von repr\u00e4sentierten oft unbestimmten Empfindungen hervorrufen. Als Beispiel f\u00fchrt Spencer die Emotion des Schreckens an.* * 3. Repr\u00e4sentative \u201efeelings\" : sie umfassen die rideas\u201c von den oben klassifizierten \u201efeelings*. 4. Ke repr\u00e4sentative \u201efeelings\u201c : sie sind komplizierte geistige Zust\u00e4nde, welche sich aus den Abstraktionen zahlreicher konkreter Repr\u00e4sentationen zusammensetzen und weniger das direkte als das indirekte Resultat der \u00e4unseren Reize sind. Als Beispiel\n1 Spenceb: Pr. d. Ps. I, Kap. \u00f6. Dem Terminus Phantasievorstellung entsprechen die Ansdr\u00fccke \u201erevived feeling\" und \u201eideal feeling\u201c. \u00dcber die Bedeutung von \u201erepresentative feeling\u201c sp\u00e4ter. Der \u00dcbersetzer der Pr. of Ps. \u00fcbersetzt \u201eidea\u201c mit Idee. Was H. B. Marshall i Mind 1889, S. 514) \u00fcber den Terminus \u201efeeling\u201c sagt, dafs er \u201ea typical example of English uncertainty\u201c ist, kann auch von dem Terminus \u201eidea\u201c gelten. Nach Spkhcd (Pr. d. Ps. I, S. 238} wird er sowohl von Empfindung als von Phantasievorstellung und zwar h\u00e4ufiger von der ersteren gebraucht; nach Sollt (Outlines of psychology, 6. Aufl, S. 219 Anm. wird er gew\u00f6hnlich nur von Phantasievorstellungen und Begriffen gebraucht, und jetzt soll nach Sollt die Tendenz vorhanden sein, ihn auf die Bedeutung von \u201eBegriff\u201c zu beschr\u00e4nken. Dafs bei Locks und Bkbkklky \u201eidea\" der Ausdruck f\u00fcr alle psychischen Vorg\u00e4nge ist, dafs dagegen bei Hums \u201eidea\u201c Phantasievorstellung und Begriff im Gegensatz zu \u201eimpression\u201c (Empfindung und Gef\u00fchlt bedeutet, ist bekannt. VgL auch Ebbinghaus: Psychologie, S. 677 Anm, David Huxes Treatise on human nature ( \u00fcbers, v. K\u00f6ttgen hl Anm. v. Ln*ps), S. 9.\n*\tEbenda II, S. 581.\n*\tNicht richtig ist es, wenn B\u00f6sch ia. a. O. S. 66i behauptet, dafs nach Spencer eine Emotion ein repr\u00e4sentatives feeling ist. In seiner Ethik bezeichnet Spencer allerdings in teil weisem Widersprach mit seiner Darstellung in der Psychol, eine eigentliche Emotion als eine Gruppe von aus-schliefislich idealen oder repr\u00e4sentativen feelings, w\u00e4hrend eine Gruppe von teilweise pr\u00e4sentativen nnd teilweise repr\u00e4sentativen feelings nur den Anfang einer Emotion bilden (vgl. Pr. d. Eth. I, S. 115f.); nach den Pr. d. Ps. k\u00f6nnen indessen Emotionen sowohl pr\u00e4sentativ-repr\u00e4sentativ wie repr\u00e4sentativ sein.","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n167\nf\u00fchrt Spencer die Freude am Besitz \u00fcberhaupt an.1 Unter \u201esentiment\u201c (\u00fcbersetzt als Gef\u00fchl im h\u00f6herem Sinne) endlich, will Spencer jene h\u00f6chste Ordnung von \u201efeelings\u201c verstehen, welche ausschliefslieh re-repr\u00e4sentativer Natur sind, dazu geh\u00f6ren die altruistischen Gef\u00fchle.3\nDafs im \u00fcbrigen \u201efeeling\u201c nicht sinngem\u00e4fs mit \u201eGef\u00fchl\u201c \u00fcbersetzt ist, braucht nicht erst bemerkt zu werden. Da sich im Deutschen \u00fcberhaupt kein geeigneter Ausdruck f\u00fcr \u201efeeling\u201c finden l\u00e4fst, so lassen wir den Ausdruck \u201efeeling\u201c un\u00fcbersetzt und werden nur in der Kritik an den Stellen, in denen es sich bei den \u201efeelings\u201c um Gef\u00fchle handelt, das Wort \u201eGef\u00fchl\u201c gebrauchen.\nNach diesen einleitenden Bemerkungen wende ich mich zu Spencers Ansichten \u00fcber die Sympathie.\nSoll Sympathie entstehen, so mufs eine Anzahl gleichartiger Wesen vorhanden sein. Ferner m\u00fcssen auf diese Wesen zu ein und derselben Zeit dieselben \u00e4ufseren Umst\u00e4nde einwirken und ihnen bestimmte \u00c4ufserungen ihrer \u201efeelings\u201c entlocken.\u00ae Die Ausbildung der Sympathie setzt voraus, dafs infolge eines sozialen Instinktes Lebewesen mehr oder weniger dauernd und innig in naher Verbindung leben, zu einer Geselligkeit gelangen.4 Diese Bedingungen sind bei den Angeh\u00f6rigen einer Herde erf\u00fcllt. Wie entsteht nun die Sympathie bei den Herdentieren? Die Angeh\u00f6rigen einer Herde sehen, wenn sie erschreckt werden, s\u00e4mtlich die Zeichen, die das Erschrecken begleiten, an den anderen, w\u00e4hrend sie selbst zugleich diese Ausdrucksbewegungen\nausf\u00fchren, und in ihnen das Gef\u00fchl lebendig ist, durch das jene \u2022\u2022\n\u00c4ufserungen hervorgerufen werden. Eine h\u00e4ufige Wiederholung dieser Vorg\u00e4nge erzeugt dann unvermeidlicherweise eine Assozia-\n1 Spencer: Pr. d. Ps. II, S. 583fl.; vgl. Sully: Outl. of Ps. S. 479: The re-representative feelings : more complex or abstract form of representation. \u00dcber die Einteilung der feelings vgl. Bain: Emot. et vol., 2. Aufl., S. 604f.\n*\tIn betreff dessen, was in der deutschen Psychologie Gef\u00fchl der Lust und Unlust genannt wird, ist Spencers Stellung nicht klar. Marshall (a. a. O. S. 514) bemerkt, dafs wir annehmen m\u00fcssen, dafs Spencer Lust und Unlust einerseits als Empfindung, andererseits als emotionellen Vorgang betrachtet; im \u00fcbrigen bemerkt Spencer selbst, dafs die Erscheinungen vielleicht die dunkelsten und verwickeltsten sind, die die Psychologie \u00fcberhaupt kennt (Pr. d. Ps. I, S. 284).\ns Ebenda II, S. 640.\n*\tEbenda II, S. 650.","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nB. Groetkuyscn.\ntion zwischen dem Bewusstsein von Furcht und dem Bewufst-sein von diesen Zeichen der Furcht bei anderen. Die betreffenden T\u00f6ne und Bewegungen vermag ein Tier dann bald nicht mehr wahrzunehmen, ohne dafs in ihm gerade jenes Gef\u00fchl wachgerufen w\u00fcrde, welches bisher gewohnheitsm\u00e4\u00dfig mit ihnen verbunden war, so oft sie wahrgenommen wurden. So wird auch Furcht erregt bei Individuen, die nicht gerade einen erschreckenden Gegenstand vor sich haben. Durch Vererbung und \u00dcberleben des Passendsten wird dann eine rasche und vollkommene Sympathie dieser einfachen Art zum bleibenden Besitztum der Spezies.1 Wenn beisammenlebende Tiere oft durch Verh\u00e4ltnisse angenehmer Art in der Umgebung beeinflufst werden, so kann es auf \u00e4hnliche Weise dazu kommen, dafs angenehme \u201efeelings\" in ihnen sympathetisch erregt werden. Als Beispiel f\u00fchrt Spencer die Tatsache an, dafs L\u00e4mmer in freudiger Erregung h\u00fcpfen, wenn eines von ihnen den Anfang damit gemacht hat1 Bei herdenweise lebenden Gesch\u00f6pfen von niederem Verst\u00e4nde ist jedoch die Sympathie auf wenige \u201efeelings'* * primitiver Art beschr\u00e4nkt, die au\u00dferdem sehr stark und deutlich durch einfache, auffallende und charakteristische Bewegungen und Leute ausgesprochen werden m\u00fcssen.5\nOhne hier n\u00e4her auf die f\u00fcr die Entwicklung der Sympathie g\u00fcnstigen oder ung\u00fcnstigen Bedingungen einzugehen, wende ich mich zu Spencers Ansichten \u00fcber die altruistischen \u201efeelings\u201c. Die altruistischen \u201efeelings\u201c bestehen aus lauter sympathetischen Erregungen egoistischer \u201efeelings\". Gewisse so verursachte \u201efeelings\" fallen indessen nicht unter die Gef\u00fchle in h\u00f6herem Sinn. Wenn wir einen Schauer durch alle Glieder rieseln f\u00fchlen, sobald wir einen Menschen am Rande des Abgrundes erblicken, so ist der Inhalt des Bewusstseins repr\u00e4sentativ und nicht re-repr\u00e4sentativ, fan altruistisches .feeling\" wird erst dann zu einem eigentlichen Gef\u00fchl in h\u00f6herem Sinn, wenn das Sympathie erregende -feeling\" eine Gem\u00fctsbewegung ist. Zwischen den beiden Arten ist keine scharfe Grenze. Erst allm\u00e4hlich gelangen wir zu jenen h\u00f6heren Stufen, auf denen die Sympathie sich auf .feelings\u201c bezieht, die keinerlei pr\u00e4sentative Elemente mehr ent*\n1 Spksceb : Pr. d. Ps. II, S. 636.\n*\tEbenda II, S. 637 ff.\n*\tEbenda II, S. GoOf.","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n169\nhalten.1 * Als Formen altruistischer \u201efeelings\u201c f\u00fchrt Spencer Grofsmut, Mitleid, Gerechtigkeitsgef\u00fchl und Gef\u00fchl der Vergebung an. Grofsmut ist die Freude, die in der Repr\u00e4sentation der Freude eines anderen besteht, Mitleid wenigstens in seiner prim\u00e4ren Form der Schmerz, der in der Repr\u00e4sentation des Schmerzes eines anderen besteht.3 Die \u00fcbrigen Formen der altruistischen \u201efeelings\u201c k\u00f6nnen f\u00fcr unseren Zweck unber\u00fccksichtigt bleiben.\nBain.8\nNach Bain heifst Sympathie f\u00fchlen: in die Gef\u00fchle eines anderen Wesens eindringen und f\u00fcr dieses andere Wesen so wie f\u00fcr sich selbst handeln.4 * * *\nDie Sympathie setzt voraus, dafs man sich seiner eigenen Erfahrungen inbetreff von Lust und Leid erinnert, und dafs eine assoziative Verbindung zwischen den . Gef\u00fchls\u00e4ufserungen und dem Gef\u00fchl selbst sich gebildet hat.8 Wenn man nun Zeichen eines Gef\u00fchls gibt, wird das Gef\u00fchl bei anderen erweckt, oder wird die Tendenz haben zu erwachen.8 Unter den Gef\u00fchls\u00e4ufserungen sind hierbei wohl die lautlichen die wichtigsten ; was die Assoziation der sichtbaren Ausdrucksbewegungen betrifft, so sind wir vieler unserer Gef\u00fchls\u00e4ufserungen-gen\u00fcgend bewufst, um sie mit unserem Gef\u00fchlszustand zu assoziieren. Wir empfinden deutlich die Ersch\u00fctterungen des Zornes, des Schreckens ;\n1 Spkncbb: Pr. d. Ps. II, S. 690.\n*\tEbenda II, S. 692.\n8 Bain hat das Mitgef\u00fchlsproblem behandelt in \u201eSenses and intellect\u201c\n1855 (zitiert nach der franz. \u00dcbers, von 1874 der 3. Aufl. von 1868) in kurzen gelegentlichen Bemerkungen, in \u201eEmotions and will\u201c (zitiert nach der 2. Aufl. von 1865 und der franz. \u00dcbers, von 1886 der 3. Aufl. von 1875), in Mental and moral Science (zitiert nach der Aufl. von 1881) und in den Anmerkungen zu J. Miu.8 Analysis of the phenomena of the human mind, herausgegeben von J. St. Mill (II. Bd. 1869). Die Darstellung der Sympathie in der 3. Auflage von \u201eEmotions and will\u201c weicht von der Darstellung in der 2. Auflage erheblich ab. Wir werden uns in dem folgenden Referat zun\u00e4chst haupts\u00e4chlich an die Darstellung der 3. A. halten und in einem sp\u00e4teren Referate auf die Darstellung der 2. A. eingehen. Die zweite Auflage zitieren wir\nals E. a. w., die dritte Auflage nach dem Titel der franz\u00f6sischen \u00dcber-\nsetzung als E. e. v.\n*\tE. e. v. S. 107.\n8 Ment. a. mor. Sc. S. 277.\n*\tE. e. v. S. 108.","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nB. Grodhvy\u00eaen.\nwir assoziieren sie dann mit den Gem\u00fctsbewegungen, so, dafe sie uns die emotionellen Zust&nde anderer erschlie\u00fcsen k\u00f6nnen.1 *\nEine andere Klasse von Erscheinungen, die uns die Gef\u00fchle anderer Wesen kennen lehrt, sind die uns bekannten Ursachen, Begleiterscheinungen und Folgen von Gef\u00fchlen, die wir haupts\u00e4chlich oder ausschliefslich an anderen Wesen beobachten. Wir kennen z. B. die Lust am s\u00fcfsen Geschmack des Zuckers; wir bemerken die Ver\u00e4nderungen im Verhalten des Kindes, das diese Lust genieist und lernen so den Zusammenhang kennen, der zwischen dem Vergn\u00fcgen und dem L\u00e4cheln besteht.3\n\u00c4nderungen im \u00c4ufseren des Individuums lernen wir also an die Gef\u00fchle assoziieren, teilweise in direkter Weise dadurch, dafe wir selbst der \u00c4nderungen gen\u00fcgend bewufst sind, teilweise in indirekter Weise durch Kenntnis der Gef\u00fchlsursachen, der Begleiterscheinungen und der Folgen der Gef\u00fchle bei anderen. Als Beispiel von Gef\u00fchls\u00e4ufserungen, die wir auf die letztere Art deuten lernen, f\u00fchrt Bain auch das Err\u00f6ten, die Bl\u00e4sse u. dgL an.\nDer Grad der Innigkeit einer Assoziation zwischen dem Gef\u00fchl und dem Gef\u00fchlsausdruck h\u00e4ngt von dem wiederholten Erleben beider, von der Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle, von der Kraft und Deutlichkeit des Gef\u00fchlsausdrucks ab. Ferner ist die Innigkeit der Assoziation abh\u00e4ngig von dem Grade der geistigen Entwicklung.\nSoweit ist Bain ein Vertreter der reinen Assoziationstheorie. Nun stellt sich Bain die Frage, ob mit alledem der Ursprung der Sympathie aufgezeigt ist Er antwortet mit \u201eneid\u201c und glaubt seine bisherigen Ausf\u00fchrungen durch die Theorie der fixen (fixedj Idee erg\u00e4nzen zu m\u00fcssen. Nach seinen bisherigen Ausf\u00fchrungen bleibt die Frage zu beantworten, wie es kommt, dafs wir von sympathetischen Gef\u00fchlen ergriffen und durchdrungen sind, dafs wir die andere Person ganz in unseren Geist aufnehmen, so dafs wir unsere eigene Pers\u00f6nlichkeit beiseite setzen oder ausschliefsen.8 Das Moment, das man am meisten bei der Sympathie in Betracht ziehen mufs, ist nicht das Wiedererwachen des Gef\u00fchls, sondern die Verkn\u00fcpfung dieses Gef\u00fchls mit einer anderen Person. Wenn wir einen anderen Menschen\n1 E. e. v. S. 109.\n* Ebenda S. 110.\n3 Ebenda S. 111.","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n171\nin Gefahr sehen, so k\u00f6nnen wir uns wohl an \u00e4hnliche Gefahren erinnern und erschrecken; aber wenn wir dabei stehen bleiben, dann sind wir egoistisch und keineswegs mitf\u00fchlend.1 Ich kann ja auch meine F\u00e4higkeit, mir Gef\u00fchle im Anschlufs an den wahrgenommenen Gef\u00fchlsausdruck vorzustellen, dazu benutzen, um Menschen zu regieren, ein Redner, ein Politiker zu werden; ich kann diese F\u00e4higkeit ausn\u00fctzen, um ein K\u00fcnstler, ein Psychologe zu sein; aber empf\u00e4nglich f\u00fcr Sympathie zu sein, das ist eine neue Stufe des geistigen Lebens.\nBain sucht das Problem dadurch zu l\u00f6sen, dafs er die Sympathie als Beispiel einer fixen Idee betrachtet Die Phantasievorstellungen haben die Tendenz, reale, psychische Zust\u00e4nde zu werden.2 * Indessen schwindet die Vorstellung meistens, weggetragen durch den Strom des geistigen Lebens.8 9 Daneben aber gibt es F\u00e4lle, wo die Tendenz nicht neutralisiert wird, so im Somnambulismus, in den hypnotischen Zust\u00e4nden und im geringeren Grad in den Tr\u00e4umen. Doch auch im wachen Zustand kommt es vor, dafs diese Tendenz wirksam wird. Es gibt F\u00e4lle, in denen eine Vorstellung ungewohnterweise verharrt 5,4 wo wir sie nicht mehr los werden k\u00f6nnen ;6 wo sie als Despot herrscht ; sie wird eine fixe Idee. Die fixe Idee st\u00f6rt nun die regelm\u00e4fsige Willenshandlung.6 Die reine Willenshandlung ist beschr\u00e4nkt auf die individuelle Selbsterhaltung.7 Die fixe Idee dagegen kann uns zu Handlungen veranlassen, auch wenn die Handlungen eher zu Schmerz, als zu Lust f\u00fchren.8 Als Beispiel fixer Ideen f\u00fchrt Bain die Vorstellung eines fallenden K\u00f6rpers an, die entsteht, wenn man in den Abgrund blickt, eine Vorstellung, die mit solcher Kraft suggeriert wird, dafs eine Willensanstrengung notwendig ist, damit der Mensch diese Vorstellung nicht an seiner eigenen Person zur Realit\u00e4t werden l\u00e4fst,\u00ae eine traurige Erinnerung, die jemand sein ganzes Leben lang verfolgt, eine\n1 E. e. v. S. 108.\n*\tSens, and intell. S. 299.\n*\tEbenda S. 801, Anm. z. Mills \u201eAnalysis etc.\u201c *11, S. 384.\n*\tE. e. v. 8. 378.\n5\tSens, and intell. S. 303 Anm.\n6\tE. e. v. S. 117\n1 Sens, and intell. S. 302.\n8\tM. a. m. Sc. S. 91; Anm. z. Mill II, S. 305.\n9\tSens. a. intell. S. 301; E. e. v. S. 378, 379; Ment. a. m. Sc. 91; Anm. z. Mill S. 384.","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nB. Groefhuysen.\nErscheinung, die ihren Kulminationspunkt im Irrsinn erreicht, die unerreichbaren Ziele der Ehrgeizigen1 * 3 u. dgl.\nDie Sympathie entsteht nun durch diese Tendenz einer Vorstellung, zu einem realen psychischen Zustand zu werden. Die reine Willenshandlung ist auf die eigene Selbsterhaltung beschr\u00e4nkt; aber das geistige Verm\u00f6gen, das Vorstellungen bilden kann von den Zust\u00e4nden anderer Wesen, hat die Tendenz, aus diesen Vorstellungen reale psychische Akte zu machen oder treibt uns an, so zu handeln, wie uns die Vorstellungen antreiben w\u00fcrden zu handeln, wenn die Leiden oder Freuden unsere eigene Person betr\u00e4fen. Wir fallen unter die Vorstellung eines Leides, ohne dafs ihr irgend etwas in unserem Zustande wirklich entspr\u00e4che. Aufser den beherrschenden Vorstellungen kennen wir im menschlichen Geiste nichts, was uns veranlassen k\u00f6nnte, mit Freuden und Leiden anderer zu sympathisieren.*\nEin Beweis f\u00fcr diese Theorie liegt schon darin, dafe wir uns ja nur von dem Sympathie erregenden Individuum wegzuwenden brauchten, um einen sympathischen Kummer loszuwerden. Aber wir f\u00fchlen, dafs in der Sympathie eine Gewalt ist, die uns fafst und festh\u00e4lt, unabh\u00e4ngig von unserem Wollen; die einmal erweckten Vorstellungen lassen nicht locker und veranlassen uns, unserem Mitmenschen zu helfen, dessen Leid wir unwissentlich entlehnt oder \u00fcbernommen haben.8\nKritik der Assoziationstheorie.\n1. Kritik Spencers.\nStellen wir uns auf den Boden der SPENCERschen Herdenhypothese und fragen uns, was diese Hypothese erkl\u00e4rt, so lautet die Antwort, dafs sie nur erkl\u00e4rt, wie ein Herdentier zu Gef\u00fchlen kommt, die den Gef\u00fchlen eines anderen Herdentieres gleich sind. Das Tier braucht aber von dieser Gleichheit der Gef\u00fchle nichts zu wissen; dafs sie gleich sind, weifs vielleicht nur der psychologische Beobachter. Wir k\u00f6nnen annehmen, dafs sich bei Herdentieren beim Anblick schwarzer Gewitterwolken als Zeichen eines herannahenden Gewitters gewisse Gef\u00fchle kn\u00fcpfen; der Bewufstseinszustand des Herdentieres braucht von dem Bewufst-\n1 Sens. a. intell. S. 302 f.\n* Ebenda S. 302.\n3 M. a. m. Sc. S. 279.","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n173\nseinszustand, der sich an die Wahrnehmung eines Gefahr anzeigenden Bl\u00f6kens kn\u00fcpft, nur dadurch unterschieden zu sein, dafs die wahrgenommenen Anzeichen verschieden sind. Sei dem aber auch, wie es wolle, so ist es auf keine Weise notwendig anzunehmen, dafs, um so allgemein wie m\u00f6glich zu sprechen, sich die assoziativ erweckten Gef\u00fchle auf ein anderes Wesen beziehen. H\u00f6rt ein Schaf ein anderes bl\u00f6ken, so braucht sich ja nicht einmal an die Wahrnehmung des Bl\u00f6kens die Vorstellung des bl\u00f6kenden Tieres zu kn\u00fcpfen. Nehmen wir an \u2014 um ein Beispiel aus dem menschlichen Leben zu nehmen \u2014, es stiefse jemand in einem Theater den Ruf \u201eFeuer\u201c aus, so brauchen sich die Theaterbesucher gar nicht die Vorstellung des Individuums zu machen, das den Ruf ausgestofsen hat. Es ist sogar zu vermuten, .dafs bei dem ausgebildeten \u201eSignalwesen\u201c mancher herdenweis lebender Tiere 1 * * eine Vorstellung des Tieres, welches das Alarmsignal gibt, geschweige denn seines momentanen psychischen Zustandes, kaum stattfindet.\nWenn aber die Herdenhypothese nur zu der Annahme eines Gleichgef\u00fchls f\u00fchrt, so w\u00e4re nachzuweisen gewesen, wie sich im Laufe der weiteren Entwicklung daraus das Mitgef\u00fchl entwickelt. Dar\u00fcber finden wir bei Spencer nichts; und doch weist er auf wahrhaft altruistische Handlungen schon im Tierreich hin.8 Die Unterscheidungsf\u00e4higkeit f\u00fcr Gef\u00fchlsanzeichen, die Sicherheit der Reproduktion, die Kombinationsf\u00e4higkeit, die Lebhaftigkeit der assoziierten Gef\u00fchle mag beliebig grofs werden, ohne dafs Mitgef\u00fchl entsteht Nehmen wir an, dafs die Gef\u00fchle, die sich an die Wahrnehmung von Zeichen kn\u00fcpfen, die ein Gef\u00fchl andeuten, genau einer vorhandenen Gefahr entspr\u00e4chen, was w\u00fcrde damit anders gegeben sein, als dafs die Tiere sich genau nach der drohenden Gefahr richten k\u00f6nnten? Nach dieser Hypothese w\u00fcrde man begreifen, wie Tiere dazu kommen k\u00f6nnen, bei Andeutung von Gefahr von seiten anderer Individuen sich zu f\u00fcrchten und zu entfliehen, aber nicht, wie sie dazu kommen, anderen beizustehen.\nIch finde auch weiterhin bei Spencer keine L\u00f6sung dieses Problems. Nach ihm bestehen die altruistischen Gef\u00fchle aus lauter sympathetischen Erregungen egoistischer Gef\u00fchle, und die\n1 Vgl. Espinas: Des soci\u00e9t\u00e9s animales S. 302f.; Dabwin: Abstammung\ndes Menschen (dtsch. Reel.), I, S. 130, 149 f.\n* Spbnckb: Pr. d. Ps. II, S. B38f., 641 u. a.; Pr. d. Eth. I, S. 220.","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nB. Groetkuysen.\nweiter entwickelten, \u201efeelings** unterscheiden sich von den niederen Formen nur dadurch, dafs das sympathieerregende -feeling\u201c eine Gem\u00fctsbewegung ist, und dafs das \u201efeeling\u201c in diesem Fall ein re-repr\u00e4sentatives \u201efeeling\u201c oder ein eigentliches Gef\u00fchl im h\u00f6heren 8inne ist\nNehmen wir ein Beispiel : A. wird beim Anblick von B., der seekrank ist, sympathetisch seekrank. C. sieht ebenfalls, wie B. seekrank ist, wird aber nicht selbst seekrank, sondern hat nur Mitleid mit B. Der Zustand von A. unterscheidet sich von dem von C. nach Spencer nur dadurch, dafs der Inhalt des Bewufst-seins von A. repr\u00e4sentativ, der von C. re-reprfisentativ ist Hier tritt nun besonders deutlich die Unzul\u00e4nglichkeit der Assoziationstheorie hervor: Die Empfindungen von A. sind, wie B\u00f6sch sich ausdr\u00fcckt1 2 * * * * *, ganz mit dem Gedanken an .das eigene Ich verbunden, w\u00e4hrend die Gef\u00fchle von C. sich auf B. beziehen, C. eben Mitleid mit A. hat\n2. Kritik Bains.\nBain l\u00e4fst ebenfalls die Sympathie auf assoziativem Wege entstehen, h\u00e4lt aber die Assoziationstheorie f\u00fcr unzureichend und erg\u00e4nzt die Assoziationstheorie durch die Theorie der fixen Idee. Die Sympathie betrachtet Bain als fixe Idee aus zwei Gr\u00fcnden. 1. Sie ist eine Vorstellung eines fremden Gef\u00fchlszustandes, der illusionsartig realisiert wird.2 2. Die durch sie verursachten Handlungen stehen in Widerspruch mit den normalen Willenshandlungen.\nWenden wir uns zu dem ersten Argument Die Vorstellung, die im Falle der Sympathie die Tendenz zeigt, real zu werden, ist die Vorstellung des Gef\u00fchls eines anderen.8 D. h. die Ge-\n1\tB\u00f6sch a. a. O. S. 17.\n2\tVgl. Sully: Human Mind II, S. 244.\n* Auf die Frage, ob man eine solche Tendenz einer Vorstellung,\nRealit\u00e4t zu werden, anzunehmen hat, k\u00f6nnen wir hier nicht n\u00e4her ein-\ngehen. Die Ansicht wird in neuester Zeit vertreten von Lipps: \u201eVom F\u00fchlen, Wollen, Denken\u201c (S. 90 ff.). Nur f\u00fcr Vorstellungen von Gef\u00fchlen\nund Strebungen nimmt Jodl einen solchen \u00dcbergang an (Psychol. S. 141 f.).\nPa\u00fclhan (Sur la m\u00e9moire affective. Rev. philos. 1903, S. 49 f.) behauptet, dafs ein Unterschied zwischen dem \u201eintellektuellen\u201c und \u201eaffektiven Ged\u00e4chtnis darin besteht, dafs, w\u00e4hrend die Vorstellungen des ersteren schw\u00e4cher sind\nals die Empfindungen, die Vorstellungen des letzteren sogar eine gr\u00f6fsere Intensit\u00e4t haben k\u00f6nnen als die urspr\u00fcnglichen Gef\u00fchle. Nach ihm besteht","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n175\nf\u00fchlsvorstellung erreicht die Intensit\u00e4t eines Gef\u00fchls, es findet sozusagen eine Gef\u00fchlshalluzination statt. Angenommen Bain habe Recht, liegt in dem \u00dcbergang einer Gef\u00fchlsvorstellung in ein Gef\u00fchl etwas Unerkl\u00e4rliches oder Pathologisches? Sully-Pb\u00fcdhomme schreibt: \u201eJ\u2019en viens presque \u00e0 me demander si tout souvenir de sentiment ne rev\u00eat pas un caract\u00e8re d\u2019hallucination\u201c. 1 Bain f\u00fchrt als Beispiel von idealen Gef\u00fchlen die Gef\u00fchle an, die wir bei der Erinnerung von Lob und Tadel f\u00fchlen, die Zuneigung gegen Abwesende u. dgl.* 1 2 * * * * * Wenn also der Abwesende eben so stark geliebt wird wie der Anwesende, so m\u00fcfste eine fixe Idee angenommen werden. Aber warum soll denn die Liebe zum Anwesenden normal und die gleiche Liebe zum Abwesenden eine fixe Idee sein?8 Das Ergebnis ist also: Wenn ideale Gef\u00fchle den Intensit\u00e4tsgrad von realen Gef\u00fchlen erreichen, so brauchen sie deswegen noch nicht fixe Ideen zu sein.\nFragen wir uns nun, was w\u00fcrde denn \u00fcberhaupt mit der BAiNschen Ansicht f\u00fcr das Problem des Mitgef\u00fchls gewonnen sein ? Zun\u00e4chst w\u00e4re die ideale Gem\u00fctsbewegung zu einer realen Gem\u00fctsbewegung geworden. Aber dann fehlt ja wiederum die Beziehung des Gef\u00fchls auf ein anderes Wesen. Bain hat ganz\neine allgemeine Tendenz der Vorstellungen reale psychische Zust\u00e4nde zu werden. W\u00e4hrend aber bei dem \u201eintellektuellen\u201c Ged\u00e4chtnis diese Tendenz durch gegenw\u00e4rtige Erlebnisse behindert wird, braucht ein solches Hindernis bei dem \u201eaffektiven\u201c Ged\u00e4chtnis nicht vorhanden zu sein. Vgl. auch Baldwin : Handbook of Psychology S. 261 ; Jambs : Principles of psychology II, S. 12. Von \u00e4lteren nimmt Hume einen \u00dcbergang von Gef\u00fchls Vorstellung in Gef\u00fchl an und zwar als Wesen und Grund der Sympathie (Treatise of hum. nat. B. II, P. I, S. XI; P. H, S. VH, S. IX).\n1\tZitiert bei Ribot: Psychol, d. sentim. S. 153.\n2\tBain: M. a. m. Sc. S. 284. Bain macht keinen Unterschied zwischen\nVorstellungsgef\u00fchlen und Gef\u00fchlsvorstellungen, zwischen Gef\u00fchlen, die im\nAnschliffs an Vorstellungen neu produziert werden und Gef\u00fchlen, die re-\nproduziert werden. Vgl. James a. a. O. S. 474: \u201eBain seems to forget, that\nan ideal emotion and a real emotion prompted by an ideal object are two\nvery different things.\u201c Auch sonst nimmt Bain die Gef\u00fchlsvorstellung in sehr weitem Sinn. Das vererbte Gef\u00fchl hat nach ihm Vorstellungscharakter (E. e. v. S. 62, vgl. auch ebenda S. 149). Andererseits finden wir bei Bain eine Andeutung eines abweichenden Standpunktes ; in E. a. w. S. 190 spricht er davon, dafs, wenn wir Freude f\u00fchlen in der Erinnerung an angenehme Objekte, \u201edas Ideale\u201c, genau gesprochen, im Objekt selbst ist.\n* Bain selbst scheint sp\u00e4ter diese Schwierigkeiten eingesehen zu haben; vgl. Bain: Pleasure and Pain. Mind 9*2, S. 182; vgl. auch Paulhan a. a. O. S. 558.","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nB. Groethuygen.\nrichtig erkannt, dais eine Schw\u00e4che der Assoziationstheorie darin liegt, dafs sie dem Bezugsmoment der Sympathie nicht gerecht wird. Aber Bain selbst hilft diesem Mangel nicht ab. Nehmen wir unser altes Beispiel. Das Schaf w\u00fcrde unter der fixen Idee der Furcht leiden ; es w\u00fcrde sich in einem panikartigen Zustand befinden; aber dafs das Schaf f\u00fcrchtet, dafs einem anderen Schafe etwas geschieht, das ist doch hiermit wieder in keiner Weise gegeben. Bain hilft sich \u00fcber die Schwierigkeit hinweg, indem er behauptet, dafs die fremde Pers\u00f6nlichkeit unsere eigene Pers\u00f6nlichkeit verjagt1 ; wir sollen aus uns heraustreten, uns mit anderen identifizieren.2 Was soll das alles heifsen? Wir bilden uns doch im Akte der Sympathie nicht ein, eine fremde Pers\u00f6nlichkeit zu sein. Nehmen wir ein Beispiel. Die Mutter A. h\u00f6rt von der Mutter B., das Kind der letzteren sei gestorben. Wenn nun die Mutter B. vollst\u00e4ndig sich des Bewufstseins der Mutter A. bem\u00e4chtigt h\u00e4tte, so dafs die Pers\u00f6nlichkeit der Mutter A. vertrieben w\u00e4re, so w\u00fcrde die Mutter A. gerade so f\u00fchlen wie die Mutter B., d. h. sie w\u00fcrde gerade so f\u00fchlen, als h\u00e4tte sie ihr Kind verloren. Zum Mitf\u00fchlen und zum sympathetischen Eingreifen geh\u00f6rt ein unterschiedenes Bewufstsein; beim Erl\u00f6schen der eigenen Pers\u00f6nlichkeit k\u00f6nnte in unserem Fall zwar ein grofser Kummer entstehen, aber kein Mitgef\u00fchl. Im \u00fcbrigen ist zu betonen, dafs auch die beste Metapher die schlechteste Analyse ist, wie Witasek gerade in bezug auf \u00e4hnliche Metaphern sagt; und die Psychologie verlangt Analyse.* 8\nIch komme nun zu dem zweiten Argument Bains. Die Willenshandlungen des sympathetisch f\u00fchlenden Menschen stehen in Widerspruch mit den normalen Willenshandlungen. Die Gr\u00fcnde daf\u00fcr sind folgende: 1. Der Sympathisierende handelt nicht aus Lust- und Unlustmotiven.4 2. Der Sympathisierende handelt nicht zu seiner Selbsterhaltung.5\nWenn Bain die uninteressierten Handlungen als \u201eAusnahmen\u201c vom Gesetz der Lust und Unlust konstruieren will, so scheinen mir gerade seine fr\u00fcheren Ausf\u00fchrungen hierf\u00fcr nicht\n1 E. e. y. S. 117.\n8 Ebenda S. 283.\n*\tWitasek : Zur psychologischen Analyse der \u00e4sthetischen Einf\u00fchlung. Zeiischr. f. Psychol. 25, S. 24.\n*\tE. e. v. S. 382. On some Points in Ethics. Mind 83, S. 55.\n0 Sens, and intell. S. 302","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n177\ngeeignet Wenn eine fremde Pers\u00f6nlichkeit sich unserer bem\u00e4chtigt hat, so kann es sich selbstverst\u00e4ndlich nicht mehr um Gef\u00fchlsmotive handeln, die unsere eigene \u201everjagte\u201c Pers\u00f6nlichkeit betreffen. Unsere Handlung ist aber doch auf Beseitigung von Schmerz und Erzeugung von Lust gerichtet, die zwar urspr\u00fcnglich fremde waren, aber gerade nach der Voraussetzung Bains zu meinen eigenen Gef\u00fchlen geworden sind.\nWas den zweiten Grund Bains anbetrifft, so darf man nicht vergessen, dafs das Prinzip der Selbsterhaltung ein teleologisches ist. Dieses teleologische Prinzip kann man aber ebenso auf die Erhaltung der Gattung ausdehnen.1 Auch von einer moralischen Selbsterhaltung kann man dabei sprechen. So bezeichnet z. B. Lotze das Gewissen als h\u00f6heren Instinkt, die moralischen Ideen als Mittelpunkt der menschlichen Seelenentwicklung. 2 *\nNoch kurz sei auf eine vermeintliche Eigenschaft der Sympathie hingewiesen, die Bain wenigstens in M. a. m. S. als ein Anzeichen daf\u00fcr erblickt, dafs wir es in der Sympathie mit einer fixen Idee zu tun h\u00e4tten : Die ungew\u00f6hnliche Beharrungstendenz der Sympathie. Ich glaube nicht, dafs man eine solche ungew\u00f6hnliche Beharrungstendenz bei der Sympathie im allgemeinen annehmen kann. Neben einer rasch vergehenden, momentanen Sympathie und einer dauernden Sympathie wird man wohl bei der Sympathie, wie bei den \u00fcbrigen Gem\u00fctsbewegungen, alle Grade der Beharrlichkeit finden. Wie oft gerade das Mitleid nichts ist, als eine pl\u00f6tzliche Eingebung, die ebenso rasch wieder vergeht, wird jeder best\u00e4tigen k\u00f6nnen.8\nWir haben bisher nachzuweisen versucht, dafs die Gr\u00fcnde, -die Bain daf\u00fcr anf\u00fchrt, dafs die Sympathie eine fixe Idee sei, nicht stichhaltig sind. Es lassen sich aber noch aufserdem wesentliche Unterschiede zwischen der Sympathie und dem, was Bain sonst als fixe Idee bezeichnet, anf\u00fchren. Die Abirrung (d\u00e9viation) soll bei der fixen Idee zun\u00e4chst nur intellektuell sein, sp\u00e4ter erst erstreckt sie sich auf die Handlungen ; und zwar soll \u00fcie Handlung aus der Tendenz der Vorstellung einer Handlung, Handlung zu werden, entstehen.4 * * Aber hier zeigt sich doch ein\n1 Vgl. daau Sprnckr: Pt. d. Eth. 1, S. 219 ff.\n*\tLotze: Instinkt. Kl. Sehr. Bd. I, 239ff.\n*\t\u00dcber die Beharrnngstendenz der fixen Idee vgl. Ribot a. a. O. S. 20 f.\nRibot sieht die Leidenschaft als affektives \u00c4quivalent f\u00fcr die fixe Idee an.\n*\u2022 Bain : E. e. v. S. 378.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 34.\n12","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nB. Groethuysen.\nwesentlicher Unterschied zwischen den Handlungen, die ein Mensch ausf\u00fchrt, der von einer fixen Idee befallen ist, und die sympathetischen Handlungen. Wird in dem einen Fall eine klare \u00dcberlegung ausgeschlossen, so handelt in vielen F\u00e4llen der Mitf\u00fchlende bei v\u00f6llig klarer \u00dcberlegung, ohne dafs hier eine \u201eideo-motor action\u201c vorl\u00e4ge.\n3. B \u00f6 s c h.\nB\u00f6sch hat die Frage Bains nach der Kettung der sympathetisch erregten Gef\u00fchle an eine fremde Pers\u00f6nlichkeit zu beantworten gesucht1 Es soll eine Verschmelzung des Bildes der eigenen Pers\u00f6nlichkeit mit dem Bilde der fremden Pers\u00f6nlichkeit bei den Mitf\u00fchlenden stattfinden. Im \u00fcbrigen steht B\u00f6sch auf dem Boden der Assoziationstheorie. Nach ihm w\u00e4ren nun die Glieder des Assoziationsprozesses kurz folgende : A. Wahrnehmung der fremden Pers\u00f6nlichkeit mit einem bestimmten Gef\u00fchlsausdruck. B. Erinnerung an die eigene Pers\u00f6nlichkeit mit dem gleichen oder \u00e4hnlichen Gef\u00fchlsausdruck. C. Mitgef\u00fchl. A. soll B. absorbieren. Was versteht nun B\u00f6sch unter der Verschmelzung zweier Vorstellungen? Er selbst gibt uns die Antwort in der Auslegung eines Beispiels. Wenn ich einen anderen in einen mit heifsem Wasser gef\u00fcllten Kessel greifen sehe und Mitgef\u00fchl mit seinem Schmerze habe, so verschmelzen die beiden \u00e4hnlichen aber doch nicht ganz gleichen Vorstellungen der eigenen und der fremden in den Kessel greifenden Hand, wobei die abweichenden Z\u00fcge einander aufheben, und die Vorstellung undeutlich wird.2 3 Ich halte es f\u00fcr zwecklos, auf diese Ansicht n\u00e4her einzugehen. Wieso, wenn ich einen anderen in den Kessel hineingreifen sehe, im Momente des Mitf\u00fchlens seine Hand vor meinen Augen verschwommen sein, gewissermafsen eine Mischhand entstehen soll, ist mir unverst\u00e4ndlich. Ebenso unverst\u00e4ndlich ist es, wie auf solche Weise das Bild meiner Pers\u00f6nlichkeit mit dem Bilde einer fremden Pers\u00f6nlichkeit verschmelzen soll.\nFasse ich die Kritik der Assoziationstheorie zusammen, so ist festzustellen, dafs die Assoziationstheorie f\u00fcr sich keine ge-\n1 B\u00f6sch a. a. O. S. 69 : direkte Anlehnung an das von Bain formuliert\u00ab\nProblem; S. 16 f.\n3 Ebenda S. 30 f.","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n179\nn\u00fcgende Charakterisierung des Mitgef\u00fchls gibt, dafs die erg\u00e4nzenden Ausf\u00fchrungen, durch die Bain diesem Mangel abzuhelfen sucht, als richtig nicht anerkannt werden k\u00f6nnen, und dafs selbst, wenn Bains Behauptungen richtig w\u00e4ren, sie dem Mangel der Begriffsbestimmung der Assoziationstheorie nicht abhelfen w\u00fcrden. Das Mitgef\u00fchl ist jedenfalls mehr als ein assoziativ entstandenes Gleichgef\u00fchl, und an dieser Tatsache wird nichts ge\u00e4ndert, wenn wir dies assoziativ entstandene Gleichgef\u00fchl zu einer fixen Idee machen. Die Frage, ob das Mitgef\u00fchl assoziativ entstanden zu denken ist, bleibt hier unerledigt. Ich wende mich nun zu den Nachahmungstheorien, um zu sehen, ob diese Theorien gl\u00fccklicher sind in der Auffindung einer das Mitgef\u00fchl eindeutig charakterisierenden Entstehungsweise.\nb) Naohahmungstheorien.\nUnter Nachahmungstheorien fasse ich zwei Theorien zusammen. Die eine Theorie behauptet: \u201eSympathie ist ein nachgeahmtes Gef\u00fchl\u201c ; die andere : \u201eSympathie entsteht durch Nachahmung der Ausdrucksbewegungen\u201c. Die erste dieser Theorien spricht auch an Stelle von Gef\u00fchlsnachahmung von Gef\u00fchlsansteckung. Zur besseren Unterscheidung wollen wir die als zweite genannte Theorie pr\u00e4gnant als Nachahmungstheorie, die als erste genannte als Ansteckungstheorie bezeichnen. Beide Theorien werden vertreten von Bain in E. a. w. 2. A. ; wobei allerdings zu bemerken ist, dafs Bain den Ausdruck Gef\u00fchlsnachahmung vermeidet Ich halte mich indessen f\u00fcr berechtigt, auch f\u00fcr das von Bain beschriebene Ph\u00e4nomen den Ausdruck Gef\u00fchlsnachahmung anzuwenden, da seit Tarde auch f\u00fcr das Ph\u00e4nomen der Gef\u00fchls\u00fcbertragung das Wort Nachahmung gebr\u00e4uchlich ist. \u201eQuand les perceptions, les sensations, les id\u00e9es, les volont\u00e9s se communiquent \u00e0 nous ... il y a imitation.\u201c1 Der Ausdruck Gef\u00fchlsansteckung kommt bei Bain h\u00e4ufig vor. In M. a. m. S. hat Bain die Theorie der Nachahmung in eingeschr\u00e4nkterer Form mit seiner Theorie der fixen Idee kombiniert. Eingeschr\u00e4nkt auf die niederen Stadien werden beide Theorien vertreten von Ribot und Sully. Die Ansteckungs-\n1 Tarde: Grande Encyclop\u00e9die: Artikel Imitation; vgl. Tarde: Lois de l\u2019imitation S. 214: Imitation de sentiment.\n12*","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nB. Groctkuysm.\nth\u00e9orie vertritt Sutherland auf Grundlage der sensualistischen Theorie der Gem\u00fctsbewegungen ; eine Entstehung von Sympathie durch Nachahmung der Ausdrucksbewegungen kennt Sutherland auch ; doch f\u00fchrt er Sympathie nicht ausschlie\u00dflich darauf zur\u00fcck. Nach K. Lan&e sollen die Gesichts- und Geh\u00f6rsbilder, die das Resultat der Wahrnehmungen k\u00f6rperlicher Gef\u00fchls-\u00e4u\u00dferungen ausmachen, Nachahmungsbewegungen und einen damit verbundenen vasomotorischen Proze\u00df ausl\u00f6sen. Dieser Proze\u00df soll nach seiner bekannten Theorie eine Gem\u00fctsbewegung, in unserem Fall das Mitgef\u00fchl erzeugen.1 * * Als imitativen Affekt par excellence bezeichnet Baldwin in seiner \u201eEntwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse\u201c die Sympathie. * Eine \u00e4hnliche Ansicht, wie die Vertreter der sub 2 angef\u00fchrten Naeh-ahmungstheorie hat schon Spinoza gehabt \u201eAffectuum imitatio, quando ad tristitiam refertur, vocatur com mise ratio.\u201c 8 \u00c4hnlich wie Bain behauptet Fries, da\u00df das, was die Nachahmung f\u00fcr die Bestrebungen, das Mitgef\u00fchl f\u00fcr das Gem\u00fct ist4\nBain. The emotions and the will 2. A. 1865.\nSympathie und Nachahmung bezeichnen beide die Tendenz, in die emotionellen Zust\u00e4nde oder in die Handlungen von anderen einzustimmen, nachdem diese durch die Ausdrucksbewegungen kenntlich gemacht worden sind. Die Sympathie bezieht sich mehr auf unsere Gef\u00fchle, die Nachahmung auf unsere Handlungen.5\nWir haben zwei Stufen in dem Proze\u00df der Sympathie zu unterscheiden: 1. Die Tendenz, einen k\u00f6rperlichen Zustand, Haltung oder Bewegung, die wir an anderen Personen sehen, anzunehmen.\nDoch findet eine solche Nachahmung nur unter gewissen Bedingungen statt; und zwar mu\u00df man folgende Umstande\n1 Langes Abhandlung erschienen in Xydelsen Fytiologi, Kopenhagen 1900. Leider war mir die Arbeit Langes selbst nicht zug\u00e4nglich; meine kurzen Angaben entnehme ich einem kurzen Referate von Pethini in seiner Abhandlung: \u201e\u00dcber die M\u00f6glichkeit der sympathetischen Gef\u00fchle\u201c. Arch. f. s. Ph\u00fc08. 8. 1902.\n*\tBaldwin: Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rane. [Deutsch.] S. 310 f.\n*\tSpinoza: Ethica. P. Ill, Pr. XXVII, Schol. I.\n4\tFbibs: Handbuch der psycholog. Anthropol. 1837. S. 290.\n5\tBain: E. a. w. S. 172.","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n181\ndabei in Betracht ziehen : a) mufe man in gem\u00e4chlicher Stimmung sein und darf nicht von anderer Seite in Anspruch genommen werden ; b) ist ein grofser individueller Unterschied in der F\u00e4higkeit vorhanden einer Gem\u00fctsbewegung starken, klaren und charakteristischen Ausdruck zu verleihen, eine F\u00e4higkeit, die in hohem Mafse Schauspieler und Redner haben ; c) sind die Empf\u00e4nglichkeiten f\u00fcr die Gef\u00fchls\u00e4ufserungen verschieden. Beispiele f\u00fcr die Tendenz eine k\u00f6rperliche Bewegung \u00fcberhaupt nachzuahmen, findet man im Hypnotismus im ansteckenden G\u00e4hnen und Lachen, ferner in der Tatsache, dafs man mit Blicken den Blicken oder den Handbewegungen von anderen folgt1\n2. Annahme eines Bewufstseinszustandes durch Annahme der k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen. Ban? nimmt an, d&fs, wenn der gesamte k\u00f6rperliche Zustand, der ein Gef\u00fchl begleitet, auf irgend eine Weise wieder entstehen k\u00f6nnte, das Gef\u00fchl selbst entstehen w\u00fcrde geradeso, als w\u00e4re dice Gef\u00fchl durch seine eigenem Voraussetzungen erregt Unter k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen versteht Bain hier nicht nur die \u00e4ufseren, sondern auch die inneren. Eine vollst\u00e4ndige Annahme der k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen findet nie statt Ja man kann sogar lernen, nur die \u00e4ufseren Ausdrucks-bewegungen anzunehmen; ein Schauspieler braucht nicht die Leidenschaften zu f\u00fchlen, denen er Ausdruck gibt; andererseits mafe aber bemerkt werden, dafs doch eine allgemeine Tendenz vorhanden i\u00dft, wenn einmal die Ausdrucksbewegungen nachgeahmt sind, auch die inneren begleitenden Zust\u00e4nde und das Gef\u00fchl selbst anzunehmen. Als besonders ansteckende Gem\u00fctsbewegungen sieht Bain das Erstaunen, Zorn, \u00c4rger, Entr\u00fcstung, Schrecken, z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung an.2\nIn M. a. m. S. definiert Bain die Sympathie als ein Gef\u00fchl, das einer Art unfreiwilliger Nachahmung oder Annahme (assumption) von Gef\u00fchls\u00e4ufserungen folgt Nur schr\u00e4nkt Bain hier seine Behauptungen etwas ein. Wenn wir auch die Gef\u00fchls\u00e4ufserungen eines anderen nicht wiederholen, meint er, so haben wir doch die Vorstellung dieser Ausdrucksbewegungen; d. h. es werden wieder dieselben Nerven, an die sich der entsprechende\n1\tBain: E. a. w. S. 174ff.\n2\tEbenda S. 177 ff.","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nB. Groetkuysen.\nBewufstseinszustand kn\u00fcpft, erregt1 \u00dcber das Verh\u00e4ltnis von Sympathie und Nachahmung \u00e4ufsert er sich ebenfalls sehr vorsichtig. Sympathie und Nachahmung, so meint Bain, unterscheiden sich in dem Resultat, haben aber in ihren Grundlagen viel Gemeinsames.2\nBas durch Nachahmung entstandene sympathetische Gef\u00fchl wird dann nach M. a. m. S. zu einer fixen Idee.\nSutherland. 8\nSutherland ist, wie erw\u00e4hnt, Anh\u00e4nger der sensualistischen Theorie -der Gem\u00fctsbewegung.* 4 * Die Gem\u00fctsbewegungen sind ihm Wirkungen k\u00f6rperlicher Zust\u00e4nde und zwar Wirkungen der Ver\u00e4nderungen im allgemeinen Spannungszustand des gesamten Gef\u00e4fssystems.6\nSympathie ist ihm eine induzierte oder auf andere \u00fcbertragene Gem\u00fctsbewegung; sie ist die F\u00e4higkeit, von fremden Gem\u00fctsbewegungen angesteckt zu werden.6 Der Gef\u00fchlsausdruck unserer Nebenmenschen hat die F\u00e4higkeit, uns mit Nerven- und Muskelprozessen anzustecken und dadurch die gleiche Gem\u00fctsbewegung zu erzeugen.7 Die Sympathie bezeichnet so die Nervenempf\u00e4nglichkeit und Mitempfindung, die ein Individuum bef\u00e4higt, von den Gem\u00fctserregungen eines anderen Individuums ergriffen oder angesteckt zu werden.8\nAls Beispiel von ansteckenden Gem\u00fctsbewegungen f\u00fchrt Sutherland die Furcht an, die, wenn von einem Tier ge\u00e4ufsert, alle anderen mitergreift, oder die Tatsache, dafs durch das Beispiel eines mutigen oder feigen Soldaten die Kameraden in der Schlacht mutig oder feige werden.9 Ferner f\u00fchrt Sutherland\n1 Bain: M. a. m. S. 277ff.\n4 Ebenda 8 . 282.\n*\tSutherland: The Origin and Growth of the Moral Instinct. 1888; Referat dar\u00fcber: Schultzb: Psychologie der Naturv\u00f6lker. 1900.\n*\tNach Saunders und Hall soll Sutherland die sensualistische Theorie der Gem\u00fctsbewegungen unabh\u00e4ngig von James und Lange entwickelt haben. Vgl. Saunders und Hall: A. J. of P\u00ab. 11, S. 37\u00f6.\n0\tSchultze: Psychol, der Naturv\u00f6lker. S. 386. \u2014 Sutherland: The Origin and Growth of the Mor. Inst. I, S. 15 ff. ; II, S. 211 ff.\n8 Sutherland a. a. O. II, S. 302. \u2014 Schultze a. a. O. S. 384.\n1\tSutherland a. a. O. II, S. 301.\n8 Schultze a. a. O. S. 388.\n*\tSutherland a. a. O. II, S. 296.","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n183\nan, wie das Singen bei V\u00f6geln, das Kr\u00e4hen bei H\u00e4hnen, das Heulen bei Hunden, das Schreien bei S\u00e4uglingen, das Lachen und L\u00e4cheln bei Menschen und, wie wir wohl im Sinne Sutherlands hinzuf\u00fcgen d\u00fcrfen, nat\u00fcrlich auch die entsprechenden Gem\u00fctsbewegungen, ansteckend wirken.1 Jede Leidenschaft, jedes Gef\u00fchl kann so durch den blofsen Anblick der Haltung eines anderen durch Ansteckung \u00fcbertragen werden, sei es Begeisterung, Hoffnung, Verzweiflung oder eine andere Gem\u00fctsbewegung. 2 * Der Hund braucht nur seinen Herrn anzusehen, und sein emotioneller Zustand ist sofort in \u00dcbereinstimmung mit dem seines Herrn. Von allen Anzeichen von Gem\u00fctserregungen wirkt keines so erregend, wie Blut und Wunden.8 Die F\u00e4higkeit, auf die beschriebene Weise sympathetisch erregt zu werden, ist individuell verschieden. Wie es Leute gibt, die Musik ganz kalt l\u00e4fst, so gibt es Leute, die sogar Freude beim Anblick des Leides haben. Sympathie schliefst eben eine feinere Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr den Gef\u00fchlsausdruck ein, die sich erst allm\u00e4hlich entwickelt hat.4\nDiese sympathetische Nervenempf\u00e4nglichkeit f\u00fcr die Gem\u00fctsbewegung anderer und somit nat\u00fcrlich auch ihre physiologische Grundlage ist bei den wilden Naturv\u00f6lkern noch nicht so fein entwickelt, wie bei dem ethisch empfindenden Kulturmenschen. Es gilt die Regel, dafs je h\u00f6her der nerv\u00f6se Organismus eines Wesens steht, desto mehr dieses Wesen empf\u00e4nglich ist f\u00fcr emotionelle Stimuli, die von Gef\u00fchls\u00e4ufserungen ausgehen.5\nWie sich diese nerv\u00f6se Empf\u00e4nglichkeit noch in neuerer Zeit bei den Menschen entwickelt hat, daf\u00fcr f\u00fchrt Sutherland viele Beispiele an. Er beschreibt, wie unsere Vorfahren Freude fanden an dem Anblick von Torturen, w\u00e4hrend wir ein Verm\u00f6gen herg\u00e4ben, um nicht gezwungen zu sein, dies grausame Spiel anzusehen, wie r\u00f6mische Damen sich an dem Anblick von\n1 Sutherland a. a. O. II, S. 297.\n*\tEbenda S. 299.\n*\tEbenda S. 299f. \u00dcber Sympathie der Hunde vgl. I, S. 331. \u201eIn truth even man himself is less capable than some of the finer scors of dogs of reading the signs of emotions and entering into them by sym pathetic reflexes.\u201c\n*\tEbenda S. 300.\n*\tEbenda 8. 301 ff.\n*\tScHULTZE a. a. 0. 8. 398.\n5 Sutherland a. a. O. II, S. 302.","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nB. Groethuygen.\nGladiatorenk\u00e4mpfen weideten, bei deren Anblick heute die Damen in Ohnmacht fallen w\u00fcrden, wie es viele Leute heutzutage gibt, die nicht Arzte werden k\u00f6nnen, weil sie den Anblick von Blut und Wunden nicht vertragen k\u00f6nnen. Diese h\u00f6here Entwicklung hat nichts mit einer h\u00f6heren Entwicklung von Gerechtigkeit und Rechtsgef\u00fchl zu tun, sondern es bildet sich eine instinktive Abneigung vor den erw\u00e4hnten Anblicken, die sich auf physiologische Unterschiede in der Nervenbeschaffenheit gr\u00fcndet, Unterschiede, die sich bis jetzt nicht direkt aufzeigen lassen, aber sich in ganz verschiedenen nerv\u00f6sen Reaktionen zeigen.1\nZur Erl\u00e4uterung von Sutherlands Theorie sei es noch erlaubt, kurz auf die Entwicklung der Sympathie im Tierreich und bei den primitiven Menschen einzugehen. Die Sympathie hat sich aus den elterlichen Beziehungen entwickelt.2 3 Wenn einmal der elterliche Organismus so empf\u00e4nglich war, um der elterlichen Sympathie f\u00e4hig zu sein, so mufste dadurch auch die Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr \u00e4hnliche Erregungen gewinnen. Dadurch wurde der Grund gelegt f\u00fcr die Sympathie unter Gatten, f\u00fcr die elterliche Gattenliebe. Dieselbe sympathetische Empfindlichkeit, \u201edas Empfindlicherwerden des Organismus\u201c * kn\u00fcpfte das Band zwischen den Br\u00fcdern, Verwandten und Nachbarn4 5, und, wenn es der Kampf ums Dasein erlaubt, so bewirkt diese Empf\u00e4nglichkeit auch Sympathie jenseits aller Verwandtschaft und Stammesverb\u00e4nde.6 7 Dieser Fortschritt in der Sympathie findet statt unter st\u00e4ndiger Ausschaltung der weniger sympathetischen Arten, St\u00e4mme und Individuen.6 Das Gesetz der Sympathie ist das Gesetz des Fortschritts.7 Sutherland weist hin auf den Art erhaltenden Wert der Elternliebe und der Gattenliebe, die den Nachkommen den grofsen Vorteil der vereinigten F\u00fcrsorge beider Eltern zuteil werden liefs8, auf die soziale Sympathie, die einem Stamme von 30 Individuen eine hervorragende \u00dcberlegen-\n1\tSutherland a. a. O. II, S. 2ff.\n2\tEbenda u. a. S. 302.\n3\tEbenda I, S. 29.\n4\tSchultze a. a. O. S. 371. \u2014 Sutherland a. a. O. I, S. 9, 291 ff.\n5\tSutherland a. a. O. S. 369, 292.\n6\tEbenda I, S. 153 ff., 159 u. a.\n7\tSchultze a. a. O. S. 311.\n8\tEbenda S. 368.","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n185\nheit \u00fcber alle anderen Gesch\u00f6pfe in Feld und Wald verleiht, auf die Notwendigkeit stetig wachsender Verb\u00e4nde.1 * * Die Gem\u00fctsbewegungen entstehen zuerst, weil sie helfen, das Individuum zu erhalten ; sie erreichen sp\u00e4ter die Kraft ansteckend zu wirken, weil sie so besser der Erhaltung der Tiere in Gemeinschaft dienen k\u00f6nnen. \u25a0\nSo \u00fcberleben die Organismen mit feinerer nerv\u00f6ser Empf\u00e4nglichkeit die anderen.8 Diese Wirkungen in den nerv\u00f6sen Organismen sind jenseits aller Kontrolle unseres Verstandes.4 5 Sympathie ist keine Lektion, die gelernt werden mufs ; sie ist eine Natur, die erworben werden mufs.8 Es mufs ein physiologisches Substrat vorhanden sein, dessen notwendige Folge dann die Sympathie ist6\nKritik 4er Nachahmungutheorlen.\nB A IN.\nWir haben zwei Behauptungen Bains zu pr\u00fcfen : 1. Die Sympathie entsteht durch Annahme oder Nachahmung von Ausdrucksbewegungen anderer; 2. Sympathie ist ein angeetecktes Gef\u00fchl, eine Nachahmung des Gef\u00fchls eines anderen.\nIch wende mich zu der ersten Behauptung Bains. Die Behauptung, Sympathie entst\u00e4nde durch Annahme von Ausdrucks-bewegungen anderer, ist jedenfalls in dieser Allgemeinheit nicht richtig, Sympathie findet auch ohne Nachahmung der Ausdrucksbewegungen statt. Unsere Behauptung st\u00fctzt sich darauf, a) dafs Sympathie stattfindet, auch wenn die Ausdrucksbewegungen beim Sympathisierenden und bei dem Sympathie erregenden Individuum keineswegs gleich sind. Die Mutter strampelt nicht-wenn das Kind strampelt, verzieht auch ihr Gesicht nicht, wie das Kind beim Schreien, und hat doch Sympathie mit ihrem Kinde, b) Dafs Sympathie gef\u00fchlt wird, wenn auch gar keine Ausdrucksbewegungen vorliegen, die nachgeahmt werden k\u00f6nnten,\n1 Schultze a. a. O. S. 311. \u2014 Sutherland a. a. O. S. 359 ff.\n* Sutherland II, S. 28\u00f6.\n8 Ebenda S. 6. \u00dcber Ausschaltung von Personen mit geringer nerv\u00f6ser Empf\u00e4nglichkeit in neuerer Zeit vgl. ebenda II, S. 5f.\n4\tEbenda II, S. 3.\n5\tEbenda I, S. 363.\nEbenda I, S. 324.","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nB. Oroethuy8en.\nwenn z. B. eine Gem\u00fctsbewegung durch Worte bei vollkommen ruhiger Haltung oder schriftlich mitgeteilt wird.\nAber auch in den F\u00e4llen, in denen Ausdrucksbewegungen vorhanden und bei dem Sympathisierenden und dem Sympathie erregenden Individuum gleich sind, darf man nicht ohne weiteres schliefsen, dafs die Ausdrucksbewegungen des Sympathisierenden \u00fcbernommene Bewegungen sind. Die Mutter ahmt nicht das Weinen ihres Kindes nach und ist infolgedessen bek\u00fcmmert, sondern sie ist bek\u00fcmmert und weint infolge des Kummers. Die Mutter wird nicht, ohne nur den Grund zu kennen, warum das Kind weint, anfangen, das Weinen nachzuahmen, sondern sie wird erst den Grund des Weinens kennen zu lernen suchen, und vielleicht, wenn der Grund ein ernsthafter ist, z. B. schwere Krankheit, ebenfalls weinen ; wir sind denn aber nicht berechtigt, das Weinen der Mutter als Nachahmung zu bezeichnen; es ist vielmehr der Ausdruck ihres eigenen Kummers.\nZuzugeben ist, dafs in gewissen F\u00e4llen eine Gem\u00fctsbewegung bei einem Individuum entstehen kann, die der Gem\u00fctsbewegung eines anderen Individuums gleich oder \u00e4hnlich ist, durch Nachahmung der Ausdrucksbewegungen dieses anderen Individuums. Wenn man sich durch Pfeifen in eine lustartige Stimmung versetzen oder durch H\u00e4ndefalten und Augenaufschlagen zu wirklicher Andacht kommen kann, oder wenn Hysterische, wenn ihnen die Faust geballt wird, alle weiteren Attit\u00fcden des Zornes annehmen \\ so wird dasselbe auch der Fall sein, wenn diese Ausdrucksbewegungen nachgeahmt worden sind. Bain selbst f\u00fchrt die Beobachtung an, dafs wir, wenn es uns gelingt, unseren Z\u00fcgen einen frohen Ausdruck zu verleihen, dazu gelangen, uns in einen frohen Gem\u00fctszustand zu versetzen2; auch das wird durch Nachahmung m\u00f6glich sein. Auch m\u00f6chte ich hier auf das Beispiel des ber\u00fchmten Physiognomisten CampaneliiA hin-weisen, der durch Nachahmung der Geb\u00e4rde, der ganzen Stellung einer Person sich ganz in die Gem\u00fctsverfassung dieser anderen Person versetzen konnte.\u00ae Burke, dem ich dieses Beispiel ent-\n1 Stumpf a. a. O. S. 76. \u2014 Ribot a. a. O. S. 97.\n8 Baut: E. a. w. S. 365; E. e. v. S. 353.\n8 Burke: Philosoph. Unters, \u00fcb. d. Urspr. unserer Ideen des Erhabenen u. Sch\u00f6nen. [Deutsch von Garve 1773.] S. 276 aus Spon: Recherches d\u2019An-tiquit\u00e9; zitiert bei Fechneb: Vorschule d. \u00c4sthet. I, S. 157 und James a. a. 0. H, S. 464.","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n187\nnehmen, behauptet, dafs wenn er die Mienen eines zornigen oder\nfurchtsamen Menschen nachahme, er ganz unwillk\u00fcrlich den\n_ \u2022\u2022\nGang zu dieser Leidenschaft in sich f\u00fchle. \u00c4hnliche Beobachtungen, die aus den Assoziationsgesetzen leicht verst\u00e4ndlich sind, hat Fechneb gemacht. Andererseits mufs aber bemerkt werden, dafs wir unsere Gem\u00fctsbewegungen leichter wieder aufleben lassen durch Reproduzierung ihrer psychischen Ursachen, wie Bain selbst zugibt.1 So werden wir uns leichter in die gleiche Gem\u00fctsstimmung mit einem anderen versetzen k\u00f6nnen durch Erinnerung an entsprechende verursachende psychische Tatbest\u00e4nde, als durch Nachahmung der Ausdrucksbewegungen. Ein Schauspieler versetzt uns in eine Gera\u00fctsstimmung, die der seinen gleich oder \u00e4hnlich sein mag, nicht dadurch, dafs er bewirkt, dafs wir seine Bewegungen nachahmen, sondern durch seine Worte, durch gewisse Vorstellungen, die er erweckt.\nZum Schlufs unserer Einw\u00e4nde gegen die erste Behauptung Bains sei noch erw\u00e4hnt, dafs keineswegs die Entwicklungsperiode im Geistesleben, in der die meiste und ausgesprochenste Nachahmung stattfindet, auch die Periode der h\u00e4ufigsten und ausgesprochensten Sympathie ist. Die st\u00e4rkste Nachahmung findet bei Kindern, Wilden, bei gewissen Geisteskranken und bei gewissen Tieren statt, keineswegs aber die st\u00e4rkste Sympathie.2 * * 5 Wir m\u00fcssen in den sp\u00e4teren Stadien der Entwicklung die Nachahmung von Bewegungen mehr als ein akzidentelles Moment betrachten, das bei manchen Personen zu der Wahrnehmung von Bewegungen hinzutritt.8 Wir glauben also, nachgewiesen zu haben, dafs die erste Behauptung Bains in ihrer Allgemeinheit nicht aufrecht zu erhalten ist, dafs also das Moment, das Bain zur Charakterisierung der Sympathie der Entstehung dieses Ge-\n1 Bain: E. a. w. S. 379f.; E. e. v. S. 362f.\n* Sully: Human Mind II, 8. 219: Imitation at its strongest among\nchildren, savages, certain animals. Nachahmung bei geistig Gest\u00f6rten: Darwin a. a. O. I, S. 108; Sommbr: Lehrbuch der psychopathischen Untersuchungsmethoden S. 174 ; speziell bei Hysterischen : Baldwin : Entwicklung des Geistes etc. 8. 372 (zitiert Charcot); Idioten: Romanbs: Geistige Entwicklung im Tierreich [dtsch.] S. 24\u00f6; speziell Echolalie (willenloses Nachreden vorgesagter Worte): Kr\u00e4pelin: Psychiatrie S. 196; Baldwin a. a. O. 8. 375. Zu dem Ganzen vgl. Romanes a. a. O.: F\u00e4higkeit zur Nachahmung\ncharakteristisch f\u00fcr eine gewisse Epoche der geistigen Entwicklung.\n5 Sommbr a. a. O. S. 174.","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nB. Groethuysen.\nf\u00fchls entnimmt, nicht aie charakteristisches Moment f\u00fcr alle sympathetischen Gem\u00fctsbewegungen gelten kann.\nGegen die zweite Behauptung Bains, Sympathie sei die Tendenz, in die Gem\u00fctsbewegungen eines anderen einzufallen, von seiner Gem\u00fctsbewegung angesteckt zu werden, haben wir einzuwenden, dafs sie den Begriff der Sympathie jedenfalls nicht ausreichend bestimmt Unsere Einw\u00e4nde gegen diese Behauptung sind im wesentlichen dieselben, wie die gegen die Assoziationstheorie. Beide Theorien f\u00fchren nicht zu einem Gef\u00fchl f\u00fcr jemand, sondern nur zu einem Gleichgef\u00fchl. Ich meine, dais dies bei der Nachahmungstheorie noch sch\u00e4rfer hervortritt Alle F\u00e4lle, die Bain anf\u00fchrt, um den ansteckenden Charakter der Gem\u00fctsbewegungen, des Erstaunens, der Furcht, des Zornes, zu zeigen, was haben denn die mit der Sympathie zu tun ? Will man solche Gef\u00fchle sympathetisch nennen, so kann gegen diese Benennung an sich nichts eingewandt werden. Aber das i\u00dft dann nicht die Sympathie, in der wir aus uns heraustreten, und die bewirkt, dafs wir f\u00fcr andere so handeln wie f\u00fcr uns selbst* *, die in der \u00dcbergabe seiner selbst an andere, oder in dem Opfer eines Teils der Pers\u00f6nlichkeit oder des Gl\u00fcckes besteht2 Um als Beispiel die ansteckende Fr\u00f6hlichkeit bei Kindern zu nehmen, will man denn behaupten, dafs jedes Kind sich dar\u00fcber freut, dafs das andere sich freut, und nur das Kind, das zuerst sich freut, sich \u201e egoistisch u freut? Wenn nicht, welches ist denn nun der \u00dcbergang von dieser kindlichen Freude zu der Freude dar\u00fcber, dafs ein anderes Kind sich freut? Oder ein anderes Beispiel! Der Redner soll in uns Sympathie wecken. Aber haben wir denn Mitgef\u00fchl mit dem Redner? Wir sind vielleicht alle ebenso traurig wie er \u00fcber die politischen Zust\u00e4nde; aber vielleicht nur seine Frau, die zuf\u00e4lligerweise in der Versammlung anwesend ist, mag Mitgef\u00fchl mit ihm haben, mag dar\u00fcber traurig sein, dafs er traurig ist\nWas die vorsichtigere Darstellung in M. a. m. S. betrifft, so m\u00fcssen wir bezweifeln, ob bei jeder Vorstellung einer Bewegung wirklich eine Erregung der motorischen Nerven, eine Einleitung der Bewegung in dem Nervenlauf8 stattfindet Doch liegt eine kritische W\u00fcrdigung dieser Theorie aufserhalb unserer Aufgabe.\n1 Bain: E. e. v. S. 108.\n*\tBain: E. a, w. S. 180.\n*\tM. a. m. S. 278.","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n189\nZweifelhaft mufs es uns aber auch abgesehen davon erscheinen, ob denn \u00fcberhaupt bei jedem Mitgef\u00fchl eine Vorstellung von Ausdrucksbewegung stattfindet. Wenn ich brieflich von jemand h\u00f6re, ihn habe dies und dies Ungl\u00fcck betroffen, und Mitleid mit ihm habe, so glaube ich nicht, dafs die psychologische Beobachtung in jedem Fall Vorstellungen von Ausdrucksbewegungen, geschweige denn eine Erregung von motorischen Nerven wird konstatieren k\u00f6nnen. Im \u00fcbrigen richtet sich der Einwand einer ungen\u00fcgenden Charakterisierung auch gegen die Darstellung der Sympathie in M. a. m. S.\nRibot und Sully beschr\u00e4nken die Nachahmung der Ausdrucksbewegungen wenigstens als ausschliefsliches Entstehungsprinzip der Sympathie auf das erste Stadium der Sympathie (Ribot)1 * *, oder auf die einfachste Form der Sympathie, auf die Gef\u00fchlsansteckung (Sully) Gegen diese Ansicht ist einzuwenden, dafs, wenn man Sympathie \u00fcberhaupt in den niederen Stadien bei Tieren und Kindern sehen will, Sympathie dort auch vorkommt ohne Nachahmungsbewegungen. So findet Sympathie ohne gleiche Ausdrucksbewegungen in vielen F\u00e4llen der Sympathie von Hunden mit ihren Herren statt. Wenn die Hunde bei stillen Kundgebungen von Freude und Schmerz ihres Herrn sympathetisch beeinflufst werdenSJ, so weifs ich nicht, wie man da Nachahmung erkennen will. Es d\u00fcrfte \u00fcberhaupt schwer sein, die Ausdrucksbewegungen des Hundes \u2014 vielleicht mit Ausnahme gewisser T\u00f6ne \u2014 als Nachahmung der Ausdrucksbewegungen des Menschen aufzufassen. Wenn der Herr erfreut ist, so wedelt der Hund mit dem Schw\u00e4nze; wenn er traurig ist, so l\u00e4fst der Hund Schwanz und Ohren h\u00e4ngen.4 *\nAuch bei der Sympathie von Kindern scheint die Theorie nicht in allen F\u00e4llen das Richtige zu treffen. Preyeb berichtet, dafs sein Kind im 27. Monat weinte, wenn Papierfiguren durch rasches Schneiden in Gefahr kamen, einen Arm oder einen Fufs zu verlieren, oder dafs es \u201earmer Zwieback\u201c rief, wenn der Zwieback geteilt wurde.6 Auch m\u00f6chte ich hier auf Sullys\n1 RtBOT a. a. O. S. 228 f.\n*\tS\u00fclly: Human Mind II, S. 108 f. ; vgl. Outlines of Psychol. S. 508 ff. il. S. 454.\n*\tSpkitcbb: Pr. d. Ps. S. 638 f.\n4 Sutheblanb a. a. O. I, S. 331. \u2014 Spbncbb a. a. O. II, S. 638 f.\n4 Preyeb: Seele des Kindes. 5. Aufi.\u00bb S. 95 u. 330.","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nB. Groethuysen.\neigene Beispiele von Mitgef\u00fchl von Kindern mit Puppen, Spielzeugen und leblosen Gegenst\u00e4nden \u00fcberhaupt hinweisen.1 In anderen F\u00e4llen, in denen tats\u00e4chlich \u00e4hnliche Ausdrucksbewegungen vorliegen, mag es schwer sein zu entscheiden, ob die Ausdrucksbewegungen oder die sympathetischen Gem\u00fctsbewegungen das Prim\u00e4re sind. So mag es schon in dem Fall der Herdenfurcht \u2014 eine Gem\u00fctsbewegung, die wir allerdings nicht als Mitgef\u00fchl anerkennen konnten \u2014 nicht ohne weiteres zu entscheiden sein, ob Spencers Ansicht \u00fcber die Entstehung dieser Furcht oder die Ansicht, dafs diese Furcht durch Nachahmung der Ausdrucksbewegung entsteht, eine Ansicht, wie sie S\u00fcll y und Groos vertreten, das Richtige trifft.2 F\u00fcr die Nachahmungstheorie scheint zu sprechen, dafs bei Entstehung eines panischen Schreckens die Herdentiere s\u00e4mtlich die gleichen Bewegungen an demselben Ort auszuf\u00fchren pflegen3; doch darf man daraus auch wieder nicht mit Bestimmtheit schliefsen, dafs durch diese Nachahmungsbewegungen die Furcht entstanden ist; es kann sehr wohl zuerst die Furcht entstanden sein, und dann die Art und Weise, sich in Sicherheit zu bringen, nachgeahmt worden sein.\nIn den h\u00f6heren Stadien der Sympathie soll nach Sully der instinktive Faktor der Nachahmung der Ausdrucksbewegungen behindert werden. Doch glauben wir, dafs, wie dieser instinktive Faktor schon auf primitiver Stufe nicht \u00fcberall vorhanden ist, er auf h\u00f6herer Stufe in sehr vielen F\u00e4llen \u00fcberhaupt nicht vorhanden sein wird. Man mufs, glaube ich, Jodl darin recht geben, dafs in dem Mafse, wie unser eigenes Gef\u00fchlsleben sich feiner entwickelt und unsere Vorstellung von fremden Pers\u00f6nlichkeiten reicher und klarer wird, die F\u00e4higkeit sich steigert, abgesehen von aller direkten Nachahmung, aus unbedeutenden Geb\u00e4rden, aus dem gesprochenen Wort innerliche Zust\u00e4nde eines anderen zu erraten und nachzubilden.4\nSutherland.\nGegen Sutherlands Theorie lassen sich dieselben Einw\u00e4nde erheben wie gegen die zweite Behauptung Bains. Die sensualisti-\n1 Sully: Untersuchungen \u00fcber die Kindheit [dtsch.] S. 233f.\n8 Sully: Hum. Mind II, S. 109. \u2014 Groos: Spiele der Tiere S. 73.\n3\tSpencer: Pr. d. Ps. II, S. 637.\n4\tJodl: Psychol. S. 662.","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n191\nsehe Theorie der Gem\u00fctsbewegung scheint mir noch besonders unf\u00e4hig zu sein, die Beziehung der Sympathie auf andere, das Bezugsmoment der Sympathie verst\u00e4ndlich zu machen. Wenn durch Ansteckung eine Ver\u00e4nderung des allgemeinen Spannungszustandes des gesamten Gef\u00e4fssystems und dadurch eine Gem\u00fctsbewegung erregt wird, wie sollte damit gegeben sein, dafs diese Gem\u00fctsbewegung sich auf andere bezieht? Was den Unterschied von Sutherlands und Bains Theorie anbetrifft, so scheint Sutherland im Unterschiede von Bain es nicht als notwendige Voraussetzung der Sympathie anzusehen, dafs die Ausdrucksbewegungen des Sympathie erregenden Individuums nachgeahmt werden. Was erforderlich ist, ist, dafs durch Ansteckung gewisse Ver\u00e4nderungen im allgemeinen Spannungszustand des Gef\u00e4fssystems hervorgebracht werden. Die Ausdrucksbewegungen k\u00f6nnen dann wieder Folgen dieses ver\u00e4nderten Zustandes sein. So spricht Sutherland in einem Fall der Sympathie davon, dafs gewisse Zeichen und T\u00f6ne einen Zustand des Gef\u00e4fssystems hervorgebracht haben, dessen nat\u00fcrliche Konsequenz Schluchzen nnd Tr\u00e4nen sind.1 Wir h\u00e4tten also in diesem Falle zuerst Gesichts- oder Geh\u00f6rseindr\u00fccke der Anzeichen einer Gem\u00fctsbewegung, dann Ver\u00e4nderungen im Gef\u00e4fssystem, und erst als Folge dieser Ver\u00e4nderungen Ausdrucksbewegungen; w\u00e4hrend bei Bain zuerst gewisse Ausdrucksbewegungen entstehen und dann innere Ver\u00e4nderungen. Das Verh\u00e4ltnis der inneren Ver\u00e4nderungen zu der Gem\u00fctsbewegung ist nach Sutherland das Verh\u00e4ltnis zwischen Reiz und Empfindung, w\u00e4hrend bei Bain dieses Verh\u00e4ltnis nicht klar und eindeutig bestimmt wird.\nSutherland weist gem\u00e4fs seiner Theorie mit Vorliebe auf physiologische Ver\u00e4nderungen hin, die beim Anblick fremden Leides entstehen, auf eine zarte Nervenempf\u00e4nglichkeit. K\u00f6nnen dergleichen Zust\u00e4nde wirklich als Sympathie gelten? Nehmen wir gerade das Beispiel des Schauers (horror) vor Blut und Wunden, wie Sutherland selbst einen derartigen Zustand bezeichnet hat Es sind folgende Unterschiede zwischen diesem Schauer und der Sympathie aufzuweisen:\n1. Dieses Schaudern findet statt, auch wenn wir wohl wissen, dafs eine andere Person nicht leidet oder gar keine Person vorhanden ist, die leiden k\u00f6nnte. Sutherland gibt selbst zu, dafs\n1 Sutherland a. a. O. II, S. 301.","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nB. Groethuysen.\nderartige psychische Zust\u00e4nde beim Sezieren von Leichen erlebt werden; ebenso k\u00f6nnen wir einen solchen Schauer empfinden beim Anblick anatomischer Pr\u00e4parate; nur auf gek\u00fcnstelte Weise liefse sich hier der Zustand als Mitgef\u00fchl deuten. 2. Gerade Personen, die allgemein als mitf\u00fchlend gelten, \u00fcberwinden diesen Schauer, wogegen wiederum Leute, die gar nicht zur Sympathie inklinieren, verweichlichte Genufsmenschen z. B. diesen Schauer sehr stark f\u00fchlen. 3. Dieser Schauer hat mit Liebe, die nach Sut hehl and gleichbedeutend mit Sympathie sein soll, gar nichts zu tun, ebenso wenig mit Zuneigung, Hingabe, Aufopferungsf\u00e4higkeit, die nach Sutherland sympathetische Triebe sein sollen. Dieses Schaudern bet\u00e4tigt sich auch nicht im Wohltun. Selbst da, wo Handlungen vollbracht werden, die den Leidenden n\u00fctzen, sind es nicht wohlwollende Handlungen, wenn sie nur darauf gerichtet sind, diesen Schaudern erregenden Anblick loszuwerden.\n4.\tEine genauere Analyse eines solchen Schauders w\u00fcrde ergeben, dafs man es hier sehr oft mit Gef\u00fchlen des Ekels, des Abscheus, mit gewissen Gef\u00fchlen, die unseren \u00e4sthetischen Sinn verletzen, zu tun hat, Gef\u00fchle, die in keiner Weise als sympathetisch gelten k\u00f6nnen.\nWas zugegeben werden kann, ist, dafs in gewissen F\u00e4llen ein solches Gef\u00fchl einen Menschen abhalten kann, seine Mitmenschen zu verwunden oder zu t\u00f6ten. Man k\u00f6nnte vielleicht solche Motive pseudoaltruistische Motive nennen. So mag es sein, dafs gerade nervenschwache Personen abgehalten werden, einem Menschen k\u00f6rperliches Leid zuzuf\u00fcgen ; aber das geschieht dann nicht aus Mitgef\u00fchl.\nEs sei bemerkt, dafs Zust\u00e4nde, wie sie Sutherland beschreibt, sehr oft mit Sympathie verwechselt worden sind. So f\u00fchren A. Smith Spencer -, Brown 8 solche Zust\u00e4nde als Beispiele von Sympathie an. Dagegen hat schon Hume darauf hingewiesen, wie solche Schauer \u2014 er gebraucht als Beispiel den Anblick einer Hinrichtung \u2014 dem Mitleid geradezu entgegengesetzt sind.1 * 3 4\n1 A. Smith: Moral Sentiments. Ausg. v. D. Stewabt S. 31.\n*\tSpencer: Social Statics S. 215.\n3 Th. Bbown : Lectures on the Philosophy of the Human Mind. m.\n5.\t410.\n*\tHume : Treat, of Hum. Nat. B. Il, T. II, Sect. IX.","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Dan Mitgef\u00fchl.\n19 3\nII. Gefiihlskeimtnistheorie.\nBevor wir uns zu weiteren Begriffsbestimmungen der Sympathie wenden, m\u00fcssen wir einer Theorie gedenken, die keine Begriffsbestimmung im eigentlichen Sinne gibt, sondern nur die Identit\u00e4t der Sympathie mit einer wohl meist als verschieden angesehenen psychischen Erscheinung, der Kenntnis der Gef\u00fchle eines anderen behauptet. Als Vertreter dieser Theorie habe ich L Stephen und Schubert - Soldern anzuf\u00fchren.\nL. Stephen.1\nWenn ich an einen Menschen denke, so deute ich seine Haltung und seine Ausdruckebewegungen durch gewisse emotionelle Vorg\u00e4nge. Weifs ich dann auf diesem Wege von seinen Gef\u00fchlen, so habe ich Gef\u00fchls vorstell ungen, die seinen Gef\u00fchlen gleichartig sind, d. h. ich f\u00fchle in einem gewissen Grade, was er f\u00fchlt.2 * 4 Habe ich dann so die Gef\u00fchle anderer in meiner Einbildungskraft realisiert, so sympathisiere ich mit ihnen.:J Das ist in kurzem der Gedankengang L. Stephens. Wenn wir an einen Menschen denken, ohne seine Gem\u00fctsbewegungen und Gedanken vorzustellen, so ist er f\u00fcr uns nur eine bemalte und bewegte Statue.* Wie ich das Bild meines Hauses, wenn ich drinnen sitze, durch erg\u00e4nzende Vorstellungen vollende, indem ich mich in meiner Einbildungskraft aufserhalb des Hauses stelle, so erg\u00e4nze ich das Bild des Bettlers an meiner T\u00fcr durch Gef\u00fchle, die man erlebt, wenn man im Regen und in der K\u00e4lte steht und glaube, in diesen Gef\u00fchlen die des Bettlers vorzustellen. Ich denke erst dann wirklich an den Bettler, wenn ich seine Gef\u00fchle wiederholt habe. Die wirkliche Kenntnis des fremden Menschen schliefst so Sympathie ein. Damit soll nicht geleugnet werden, dafs wir uns mit einer blofsen Kenntnis irgend einer \u00e4ufseren Tatsache begn\u00fcgen k\u00f6nnen. Wenn ich h\u00f6re, dafs jemand geh\u00e4ngt worden ist, so kann ich mich auch damit begn\u00fcgen, einfach daran zu denken, wie ein toter K\u00f6rper h\u00e4ngt5 Auch mag die Kenntnis des Gef\u00fchls von der einfachen Wieder-\n1 L. Stephen: The Science of Ethics. 1882.\n1 L. Stephen: Sc. of Eth. S. 229f.\n:l Ebenda S. 235.\n4\tEbenda S. 229, 239.\n5\tEbenda S. 231 f.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 34.\t13","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nB. Grofthnysm.\nholung des Gef\u00fchls verschieden sein. Die Gef\u00fchlsvorstellung ist nicht nur ihrer Intensit\u00e4t nach von einem Gef\u00fchle verschieden \\ sie kann auch ihrer Qualit\u00e4t nach von dem Gef\u00fchl, das sie vorstellt. verschieden sein.- L. Stephen will keine vollst\u00e4ndige Rechenschaft \u00fcber den Vorgang geben.\nDie Schwierigkeit ist nun nach Stephens Theorie nicht, zu\nbegreifen, dafe der Gedanke an ein fremdes Leid mir Leid bringt,\nsondern wie er jemals Freude bereiten sollte.3 Wie ist Hafs,\nGrausamkeit u. dgL mit dieser Theorie in \u00dcbereinstimmung zu\nbringen ? Stephen hat hier verschiedene Erkl\u00e4rungsweisen. Viele\nArten der Grausamkeit sind nur Unempfindlichkeit Der Mangel\nan Sympathie ist hierbei ein intellektueller Defekt4 Bei den\nFreuden \u00fcber die Leiden eines Feindes wiederum ist das svra-\n*\npathetische Gef\u00fchl rverschluckt\u201c durch eine Menge anderer Gef\u00fchle. Neue Schwierigkeit macht Stephen die psychische Erscheinung der Antipathie. Auch bei Antipathie mufs Sympathie die fundamentale Tatsache sein. Wenn wir gegen jemand Antipathie hegen, so stellen wir uns gewisse Gef\u00fchle vor, die wir fr\u00fcher selbst hatten, und an die wir mit Schaudern zur\u00fcckdenken. Ein Mensch ist uns antipathisch, weil wir teilweise seine Gef\u00fchle teilen k\u00f6nnen. So kann der Hei\u00fcge den sinnlichen Menschen nicht leiden.* * Anders verh\u00e4lt es sich mit der reinen Bosheit, der reinen Freude \u00fcber die Leiden anderer. Hier wird eine Erkl\u00e4rung versucht mit der Behauptung, dafs wir eine gewisse Lust in jeder Art von Erregung f\u00fchlen. So finden die Spanier, so fanden die alten R\u00f6mer Vergn\u00fcgen an blutigen Schauspielen. Was den noch widerlicheren Fall der menschlichen Ungeheuer, von denen uns die Geschichte erz\u00e4hlt, betrifft, so mufs das Problem, wie dieser Gef\u00fchlszustand zu deuten ist, den Psychologen \u00fcberlassen bleiben. Doch mufs jedenfalls bemerkt werden, dafs das auch hier gef\u00fchlte Leiden nur ein Bestandteil eines Gef\u00fchlskomplexes ist, und dafs solche F\u00e4lle selten und unnormal sind. Sympathie bleibt die nat\u00fcrliche und urspr\u00fcngliche Tatsache.0\n1\tL. Stephen: Sc. of Eth. S. 230.\n2\tEbenda S. 232.\n1 Ebenda S. 238.\n*\tEbenda S. 232.\n*\tEbenda S. 234f.\n*\tEbenda S. 236 f.","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n195\nSympathie ist so enthalten in allen Gedanken an andere. Der zugrunde liegende Prozefs ist sympathetisch, wenn auch in unz\u00e4hligen F\u00e4llen Antipathie und Streit erzeugt wird. \u201eWir k\u00f6nnen sagen, dafs wir an andere Menschen denken, dadurch, dafs wir andere Menschen werden.\u201c1 * 3 Die Sympathie, das reflektierte Gef\u00fchl ist normalerweise viel weniger scharf wie das direkte Gef\u00fchl. Der Gedanke an die Schmerzen des Verhungerns bringt kein Gef\u00fchl hervor, das sich vergleichen liefse mit dem Verhungern selbst Unter gewissen Umst\u00e4nden aber kann das Leiden ein mitf\u00fchlendes Individuum mehr anspomen, als \u00e4hnliches eigenes Leiden. Das Bild des fremden Leides kann einen ganzen Strom von angeh\u00e4uften Gef\u00fchlen in Bewegung setzen. So kann z. B. einem Manne, der am Krankenbett seiner Frau wacht, ein Unfall, der seiner Frau zust\u00f6fst, eine ganze Reihe von Angstgef\u00fchlen, Hoffnungen und Bef\u00fcrchtungen wecken, und so der Mann durch einen Unfall, der seiner Frau zust\u00f6fst, mehr erregt werden als durch einen Unfall, der ihm selbst zustofsen w\u00fcrde.\nSCHUUEET-SOLDERN. \u2018\nF\u00fcr Schubert - Soldebn gelten die beiden Gleichungen: \u201eGef\u00fchl kennen = Gef\u00fchl f\u00fchlen\u201c8 und: \u201eseinen Nebenmenschen kennen = die Gef\u00fchle seines Nebenmenschen kennen = die Gef\u00fchle seines Nebenmenschen f\u00fchlen = Mitf\u00fchlen.4 So heifst den Mitmenschen erkennen, mit ihm f\u00fchlen.5 Die Lust anderer ist erschlossen aus Zeichen an und von anderen.6 Die so erschlossene fremde Lust ist meine Lust. Der Unterschied zwischen meiner eigenen und fremder Lust besteht nur darin, dafs meine Lust unmittelbar an die sie erzeugenden Vorstellungen und Wahrnehmungen gekn\u00fcpft ist, w\u00e4hrend fremde Lust durch Bewegungen und Laute eines fremden K\u00f6rpers erkannt wird, die jene Vorstellungen hervorrufen, mit welchen unmittelbar Lust verbunden ist. Die Vorstellungswelt mit ihren\n1 L. Stephen: Sc. of Eth. S. 237:\n*\tSchubkbt - Soldebn : Grundlagen zu einer Ethik, 1887; Reproduktion, Gef\u00fchl und Wille, 1887 ; Das menschliche Gl\u00fcck und die soziale Frage, 1896.\n3\tSchubebt-S.: Grdlg. z. e. Eth. S. 117f.\n4\tEbenda S. 114.\n5\tEbenda 8. 118, 77.\n*\tEbenda S. 36.\n13*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nB. Oroethuysen.\nGef\u00fchlen ihrer Lust und ihrem Leid scheidet sich in zwei Teile : in jene Gef\u00fchle, die erst mittelbar durch wahrgenommene Laute und Bewegungen (Mieuenspiel etc.) und in jene Gef\u00fchle, die unmittelbar durch Vorstellungen ohne jede symbolische Hilfe hervorgerufen werden. Jene ersten Gef\u00fchle sind sogenannte Gef\u00fchle anderer, fremde Gef\u00fchle; die zweiten sind eigene Gef\u00fchle.1 Und zwar ist jeder um seines eigenen Vorteils willen gezwungen, seinen Nebenmenschen kennen zu lernen, um auf ihn einzuwirken, ihn f\u00fcr dies zu gewinnen, von jenem abhalteu zu k\u00f6nnen.- So bedarf der Egoismus selbst der Erkenntnis des Mitmenschen, und in dieser Erkenntnis ist das Mitgef\u00fchl mit ihm schon eingeschlossen.0\nWas die altruistischen Handlungen anbetrifft, so h\u00e4ngt es garnicht von dem Handelnden ab, ob die Lust und Unlust anderer auf ihn wirken soll oder nicht; sie wirkt auf ihn, soweit sie erschlossen ist als Lust und Unlust, wie jede Lust und Unlust, die er f\u00fchlt.4 \u201eDer Egoist lebt ein Traumleben in bezug auf die Anderen, sie sind ihm nur teils stumme Werkzeuge f\u00fcr seinen Genufs, teils stumme Schatten, die seinen Genufs st\u00f6ren.\u201c6 Die edleren Charaktere hingegen kennen die Gef\u00fchle anderer besser als die eigenen. Ihre eigenen Gef\u00fchle dr\u00fccken sich in einen dunklen Winkel des Herzens zusammen und sch\u00e4men sich dort oft noch, dafs sie \u00fcberhaupt da sind.0 Im allgemeinen wird die Liebe zu Bekannten und Verwandten st\u00e4rker sein als jene, zum Menschen \u00fcberhaupt \u201eDie erste und vornehmste Ursache ist, dafs sich die erschlossenen Gef\u00fchle der Freude und des Schmerzes eng assoziieren mit der \u00e4ufseren Erscheinung, aus der sie erschlossen werden; so findet stets eine gegenseitige Verst\u00e4rkung der Erinnerung statt\u201c \u201eDie zweite Ursache ist die genauere Kenntnis des Gef\u00fchlslebens bei Bekannten und Verwandten\u201c ;7 denn je n\u00e4her ich einen Menschen in seinen Gef\u00fchlen kenne, desto mehr mufs ich mit ihm Mitfreude und Mitleid haben.\u201c\n1 Schubkut-S. : Grdlg. z. e. Eth. S. 31.\n- Ebenda S. 115.\n:t Ebenda S. 117.\n4 Ebenda S. 34.\n\u25a0\u2019 Ebenda S. 148.\n\" Ebenda S. 151.\n7 Ebenda S. 99 f.\nh Ebenda S. 101.","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n197\nW\u00e4hrend Schubert - Solders in seiner Grundlegung zu einer Ethik gar keinen Unterschied zwischen \u201efremder und eigener Lust\u201c kennt, so schr\u00e4nkt er diesen Standpunkt in seinem Werke \u00abDas menschliche Gl\u00fcck und die soziale Frage\u201c etwas ein. Zwar kann auch jetzt noch f\u00fcr ihn kein wesentlicher Unterschied zwischen den \u201eerschlossenen Gef\u00fchlen und solchen, die ich unmittelbar habe\u201c, bestehen ; aber es kann doch ein Unterschied des Grades vorhanden sein.1 Auch in einer anderen Beziehung werden die erschlossenen Gef\u00fchle stets hinter den unmittelbar gegebenen Zur\u00fcckbleiben. \u201eDie fremden Vorstellungen, an welchen das Gef\u00fchl des Mitmenschen h\u00e4ngt, werden niemals in jener Vollst\u00e4ndigkeit, Lebhaftigkeit und Klarheit erschlossen werden k\u00f6nnen, die meine eigenen unmittelbar gegebenen Vorstellungen besitzen; sie werden sogar vielfach in blofsen Analogien vorgestellt werden m\u00fcssen, wenigstens \u00fcberall da, wo der betreffende mir gar nicht oder sehr wenig bekannt ist.\u201c2 * Im \u00fcbrigen aber steht Schubert-Soldeur noch auf dem Standpunkt, dafs, wenn ich die Gef\u00fchle des Mitmenschen kenne, sie zu meinen Gef\u00fchlen geworden sind, ich selbst dann Freuden und Schmerzen des anderen f\u00fchle.8\nKritik der (\u00bbef\u00fchlskeuutnistlieorie.\nDie grundlegende Ansicht Schubert - Soldeur * und Stephens ist die Gleichsetzung von \u201eGef\u00fchl anderer kennen\u201c und \u201eGef\u00fchl anderer f\u00fchlen\u201c. Was heilst zun\u00e4chst Gef\u00fchle kennen?\nStephen spricht davon, dafs, wenn man weifs, dafs ein Mensch gewisse Gef\u00fchle hat, man repr\u00e4sentative Gef\u00fchle hat. Er stellt dazu in Gegensatz die Betrachtung des Menschen als bemalte und sich bewegende Statue.4 Schubert - Soldern stellt in Gegensatz zu \u201eGef\u00fchl kennen\u201c das Bemerken der Zeichen und Worte fremder Leiden, ohne sie deuten zu k\u00f6nnen oder zu wollen.5 Wenn ich also die Zeichen und Worte fremder Leiden deuten kann oder will, so f\u00fchle ich die fremden Leiden. Kenne ich die Bedeutung der Worte und Mieuen, dann heifst es nichts anderes, als dafs ich die zugrunde liegenden Freuden und\n1\tSchubert -S. : I). m. Gl. S. 61.\n2\tEbenda S. 62.\n#s Ebenda S. 63.\n* L. Stephen a. a. O. S. 330.\ns Schubert-S.: Grdlg. z. e. E. S. 93.","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nB. Grocthuyscn.\nLeiden f\u00fchle.1 2 * Stephex und Schubert - Soldebx behaupten also, dafs, wenn ich weife, dafs ein anderer Gef\u00fchle hat, ich diese Gef\u00fchle f\u00fchle. Gegen diese Behauptung m\u00fcssen wir folgende These aufstellen: Ich kann wissen, dafs ich bestimmte Gef\u00fchle erlebt habe oder erleben werde ; ich kann wissen, dafs ein Mensch gewisse Gef\u00fchle f\u00fchlt, ohne dafs ich diese Gef\u00fchle tats\u00e4chlich f\u00fchle.\nIch kann wissen, dafs ich vor Jahr und Tag ungl\u00fccklich war, ohne jetzt bei dieser Erinnerung ein Unlustgef\u00fchl zu haben. Schon Augustixus sagt: _Xam et laetatum me fuisse, reminiscor non laetus, et tristitiam meam praeterit&m record or non trist\u00ees ; et me aliquando timuisse recolo sine timor\u00e9 .... Aliquando e contrario tristitiam meam transactam laetus reminiscor et tristis laetitiam.\u201c -\nF\u00fcr weitere Dokumente der Selbstbeobachtung verweisen wir auf Ribot Ps. d. s.:\u00ee Lipps bemerkt, dafs wir uns sehr wohl des Behagens beim Genufs einer Speise erinnern k\u00f6nnen, ohne im mindesten das Behagen wieder zu f\u00fchlen, ja, dafs man sich sogar oft bei dem Gedanken an eine Speise sch\u00fcttelt, die man vorher mit Behagen genossen hat und in vollem Bewufstsein jenes Behagens.4 Nun nehmen wir an, wir w\u00e4ren in einem solchen Zustand und wir s\u00e4hen einen anderen diese Speise mit Behagen geniefsen, sollten wir wirklich nicht wissen k\u00f6nnen, dafs der Betreffende die Speise mit Behagen geniefst?\nWir kommen aber nun zu dem eigentlichen experimentum crucis. Stephen und Schubert-Soldebx geben zu, dafs wir uns an fremder Leute Schmerz erfreuen k\u00f6nnen.5 Die Frage ist nun, ob wir dabei selbst Schmerz f\u00fchlen oder nicht Stephen gibt selbst zu, dafs hier die Schwierigkeit in seiner Theorie liegt\n1\tSchubekt-S. : Grdlg. z. e. E. S. 114.\n2\tAugustinus: Confessiones X 13. In X 14 sucht Augustinus diese psychische Tatsache durch ein Beispiel zu erl\u00e4utern: \u201eNimirum ergo memoria quasi venter est animi, laetitia vero atque tristitia quasi cibus dulcis et amarus, cum memoria commendantur, quasi traiecta in ventrem recondi illic posaunt, sapere nou possunt.\u201c Im weiteren Verlaufe weist dann Augustinus darauf hin, wie wohl niemand von Trauer oder Furcht sprechen w\u00fcrde, wenn jeder immer Furcht und Trauer f\u00fchlen m\u00fcfste.\n*\tRibot a. a. O., Beispiele der \u201efausse m\u00e9moire affective\u201c, S. 149f., 153 u. a.\n%\n*\tLipps: Grundtatsachen des Seelenlebens. S. 198.\nSchubert-S.: D. menschl. Gl. S. 60. \u2014 Stephen a. a. O. S. 232.","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n199\nEr und Schubert-Soldern haben die Frage ausf\u00fchrlich behandelt1 Bain hat gegen die Ausf\u00fchrungen Stephens polemisiert.2\nWir wollen hier von vornherein die F\u00e4lle ausschliefsen, in denen ein Mensch grausam ist, ohne von dem Schmerz anderer Leute zu wissen8, so unwahrscheinlich auch die Ansicht Schubert-Solderns sein mag, dafs der Mensch f\u00fcr grausame Wilde oft nur Sache wie die Feldfrucht ist4\nUnsere Frage ist nur, ob wir denn wirklich bei der Lust an fremden Schmerzen immer Schmerzen und bei der Unlust an fremden Freuden immer Lust f\u00fchlen. Nach manchen Psychologen scheint es nun von vornherein unm\u00f6glich, dafs wir zu gleicher Zeit Lust und Unlust f\u00fchlen. Doch wird die Ansicht nicht von allen Psychologen geteilt6 Wie dem auch immer sei,\n1\tL. Stephen a. a. O. S. 232\u2014238. \u2014 Schubert - S. : Gef., Repr. etc. S. 96 ff., 103; Grdlg. z. e. Eth. S. 37, 92 ff., 115, 122, 141 f.; D. menschl. Gl. etc. S 60.\n2\tBain: On some Points in Ethics. Mind 83, S. 61 ff. Gegen die Ansicht Bains hat Bradley: \u201eIs there such a thing as pure malevolence?\u201c polemisiert. Ebenda S. 415ff. Gegen Bradley wiederum Bain: \u201eIs there Buch a thing as pure malevolence?\u201c Ebenda S. 562ff. Vgl. auch Bain: M. a. m. S. S. 266. Die Diskussion dreht sich indessen um eine Frage, auf die wir uns hier nicht einlassen k\u00f6nnen, n\u00e4mlich, oh es reine uninteressierte Bosheit gibt, reine Freude an der Unlust anderer.\n* Schubert - S. : Grdlg. z. e. E. S. 95. \u2014 Vgl. Stephen a. a. O. S. 232.\n4\tSchubert-S.: Grdlg. z. e. E. S. 115.\n5\tDafs wir nicht gleichzeitig Lust und Unlust f\u00fchlen k\u00f6nnen, behauptet Rbhmke (Lehre vom Gem\u00fct S. 24 ff.). Rehmke f\u00fchrt gerade als Beweis f\u00fcr die Existenz von Geftihlsvorstellungen an, dafs wir nicht mehrere Gef\u00fchle zu gleicher Zeit f\u00fchlen k\u00f6nnen und doch von mehreren Gef\u00fchlen wissen (Lehrb. d. allgem. Psychol. S. 340). Dagegen nehmen an, dafs man zu gleicher Zeit Lust und Unlust f\u00fchlen k\u00f6nnte: J. St. Mill (zitiert bei Bain: E. e. v. S. 285), Spencer (Pr. d. Ps. I, S. 632), E. v. Hartmann (Ph\u00e4nomenol. d. sittl. Bewufsts. S. 218), H\u00f6ffding (Psychol. S. 299 ff. in \u00dcbereinstimmung mit Sibbern, zitiert ebenda S. 300), Lehmann (Hauptges. des menschl. Gef\u00fchlslebens S. 216 ff. u. 252 ff.), Ribot (a. a. O. S. 263 ff.), Ebbinghaus (Psychol. S. 540), wobei wir auf die Frage, in welchem Verh\u00e4ltnis (Mischung bzw. welche Art der Mischung oder Koexistenz), die gleichzeitigen Gef\u00fchle zueinander stehen, nicht n\u00e4her eingelien. Es sei nur bemerkt, dafs es sich in unserem Falle nicht um gemischte Gef\u00fchle im eigentlichen Sinne, nach H\u00f6ffding und Sibbern, handeln kann, oder um eine \u201ecomposition par combinaison\u201c im Sinne Ribots, da dann die einzelnen Bestandteile, in unserem Falle also auch das Gef\u00fchl des anderen, nicht gesondert bemerkt w\u00fcrden ; dafs dagegen aber wohl der Fall von Koexistenz von Gef\u00fchlen im Sinne Saxingkrs (Dispositionspsychologisches \u00fcber Gef\u00fchlskomplexionen. Zeitschr. f. Psychol. 30, S.399ff. 1902) in Betracht kommen k\u00f6nnte.","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nB. Gr\u00f6ethnysen.\nunsere Frage bleibt bestehen, ob denn der Mensch wirklich, wenn er vor Neid r berstet44,1 doch noch immer Lust, und der Mensch, der die reinste Schadenfreude f\u00fchlt, immer Unlust f\u00fchlt Nat\u00fcrlich k\u00f6nnen Schubert - Soldebk und Stephen nicht behaupten, dafs diese Lust und Unlust immer eine intensive sei. Die Unlust kann verschlungen werden, wie Stephen bei einem Fall der Feindschaft sagt,2 oder sie tritt in den Hintergrund,3 oder es ist nur eine geringe Beimischung fremder Lust als unmittelbar eigener vorhanden, wie Schubert -Soldern beim Hasse sagt.4 Aber f\u00fchlt ein Othello wirklich, wenn er nur weifs, dafs Jagor Lust f\u00fchlt, oder ein K\u00f6nig Lear, wenn er nur weifs, dafs seine mifsratenen und gehafsten T\u00f6chter gl\u00fccklich sind, immer ein wenig Lust? Und zwar gen\u00fcgt es nicht, dafs die Lust un-bew ufst ist oder gar nicht bemerkt wird ; denn wenn dies der Fall w\u00e4re, w\u00fcfste ich ja nach der gegnerischen Ansicht gar nicht mehr, dafs die anderen gl\u00fccklich sind. K\u00f6nig Lear und Othello m\u00fcfsten mit vollem Bewufstsein diesen Rest von Lust bemerken. Schubert-Soldern spricht davon, dafs oft Zeichen fremder Gef\u00fchle in mir keinen Wiederhall linden, weil ein vorherrschendes Gef\u00fchl des Hasses oder andere Gef\u00fchle ihre Deutung verhindern.* Wenn aber die Gef\u00fchle keinen Wiederhall finden, so sind sie eben nicht f\u00fcr mich vorhanden ; und doch wird wohl niemand behaupten, dafs f\u00fcr den K\u00f6nig Lear seine T\u00f6chter zu farbigen Automaten geworden sind. Ebenso wenig kann man sich mit Ausdr\u00fccken wie \u201eVerschlungentverden\u201c oder in rden Hintergrund treten4, helfen.\nWenn wir aber nun wirklich annehmen wollen, dafs in den von uns angef\u00fchrten F\u00e4llen eine kleine Lust gef\u00fchlt wird, was ist denn damit gewonnen? Wenn ich einen Menschen hasse, von dem ich weifs, dafs er sehr gl\u00fccklich ist, so habe ich nach der Behauptung Schubert -Solderns eine kleine Beimischung von Lust; aber dann mufs ich doch wissen, dafs diese kleine Beimischung nicht gleich an Intensit\u00e4t dem grofsen Gl\u00fccke des\n1\tVgl. Bacon : Essays ^the last edition : Essay IX) :..of all other\naffections it (sc. the affection of envy) is the most importune and continual.\n2\tStephen a. a. O. S. 234.\n3\tSchubert - S. : Gef., Repr. u. W. S. 103.\n4\tEbenda S. 99.\nr' Schi bbrt-S. : Grdlg. z. e. E. S. 101.","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n201\nGehalsten ist, dafs sie vielmehr f\u00fcr mich nur ein subjektives Zeichen ist, das ich auf das grofse Gl\u00fcck des Gehalsten deute. Schubert - Sqldern selbst sagt, dals die vergangene Lust in der Reproduktion oft auf ein Minimum sinkt, dafs aber Zeichen des Maises der vergangenen Lust in Erinnerung bleiben.1 Aber daun w\u00e4re doch auch in unserem Fall zuzugeben, dafs wir ein Minimum von Lust und zu gleicher Zeit ein Zeichen des Maises der bei anderen vorhandenen Lust haben k\u00f6nnen. Wenn aber dem so ist, so ist die Gleichung Schubert -Soldern zum mindesten in ihrer Allgemeinheit unexakt. Dann ist das \u201eGef\u00fchl eines anderen kennen\u201c nicht \u201edas Gef\u00fchl eines anderen f\u00fchlen\u201c, sondern dann mufs es in unserem Falle heifsen: \u201eGef\u00fchl eineB anderen kennen\u201c ist* \u201egewisse sehr schwache Gef\u00fchle f\u00fchlen, die wir auf sehr starke Gef\u00fchle eines anderen deuten k\u00f6nnen\u201c. Wenn aber dem so ist, so ist leicht einzusehen, dafs der ganze Rau Schubert - Soldera zusammenbricht. Denn, wenn der Tyrann bei dem Anblick der grausigsten Marter nur den Schmerz eines kleinen Nadelstichs f\u00fchlt, den er auf die gr\u00e4fs-lichsten Marter deuten kann, wo bleibt dann die Vers\u00f6hnung des Egoismus und Altruismus, die Schubert-Soldern erstrebt? Weiterhin m\u00fcssen wir dann fragen, warum denn nicht an Stelle des Nadelstichs gewisse intellektuelle Elemente treten k\u00f6nnen, die wir dann auf die Gef\u00fchle der Gemarterten deuten.\nWenn nun aber die Gleichung : \u201eGef\u00fchl kennen\u201c \u2014 \u201eGef\u00fchl f\u00fchlen\u201c in dieser Allgemeinheit nicht richtig ist, wrorin kann denn eine Gef\u00fchlskenntnis, die nicht mit dem Vorhandensein des Gef\u00fchls selbst identisch ist, bestehen? Drei Antworten sind m\u00f6glich. 1. Es findet in der Gef\u00fchlskenntnis nur eine symbolische Vorstellung von Zeichen und \u00e4ufseren Umst\u00e4nden statt; 2. es findet dabei eine Gef\u00fchlsvorstellung statt, die sich analog zu den Gef\u00fchlen verh\u00e4lt, wie eine Sinnesvorstellung zu den Sinnesempfindungen; 3. es findet eine rein begriffliche Konzeption von Gef\u00fchlen statt. Welche von diesen Ansichten das Richtige trifft, oder ob alle drei in gewissen F\u00e4llen ihre Richtigkeit haben, haben wir hier nicht zu entscheiden.\nHier sei noch kurz auf die Beobachtungen einige Psychologen hingewiesen, die als Belege f\u00fcr unsere These gelten k\u00f6nnen. Lotze spricht von den Gef\u00fchlsvorstellungen als von unwirk-\n* Schcbekt-S.: (lef., Repr. u. W. S. 115.","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nB. Grocthuysen.\nI\nlichen, erregungslosen Gebilden der Erinnerung1 * *, von der schmerzlosen Vorstellung von Schmerzen ; - er behauptet, dafs die Vorstellung der gr\u00f6fsten Qual nicht weh tut, dafs aber trotzdem die Vorstellung den Schmerz ganz genau vorstellt;* oder an einer anderen Stelle, dafs die Vorstellung der intensivsten Qual nicht schmerzt und nichts ist gegen die Realit\u00e4t der kleinsten wirklichen Verletzung.4 Lipps spricht von schattenhaften, blutleeren, f\u00e4rb- und klanglosen Nachbildern;5 6 ebenso Ebbinghaus von schattenhaften und teilnahmslosen Abbildern fr\u00fcher erlebter Lust und Unlust\u00ae Sehr scharf haben ferner unterschieden zwischen Gef\u00fchl und Gef\u00fchlsvorstellung Dilthey7 *, Jodl1*, Witasek9, Saxinger.10 Sehr eingehend hat Rehmke diesen Unterschied charakterisiert11 Eine Vorstellung von Lust und Unlust, die man gegenw\u00e4rtig nicht f\u00fchlt, nimmt auch Ehrenfels an; er h\u00e4lt eine solche Vorstellung f\u00fcr eine abstrakte oder indirekte.12 Von Gedankennachbildern ohne Gef\u00fchlswert spricht Simmel.13 Reiches Beobachtungsmaterial tr\u00e4gt Ribot in seinen Beispielen der \u201em\u00e9moire fausse ou abstraite* zusammen.14\n1 Lotze: Mediz. Psychol. S. 478.\n4 Lotzk: Kl. 8chr. II, 8. 97.\n1 Lotze: Grundztige der Psychologie S. 16.\n*\tLotze: Metaphysik. 2. Aufl, 8. 520, vgl. auch Mikr. I, 8. 229; Ober Geftthlsvorstellungen vgl. ferner Gesch. d. \u00c4sth. S. 646.\nLipps: \u00c4sthetische Einf\u00fchlung. Zeitschrift f. Psychol. 22, S. 429. \u2014 Vgl. ferner Lipps : Grundtats. d. Seelenlebens S. 197 ; Bemerk, zur Theor. der Gef\u00fchle. Vierteljahrsschr. f. miss. Philos. 1889, S. 174.\n6\tEbbinghaus: Psychologie S. 554.\n7\tDilthey: Das Schaffen des Dichters; in den Zelleraufs\u00e4tzen S. 345: r. . es gibt ferner eine Nachbildung fremder Gef\u00fchls- oder Willensvorg\u00e4nge, die sich von dem Erlebnis so spezifisch unterscheidet als die Vorstellung von der Wahrnehmung44.\n*\tJodl: Psychol. S. 141.\n\" Witasek a. a. O. S. 6.\n10 Saxinger a. a. O. S. 402.\nn Rehmke : Lehre vom Gem\u00fct S. 36; Lehrb. d. allgem. Psychol. S. 335ff.\n14 Ehrenfels: System d. Werttheorie I, S. 26; derselben Ansicht Gboos: Der \u00e4sthetische Genufs. 1902. S. 209.\n13\tSimmel: Recension v. Schubert-S., Grdlg. z. e. Eth. Zeitschr. f. Phil. u. philos. Krit. 1888, S. 269. Auch nach James (Pr. of Ps. II, S. 550) braucht der Gedanke an Lust selbst nicht Lust zu sein.\n14\tRibot a. a. O. S. 160: \u201eLa memoire affective fausse ou abstraite consiste dans la repr\u00e9sentation d\u2019un \u00e9v\u00e9nement plus une marque affective","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n203\nEs sei erlaubt, f\u00fcr die von den zitierten Psychologen beobachtete psychische Erscheinung den Terminus Gef\u00fchlsvorstellung zu gebrauchen, wobei es sich um Vorstellung von Zeichen und \u00e4ufseren Umst\u00e4nden oder um Gef\u00fchlsvorstellungen im eigentlichen Sinne in Analogie mit den Sinnesvorstellungen oder um eine begriffliche Konzeption handeln kann.\nWir haben zun\u00e4chst diese Gef\u00fchls Vorstellungen exemplifiziert an Beispielen von Lust an fremder Unlust und Unlust an fren\u00e4der Lust. Nat\u00fcrlich sind die Gef\u00fchlsvorstellungen nicht auf solche F\u00e4lle beschr\u00e4nkt.\nWir werden solche Vorstellungen anzunehmen haben bei allen Menschen, die sich mit dem Gef\u00fchlsleben ihrer Mitmenschen viel aus praktischen oder aus wissenschaftlichen Gr\u00fcnden zu besch\u00e4ftigen haben1, wie z. B. Diplomaten, Psychologen, Psychiatern. Das was man als Menschenkenntnis bezeichnet, wird ebenfalls zu einem grofsen Teil in einer Ausbildung von Gef\u00fchlsvorstellung bestehen. Es sei hier auf Rousseau hingewiesen : \u201eQue faudroit-il donc pour bien observer les hommes? ... un c\u0153ur assez sensible pour concevoir toutes les passions humaines et assez calme pour ne les pas \u00e9prouver.\u201c *\nAlle diese Beispiele sind Belege daf\u00fcr, dafs die Gleichung Schubert -Solderns und Stephens nicht richtig ist; sie zeigen, dafs man die Gef\u00fchle eines anderen ganz genau kennen kann, ohne sie zu f\u00fchlen. Damit ist aber auch schon nachgewiesen,\n\u2014 je ne dis pas un \u00e9tat affectif\u201c. Im Gegensatz gegen diese Art der Gef\u00fchlserinnerung besteht \u201ela m\u00e9moire affective vraie ou concr\u00e8te\u201c in der aktuellen Reproduktion eines vorhergehenden affektiven Zustandes mit allen seinen Merkmalen (ebenda S. 161). Den Nachweis, dafs es ein \u201ewahres Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis\u201c gibt, hat Rlbot nicht gef\u00fchrt. Er bemerkt, dafs Vorstellungen sich von Empfindungs- und Gef\u00fchlszust\u00e4nden nur durch gewisse \u201emarques additioneiles\u201c unterscheiden, f\u00fcgt aber hinzu \u201equ\u2019il n\u2019importe pas d\u2019\u00e9numerer\u201c (a. a. O. S. 168). Wenn aber der Nachweis gef\u00fchrt werden soll, dafs es sich bei dem \u201ewahren Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis\u201c nicht um Neu-produzierung, sondern um Reproduzierung von Gef\u00fchlen handelt, so k\u00f6nnte der Beweis nur gef\u00fchrt werden auf Grund solcher \u201emarques additioneiles\u201c.\nVon \u00e4lteren Philosophen seien als Zeugen daf\u00fcr, dafs man von Gef\u00fchlen wissen kann, ohne sie zu f\u00fchlen, Augustinus (vgl. oben), Rousseau (weiter unten im Text zitiert), Schopenhauer (Parerga und Paralipomena IV. T., Kap. 26, \u00a7 374) angef\u00fchrt.\n1 Vgl. Witasek a. a. O. S. 47. \u2014 Bain: E. e. v. S. 117. \u2014 Rehmke: Lehrb. d. allg. Ps. S. 339.\n* Rousseau: Emile. (Paris, Garnier.) S. 268.","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"*204\nB. frrtiefhuysen.\ndais die Gleichung : -Gef\u00fchl eines anderen kennen\" \u2014 \u201eSympathie\" in ihrer Allgemeinheit falsch ist.\nIm vorhergehenden haben wir gegen eine Behauptung zu polemisieren gehabt, die von Stephen und von Schchert-Solde kn vertreten wird. Es mufs indessen anerkannt werden, dafs von beiden Stephen der vorsichtigere ist Er bemerkt, dafs er keine vollst\u00e4ndige Rechenschaft \u00fcber die Vorg\u00e4nge geben will und gibt die M\u00f6glichkeit zu. dafs zwischen \u201eGef\u00fchl kennen\" and einer einfachen Wiederholung des Gef\u00fchls gewisse Enter schiede bestehen k\u00f6nnen. Aber diese nachtr\u00e4gliche Einschr\u00e4nkung kann uns \u00fcber die Schwierigkeiten nicht hinweg helfen; seine Theorie ist eben als solche nicht aufrechtzuerhalten. Da Stephen und S< hi bkrt-Soldehn in ihren weiteren Behauptungen aus* einander gehen, so m\u00fcssen wir sie getrennt kritisieren. Nach Stephen gibt es Gef\u00fchlsvorstellungen; nach Scheuert - Solpern gibt es keine. F\u00fcr Stephen gilt die Gleichung : \u201eSympathie\" = \u201eGef\u00fchl eines anderen vorstellen\u201c. Was versteht Stephen unter Gef\u00fchlsvorstellung? Nach ihm sind Gef\u00fchlsvorstellungen oder ideale Gef\u00fchle Gef\u00fchle, die sich von realen Gef\u00fchlen durch ihre geringere Intensit\u00e4t unterscheiden. Durch einen solchen Unterschied werden Gef\u00fchlsvorstellungen, wie wir gesehen haben, auch von Bun und Spencer charakterisiert In der Behauptung einer geringeren Intensit\u00e4t von Gef\u00fchlsvorstellungen liegt eine gewisse Unklarheit. Nehmen wir an, Sympathie sei eine Gef\u00fchlsvorstellung im Sinne Stephens, so erhalten wir drei M\u00f6glichkeiten.\n1.\tSympathie ist schw\u00e4cher als das Gef\u00fchl des Sympathie erregenden Individuums.1\n2.\tSympathie ist schw\u00e4cher als jedes beliebige idiopathisch\u00e8 Gef\u00fchl.-\n1 Vgl. Stephen a. a. O. S. 230. F\u00fcr Degas Analyse psychologique de l\u2019id\u00e9e du devoir. Rev. phifas. 97 ;2i, S. 403* ist die Sympathie \u201eid\u00e9ale ou imaginaire done faible\". Indessen kann nach ihm ein Ausgleich der Intensit\u00e4t des idiopathischen Gef\u00fchls des Sympathie erregenden Individuums und des sympathetischen Gef\u00fchls dadurch stattfinden, dafs der idiopathisch leidende einen Teil seines Leidens verbirgt, und der Sympathisierende in einem \u2014 der Ausdruck ist nicht gut deutsch wiederzugeben \u2014 \u201e\u00e9lan dn coeur instinctif\u25a0* sich bem\u00fcht, seine Sympathie auf denselben Ton zu stimmen. \u00c4hnlich schon A. Smith a. a. O. S. 23.\n* Vgl. Stephen a. a. O. 8. 238.","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Das Milyef\u00fchl.\n205\n3. Sympathie ist schw\u00e4cher als das idiopathische Gef\u00fchl, das der Sympathisierende f\u00fchlen w\u00fcrde, wenn er an der Stelle des Sympathie erregenden Individuums w\u00e4re.\nDie beiden ersten M\u00f6glichkeiten fallen nun schon auf den ersten Blick weg. Mit Recht sagt Paulsen in seiner Ethik, dafs die z\u00e4rtliche Mutter doppelt die Schmerzen f\u00fchlt, die ihr Kind leidet.1 Was die zweite M\u00f6glichkeit anbetrifft, so w\u00e4re das wohl ein Fall analog dem, der bei den Sinnesvorstellungen, nach vielen Forschern, vorliegt. Die Vorstellung des h\u00f6chsten Fortissimo ist schw\u00e4cher als das leiseste Pianissimo, das ich wirklich h\u00f6re, die Vorstellung einer Zentralsonne schw\u00e4cher als das Licht, das ein verglimmendes Streichholz gibt. In diesem Sinne w\u00fcrde die sub 2 angef\u00fchrte Deutung der Gef\u00fchlsvorstellung die Gef\u00fchlsvorstellung auffassen. Dafs die Sympathie sich nicht analog den Sinnesvorstellungen verhalten kann, ist klar. Mein Mitgef\u00fchl mit einem Freunde, der operiert wird, ist nat\u00fcrlich nicht schw\u00e4cher als die Trauer, wrenn ich einen kleinen Geldverlust erlitten habe. Auch dafs die dritte Ansicht das richtige trifft, k\u00f6nnen wir nicht zugeben. Hier sei auf ein Beispiel, das Stephen gibt, hingewiesen. Der Mann am Krankenbett seiner Frau wird durch einen Unfall, der der Kranken zust\u00f6fst, in Trauer versetzt. Stephen gibt zu, dafs in diesem Fall der Mann gr\u00f6fsere Unlust f\u00fchlen kann, als bei einem Unfall, der ihm selbst zust\u00f6fst. Auf den Versuch Stephens, diese Tatsache mit seiner Theorie \u2014 in recht gezwungener Weise \u2014 in Einklang zu bringen, brauchen wir nicht n\u00e4her einzugehen.\nSieht man es also als charakteristisches Merkmal der Gef\u00fchlsvorstellungen an, dafs sie schw\u00e4cher sind als reale Gef\u00fchle, so kann man nach alledem nicht zugeben, dafs Sympathie eine Gef\u00fchlsvorstellung ist.\nHierbei d\u00fcrfen wir uns indessen nicht beruhigen. Nach manchen Forschern ist die geringere Intensit\u00e4t kein charakteristisches Merkmal der Gef\u00fchl\u00dfVorstellung. So behauptet Hobwicz, dafs ein Gef\u00fchl in der Phantasie auch affektvoller, schrecklicher, qu\u00e4lender vorgestellt werden kann, als es in Wirklichkeit ist.'* Wenn aber der Intensit\u00e4tsunterschied fortf\u00e4llt, worin unterscheiden sich dann Gef\u00fchlsvorstellungen und Gef\u00fchle? Wir\n1 Paulsen: Eth. II, S. 126.\n* Horwicz a. a. O. II, S. 315.","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nB. Groethuy8en.\nk\u00f6nnen den Ausf\u00fchrungen Stephens ein solches Merkmal entnehmen. Stephen sagt : \u201eI must be able to regard certain modes ... of feeling as symbolic of modes present in other minds.\u201c1 Es gibt also nach Stephen gewisse Gef\u00fchle, die Gef\u00fchle eines anderen bedeuten, die ich auf Gef\u00fchle eines anderen deute. Die Frage, ob wir unseren Begriff von Gef\u00fchlsvorstellung erweitern d\u00fcrfen und auch darunter Gef\u00fchle verstehen, die wir auf andere deuten, lassen wir dahingestellt. Wenn wir aber auch zugeben, dafs die Gef\u00fchlsvorstellung eine psychische Erscheinung sein kann, die sich weder qualitativ, noch der Intensit\u00e4t nach von einem Gef\u00fchl unterscheidet, so bleibt die Frage bestehen, ob Sympathie eine Gef\u00fchls Vorstellung in diesem Sinne ist, ein Gef\u00fchl, das ich auf das Gef\u00fchl eines anderen deute. Wir w\u00fcrden dann die Gleichung erhalten : \u201eSympathie\u201c = \u201eVorstellung des Gef\u00fchls eines anderen\u201c = \u201eGef\u00fchl, das ich auf das Gef\u00fchl eines anderen deute\u201c. Wie man nun aber auch diesen Deutungsvorgang fassen will, jedenfalls ist er in dem emotionellen Prozefe als solchem nicht schon gegeben. Wir h\u00e4tten also eine Begriffsbestimmung, die die Sympathie charakterisiert als ein Gleichgef\u00fchl -{- einem begleitenden psychischen Prozefs, in unserem Fall dem DeutungsVorgang. Diese Begriffsbestimmung w\u00fcrde also zu den sub Kl. II zu behandelnden Begriffsbestimmungen der Sympathie geh\u00f6ren. Der Grund, warum wir Stephen nicht zu den Theoretikern dieser Gruppe z\u00e4hlen, ist der, dafs dieser Deutungsvorgang nicht klar und rein bei ihm herauskommt Es wird sich indessen empfehlen, die Frage, ob die Sympathie eine Gef\u00fchlsvorstellung in diesem Sinne ist, erst sub II zu behandeln.\nF\u00fcr Schubert - Soldebn ist Mitgef\u00fchl ein reales Gef\u00fchl; er kennt keine Gef\u00fchlsvorstellungen.2\nF\u00fcr ihn gilt nicht die Gleichung: \u201eSympathie\u201c = Vorstellung der Gef\u00fchle eines anderen\u201c, sondern \u201eSympathie\u201c = \u201ef\u00fchlen der Gef\u00fchle eines anderen\u201c.3 Was heilst das: \u201eIch f\u00fchle die Gef\u00fchle anderer?\u201c Verst\u00e4ndlich wird dieser Ausdruck\n1\tStephen a. a. O. S. 230.\n2\tSchubert-S.: Das Gl. u. d. s. Fr. S. 45. Trotzdem spricht Schubert-S. best\u00e4ndig von Gef\u00fchlsvorstellungen, was nicht gerade zur Kl\u00e4rung der Probleme beitr\u00e4gt; vgl. u. a.: Gl. u. d. soz. Fr. S. 40, 64; Gef., Reprod. u. W. S. 113; Grdlg. z. e. E. S. 94, 141.\n3\tSchubert -S. : Gl. u. d. boz. Fr. S. 61.","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n207\naus Schubert - Soldern erkenntnistheoretischen solipsistischen Anschauungen. Nach Schubert - Soldern ist das fremde \u201eIch\u201c nur eine in meiner Vorstellungswelt enthaltene fremde Vorstellungswelt1 Die erkenntnistheoretischen Anschauungen Schubert-Solderns liegen hier selbstverst\u00e4ndlich aufserhalb unseres Gesichtskreises. Was der Psychologe zugeben wird, ist, dafs eine Vorstellung eines fremden Ich in meiner Vorstellungs-weit gegeben ist Die Frage, ob das fremde Ich nur in meiner Vorstellung weit gegeben ist, liegt aufserhalb der Psychologie. Wenn wir aber zugeben, dafs eine Vorstellung eines fremden Ich in meiner Vorstellungs weit gegeben ist, so folgt f\u00fcr die Behauptungen Schubert - Solderns daraus gar nichts. Lipps sagt einmal : \u201eNur mein Ich, mein Wollen, meine Lust und Schmerzen, k\u00f6rperlichen Bewegungen und Zust\u00e4nde erlebe ich. Die fremden stelle ich nur vor.\u201c - Was sollte es auch wohl heifsen, dafs ich die Geschmacksempfindungen eines anderen empfinde oder die Tanzbewegungen eines anderen mache? Wenn ich sage, dafs ich die Gef\u00fchle eines anderen vorstelle, so weifs man, was damit gemeint ist; es heifst eben, dafs der Inhalt meiner Vorstellung das Gef\u00fchl eines anderen bedeutet; was es aber heifsen soll, dafs ich die Gef\u00fchle eines anderen f\u00fchle, ist unverst\u00e4ndlich. Annehmbarer wird die Behauptung Schubert - Solderns auch dadurch nicht, dafs wir im Sinne Schubert-Solderns auf die Beutrale Lust rekurrieren.\nSchubert - Soldern behauptet, dafs es mir bei Freude und Trauer gar nicht zu Bewufstsein zu kommen braucht, dafs ich und kein anderer sich freut oder trauert. Daraus soll es verst\u00e4ndlich werden, wie wir der Freude oder Trauer gewisser-mafsen bald das eigene bald das fremde Ich supponieren.8 Was beweist das? Es braucht ja auch bei einer Empfindung mir nicht zu Bewufstsein zu kommen, dafs ich gerade diese Empfindung empfinde; aber das beweist doch nicht, dafs ich die Empfindung eines anderen empfinden kann. Oder nehmen wir ein Beispiel aus dem Gef\u00fchlsleben! Ich brauche beim Zahnschmerz nicht dar\u00fcber Unlust zu f\u00fchlen, dafs ich gerade und\n\u2019 Schubert -8.: Get, Reprod. u. W. XIII.\n*\tLipfb: Grundtats. d. Seelenl. S. 446.\n*\tSchubert -8. : Grdlg. z. e. E. S. 37, vgl. S. 12 f. Terminus \u201eneutrales Gef\u00fchl\u201c bei Baih in wesentlich anderer Bedeutung, als indifferentes Gef\u00fchl, gebraucht Vgl. E. a. w. S. 14ff.; Sully: Hum. Mind II, S. 4.","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nB. Groethuyeen.\nkein anderer Zahnschmerzen hat; es kann im Sinne Schubekt-Solderns ein ganz neutraler Schmerz sein ; aber das beweist doch nicht, dafs ich die Zahnschmerzen eines anderen f\u00fchlen kann.\nEs bleibt also die Frage bestehen, was heifst das: \u201eIch f\u00fchle die Gef\u00fchle eines anderen\u201c? Wir finden eine Spur einer psychologischen Beschreibung in Schubert-Solderas Behauptung, dafs die Gef\u00fchle, die ich als Gef\u00fchle eines anderen f\u00fchle, an die Vorstellung eines fremden Leibes gekn\u00fcpft sind.1\nMit der einfachen Behauptung, dafs das Mitgef\u00fchl an die Vorstellung des fremden Leibes gekn\u00fcpft ist, l\u00e4fst sich wenig anfangen. Warum dann nicht auch an die Vorstellung der fremden Seele? Und in welcher Weise gekn\u00fcpft? So wird man, wenn man unter \u201eGef\u00fchl eines anderen f\u00fchlen\u201c etwas verstehen will, auf den Deutungsvorgang zur\u00fcckgreifen m\u00fcssen. Gef\u00fchle eines anderen f\u00fchlen, hiefse dann, gewisse Gef\u00fchle f\u00fchlen, die ich auf Gef\u00fchle eines anderen deute. Wir w\u00e4ren dann gerade soweit, wie wir bei Stephen waren.\nIII. Cbarakterisieruug des Mitgef\u00fchls als Gleichgel\u00fcbl -f- begleitendem psychischen Prozefs.\na) Mitgef\u00fchl als Gleichgef\u00fchl -f- begleitendem psychischen Prozefs\nintellektueller Art.\nTheorie des \u201esich Hereinversetzeiis*.\nWir k\u00e4men nun zu den Theorien, die das Mitgef\u00fchl als Gleichgef\u00fchl, das begleitet ist von einem bestimmten psychischen Prozefs, charakterisieren und zwar zun\u00e4chst zu den Theorien, die diesen Prozefs als intellektuellen Prozefs auffassen. Schon die Gef\u00fchlskenntnistheorie f\u00fchrte notwendigerweise auf einen solchen begleitenden psychischen Prozefs, dem Deutuugsvorgang. Es ist ja auch von vornherein klar, dafs, wenn die Gleichung: \u201eGef\u00fchl eines anderen kennen = Mitf\u00fchlen\u201c auch nur in gewissen F\u00e4llen richtig sein soll, aufser einem rein emotionellen Element, dem Gef\u00fchl, ein weiterer Vorgang gegeben sein mufs. der es mir zu Bewufstsein bringt, dafs in dem Gef\u00fchl, das ich f\u00fchle, ich das Gef\u00fchl eines anderen kenne; in dem rein emotionellen Element, in dem Gef\u00fchl, das ich f\u00fchle, als solchen, kann nie eine Erkenntnis liegen, dafs ein anderer f\u00fchlt.\n1 Schubert - S. : Grdlg. z. e. Eth. S. 12 f.","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n209\nDer das Gleichgef\u00fchl begleitende Prozefs, durch den es zum Mitgef\u00fchl wird, wird von den meisten neueren Psychologen seit A. Smith als \u201esich Hereinversetzen in einen anderen\u201c oder durch verwandte Metaphern bezeichnet.1 So sprechen von \u201esich Hereinversetzen\u201c, \u201esich in die Lage, an die Stelle eines anderen versetzen,\u201c Hobwicz 2, Stephen8, H\u00f6ffding4, Ziegler6, McCosh0, Sully 7 und viele andere. Von \u00e4lteren Schriftstellern, die sich dieser Metapher bedienen, seien aufser A. Smith erw\u00e4hnt Rousseau 8 und Burke.\u00ae Als verwandte Ausdr\u00fccke haben wir zu erw\u00e4hnen \u201esich mit einem anderen identifizieren10,\u201c zu einem anderen werden11 u. dgl. Einen eigentlichen Theoretiker ' des \u201esich Hereinversetzens\u201c w\u00fcfsten wir in der neueren Psychologie nicht zu nennen. Es handelt sich mehr um eine bei den meisten neueren Psychologen vorkommende Metapher. Es gilt nun diese Tatsache durch einen exakteren psychologischen Ausdruck zu kennzeichnen. Soweit ich sehe, gibt es zwei M\u00f6glichkeiten, diese Aufgabe zu l\u00f6sen. Es soll mit dieser Metapher gesagt sein, dafis ich gewisse Gef\u00fchle, die ich f\u00fchle,\tals\tdie\teines anderen\ndeute. Diese Ansicht fanden wir angedeutet\tbei\tStephen.\tDie\nandere M\u00f6glichkeit, der Aufgabe gerecht zu werden, finden wir bei Meinong. Beim sich Hereinversetzen in die Lage eines anderen nimmt der Betreffende an, er\tsei\tin\tder Lage\tdes\nanderen. Er f\u00e4llt nicht das Urteil oder\tglaubt,\ter sei in\tder\nLage des anderen, sondern nimmt es nur an. Die Annahme bezeichnet nach Meinong ein Zwischenglied zwischen Urteil und\nI\tSmith a. a. O. S. 4: We enter as it were into his body, changing places in fancy with the sufferer. S. 161: . . . place ourselves in the situation of another man ... S. 465: . . . putting myself in your situation . . . . imaginary change of situation u. a.\n*\tHobwicz a. a. O. S. 306.\n*\tStephen a. a. O. S. 230.\n4\tH\u00f6ffding: Grundleg. d. hum. Eth. S. 6; Eth. S. 608; Psychol. S. 323.\n5\tZiegler: Das Gef\u00fchl S. 168.\nB Me Cosh: Psychology. The motive power. Emotion, conscience, will. 8. 112.\n7 Sully: Outlines of psychol. S. 314, 512; Hum. Mind I, S. 376.\nh Rousseau a. a. O. S. 239.\ne Bubke a. a. O. S. 61.\n10 Bain: E. e. v. S. 283. \u2014 Sully: Outl. of Ps. S. 509. Von \u00e4lteren Schriftstellern seien erw\u00e4hnt: Rousseau a. a. O. S. 241; Schopenhauer: Die beiden Grundprobl. d. Eth. (Cotta) S. 233, 254 u. a.\nII\tStephen a. a. O. S. 237. \u2014 Schubert-S. : Gl. u. d soz. Fr. S. 62.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie S4.\t14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nB. Oroethuysen.\nVorstellung.1 Wer urteilt, ist von etwas \u00fcberzeugt, und jedes Urteil ist affirmativ oder negativ. Bei der Annahme fehlt das erste Moment : die \u00dcberzeugtheit ; dagegen ist das zweite Moment, die Affirmation oder Negation vorhanden.\u00ae\nIn diesem Sinne findet beim sich Hereinversetzen in die Lage eines anderen die Annahme statt, ich sei in der Lage des anderen.51 * Dieser Deutung des sich Hereinversetzens kommt schon A. Smith nahe, wenn er sagt: \u201eI consider, what I should suffer if I was really you.\u201c4 Die Annahme w\u00e4re hier durch den Konditionalsatz ausgedr\u00fcckt. In der einen oder anderen Weise also' w\u00e4re die Metapher \u201esich Hereinversetzen in einen anderen\u201c, oder \u201ein einem anderen f\u00fchlen\u201c 5 6 aufzufassen. Und nun fragen wir uns: wie verhalten sich dazu die Tatsachen?\nNehmen wir bekannte Beispiele des sich Hereinversetzens: Der Schauspieler versetzt sich in die Lage der darzustellenden Person. M ei no kg nennt dieses sich Hereinversetzen ein jedenfalls ganz fundamental wichtiges und charakteristisches Moment im Verhalten des darstellenden K\u00fcnstlers.\u00ae Aber hat denn der Schauspieler mit der tragischen Person, die er darstellt, Mitleid ? 7\n1\tMeinong : Annahmen. Zeit sehr. f. Psychol. Erg -Bd. II, 1902, S. 4.\n2\tEbenda S. 277, 2 ff.\n*\tEbenda S. 40 ff.\n*\tSmith a. a. O. S. 466.\n*\tRousseau a. a. O. S. 241: Ce n'eet pu* dans nous, c'est dans lui que nous souffrons. Vgl. ebenda B. 249. \u2014 Schopenhauer a. a. O. S. 253 f. : in einem anderen f\u00fchlen. \u2014 Hartmann: Ph\u00e4nomenol. d. s. Bewufsts. S. 219: \u201eSo bilden wir uns ein, gleichsam in fremder Seele zu f\u00fchlen.\u201c \u2014 Riehl : Philos. Kritizism. 1887, IIg, 8. 169: Wir leiden im Innern des anderen W esens.\n6\tMeinong: Annahmen S. 44. Doch darf nicht verschwiegen werden, dafs bei einer Enquete, die Binet unter einigen Schauspielern veranstaltet hat, einer der befragten Schauspieler, Mounbt - Sully, sich gegen einen analogen Ausdruck gewandt hat ; vgl. Binet : R\u00e9flexions Bur le paradoxe de Diderot. Ann\u00e9e psychol. 3, 1897, S. 280: \u201eLa composition d\u2019un personnage ne consiste pas suivant l\u2019expression consacr\u00e9e \u00e0 se mettre dans la peau d\u2019un bonhomme, c\u2019est tout juste le contraire, .... on fait entrer ce personnage en soi-m\u00eame.\u201c Der Unterschied, ob man sich in die fremde Person hineinversetzt oder die fremde Person in sich hineinversetzt, ist indessen wohl mehr ein Unterschied der Metapher als des damit bezeichneten psychischen Tatbestandes.\n7\tAuch hier darf nicht verschwiegen werden, dafs eine von den von Binet befragten Personen behauptet, dafs sie tats\u00e4chlich Sympathie mit den von ihr dargestellten Individuen f\u00fchlt. Mme. Bartet sagt a. a. O. S. 285;","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n211\nEs wftre ja allerdings m\u00f6glich zu behaupten, dafs der Schauspieler \u00fcberhaupt nicht die Gef\u00fchle der dargestellten Person f\u00fchlt, dafe es sich hier also etwa nur um Gef\u00fchlsvorstellungen der \u201efausse memoire affective\u201c, wie Ribot sich ausdr\u00fcckt, handelt. Wir k\u00e4men hier auf die alte Streitfrage, ob die Schauspieler die Gef\u00fchle der dargestellten Person f\u00fchlen oder nicht.1 Nach neueren Umfragen \u2014 hier w\u00e4re besonders die bereits zitierte von Binet zu nennen \u2014 ergibt sich, dafs wenigstens viele der Schauspieler die Gef\u00fchle der dargestellten Person tats\u00e4chlich f\u00fchlen. F\u00fcr diese Schauspieler w\u00fcrde zum mindesten die Behauptung gelten, dafs sie wohl in einer Person leiden, aber nicht mit dieser Person Mitleid haben. Bei den anderen Schauspielern, die die Gef\u00fchle der dargestellten Person blofs vorstellen, m\u00fcfsten wir dann erwarten, dafs sie zwar nicht Mitleid f\u00fchlen, wohl aber Mitleid vorstellen. Noch klarer liegt der Fall bei dem Dichter. Der Dichter versetzt sich in die Gestalten, die er schafft ; er lebt in ihnen, wie Flaubert sich ausdr\u00fcckt, er nimmt Seele und K\u00f6rper anderer Personen an, wie Balzac sagt. Hier haben wir es ferner unzweifelhaft in gut beglaubigten F\u00e4llen nicht mit einer \u201efausse m\u00e9moire affective\u201c zu tun. Dickens sagt: \u201eSeit ich ausdachte, was geschehen mufs, habe ich soviel Kummer und Gem\u00fctsbewegung ausgestanden, als w\u00e4re die Sache etwas Wirkliches. Ich mufste mich einschliefsen, als ich fertig war; denn mein Gesicht war zum Doppelten seiner Gr\u00f6fse ange-\nJ\u2019\u00e9prouve les \u00e9motions des personnages que je repr\u00e9sente, mais par sympathie et non pour mon propre compte\u201c ; sie bezeichnet sich als \u201ela pr\u00e9-mi\u00e8re \u00e9mue parmi les spectateurs\u201c. Wir m\u00f6chten diesen Fall so deuten, dafs diese grofse Schauspielerin sich nie so weit in die Gestalten der Dramen versetzt, dafs sie nicht zugleich den Ereignissen mit der Anteilnahme des Zuschauers folgen kann: ein wohl seltener Fall.\n1 Dafs die Schauspieler die Gef\u00fchle der dargestellten Person nicht f\u00fchlen, behauptet Didebot: Paradoxe sur le com\u00e9dien (Neue Ausgabe von E. D\u00fcpuy, 1902). Als Forderung spricht es Kant aus (STRACKEsche Anthropol. S. 304); da\u00fcs die Schauspieler die Gef\u00fchle der dargestellten Person f\u00fchlen, behaupten Lessing (Hamb. Dramat. III. St\u00fcck), Ribot (a. a. O., 1. A., S. 97). nach der Umfrage von Binet f\u00fchlen die Schauspieler die Gef\u00fchle der dargestellten Personen, wenn auch nicht als \u201ereale Gef\u00fchle\u201c (vgl. a. a. O. S. 290) ; die Umfrage von N. Abcher (Anatomy of acting, zitiert bei James a. a. O. II, 8. 464) ergibt, dafs es hierin grofse Unterschiede zwischen Schauspielern gibt; experimentell hat Lehmann die Frage zu l\u00f6sen versucht (vgl. K\u00f6rperl. Aufser. psych. Zust. 1899, I, S. 182ff.); vgl. auch Bain: E. a. w. S. 1771, 365, E. e. v. S. 3\u00d63.\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nB. Groethttysem.\nschwollen und gewaltig l\u00e4cherlich.\u201c1 2 Der Dichter f\u00fchlt also wirklich die Gef\u00fchle seiner Gestalten, indem er sich in sie herein-versetzt; er f\u00fchlt in ihnen; aber hat doch kein Mitgef\u00fchl mit ihnen. Gerade weil der Dichter sich mit seinen Gestalten so weit \u201eidentifiziert\u201c, kann er kein Mitleid mit ihnen haben. \u00c4BiSTOTELES macht einmal die interessante Bemerkung: rihovoi Se zovg ze yvuiQifiovg. &v urj oq>\u00f4\u00f4(xx kyyvg utoir ohtu\u00f4xrptt, tcsq'i di zovtov\u00e7 foojz\u00eaQ 7i\u20ac\u00e7i cz\u00eenoi\u00e7 fidXXona\u00e7 \u20ac%ovot*.u- \u00dcber die allgemeine Richtigkeit dieser Bemerkung liefse sich streiten. Wenn wir diese feine Beobachtung deuten wollen, so m\u00fcssen wir wohl sagen, dafs wir uns mit intimen Freunden soweit identifizieren k\u00f6nnen, dafs wir uns so in sie hereinversetzen k\u00f6nnen, dafs wir uns gar nicht mehr herausversetzen k\u00f6nnen, um mit ihnen Mitleid zu haben. Wenn ihnen eine Kr\u00e4nkung geschehen ist, so fassen wir diese Kr\u00e4nkung nicht so auf, als w\u00e4re sie ihnen geschehen, sondern als w\u00e4re sie uns geschehen; wir sind traurig, ohne eigentlich Mitleid mit ihnen zu haben, ohne eigentlich dar\u00fcber traurig zu sein, dafs sie traurig sind. Waren unsere bisherigen Beispiele der Kunst entnommen, so h\u00e4tten wir hier ein Beispiel eines vollkommenen sich Hereinversetzens in einen anderen aus dem wirklichen Leben. Doch brauchen wir bei den ersteren Beispielen doch kaum den Einwand zu bef\u00fcrchten, dafs es sich hierbei ja nur fiktive Pers\u00f6nlichkeiten handelt, in die man sich hereinversetzt. Dafs man Mitleid mit fiktiven Pers\u00f6nlichkeiten\nf\u00fchlen kann, d\u00fcrfte wohl von niemand bestritten werden. Noch\n/\nein anderes Beispiel l\u00e4fst sich aus dem realen Leben anf\u00fchren. Wir k\u00f6nnen uns in unsere eigene Zukunft oder Vergangenheit, z. B. in die Tage der Kindheit versetzen, uns in das Ich vergangener Zeiten einf\u00fchlen, wie Witasek sich ausdr\u00fcckt3, ohne Mitleid mit uns zu haben. Wenn Aneas sagt : \u201eIngentem regina iubes renovare dolorem\u201c, so versetzt er sich wohl lebhaft in seine fr\u00fchere Lage, so deutet er wohl den jetzt erlebten Schmerz auf einen fr\u00fcheren; aber damit ist nicht gegeben, dafs Aneas mit sich selbst Mitleid hat Sully weist auf die Identit\u00e4t der beiden\n1\tDickens, als er sich dem Ende seiner Erz\u00e4hlung \u201eSylvesterglocken\u201c n\u00e4herte; vgl. Dilthey: Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn, Rede v. 1886, dem auch die vorhergehenden Beispiele entnommen sind. Weitere Beispiele : vgl. Dilthey : Das Schaffen des Dichters, in den Zelleraufs\u00e4tzen.\n2\tAristoteles: Retli. II, 8.\n* Witasek a. a. O. S. 47.","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n213\nProzesse des sich Hereinversetzens in seine eigene Vergangenheit oder Zukunft und des sich Hereinversetzens in andere hin ; wie wir uns selbst vorstellen, wie wir in neuen Umst\u00e4nden f\u00fchlen w\u00fcrden, so k\u00f6nnen wir uns durch denselben Prozefs auch die Gef\u00fchlszust\u00e4nde anderer vergegenw\u00e4rtigen. In beiden F\u00e4llen findet unserer Meinung nach kein Mitgef\u00fchl statt.\nNach alledem, glaube ich, k\u00f6nnen wir behaupten, dafs das Mitgef\u00fchl kein Gef\u00fchl ist, das ich in einem anderen f\u00fchle; es ist vielmehr ein Gef\u00fchl, das ich nur f\u00fcr einen anderen f\u00fchle. Wenn die Mutter Mitleid mit ihrem Kinde hat, so nimmt sie gar nicht an, sie sei in der Lage des Kindes, oder deutet ihre Gef\u00fchle auf die Gef\u00fchle des Kindes; sie ist sich vielmehr ganz klar dar\u00fcber, dafs ihr Kind ganz anders f\u00fchlt wie sie, ganz und gar nicht m\u00fctterliche Gef\u00fchle hat\nEs soll mit alledem nur geleugnet werden, dafs das Mitgef\u00fchl ein Gef\u00fchl ist, das ich in einem anderen f\u00fchle, nicht aber, dafs das sich Hereinversetzen \u00fcberhaupt eine Rolle beim Mitgef\u00fchlsprozefs spielt Hier\u00fcber sp\u00e4ter.\nAn dieser Stelle w\u00e4re der Theorie der Einf\u00fchlung von Lipps zu gedenken. Die Gr\u00fcnde, warum wir von einer Er\u00f6rterung dieser Theorie hier absehen, sind folgende : Lipps hat seine Theorie im wesentlichen nur in bezug auf die \u00e4sthetische Sympathie n\u00e4her ausgef\u00fchrt. Die auf die ethische Sympathie bez\u00fcglichen Ausf\u00fchrungen in den Ethischen Grundfragen verfolgen nicht in erster Linie den Zweck, eine subtile psychologische Analyse zu geben, sondern sind mehr ethisch-popul\u00e4rer Natur. Es w\u00e4ren daher Mifsverst\u00e4ndnisse \u00fcber die wirklichen psychologischen Ansichten von Lipps nicht zu vermeiden gewesen. So st\u00f6fst, z. B. schon die Er\u00f6rterung der Frage, ob es sich bei den \u201ehinein verlegten Gef\u00fchlen\u201c um Gef\u00fchle handelt oder um Gef\u00fchlsvorstellungen, d. h. ob die Gef\u00fchlsvorStellungen, wenn sie sich zu realen Gef\u00fchlen entwickelt haben, noch hinein verlegte Gef\u00fchle sind, ob Lipps auch in bezug auf die ethische Sympathie Vertreter der Aktualit\u00e4tsansicht ist, auf Schwierigkeiten. Eine Er\u00f6rterung der Theorie der Einf\u00fchlung \u00fcberhaupt h\u00e4tte nat\u00fcrlich zu weit gef\u00fchrt. Doch behalten wir uns eine Darlegung unserer abweichenden Ansichten f\u00fcr sp\u00e4ter vor.","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nBI Groetkuysen.\nb) Mitgef\u00fchl als G-leichgef\u00fchl und begleitendem psychischen\nProsefs emotioneller Art.\nRIB o T.\nWir haben bisher die Theorien betrachtet, die das Mitgef\u00fchl als Gleichgef\u00fchl und begleitendem psychischen Prozefz intellektueller Art ansahen. Es war nun auch die M\u00f6glichkeit vorhanden, den begleitenden Prozefs als einen emotionellen aufzufassen. So charakterisiert Rxbot die Sympathie im eigentlichen Sinn als Gleichgef\u00fchl und z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung. In der Sympathie f\u00fchlen wir, wie die anderen und f\u00fchlen eine z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung f\u00fcr die anderen.\nDie Sympathie in ihrer allgemeinsten Form besteht in der Existenz identischer Dispositionen bei mehreren Individuen.1\nIn ihrem ersten physiologischen Stadium ist die Sympathie eine \u00dcbereinstimmung motorischer Tendenzen: eine Synergie. Sie ist ein automatischer Reflex, unbewufst oder nur sehr schwach bewufst, Nachahmung auf ihrer fr\u00fchesten Stufe. Die physiologische Sympathie \u00e4ufsert sich in einer Herde von Schafen, einer Meute von Hunden, die zusammen laufen, fliehen, stehen bleiben.2\nDas zweite Stadium ist das Stadium der psychologischen Sympathie, die notwendig von Bewufstsein begleitet ist. Dieses Stadium umfafst zwei Momente :\n1.\tEine psychologische \u00dcbereinstimmung (unisson Gleichstimmung).\n2.\tEine psychologische Gleichstimmung plus einem neuen Element: einer z\u00e4rtlichen Gem\u00fctsbewegung.\nDies ist Sympathie im eigentlichen oder popul\u00e4ren Sinne.\nDie Sympathie kann bestehen ohne z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung. Beweis daf\u00fcr sind die Herdentiere, die sich fast immer von einem verwundeten Genossen entfernen. Es gibt viele Menschen, die eilen, sich einem schmerzlichen Anblick zu entziehen, um den Schmerz zu unterdr\u00fccken, der in ihnen sympathetisch bewirkt wird; ja dies kann sich bis zum Widerwillen gegen den Leidenden steigern. Es ist vollst\u00e4ndig irrig, wenn\n1 Ribot: Psychologie des sentiments. 1. A., S. 227.\na Ebenda 228.\n* Ebenda S. 229.","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Da* Mitgef\u00fchl.\n215\nman glaubt, dafs die Sympathie f\u00fcr sich allein geeignet ist, die Menschen aus ihrem Egoismus herauszureifsen ; sie ist nur der erste Schritt dazu und das auch nicht immer.\nUm zu zeigen, was Ribot unter z\u00e4rtlicher Gem\u00fctsbewegung versteht, gehen wir kurz auf seine Beschreibung der Ausdrucksbewegung dieses Gef\u00fchls ein.\nDer physiologische Ausdruck der Z\u00e4rtlichkeit l\u00e4fst sich, was die Bewegungen anbetrifft, auf die eine Formel bringen: Anziehung. Sie \u00e4uisert sich durch elementare Bewegungen der Ann\u00e4herung durch Ber\u00fchrung oder durch Umarmung, ihrem letzten Ziele. Ihre Bewegungen haben einen allgemeinen Charakter von Erschlaffung im Gegensatz zu den Zornes\u00e4ufse-rnngen. Ein der z\u00e4rtlichen Gem\u00fctsbewegungen eigent\u00fcmlicher Ausdruck ist das L\u00e4cheln ;1 h\u00e4ufig wird die z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung begleitet von Tr\u00e4nen.2\nIn ihrem dritten Stadium, in ihrer intellektuellen Form ist die Sympathie eine \u00dcbereinstimmung von Gef\u00fchlen und Handlungen, die gegr\u00fcndet ist auf einer Einheit von Vorstellungen. Ein einfaches Beispiel daf\u00fcr findet Ribot schon in dem Bienenstaat: die Sympathie gr\u00fcndet sich hier auf die allen gemeinsame Wahrnehmung oder Vorstellung der K\u00f6nigin.!\u00ee\nKritik Ribots.\nWas uns hier von Ribots \u00c4uTserungen interessiert, ist die Charakterisierung der Sympathie im psychologischen Sinne. Mit der sogenannten physiologischen Sympathie haben wir uns hier nicht zu besch\u00e4ftigen. Es ist gegen diese Benennung an sich nichts einzuwenden, wie ich schon bei Bain und Spenceb bemerkte; nur mufs dann die Sympathie im eigentlichen Sinne davon unterschieden werden. Dafs die Beschreibung Ribots nicht gen\u00fcgen kann, ist leicht einzusehen. Wenn wir auch dem Gleichgef\u00fchl irgend ein emotionelles Element hinzuf\u00fcgen, so kann dies das fehlende Bezugsmoment nicht ersetzen. Wir h\u00e4tten in unserem Falle eine Mutter, die traurig ist und ihr Kind liebt. Aber damit ist nicht gegeben, dafs sie \u00fcber die Trauer ihres Kindes traurig ist. Wenn auch dazu noch das\n1 Ribot: Psychologie des sentiments. 1. A., S. 231 f. a Ebenda S. 232.\n* Ebenda S. 230.","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nB. Groethuysen.\nWissen tritt, dafs ihr Kind traurig ist, dafs eine Gef\u00fchls\u00fcbereinstimmung zwischen ihr und ihrem Kinde vorhanden ist, so m\u00f6gen vielleicht alle Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen des Mitleids gegeben sein; aber solange zwischen der Trauer der Mutter und dem Sachverhalt, dafs das Kind traurig ist, keine Beziehung besteht, solange hat die Mutter kein Mitleid mit ihrem Kinde.\nRibots Analyse trifft also nicht mit dem zusammen, was man Mitleid im wirklichen Sprachgebrauch nennt.\nAuch wenn man von aller Terminologie absieht, w\u00fcrde eine solche Analyse eine gewaltige L\u00fccke in der Beschreibung unserer Gef\u00fchle lassen.\nDie Frage, ob die z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung ein Element der Sympathie ist, wird uns sp\u00e4ter zu besch\u00e4ftigen haben.\nIV. Mitgef\u00fchl als Gleichgef\u00fchl mit inhaltlicher Bestimmung.\nMeinong und v. Ehrenfels.\nWir k\u00f6nnen die bisherigen Theorien als Antworten auf die Frage betrachten, worin sich ein idiopathisches Gleichgef\u00fchl von einem sympathetischem Gleichgef\u00fchl unterscheidet. Wenn A. dasselbe f\u00fchlt wie B., worin unterscheidet sich dieser Fall von dem Fall, dafs A. Mitgef\u00fchl mit B. hat. Die Assoziations- und Nachahmungstheorie antwortet darauf, dafs das Mitgef\u00fchl eine besondere Entstehungsweise hat, die Theorie des sich Hereinversetzens, dafs das Mitgef\u00fchl in einem anderen gef\u00fchlt wird, Lipps, dafs das Mitgef\u00fchl Wirkung und Begleiterscheinung ist von einem in eine fremde Person hineingebildeten reproduzierten eigenem Erlebnis, Ribot, dafs das Mitgef\u00fchl begleitet ist, von einem besonderen Gef\u00fchl. Gegen\u00fcber diesen Theorien mufs ich den Standpunkt vertreten, dafs der wesentliche Unterschied des Mitgef\u00fchls in dem Inhalt dieses Gef\u00fchls, in dem, wor\u00fcber wir traurig oder freudig sind, liegt. Den Versuch gemacht zu haben, die Frage nach dem \u201ewor\u00fcber\u201c m\u00f6glichst klar und pr\u00e4zise zu beantworten, ist das Verdienst von Ehrenfels und Meinong.\nv. Ehrenfels.\nMan kann, lehrt Ehrenfels, die Teilnahme f\u00fcr fremdes Wohl und Wehe, d. h. Mitleid und Mitfreude definieren als die","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n217\nF\u00e4higkeit, durch den Gedanken an fremdes Wohl selbst lustvoll und durch den Gedanken an fremdes Weh selbst leid voll affi-ziert zu werden.1 Doch enth\u00e4lt diese Definition einen psychologisch mehrdeutigen Ausdruck. \u201eUnter dem \u201eGedanken\u201c kann man ebensowohl die mehr oder minder anschauliche Vorstellung von fremdem Wohl oder Wehe wie auch das Urteil \u00fcber deren Vorhandensein verstehen.\u201c Der Begriff der Vorstellung ohne n\u00e4here Bestimmung reicht zur Definition nicht aus. Wenn die blofse Vorstellung von fremdem Wohl und Wehe auftritt, so wird auch das teilnahmvollste Gem\u00fct im allgemeinen weniger affiziert, als wenn die \u00dcberzeugung von der Wirklichkeit des Vorgestellten hinzutritt. Andererseits gibt es F\u00e4lle \u2014 zum Beispiel bei der Erz\u00e4hlung eines traurigen M\u00e4rchens \u2014, in denen wir durch die blofse Vorstellung eines an sich nicht als vorhanden beurteilten Leides durch die Kunst des Erz\u00e4hlers mehr ger\u00fchrt werden als durch die feste \u00dcberzeugung von dem Vorhandensein eines Leides \u2014 z. B. bei der Lekt\u00fcre einer n\u00fcchternen und konventionellen Zeitungsnotiz von einer \u00dcberschwemmungskatastrophe in China.2 3 Man k\u00f6nnte so meinen, dafs allein an anschaulichen Vorstellungen von fremdem Wohl und Wehe die Gef\u00fchle der Teilnahme sich anschliefsen, und dafs die Funktion des Urteils nur darin beruhe, dafs es mitunter die Phantasie zur Erzeugung anschaulicher Vorstellungen anregt. Festzustellen ist jedenfalls, dafs dem Urteil jene die Anschauung belebende Kraft tats\u00e4chlich zukommt.8 Man mufs aber dabei ber\u00fccksichtigen, dafs zwischen den Individuen weitgehende Unterschiede bez\u00fcglich des Grades der zur Gef\u00fchlswirkung erforderlichen Anschaulichkeit der Vorstellungen von fremdem Wohl und Wehe gibt. So beweisen Menschen, die von intensivem Streben f\u00fcr das allgemeine Wohl beseelt sind, dafs die Gef\u00fchlswirkung des \u201eGedankens\u201c an fremdes Wohl und Wehe in ihnen auch bei relativ geringer Anschaulichkeit sich geltend macht. Dennoch d\u00fcrften auch hier Urteile mit vollkommen abstraktem Inhalt wirkungslos bleiben.4 * Aufserdem ist zu bemerken, dafs gerade bei den werk-\n1\tEuren fels : Werttheorie und Ethik. Viertel jahrwehr, f wise. Philost. 17, 18931; System der Werttheorie II, S. 25.\n2\tEhbenfels: Werttheor. u. Eth. S. 347 f.\n3\tEbenda S. 348; vgl. die allgemeineren Ausf\u00fchrungen im System der\nWerttheor. I, S. 57 ff.\n* Ehrenfels: Werttheor. u. Eth. S. 349f.","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nB. Grocthuystn.\nt\u00e4tigsten Linderem des menschlichen Leidens das Gef\u00fchl sich an viel speziellere psychische Inhalte kn\u00fcpft1 *\nM KIXO X ft.\n(Psycholog.-eth. Unters, z. Werttheorie.)\nAltruistische Gef\u00fchle oder Mitgef\u00fchle sind nach Meinong Wertgef\u00fchle, die das Gef\u00fchl des alter zum Gegenstand haben.3 Unter Wertgef\u00fchlen fast Meinong alle Urteilsgef\u00fchle zusammen.8 Urteilsgef\u00fchle sind Gef\u00fchle, bei denen ein Urteil Mitvoraus* setzung ist (\u2014 ein Gef\u00fchl, das nicht einen Vorstellungsinhalt mindestens auch zur Voraussetzung hatte, kann nicht Vorkommen \u2014) im Gegensatz zu Vorstellungsgef\u00fchlen, bei denen die Vorstellung resp. ihr Inhalt ohne Urteil ausreicht.4 Als Beispiele von Vorstellungsgef\u00fchlen k\u00f6nnen wir sinnliche Lust und Unlust,5 * als Urteilsgef\u00fchle die hier zu behandelnden Mitgef\u00fchle anf\u00fchren.\nEin altruistisches Gef\u00fchl kann ein sympathisches oder ein antipathisches sein. \u201eReagiere ich ... n\u00e4mlich auf die Lust des anderen mit Lust, auf seine Unlust mit Unlust, so redet man bzw. von Mitfreuden und Mitleid ; reagiere ich auf die Lust des anderen mit Unlust, auf seine Unlust mit Lust, so spricht man dort von Mifsgunst, Neid, hier von Schadenfreude, Bosheit, Grausamkeit u. dgl.416 Meinong hat seine Behauptung durch symbolische Zeichen versinnlicht. Ein altruistisches Wertgef\u00fchl dr\u00fcckt er aus durch : U e (G. a) : W G e.\nU bedeutet hierbei das Urteil, die Buchstaben e oder a als Indices angef\u00fcgt das urteilende und f\u00fchlende Subjekt, das vom Standpunkt des F\u00fchlenden aus entweder ego oder alter sein mufs; WG bezeichnet Wertgef\u00fchl; dem Symbol U folgt in Parenthese der Ausdruck des beurteilten Inhalts.7 Machen wir denn noch die als Lust resp. Unlust zu kennzeichnenden Wert-\n1 Ehrenfels: Werttheor. u. Eth. 8. 352.\n*\tMeinong: Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, 1894. 8. 46.\n3 Ebenda S. 59. Doch sollen nur die Gewifsheitsgef\u00fchle den Tatbestand des eigentlichen Werthaltens darbieten. Die Ungewifsheitsgef\u00fchle kommen hier indessen nicht ftlr uns in Betracht (vgl. dar\u00fcber 8. 56 ff.).\n*\tEbenda 8. 35.\n*\tEbenda S. 40.\n0 Ebenda S. 46 f.\n7 Ebenda 8. 45.","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n219\ngef\u00fchle bzw. durch ein positives und negatives Vorzeichen kenntlich, so ergeben sich f\u00fcr die sympathischen Gef\u00fchle die beiden Typen :\nUe (+ Ga) : + WG e,\nUe (\u2014 Ga) : \u2014 WGe,\nf\u00fcr die antipathischen Gef\u00fchle :\nUe (+ Ga) : \u2014 WGe,\nUe (\u2014 Ga) : -}- WGe.\n\u201eGleiche Vorzeichen kennzeichnen sympathische, ungleiche antipathische Gef\u00fchle.\u201c 1\nKritik von Ehrenfkls.\nIch kann Ehrenfels nicht zugeben, dafs jemals durch die blofse Vorstellung eines Gef\u00fchls Mitgef\u00fchl2 erregt werden kann.3 Wenn wir von \u201eTeilnahme\u201c an fremder Trauer sprechen,\n1 Meinong: Psychol.-ethische Unters, zur Werttheorie, 1894. S. 46f.\n* Ehbekfels definiert das Mitgef\u00fchl als F\u00e4higkeit, d. h. als Disposition (vgl. Werttheor. u. Eth. S. 211; Syst. d. Werttheor. 1, S. 117). Er will in den f\u00fcr uns in Betracht kommenden Er\u00f6rterungen unter Gef\u00fchlsdisposition ganz allgemein das auf Lust und Unlust bez\u00fcgliche Verhalten eines Individuums beim Auftauehen verschiedener psychischer Inhalte verstehen (Werttheor. n. Eth. S. 342 f.). Ich sehe hier von der Bestimmung des Mitgef\u00fchls als Disposition zun\u00e4chst ab, um sp\u00e4ter darauf zur\u00fcckzukommen. Ist das Mitgef\u00fchl die Disposition, durch bestimmte Gedanken lust- und leidvoll erregt zu werden, so wird eben das Mitgef\u00fchl als einzelner psychischer Prozefs (als Dispositionskorrelat, vgl. Saxingeb a. a. O. S. 392; Meinong: Phantasievorstellung und Phantasie. Zeitschr. f. Philos, n. philos. Krit. 95, 1889, S. 163) durch bestimmte Gedanken (als Dispositionserreger, vgl. Saxingeb a. a. O. 8. 16) erregt.\n3 Ehbenfels spricht von der Vorstellung nur als Gef\u00fchl erregendem Moment. Welches das Verh\u00e4ltnis zwischen Vorstellungsinhalt und dem Gef\u00fchl ist, ob es analog dem Verh\u00e4ltnis zwischen Urteilsakt und Urteilfl-gegenstand zu fassen ist oder nicht, will er dahingestellt sein lassen (F\u00fchlen und Wollen S. 58; 8vst. d. Werttheor. I, S. 189); jedenfalls ist das Gef\u00fchl alB eine Begleiterscheinung der Vorstellung aufzufassen. Ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn wir die erste hier nur als m\u00f6glich angedeutete Auffassung als wirkliche Meinung von Ehbenfels betrachten. Wie dem auch sei: ist die hier gestellte Frage, ob durch blofse Vorstellungen Mitgef\u00fchl erregt werden kann oder nicht, befriedigend beantwortet, so ist damit, wie aus sp\u00e4teren Er\u00f6rterungen hervorgehen wird, auch die Frage beantwortet, ob der Inhalt einer blofsen Vorstellung alleiniger Inhalt des Mitgef\u00fchls sein kann.","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nB. Groetkuy8en.\nso ist \u201efremde\u201c Trauer nur das \u00c4quivalent f\u00fcr einen \u201eDafssatz\u201c wir sind dar\u00fcber traurig, dafs ein anderer traurig ist1 Ehrenfels f\u00fchrt als Beispiel der Teilnahme an fremder Freude und Trauer als blofser Vorstellungsinhalte die Teilnahme an, die man an den Freuden und Leiden der M\u00e4rchengestalten nimmt. Aber auch beim Anh\u00f6ren von M\u00e4rchen sind es nicht blofse Vorstellungen, die in uns lebendig werden; wenn wir wirklich Teilnahme mit den M\u00e4rchenprinzessinnen f\u00fchlen, trauern wir \u00fcber die Tatsache ihrer Trauer und das ist mehr als blofse Vorstellung.2 3 Dies f\u00fchrt uns unmittelbar in die Lehre Meinongs.\nKritik Meinongs.\nMitleid und Mitfreude sind nach Meinong Wertgef\u00fchle. Wir k\u00f6nnen nat\u00fcrlich nicht noch auf das Wesen des Wertes bzw. des Wertgef\u00fchls eingehen. Es gen\u00fcge uns hier die Bestimmung, dafs wir es im Mitgef\u00fchl mit Urteilsgef\u00fchlen zu tun haben.8 Urteilsgef\u00fchle sind Gef\u00fchle, bei denen das Urteil eine psychologische Voraussetzung ist4; d. h. das Urteil ist dem Urteilsgef\u00fchl gegen\u00fcber das Prim\u00e4re.5 * Von der psychologischen Voraussetzung des Gef\u00fchls ist der Inhalt zu unterscheiden. Ich freue mich \u201ean dem\u201c, von dessen Existenz ich verm\u00f6ge des Urteils \u00fcberzeugt bin. Hierbei wird der Gef\u00fchlsinhalt durch das \u201ean dem\u201c ausgedr\u00fcckt, w\u00e4hrend die psychologische Voraussetzung das bejahende oder verneinende Existentialurteil \u00fcber diesen Inhalt ist.0 Beim Mitgef\u00fchl ist der Inhalt ein Psychisches am alter und zwar ein Gef\u00fchl des alter. Wir sprechen dann von Mitleid oder Mitfreude, wenn das Gef\u00fchl des ego und das Gef\u00fchl des alter gleiche Vorzeichen haben, d. h. beide Lust- bzw. Unlu8teharakter haben. Als psychologische Voraussetzung des\n1\t\u00dcber \u00c4quivalente f\u00fcr Dafs-S\u00e4tze vgl. Meinong: Annahmen S. 176 ff., speziell bei Gef\u00fchlen S. 183.\n2\t\u00dcber den Gegensatz von anschaulichen und unanschaulichen Vorstellungen vgl. Meinong: Phantasievorst, u. Phantas. a. a. 0. 8. 203ff., \u201eAnnahmen\u201c S. 109 ff.\n3\tZu den Urteilsgef\u00fchlen geh\u00f6ren nach Meinong aufser den Wertgef\u00fchlen noch die Wissensgef\u00fchle (Ps.-eth. Unters, z. Werttheor. S. 30ff.); doch meint Meinong selbst, dafs die Vollst\u00e4ndigkeit dieser Disjunktion noch untersucht werden mtifste.\n4\tPs.-eth. Unters. S. 35.\n5\tVgl. ebenda S. 34.\nrt Vgl. ebenda S. 37. 23 f.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Da\u00bb Mitgef\u00fchl.\n221\nMitgef\u00fchls ist, wie ersichtlich, ein Urteil \u00fcber Existenz oder Nichtexistenz des Gef\u00fchls des alter anzuf\u00fchren.\nDie Begriffsbestimmung, die Meinung vom Mitgef\u00fchl gibt, scheint zun\u00e4chst recht einleuchtend. Doch ergeben sich bei n\u00e4herem Zusehen gewisse Schwierigkeiten. Meinong formuliert zwar seine Behauptung \u00fcber das Verh\u00e4ltnis der Qualit\u00e4t des Mitgef\u00fchls zu der Qualit\u00e4t des Gef\u00fchls des Mitgef\u00fchl erregenden Individuums gegen\u00fcber seinen Vorg\u00e4ngern recht vorsichtig; er verlangt nur gleiche Vorzeichen dieser beiden Gef\u00fchle, und doch erweist sich, dafs diese Formulierung gewissen psychischen Tatbest\u00e4nden nicht gerecht wird. Deutlich werden uns diese Schwierigkeiten, v wenn wir gewisse Arten der Urteilsgef\u00fchle ber\u00fccksichtigen. Meinung geht auf die Arten der Urteilsgef\u00fchle, nach ihrer emotionellen Qualit\u00e4t betrachtet, nicht n\u00e4her ein. Nur \u00fcber Hoffnung und Furcht f\u00fchrt er einiges an.1 Wenn ich aber nun z. B. dar\u00fcber zornig bin, dafs ein anderer zornig ist, so reagiere ich auf das Gef\u00fchl des anderen mit einem Gef\u00fchl, das den gleichen Unlustcharakter tr\u00e4gt ; wenn ich mich dar\u00fcber \u00e4rgere, dafs ein anderer traurig ist, so haben beide Gef\u00fchle die gleichen Vorzeichen, und doch haben wir in beiden F\u00e4llen kein Mitleid.\nIn seinem Buche \u00fcber \u201eAnnahmen\u201c ist Meinong auf das Mitgef\u00fchl nicht n\u00e4her eingegangen. Doch kann ich mir nicht versagen, wenigstens einen Punkt zu erw\u00e4hnen, der mir von Bedeutung f\u00fcr die Analyse des Mitgef\u00fchls zu sein scheint. Auf einen anderen Punkt, die Bedeutung der Lehre von den Annahmen f\u00fcr das \u201esich Hereinversetzen\u201c, sind wir schon fr\u00fcher eingegangen.\nIch habe bei der Kritik von Ehrenfels von dem Dafssatz gesprochen, durch den wir den Inhalt des Mitgef\u00fchls angeben. Durch den Dafssatz kommt nach Meinong ein \u201eObjektiv\u201c eines. Urteils zum Ausdruck. Meinong unterscheidet zwischen Gegenstand und Objektiv des Urteils. Urteile ich, \u201ees gibt Schnee draufsen\u201c, so ist \u201eSchnee\u201c Gegenstand dieser Erkenntnis, daneben aber, dafs es Schnee gibt, deren Objektiv. Objektive werden durch Dafss\u00e4tze ausgedr\u00fcckt.2 Bei den Wertgef\u00fchlen haftet der Werthaltung eine Beziehung zu einem Objektiv jeder-\n1 Ps.-eth. Unters. S. 56 ff.\n4 Mei\u00fcon\u00f6; Annahmen S. 153.","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nB. Groeihuyxen.\nzeit wesentlich an.1 Indessen d\u00fcrfte uns schon diese \u00e4ufserst vorsichtige Formulierung andeuten, dafs wir es hier nicht mit einer abgeschlossenen Theorie zu tun haben ; auch sind die Ausf\u00fchrungen Meinongs \u00fcber die Beziehung des Objektivs zu dem Gef\u00fchl zu kurz und blofs andeutend, als dafs wir uns in Nachfolgendem darauf st\u00fctzen k\u00f6nnten. In den \u201ePsychologisch ethischen Untersuchungen\u201c haben wir gesehen, dafs die psychologische Voraussetzung des Wertgef\u00fchls ein Urteil ist; die Beziehung des Objektivs zu diesem Urteil einerseits und zu dem Wertgef\u00fchl andererseits w\u00e4re n\u00e4her zu untersuchen. Doch d\u00fcrfte wohl kaum hier der geeignete Ort sein, diese Gedanken weiter auszuf\u00fchren.* Ich werde daher im Nachfolgenden, ohne einen Unterschied zwischen Objekt und Objektiv des Urteils zu machen, von dem Sachverhalt als Inhalt des Urteils und von der Beziehung des Gef\u00fchls auf den Sachverhalt, als dem Inhalt des Gef\u00fchls, sprechen.11 *\nAnhang.\nDas Mitleid.\nBevor wir uns zu den Ergebnissen unserer Kritik und zu den theoretischen Ausf\u00fchrungen wenden, m\u00fcssen wir gewisser Beschreibungen des Mitleids gedenken, sowreit die Beschreibungen im Mitleid ein Element finden, das bei den Bestimmungen der Sympathie im allgemeinen noch nicht n\u00e4her ber\u00fccksichtigt worden ist. Dieses Element wird als Lustgef\u00fchl bezeichnet, das der sympathetisch gef\u00fchlten Unlust beigemischt ist. Die Versuche, dieses Element n\u00e4her zu bestimmen, werden uns im Nachfolgenden zu besch\u00e4ftigen haben.\nBain und Spencer.\nBain sieht im Mitleid eine Beimischung von z\u00e4rtlicher Gem\u00fctsbewegung. In E. a. w.4 behauptet Bain, dafs die z\u00e4rtliche\n1 Mbinong: Annahmen S. 158.\n8 Nach Mbinongs Ausf\u00fchrungen (Annahmen S. 1821.) w\u00e4re der Dafs-Satz in Wendungen, wie \u201eich freue mich, bedaure, f\u00fcrchte, hoffe, dafs .. nur das Objektiv des Urteils: \u201eich freue mich, bedaure usw.\u201c; nur blieben die Beziehungen dieses Objektivs zu dem Gef\u00fchl selbst zu untersuchen und zweitens zu dem Urteil, das die psychologische Voraussetzung des Wert-gefnhls bildet; denn dafs die Wendungen, wie \u201eich freue mich, bedaure usw.\u201c nicht das Urteil ausdr\u00fccken, das die psychologische Vorausetzung des Wert-gefilhls bildet, ist ohne weiteres klar.\n1 Vgl. Stumpf a. a. O. S. 48 fl.\n4 Bain: E. a. w. S. 83f.","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n223\nGem\u00fctsbewegung und die Sympathie im Mitleid so verschmolzen sind, dafs sie ununterscheidbar sind. Doch spricht er hier, wie besonders auch in M. a. m. S.1 2, von dem geringeren oder gr\u00f6fseren Anteil, den eines von beiden Elementen an dieser Mischung haben kann. Ob eine solche Mischung immer beim Mitleid vorhanden ist, dar\u00fcber sp\u00e4ter ; dafs in vielen F\u00e4llen eine solche Beimischung zu beobachten ist, d\u00fcrfte ohne weiteres zuzugeben sein. Ich stehe nicht an, zu erkl\u00e4ren, dafs durch die RiiNBche Ansicht das oft bemerkte und jedenfalls oft vorhandene lustvo\u00fce Element im Mitleid auf die plausibleste und einfachste Art gedeutet wird, besonders, wenn man in Erg\u00e4nzung zu Bain auch den subtileren und h\u00f6heren Formen der z\u00e4rtlichen Gem\u00fctsbewegung gerecht wird.\nEine \u00e4hnliche Ansicht wie Bain hat auch Spencer ; nur dafs er noch tiefer gehen und die Hauptwurzel dieser z\u00e4rtlichen Gem\u00fctsbewegung in der Liebe zum Hilflosen aufzeigen will. So ist nach Spencer dem Mitleid eine gewisse Liebe zum Hilflosen beigemischt. Wir k\u00f6nnen in dieser Bestimmung keine Verbesserung der BAiNschen Ansicht erblicken. Spencer behauptet, dafs es bei der Liebe der Frau f\u00fcr ihren Mann um Gef\u00fchle handelt, die die Schw\u00e4chere gegen\u00fcber dem St\u00e4rkeren hat. Will Spencer nun damit abstreiten, dafs die Frau gegen ihren Mann z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegungen f\u00fchlt? Spencer dr\u00fcckt sich zwar sehr vorsichtig aus: \u201eWelcher Art die Emotion beim anderen Geschlechte ist, vermag ich nat\u00fcrlich nicht zu sagen\u201c-; \u2014 eine Behauptung, die f\u00fcr einen Psychologen, der uns soviel von den uns jedenfalls doch viel unzug\u00e4nglicheren psychischen Zust\u00e4nden auf den untersten Stufen des Tierreiches zu sagen weifs, immerhin befremdlich ist \u2014 doch kann man wohl mit ruhigem Gewissen der Frau solche Gef\u00fchle zuschreiben. So wenig wir einer Beschr\u00e4nkung der z\u00e4rtlichen Gem\u00fctsbewegung auf die Liebe zum Hilflosen das Wort reden k\u00f6nnen, so wenig k\u00f6nnen wir das lustvolle Element im Mitleid auf die Liebe zum Hilflosen beschr\u00e4nken. Wenn Spencer einen lustvollen Bestandteil im Mitleid der Mutter mit ihrem Kinde sieht, warum soll bei der Frau nicht ebenso ein teilweise lustvolles Mitleid ihrem Manne gegen\u00fcber haben, ohne dafs er sich hilflos geb\u00e4rdet?\n1\tBain: M. a. m. S. S. 245. \u2014 Vgl. auch E. a. w. S. HO.\n2\tSpencer: Pr. cl. Ps. II, S. 704.","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nB. Groethuyaen.\nDie Liebe zum Hilflosen will nun Spencer wiederum auf den elterlichen Instinkt zur\u00fcckf\u00fchren, und so ist Mitleid ein dem elterlichen Instinkt nahe verwandtes Gef\u00fchl.1 Diese Verwandtschaft kann man zugeben ; es ist in beiden F\u00e4llen eine z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung vorhanden; doch, wie Bain in seiner Kritik der SPENCERschen Ansicht bemerkt, mufs man nicht vergessen, dafs die Leiden einer grofsen Person sehr verschieden sein k\u00f6nnen von denen eines Kindes.2 *\nEine Beimischung von z\u00e4rtlicher Gem\u00fctsbewegung sieht auch Sully im Mitleid8 ; dafs auch Ribot sich dieser Ansicht anschliefst, geht aus unserem Referate hervor.\nE. von Hartmann.\nAuch Hartmann sieht im Mitleid eine Beimischung von Lust. W\u00e4hrend er in der Ph. d. U. nur im m\u00e4fsigen Mitleid diese Lust finden will und behauptet, dafs das Mitleiden mit sinnlich wahrnehmbarem Schmerz so stark werden kann, dafs es keine Spur von Lust im Mitleid mehr aufkommen l\u00e4fst, sondern es ganz in herzzerreifsendem Jammer verwandelt, dessen Grauen zum Hinwegwenden treibt4, behauptet er in der Ph. d. s. B., dafs ein Mitleid ohne Beimischung von Lust, ein chemisch reines Mitleid in Wirklichkeit gar nicht vorkommt5 Auch in bezug auf die Deutung des lustvollen Elementes divergieren die Darstellungen in der Ph. d. U. und in der Ph. d. s. B. Nach der Ph. d. U. soll die Lust im Mitleid darin ihren Grund haben, dafs der Kontrast des fremden Leides mit dem eigenen Freisein von diesem Leide einen latenten Widerwillen gegen die Ertragung solchen Leidens zugleich erregt, befriedigt und diese Befriedigung zu Bewufstsein bringt.6 Lipps behauptet nicht mit Unrecht, dafs derartige Erkl\u00e4rungen den Ruhm gr\u00f6fster Oberfl\u00e4chlichkeit f\u00fcr sich in Anspruch nehmen d\u00fcrfen.7 Ich w\u00fcfste auch wirklich nicht, was f\u00fcr eine besondere Freude f\u00fcr uns im allgemeinen in dem Bewufstsein liegen soll, dafs wir an dem\n1\tSpencer: Eth. J, S. 391.\n2\tBain: E. e. v. S. 139.\n\u2022* Sully : Outl. of Ps. S. \u00d617 Anm.\n* Hartmann: Philosophie des Unbewufsten. 4. A., 1872, S. 664f.\n5 Hartmann : Ph\u00e4nomenologie des sittlichen Bewufstseins. S. 223, 222.\n0 Hartmann: Philos, d. \u00fcnbew. S. 66\u00f6.\n7 Lipps: Streit \u00fcber die Trag\u00f6die. S. 44f.","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n225\nund dem \u00dcbel nicht leiden. Es mag wohl in einzelnen F\u00e4llen etwas derartiges Vorkommen ; wenn man aber damit eine Deutung der Lust im Mitleid \u00fcberhaupt geben will, so scheint uns diese Deutung g\u00e4nzlich unzureichend. Wie soll ein Erwachsener, der mit einem hingefallenen Kinde Mitleid hat, einen besonderen Widerwillen gegen das Hinfallen mit daran sich anschliefsender Befriedigung f\u00fchlen? Auch die Gr\u00fcnde, die Habtmann f\u00fcr die Lust des Mitleids in der Ph. d. s. B. anf\u00fchrt, wollen uns nicht recht befriedigen. Kein Mitleid, auch das reinste nicht, soll von einer der Grausamkeitswollust verwandten, wenn nicht mit deren geringeren Graden identischen Empfindung frei sein. Aber wo soll denn in aller Welt die Mutter, die mit ihrem hingefallenen Kinde Mitleid f\u00fchlt, auch nur die geringste Spur einer solchen Lust f\u00fchlen? Aber selbst in F\u00e4llen, in denen wir eine solche der Grausamkeitswollust verwandte Lust annehmen d\u00fcrfen, z. B. bei dem bei Ungl\u00fccksf\u00e4llen m\u00fcfsig gaffenden Volkshaufen, der sich gierig um das Schauspiel eines in Kr\u00e4mpfen liegenden Menschen oder eines gest\u00fcrzten Karrenpferdes zusammendr\u00e4ngt, k\u00f6nnen wir da noch von Mitleid reden? Es mag vielleicht eine lebhafte Vorstellung des Unlustgef\u00fchls des Menschen oder des Pferdes vorhanden sein; aber, ob der gaffende Volkshaufen dar\u00fcber traurig ist, dafs dem Pferde und dem Menschen das und das passiert ist, ist eine andere Frage.1 Leider ist auch bei Habtmann keine Angabe des Inhalts des Mitleids vorhanden. Eine andere Deutung der Lust im Mitleid als einer \u00e4sthetischen Lust scheint auch anfechtbar. Die \u00e4sthetische Lust des Mitleids betrachtet das Leid durchaus nur vom Standpunkt des unbeteiligten Zuschauers. Diese \u00e4sthetische Lust wird dann im\nMitleid vorhanden sein k\u00f6nnen, wenn eben das Leid oder die \u25a0*\nAufserungen des Leides irgend welche Elemente enthalten, die \u00e4sthetisch lusterregend sein k\u00f6nnen. Was aber, um unser altes Beispiel zu nehmen, beim Kinde, das hingefallen ist, besonders \u00e4sthetisch lusterregend sein soll, vermag ich nicht zu sagen.\nJoDL2 und Ziegler 8 deuten die Lust im Mitleid \u00e4hnlich wie\n1 Nietzsche sieht im tragischen Mitleiden eine solche Art der Grausamkeit, sublimiert und subtilisiert, ins Imagin\u00e4re und Seelische \u00fcbersetzt (Genealogie der Moral S. 73) ; durch diese eingemischte Ingredienz bekommt das tragische Mitleiden seine S\u00fcfsigkeit (Jenseits von Gut und B\u00f6se S. 190).\n*\tJodl a. a. O. S. 687.\n*\tZiegler: Das Gef\u00fchl. S. 168f.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 34.\n15","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nB. Groethuysen.\nHartmann in der Ph. d. U. \u201eHinter dem Mitleid lauert die Selbstgef\u00e4lligkeit, die Gef\u00fchlsseite zu dem Gedanken: \u201ewie froh bin ich, dafs es mir nicht geht wie dem da,\u201c das Kraftgefiihl der eigenen \u00dcberlegenheit, die Lust aus der Macht.\u201c\nLipps und Volkelt.\nDas Mitleid ist f\u00fcr Lipps Mitleiden und zugleich Gef\u00fchl eines Wertes. \u201eJedes Wertgef\u00fchl ist als solches ein Lustgef\u00fchl,\u201c1 * * In dem \u201eStreit \u00fcber die Trag\u00f6die\u201c bezeichnet er Mitleid als ein Gef\u00fchl, in dem sich mit dem Weh, das die Wahrnehmung des Schmerzes bereitet, das erh\u00f6hte Bewufstsein des Wertes verbindet, den das gesch\u00e4digte Leben besitzt9 Doch bemerkt er, dafs wir uns bewufst bleiben m\u00fcssen, dafs es unendlich viele Arten oder besser unendlich viele Klangfarben des Mitleids gibt. So d\u00fcrfen wir auch wohl vermuten, dafs Lipps nicht bei jeder der vielen Klangfarben des Mitleids die Lust als erh\u00f6htes Bewufstsein des Wertes, den das gesch\u00e4digte Leben besitzt, bezeichnen wird. Bei den vielen kleinen Leiden, mit denen wir Mitleid f\u00fchlen, d\u00fcrfte auch diese Deutung wenig f\u00fcr sich haben. Wenn Lipps dagegen im Mitleid neben dem Bewufstsein des Wertes, der Achtung auch Liebe sehen will, so kommt er der Ansicht, die im Mitleid eine z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung erblicken will, nahe. F\u00fcr Bain ist ja gerade in der Liebe die z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung enthalten, ja er spricht geradezu von \u201eLiebe oder z\u00e4rtlicher Gem\u00fctsbewegung\u201c.8 Andererseits ist wieder f\u00fcr Lipps das Pers\u00f6nlichkeitswertgef\u00fchl das Fundament der Liebe zwischen Mann und Frau und, wie wir wohl in seinem Sinne hinzuf\u00fcgen d\u00fcrfen, der Liebe in ihren mannigfachen h\u00f6heren Formen.4 * * * In dieser Form d\u00fcrfte uns die Lippssche Ansicht eine willkommene Erg\u00e4nzung zu der Bain-RiBOTschen Ansicht bieten.\n1 Lipps: Eth. Grdfrg. S. 297.\n* Lipps: Str \u00fcb. d. Trag. S. 44.\n8 Bain: E. e. v. S. 82; M. a. m. S. S. 227. In E. e. v. S. 200 behauptet Bain, dafs die Lust des Mitleids ihre besondere S\u00fclsigkeit der Liebe verdanke ; in E. a. v. S. 76 bezeichnet Bain die Zuneigung (affection) als gewohnte oder assoziierte z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung. F\u00fcr Ribot scheint affection und \u00e9motion tendre dasselbe zu sein; vgl. Ps. d. s. 1. A., S. 14 u. a.\n4 Vgl. Lipps\u2019 Ausf\u00fchrungen \u00fcber das \u201esinnlich-sittliche Geschlechts-\nverh\u00e4ltnis\u201c, Eth. Grdfrg. S. 199 f. ; vgl. auch seine Ausf\u00fchrungen \u00fcber die\nFreundschaft ebenda S. 192 : \u201eFreundschaft, d. h. Wertsch\u00e4tzung der Pers\u00f6n-\nlichkeit . . . .\u201c und S. 192 f.: Vaterlandsliebe.","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n227\nW\u00e4hrend Bain und Ribot in einseitiger Weise auf eine mehr animalische z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung im Mitleid hinweisen, finden wir bei Lipps den Hinweis auf das geistig h\u00f6here Pers\u00f6nlichkeitswertgef\u00fchl. Nach Bain soll das Alpha und Omega jeder z\u00e4rtlichen Gem\u00fctsbewegung die Ber\u00fchrung sein1, ihre Wirkung soll darin bestehen, dafs sie die Menschen in gegenseitige z\u00e4rtliche Umarmung bringt.2 3 Hier bedarf Bains Theorie einer Erg\u00e4nzung; Bain selbst hat schon die Wirkung der z\u00e4rtlichen Gem\u00fctsbewegung in sehr eingeschr\u00e4nktem Sinne nehmen m\u00fcssen ; die k\u00f6rperliche Ber\u00fchrung kann auch in der Form des H\u00e4ndesch\u00fctteins und in \u00e4hnlichen Formen stattfinden8; aber zweifellos fehlt bei den subtileren Formen des Mitgef\u00fchls, denen Bajn und Ribot in ihrem Bestreben, \u00fcberall die k\u00f6rperliche Seite der Gem\u00fctsbewegungen zu betonen, nicht gerecht werden, jegliche Spur eines Bed\u00fcrfnisses nach k\u00f6rper\u00fccher Ber\u00fchrung.\nHier haben wir nun an der Lippsschen Theorie eine willkommene Erg\u00e4nzung. Wenn ich beide Theorien zusammenfasse, so w\u00fcrde ich die Lust im Mitleid beschreiben als eine Form der N\u00e4chstenliebe. Man kann dabei auch an die q>illa des Aristoteles oder an das Wohlwollen im LoTZEschen Sinne4 5 denken. Diese N\u00e4chstenliebe kann dann wieder in sehr verschiedenen Formen und Stufen auf treten ; sie kann in der Form, wie sie Bain und Ribot beschreiben, und in den h\u00f6chsten Formen auftreten, in denen das Pers\u00f6nlichkeitswertgef\u00fchl den Hauptbestandteil bildet. Dabei soll nicht geleugnet werden, dafs bei der Kompliziertheit und den individuellen Verschiedenheiten des menschlichen Seelenlebens auch die anderen Deutungen eine Berechtigung in gewissen F\u00e4llen haben. Warum soll es nicht auch Leute geben, die beim Anblick eines Schwinds\u00fcchtigen sich dar\u00fcber freuen, dafs sie nicht schwinds\u00fcchtig sind? Dilthey spricht von einem h\u00e4fslichen Zug der Menschennatur, gegen\u00fcber von Gefahren und Schmerzen anderer die eigene Sicherheit hinter dem warmen Ofen versteckt verdoppelt zu f\u00fchlen.6 Doch diese Lust als Lust des Mitleids schlechthin zu bezeichnen,\n1 Bain zitiert bei Ribot: Ps. d. s. 1. A., S. 231.\n1 Bain: M. a. m. 8. S. 239.\n3\tBain: Anm. z. J. Mills Analys. ... II, S. 232f.\n4\tVgl. Lotzb: Praktische Philosophie. S. 34.\n5\tDilthby: Das Schaffen des Dichters, in den Zelleraufs\u00e4tzen S. 420;\nygl. auch Vischer : \u00c4sthetik. 1846. I, S. 327\n15*","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nB. Groethuy*tw.\nscheint mir unangebracht. \u00c4hnlich verh\u00e4lt es sich mit der dem Mitgef\u00fchl beigemischten, der Grausamkeitswollust verwandten Lust Auch hier werden wir F\u00e4lle finden, in denen, z. B. bei der minuti\u00f6sen woll\u00fcstigen Ausmalung von Martern, eine Lust dem Mitleid beigesellt ist, die man wohl als eine der Grausamkeitswollust verwandte bezeichnen kann.\nMit meiner Behauptung, dafs dem Mitleid N\u00e4chstenliebe beigemischt ist, finde ich mich in \u00dcbereinstimmung mit vielen \u00e4lteren Philosophen. Schon Aristoteles behauptet, dais man Mitleid aus Liebe wenigstens in der Jugend f\u00fchlt, in dem Alter soll das Mitleid aus Schw\u00e4che stammen.1 2 3 Descartes sagt: \u201eLa piti\u00e9 est une esp\u00e8ce de tristesse m\u00eal\u00e9e d\u2019amour . . Hume: \u201eThere is always a mixture of love or tenderness with pity.\u201c8\nF\u00fcr Burke ist Mitleiden eine Leidenschaft, die mit Lust verbunden ist, weil sie aus Liebe und geselliger Zuneigung entspringt4 5 * Lessing 6 und Mendelssohn \u2022 sehen im Mitleid eine aus Unlust und Liebe vermischte Empfindung. Auch Schiller k\u00f6nnen wir hier anf\u00fchren: \u201eWas w\u00e4re das Mitleiden sonst als ein Affekt gemischt von Wollust und Schmerz; Schmerz, weil der Mensch leidet, Wollust, weil ich das Leid mit ihm teile, weil ich ihn liebe.\u201c 7\nWas die neueren Psychologen anbetrifft, so finde ich mich in \u00dcbereinstimmung mit Volkelt. Volkelt findet, dafs sich mit Mitleid etwas von hingebender, herz\u00f6ffnender Liebe verkn\u00fcpft. Die Lust, die dem Mitleid beiwohnt, ist die Lust, \u201edie wir empfinden, indem wir unsere Herzen erw\u00e4rmen und erweitern, unsere Gef\u00fchle dahingeben, den Leidenden mit unserem Gef\u00fchl umfangen und hegen\u201c.8 Das Mitleid hat so f\u00fcr ihn etwas Sichl\u00f6sendes, Weichfliefsendes, \u00dcberquellendes, Zitterndes, bang Umschliefsendes.9 \u00c4hnlich bestimmt schon Kant die Natur des\n1\tAristoteles: Rhetorik. II, 13.\n2\tDescartes: Passions de l'\u00e2me. Ges. W., Ausg. v. Oocsik, IV, S. 197.\n3\tHume: Treat, of hum. nat. B. II, P. II, 8. IX.\n* Burke a. a. O. S. 64 f.\n5 Lessing: Hamb. Dramat. 76. St.\nH Mendelssohn: Ph. Sehr. Verb. Aufl. 1777. Bd. I: Briefe \u00fcber die Empfindung, 8. 146; Bd. II: Rhapsodie, 8. 29; auf S. 15 ff. will Mendelssohn die Liebe nicht als alleinige Ursache des Vergn\u00fcgens im Mitleid ansehen.\n7 Schiller: Philosophie d. Physiologie. Ges. W., kr. Ausg., I, S. 15.\ns Volkelt: \u00c4sthetik des Tragischen. S. 389.\n\" Ebenda 8. 361.","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n229\nMitleids, wenn er von einer gewissen Weichm\u00fctigkeit spricht, die leichtlich in ein warmes Gef\u00fchl des Mitleidens gesetzt wird \\ oder wenn er davon spricht, dafs die Betr\u00fcbnis, wenn sie sich auf Sympathie gr\u00fcndet, zu den schmelzenden Affekten geh\u00f6rt2, oder endlich wenn er vom s\u00fcfsen Schmerz schreibt, der oft das Herz leer macht8 Dafs diese Bestimmungen der Natur des Mitleids an die Ansicht Bains anklingen, ist klar. Bain charakterisiert die z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung mit \u00e4hnlichen Ausdr\u00fccken.4 \u00fcbrigens will Volkelt den Terminus \u201eMitleid\u201c zwar nur auf solche weichfliefsenden Gef\u00fchle angewandt wissen, daneben aber noch andere Formen des Mitleidens annehmen: das starke und das entsetzensvolle Mitleiden. Das starke Mitleiden f\u00fchlen wir angesichts heroisch ertragener Leiden. Es w\u00e4re nach Volkelt gek\u00fcnstelt, dies mit dem Gef\u00fchl der St\u00e4rke verbundene Mitleiden in das Mitleid einbeziehen zu wollen.s Lipps ist dar\u00fcber anderer Meinung. Nach ihm gibt es neben dem schmelzenden, weichen, weichlichen Mitleid ein ernstes, erhabenes, kraftvoll erregendes Mitleid.\u00ae Wir k\u00f6nnen in der Frage, ob man die erw\u00e4hnte psychische Erscheinung als Mitleid oder Mitleiden bezeichnen soll, keine \u00fcberm\u00e4fsig wichtige Frage f\u00fcr die Psychologie erblicken, k\u00f6nnen aber nicht einsehen, warum wir die Trauer \u00fcber heroisch ertragene Leiden nicht als Mitleid bezeichnen sollen. Das starke Mitleiden w\u00e4re f\u00fcr uns ein Mitleid, dem ein starkes Pers\u00f6nlichkeitswertgef\u00fchl beigemischt ist. Was die and\u00e9re Form des Mitleidens, das entsetzensvolle Mitleiden anbetrifft, so gibt Volkelt selbst zu, dafs dabei auch wohl Mitleid vorhanden ist; zugleich aber sollen wir \u00fcberwiegend Entsetzen, Grauen, Abscheu f\u00fchlen. Dafs wir dieses Entsetzen selbst nicht wieder als Mitleid bezeichnen k\u00f6nnen, geben wir Volkelt zu und halten es mit Abistoteles, der das Mitleid vom entsetzenvollen Grauen scharf unterscheidet.7 Wir leiden doch nicht das Entsetzen mit dem\n1 Kant : Beobachtungen \u00fcber das Gef\u00fchl des Sch\u00f6nen und Erhabenen. Habtknst. Il, S. 238.\n4 Kant: Kr. d. Urteilskr. Kehrbach S. 135.\n* Kant: STBACKKSche Anthropol. S. 275.\nI\tVgl. Bain: E. a. w. S. 74f.; M. a. m. S. S. 142. Bain nennt die ..tender emotion\u201c \u201emassive not acute\u201c. Ladd : Psychology ... S. 542 spricht von der \u201esoothing nature of pity\u201c.\nII\tVolkelt a. a. O. S. 360.\n\u201c Lipps: Streit \u00fcb. d. Trag. S. 43 f.\n7 Aristoteles: Reth. II, 8.","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nB. Groethuysen.\nUngl\u00fccklichen; in den von Volkelt angef\u00fchrten Beispielen hat doch das Individuum nicht Abscheu vor sich selbst. Wenn wir in den beiden ersten F\u00e4llen ein sympathisches Gef\u00fchl f\u00fchlen, so haben wir im letzten Fall ein antipathisches Gef\u00fchl. Wenn wir bei der Betrachtung des Herzogs von Gothland bei Grabbe starkes Mitleid f\u00fchlen, aber weit st\u00e4rkeres Grauen vor der Entartung und Verw\u00fcstung dieses einst so herrlichen Menschen, so f\u00fchlen wir einerseits Mitleid unter Beimischung eines starken Pers\u00f6nlichkeitswertgef\u00fchls1 und andererseits Grauen. Dieses Grauen ist dann aber nicht Mitleiden oder ein Teil davon, sondern das Gegenteil.\nWir haben bisher aufser acht gelassen, dafs Lipps und Volkelt vom tragischen Mitleid sprechen. Doch scheinen Lipps und Volkelt selbst keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Mitleid mit den auf der B\u00fchne dargestellten Menschen und den Menschen des wirklichen Lebens zu machen. Lipps gebraucht im \u201eStreit \u00fcber die Trag\u00f6die\u201c Beispiele aus dem wirklichen Leben und charakterisiert in seinen \u201eEth. Grdfr.\u201c das allt\u00e4gliche Mitleid mit \u00e4hnlichen Ausdr\u00fccken. Auch ist ja nach Lipps die \u00e4sthetische Sympathie die Tatsache, welche die Sympathie \u00fcberhaupt rein darstellt, ungetr\u00fcbt von dem Egoismus des Lebens.* Volkelt wiederum will in den Ausf\u00fchrungen, die hier f\u00fcr uns in Betracht kommen, gerade von dem Moment, durch das sich der tragische Eindruck erst aus der Masse der stofflichen, an die schwere Wirklichkeit geketteten Gef\u00fchle heraushebt, absehen.3 Ob allerdings nicht weitergehende wesentliche Unterschiede zwischen dem tragischen Mitleid und dem Mitleid in der Wirklichkeit bestehen, ist eine andere Frage.4\nF. F. Saunders und G. Stanley Hall.\nZum Schlufs sei noch kurz auf eine Umfrage hingewiesen, die Saunders und Hall3 in betreff des Mitleids an verschiedene Personen gerichtet haben. Die Umfrage richtete sich an Damen \u2014 2/* aller Befragten \u2014 und an Herren. Unter den Herren waren Studenten und Professoren; auch Kinder sind befragt wrorden. Es war gebeten worden um eine detail-\n1\tVgl. Lipps : Streit \u00fcb. d. Trag. S. 42.\n2\tLipps: Eth. Grdfrg. S. 18.\n3\tVolkelt a. a. O. S. 358.\n4\tVgl. dar\u00fcber Meinong: Annahmen. S. 234.\n\u00f6 F. H. Saunders u. G. Stanley Hall: Pity. Amer. Jour\u00bb. of Psychol. 11, 1899 f.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n231\nlierte Angabe der Erlebnisse, bei denen besonders und ausnahmsweise stark Mitleid gef\u00fchlt worden war; es sollte das Dichterwerk, ferner die Tatsache aas eigener Erfahrung, die das durchdringendste Mitleid erregt hatte, die Symptome, der physiologische Zustand, die nachfolgenden W\u00fcnsche und Handlungen, die Dauer der Wirkung u. a. angegeben werden. Ein einiger-mafsen zuverl\u00e4ssiges Material ist auf Grund dieser Umfrage nicht gewonnen worden. Alle Fragen beziehen sich auf ein Mitleid, das man fr\u00fcher erlebt hat ; sie setzen also nicht nur eine zuverl\u00e4ssige Erinnerung voraus, sondern es soll sogar bestimmt werden, welches von diesen erinnerten Mitleidsgef\u00fchlen das st\u00e4rkste war. Einige behaupten nun, dafs sie das Mitleid wirklich wieder f\u00fchlen und antworten auf Grund dieses wiedergef\u00fchlten Mitleids; so schreibt einer, dafs er beim Niederschreiben einer mitleids-erregenden Erz\u00e4hlung nicht nur schmerzvolle Erinnerungsbilder hat, sondern sognr bohrende Schmerzen im R\u00fcckenmark, im Nacken und auf der Brust1; von den meisten werden wir aber vermuten k\u00f6nnen, dafs sie nur schwache Gef\u00fchlsvorstellungen gehabt haben. Eine Person behauptet z. B., dafs sie das alte Gef\u00fchl (das Mitleid) nicht zur\u00fcckrufen k\u00f6nnte. Der Faktor der Erinnerung, die fausse oder vraie memoire affective, die individuellen Differenzen in der Erinnerung, die zeitliche Entfernung sind gar nicht ber\u00fccksichtigt worden, trotzdem die Verf. individuelle Differenzen bei der Gef\u00fchlserinnerung kennen2 und auch von verblafsten Gef\u00fchlserinnerungen sprechen.3 Ferner scheint ohne weiteres vorausgesetzt zu werden, dafs alle Mitleid von anderen psychischen Zust\u00e4nden scharf unterscheiden k\u00f6nnen. Viele dr\u00fccken eine gewisse Unbestimmtheit aus, ob ein Gef\u00fchl Mitleid ist oder nicht, wenigstens in bezug auf unbeseelte Objekte.4 * Wenn aber einige von einem pl\u00f6tzlichen oder nerv\u00f6sen \u201eshock\u201c sprechen, den sie bei fremden Ungl\u00fccksf\u00e4llen f\u00fchlten0, oder wenn andere als begleitende Erscheinung des Mitleids ein Gef\u00fchl anf\u00fchrten, das nicht ungleich einem Gef\u00fchl\" des Hungers oder einem Gef\u00fchl der Hohlheit oder des Zusammenziehens im Magen war, so mufs gefragt werden, ob denn dabei wirklich Mitleid vorhanden war. Die Verfasser selbst bemerken, dafs das Mitleid vielleicht niemals in einer reinen und ungemischten Form vorkommt6; aber wie viele von den Angaben beziehen sich dann auf ganz andere Gef\u00fchle als gerade auf das Mitleid?\nNoch auf einen anderen Punkt m\u00fcssen wir eingehen. Es war gefragt worden, welches Erlebnis das st\u00e4rkste Mitleid erregt h\u00e4tte. Nun f\u00fchren sehr viele gar kein einzelnes Erlebnis an, sondern ergehen sich in allgemeinen Betrachtungen, welche Klasse von Menschen sie am meisten bemitleiden 7, oder f\u00fchren ganz allgemein F\u00e4lle an, bei denen sie Mitleid gef\u00fchlt\n1 F. H. Saunders u. G. Stanley Hall: Pity. Amer. Journ. of Pftychol. 11, 18991 S. 542, M. 28.\n*\t8. 589.\n*\tS. 571.\n4 Ebenda S. 550.\n' S. 542, M. 30; S. 548, F. 20.\n6\t8. 576.\n7\tVgl. u. a. S. 539, F. 24, F. 27","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nR. Groethuysen.\nh\u00e4tten, z. B. Anblick von Blinden, Tauben u. a.1 * Viele beginnen mit einer allgemeinen Betrachtung, wer denn die am meisten zu Bemitleidenden sind. So h\u00e4lt einer die Parese f\u00fcr das traurigste*, mehrere bemitleiden am meisten Damen, die heiraten m\u00f6chten, aher nicht k\u00f6nnen3; ein anderer stellt Betrachtungen dar\u00fcber an, ob Blinde, Taube, Idiote oder Verr\u00fcckte mehr zu bemitleiden sind und bemitleidet am meisten Blinde 4 ; ein anderer wiederum h\u00e4lt die Einzelgefangenschaft f\u00fcr die h\u00e4rteste aller Strafen.5 Die Antworten von anderen endlich sind durch alle m\u00f6glichen historischen6, philosophischen7, religi\u00f6sen6, politischen9 Betrachtungen beeinflufst. Andere haben die Sucht, oft in wenig geschmackvoller Weise paradox zu sein \u2014 so erkl\u00e4rt z. B. eine der gefragten Personen, dafs sie mehr einen Hund, dessen Fufs gequetscht ist, bemitleidet als Christus 10 ; oder andere haben die Sucht sich anzuklagen ; so ergeht sich eine in Vorw\u00fcrfen dar\u00fcber, dafs sie hartherzig sei.11 Aus den angef\u00fchrten Gr\u00fcnden k\u00f6nnen wir den Ergebnissen der Umfrage keinen Wert beilegen. Sie lehren uns das eine, dafs man \u00fcber solche Dinge Menschen nicht fragen darf, denen die strenge logische und psychologische Schulung fehlt, und dafs diese Statistik zu den verwerflichsten ihrer Art geh\u00f6rt. Nur die Individual- oder Typen psychologie mag einiges daraus sch\u00f6pfen.\nF\u00fcr den oft weichen, weichlichen Charakter des Mitleids scheinen die Angaben der B\u00fccher, die am meisten Mitleid erregen, zu sprechen. Es sind \u2014 eine Erfahrung, die sich nicht nur in Amerika best\u00e4tigen liefse \u2014 vielfach r\u00fchrende, r\u00fchrselige Geschichten. Onkel Toms H\u00fctte ist allein dreimal so oft genannt als irgend ein anderes Werk.12 Andererseits finden sich auch wieder F\u00e4lle eines Mitleids \u00e0 la Hartmann. Einige der gefragten Personen scheinen sich mit einer wahren Wollust in die Marter Christi zu versenken. Da malt sich eine ganz genau die N\u00e4gel aus, mit denen Christus gekreuzigt worden ist13; eine andere dr\u00fcckt sich scharfe N\u00e4gel gegen ihre eigenen H\u00e4nde, um die Empfindungen zu haben, die Christus am Kreuze gehabt hat14; andere wiederum malen sich alle Details der Qualen Christi aus.15 Dagegen findet man leider in all den Antworten kaum das, was man mit Lipps als das ernste, erhabene, kraftvoll erregende Mitleid bezeichnen k\u00f6nnte; was aber aus den angef\u00fchrten Gr\u00fcnden nichts gegen die Auffassung beweist.\nWas die eigenen Ausf\u00fchrungen des Verfassers speziell \u00fcber die Lust des Mitleids anbetrifft, so scheint uns ihr Standpunkt nicht haltbar. Sie behaupten zun\u00e4chst, die Frage, ob Mitleid lustvoll oder unlustvoll sei, sei falsch gestellt. Jedes starke Gef\u00fchl wecke in uns ein st\u00e4rkeres Lebensgef\u00fchl und sei so nicht ohne angenehme Symptome.16 Abgesehen davon,\n1 S. 544, M. 45.\t2 S. 54.% M. 30.\t3 S. 545.\t4 S. 544, M. 65.\n5 S. 554, M. 33.\t. 0 S. 568, M. 50.\t7 S. 548, M. 52.\t6 S. 562, F. 47.\n9 S. 568, M. 58.\t10 S. 562, M. 22.\t11 S. 540, M. 52.\t12 8. 552 f.\n13 S. 559, F. 21.\t14 Ebenda F. 17.\t15 Ebenda M. 28.\n16 S. 527: \u201eAll strong sentiments make us tingle and glow with an\nincreased sense of life.\u201c Eine \u00e4hnliche Theorie hat schon Dubos: R\u00e9-\nflexions critiques sur la peinture et la po\u00e9sie, 1719 aufgestellt. Lessing","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl\n233\n\u00ab\nob diese Behauptung wirklich richtig ist, mufs bemerkt werden, dafs die vielen Forscher, die sich um die Deutuug der Lust im Mitleid abgem\u00fcht haben, nat\u00fcrlich nicht jene Lust gemeint haben, die mit jedem starken Gef\u00fchl verbunden sein soll, sondern eben eine bei allen Intensit\u00e4tsgraden des Mitleids vorhandene gerade im Unterschied zu sonstigen Unlustgef\u00fchlen auffallend starke Beimischung von Lust. Dafs gerade das weiche, hinschmelzende Mitleid am wenigsten geeignet ist, uns mit einem prickelndem Lebensgef\u00fchl zu durchgl\u00fchen, Bei nebenbei bemerkt.\nZweiter Teil.\nErgebnisse und positive Ausf\u00fchrungen.\nDefinition. Das Mitgef\u00fchl ist die Trauer bzw. Freude dar\u00fcber, dafs ein anderer ein unlustartiges bzw. ein lustartiges Gef\u00fchl hat, gehabt hat, oder haben wird.* 1 * * * * * * Das Gef\u00fchl des anderen kann im \u00fcbrigen, sofern es nur gleiche Vorzeichen mit dem Mitgef\u00fchl hat, zu einer beliebigen Gef\u00fchlsart geh\u00f6ren.\nDas Mitgef\u00fchl ist also eine Gem\u00fctsbewegung, d. h. ein passiver Gef\u00fchlszustand, der sich auf einen Sachverhalt bezieht8 Hiermit ist gegeben, dafs das Mitgef\u00fchl niemals ein sinnliches Gef\u00fchl sein kann, das direkt durch den Sinneseindruck hervor-\niBrief an Mendelssohn, 2. Febr. 1767) spricht davon, dafs alle Leidenschaften, auch die allerunangenehmsten, als Leidenschaften angenehm sind, weil wir uns eines gr\u00f6fseren Grades unserer Realit\u00e4t dabei bewufst werden. Auch Mendelssohn ist dieser Standpunkt nicht fremd, vgl. Rhapsodie a. a. O. II, S. 15ff., wo er im AnBChlufs an Dubos die Lust im Mitleid wenigstens teilweise auf diese Weise deuten will. \u00dcber diese \u201eabstrakte Lust der allgemeinen Aufr\u00fcttelung\u201c vgl. Vischeb a. a. O. 8. 331.\n1 Mitleid und Mitfreude k\u00f6nnen sich auf etwas Zuk\u00fcnftiges beziehen,\nohne deswegen zu Furcht und Hoffnung zu werden. Ich kann dar\u00fcber\ntraurig sein, dafs mein Freund morgen eine schmerzhafte aber ungef\u00e4hr-\nliche Operation bestehen wird, ohne mich deswegen zu f\u00fcrchten. Meinono\nsieht den Unterschied zwischen Freude und Trauer einerseits und Furcht\nund Hoffnung andererseits darin, dafs jene Gef\u00fchlsreaktionen auf einen gewissen, diese Reaktionen auf einen ungewissen Sachverhalt sind (PBychol.-eth. Unters. . . . S. 50ff.); vgl. dagegen Bain, der auch Furcht vor einem gewissen Sachverhalt kennt (E. a. w. S. 53, M. a. m. S. S. 233).\nSchon Hume nimmt an, dafs die Sympathie sich auch auf zuk\u00fcnftige Gef\u00fchle beziehen k\u00f6nne (a. a. O. B. II, T. II, S. IX); Aristoteles lftfst das Mitleid auf Zuk\u00fcnftiges und Vergangenes sich beziehen (Rhet. II, 8).\n* Vgl. Stumpf a. a. O. S. 56.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nB. Groethuysen,\ngerufen wird.1 Wir w\u00fcfsten auch wirklich nicht, was es heifsen sollte, ich habe Zahnschmerzen dar\u00fcber, dafs du Zahnschmerzen hast; oder ich habe Hunger dar\u00fcber, dafs du Hunger hast Damit ist selbstverst\u00e4ndlich nicht ausgeschlossen, dafs das Mitgef\u00fchl von sinnlichen Unlust- oder Lustgef\u00fchlen begleitet sein kann; nur beziehen sich diese dann eben gar nicht irgend wie auf den psychischen Zustand eines anderen.\nDie zwei Arten des Mitgef\u00fchls, a) Das Mitleid.\nDas Mitleid ist eine unlustartige Gem\u00fctsbewegung. An dieser Tatsache \u00e4ndert der Umstand nichts, dafs dem Mitleid, wie h\u00e4ufig bemerkt wurde, oft oder vielleicht immer eine lustartige Gem\u00fctsbewegung beigemischt ist. Diese beigemischte Lust unterscheidet sich vom eigentlichen Mitleid durch ihren verschiedenen Inhalt. Wir haben die dem Mitleid beigemischte Lust als N\u00e4chstenliebe gedeutet. Es ist leicht einzusehen, dafs die N\u00e4chstenliebe einen anderen Inhalt hat als das Mitgef\u00fchl. Die Mutter liebt nicht ihr Kind dar\u00fcber, dafs . . . ., wie sie dar\u00fcber traurig ist, dafs ihr Kind Unlust f\u00fchlt. Die \u201edafs-Kon-struktionen\u201c lassen sich hier \u00fcberhaupt nicht ohne Gewaltsamkeit anbringen, wie Mein on g in Bezug auf \u00e4hnliche F\u00e4lle bemerkt.2 3 Die erw\u00e4hnte Ausdruckseigent\u00fcmlichkeit d\u00fcrfte uns schon einen Fingerzeig geben, dafs wir es bei der N\u00e4chstenhebe nicht mit Gef\u00fchlen zu tun haben, die sich auf den Kummer oder die Freude des anderen als auf einen Sachverhalt beziehen. Darwin sagt einmal : \u201eEine Mutter kann ihr schlafendes, ruhiges Kind leidenschaftlich lieben, sie kann aber kaum dabei sagen, dafs sie Sympathie f\u00fcr dasselbe f\u00fchle.\u201c8 Hier ist sehr fein charakterisiert, dafs die Mutterliebe \u00fcberhaupt nicht als Inhalt ein Gef\u00fchl des Kindes zu haben braucht. \u2022 Ein anderer Umstand scheint uns noch wichtiger. Die N\u00e4chstenliebe ist, soweit sie \u00fcberhaupt zu den passiven Gef\u00fchlen und nicht zu den Erscheinungen des Begehrens und Wollens geh\u00f6rt, ein lustartiges Gef\u00fchl. Nun ist aber doch klar, dafs die Mutter nicht ein lust-\n1\tVgl. Stumpf a. a. O. S. 49.\n2\tMeinong : Annahmen. S. 183.\n3\tDarwin: Abst. d. M. (Reel.) I, S. 157f.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n235\nartiges Gef\u00fchl dar\u00fcber haben kann, dafs ihr Kind Unlust f\u00fchlt. Nach alledem raufs man annehmen, dafs Mitleid und N\u00e4chstenliebe einen verschiedenen Inhalt haben, wenn auch nicht geleugnet werden soll, dafs beide Inhalte ein gemeinsames Element, in unserem Falle die Vorstellung des Kindes, haben k\u00f6nnen. Wenn aber Mitleid und N\u00e4chstenliebe zwei verschiedene Inhalte haben, so d\u00fcrfen wir wohl kaum die N\u00e4chstenliebe als Teil des Mitleids betrachten. N\u00e4heres \u00fcber das Verh\u00e4ltnis von N\u00e4chstenliebe und Mitleid sp\u00e4ter.\nN\u00e4here Bestimmung der Qualit\u00e4t des Mitleids.\nDas Mitleid ist seiner spezifischen Qualit\u00e4t nach Trauer oder eine der Trauer \u00e4hnliche Gem\u00fctsbewegung wie Betr\u00fcbnis, Kummer, Niedergeschlagenheit, Gram u. dgl. Wir glauben also nicht, das Mitleid als eine besondere Klasse der trauerartigen Gem\u00fctsbewegungen betrachten zu d\u00fcrfen. Darauf deutet auch der Sprachgebrauch hin. Wir sagen,, dafs wir betr\u00fcbt, bek\u00fcmmert, niedergeschlagen sind, \u00fcber die Tatsache, dafs du dies und dies Leid erduldest. Die charakteristischen Merkmale, die Volkelt dem Mitleid zuschreibt, deutet er selbst auf eine Beimischung von Liebesgef\u00fchl.\nAusdr\u00fccklich sei dagegen bemerkt, dafs das Mitleid nicht den qualitativen Charakter der \u00fcbrigen unlustartigen Gem\u00fctsbewegungen annehmen kann. Ich kann mich im Mitleid nicht dar\u00fcber \u00e4rgern, zornig u. dgl. sein, dafs der andere ein Unlustgef\u00fchl hat. M\u00f6gen auch solche Gef\u00fchle nach rein psychologischen Gesichtspunkten immerhin zu derselben Klasse geh\u00f6ren, zu der auch das Mitgef\u00fchl geh\u00f6rt, so haben sie doch nichts mit dem zu tun, was man im gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch als Mitgef\u00fchl bezeichnet.\nb) Die Mitfreude.\nMitfreude ist eine lustartige Gem\u00fctsbewegung. N\u00e4her bestimmt ist die Qualit\u00e4t der Mitfreude, Freude oder eine der Freude \u00e4hnliche Gem\u00fctsbewegung, wie Fr\u00f6hlichkeit, Zufriedenheit u. dgl.\nVergleich der Qualit\u00e4t des Mitgef\u00fchls mit dem Gef\u00fchlszustand dessen, mit dem man Mitgef\u00fchl hat.\nDas Mitgef\u00fchl braucht durchaus nicht dem Gef\u00fchl des anderen gleich zu sein. Wir k\u00f6nnen mit jemand Mitleid haben,","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nB. Groethuy8en.\nweil er sich \u00e4rgert, zornig ist oder dgl., ohne dafs dadurch das \u2022\u2022\nMitleid zum Arger oder Zorn oder dgl. wird; ebenso k\u00f6nnen wir mit jemand Mitleid haben, weil er physischen Schmerz, Hunger, Durst f\u00fchlt, ohne dafs das Mitleid dadurch zum physischen Schmerz, Hunger oder Durst wird.\nWir k\u00f6nnen also die Behauptung der meisten der bisher behandelten Theorien nicht zugeben, dafs das Mitgef\u00fchl ein Gleichgef\u00fchl ist. Der Fall, dafs das Gef\u00fchl des anderen und mein Mitgef\u00fchl qualitativ gleich sein k\u00f6nnen, ist nur ein spezieller Fall, der eintritt, wenn der andere Trauer, bzw. ein trauer-artiges Gef\u00fchl oder Freude, bzw. ein freudeartiges Gef\u00fchl hat Dagegen m\u00f6chten wir beim Mitgef\u00fchl an der Forderung der gleichen Vorzeichen festhalten. Wenn man vielleicht auch davon sprechen h\u00f6rt, dafs man Mitleid mit jemand hat, weil er sich \u00fcber etwas freut, so ist hierbei der eigentliche Inhalt eben nicht die Freude des anderen. Hat jemand mit einem Schwinds\u00fcchtigen, der sich in dem letzten Stadium seiner Krankheit pl\u00f6tzlich wohler f\u00fchlt, Mitleid, so ist der Mitleidige nicht dar\u00fcber traurig, dafs der Schwinds\u00fcchtige sich freut, sondern deswegen, weil diese Freude das Anzeichen einer Verschlimmerung des Zustandes ist; der Mitleidige ist auch hier \u00fcber ein \u2014 zu erwartendes \u2014 Unlustgefiihl des Patienten traurig.\nBeimischungen des Mitgef\u00fchls, a) Mitleid.\n, Mitleid tritt h\u00e4ufig, wenn nicht immer, unter Beimischung einer lustartigen Gem\u00fctsbewegung auf. Diese lustartige Beimischung haben wir als Menschenliebe im allgemeinsten Sinn bezeichnet. Wenn wir das Verh\u00e4ltnis zwischen Mitleid und N\u00e4chstenliebe charakterisieren wollen, so h\u00e4tten wir, um uns des Terminus Ribots zu bedienen, \u201eune composition par m\u00e9lange\u201c, d. h. den Fall der Zusammensetzung, in dem die psychologische Analyse die einzelnen Elemente bestimmen und aufz\u00e4hlen kann, im Unterschied zur \u201ecomposition par combinaison\u201c, wo eine nicht zur\u00fcckf\u00fchrbare Einheit vorhanden ist.1 Wir k\u00f6nnen auch nichts dagegen haben, wenn man das Verh\u00e4ltnis zwischen den\nVgl. Ribot: 1*8. d. s. 1. A., S. 264 f.\ni","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n237\nbeiden Gem\u00fctsbewegungen als raschen Wechsel bezeichnet1; wobei dann aber zum mindesten zugegeben werden mufs, dafs das naive Bewufstsein diesen raschen Wechsel mit einem Zugleichsein verwechselt.\nEine Frage ist, ob Mitleid immer mit einer Beimischung von N\u00e4chstenliebe auftritt. Es ist h\u00e4ufig behauptet worden, dafs das Mitgef\u00fchl keineswegs ausschliefslich an das Bestehen von Neigungen gekn\u00fcpft ist.2 Doch ist hierbei zweierlei zu unterscheiden. Wenn auch N\u00e4chstenliebe nicht die Voraussetzung der Sympathie ist, so ist damit noch nicht gezeigt, dafs wir, wenn wir mit jemand Mitleid haben, nicht N\u00e4chstenliebe, vielleicht in sehr subtiler Form f\u00fchlen. Bain sagt, dafs Abneigung Sympathie nicht ganz zu zerst\u00f6ren braucht8 ; aber dann, wenn wir mit jemand sympathisieren, f\u00fchlen wir dann noch tats\u00e4chlich Abneigung gegen ihn, \u00fcberwinden wir dann nicht vielmehr unsere Abneigung gegen ihn? Die Frage bleibt also bestehen, ob Mitleid ohne N\u00e4chstenliebe vorkommt. Es ist dies eine subtile Frage der Selbstbeobachtung, die wir hier nicht zu entscheiden wagen. Dafs Mitleid auch von anderen lustartigen Gem\u00fctsbewegungen begleitet sein kann, z. B. von einer der Grausamkeitswollust verwandten Lust, hat sich uns best\u00e4tigt.\nAus diesen Beimischungen des Mitleids erkl\u00e4ren sich auch die ganz verschiedenen Antworten auf die Frage, ob Mitleid lustvoll sei oder nicht. W\u00e4hrend La Fontaine sagt: \u201eLa piti\u00e9 est le mouvement le plus agr\u00e9able de tous\u201c 4, und das Mitleid ein Entz\u00fccken (ravissement), eine Extase5 nennt, und Rousseau das Mitleid als \u201eun sentiment tr\u00e8s doux\u201c6 bezeichnet, weifs Spinoza von einer solchen Lust des Mitleids gar nichts und sieht in ihm nur \u201etristitia\u201c. Die meisten Psychologen halten sich indessen zwischen diesen beiden Extremen und behaupten, dafs dem Mitleid ein lustvolles Gef\u00fchl beigemischt sei.\n1 Vgl. Rkhmke: Zur Lehre vom Gem\u00fct. S. 36. Auch die Annahme der einfachen Koexistenz der beiden Gef\u00fchle w\u00fcrde unserer Theorie nicht widerstreiten. Vgl. Saxinger a. a. O. S. 399 ff.\n*\tVgl. Jodl a. a. O. S. 685, Bain: M. a. m. S. S. 278; vgl. auch Hume a. a. 0. B. II, P. II, S. VII: \u201eWe pity even strangers and such as are perfectly indifferent to us.u\n*\tBain: M. a. m. S. S. 278.\n4\tLa Fontaine : Amours de Psyche. Ges. W. Bd. VIII, 8. 119.\n5\tEbenda 8. 114.\n9 Rousseau a. a. O. 8. 249.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nB. Groethuysen.\nb) Mitfreude.\nAuch bei der Mitfreude soll nach manchen Forschem, z. B. Jodl, eine solche Gef\u00fchlsmischung stattfinden. Hinter der Mitfreude lauert der Neid, welcher die Gef\u00fchlsseite zu dem Gedanken darstellt : \u201eIch g\u00f6nne dir dein Gl\u00fcck, aber wieviel sch\u00f6ner m\u00fc&te es doch sein, wenn es mir zugefallen w\u00e4re.\u201c 1 2 Wenn wir eine solche Beimischung als vorhanden auch in gewissen F\u00e4llen zugeben k\u00f6nnen, so k\u00f6nnen wir doch in dieser Beimischung kein allgemeines Charakteristikum der Mitfreude sehen. Die Freude, die gerade Erwachsene so oft mit den kleinen Freuden von Kindern f\u00fchlen, ist eine ganz reine Lust.\nAndererseits ist auch der Mitfreude h\u00e4ufig N\u00e4chstenliebe beigemischt. \u201eWenn irgendwo das Mitgef\u00fchl zum Verwechseln mit der Liebe verwandt ist, so ist es in dieser Gestalt als zarte, sinnige Mitfreude.\u201c a\nAus dem Vorhergehenden ergibt sich uns die Tatsache, dafs das Mitgef\u00fchl \u00fcberhaupt h\u00e4ufig, wenn nicht immer, von N\u00e4chstenliebe begleitet ist. Wir finden uns hier im wesentlichen in \u00dcbereinstimmung mit Ribot, wenn wir auch die N\u00e4chstenliebe nicht als Teil der Sympathie betrachten k\u00f6nnen.\nHieraus wird uns begreiflich, wie manche Forscher, z. B. Mac Cosh 3, die Sympathie als Zweig der Liebe bezeichnen konnten. Selbst Bain, dessen Verdienst es gegen fr\u00fchere Schriftsteller nach J. St. Mill ist, Sympathie und z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung sorgsam unterschieden zu haben4, sieht im Mitleid und Wohlwollen eine solche Mischung.\nIst aber so dem Mitleid oft oder immer eine Lust beigemischt und ist die Mitfreude selbst schon lustartig, so ergibt sich \u2014 ein f\u00fcr die psychologische Grundlegung der Ethik nicht uninteressantes Ergebnis \u2014, dafs der Mitf\u00fchlende \u00fcberhaupt meistens, wenn nicht immer, lustvoll, wenn auch nicht aus-schliefslich lustvoll, gestimmt ist. Zu demselben Ergebnis ge-\n1\tJodl a. a. O. S. 687.\n2\tHartmann: Phftnomenol. d. s. B. S. 226.\n3\tMcCosh: Psychology. The motive powers Emotions etc. 1887. 8.112. Schon Butler bezeichnet das Mitleid geradezu als \u201emomentary love\u201c (Sermons. Ausg. v. Gladstone II, S. 37).\n* J. St. Mill: Dissertations and discussions. III, 8. 34.","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n239\nlangten, wenn auch auf ganz anderem Wege, u. a. schon Bouillier1 und Darwin.2 *\nIntensit\u00e4t des Mitgef\u00fchls.\nEin durchgehender Intensit\u00e4tsunterschied zwischen Mitgef\u00fchl und idiopathischen Gef\u00fchlen ist nicht vorhanden. Die weitgehendsten individuellen Unterschiede sind hierbei in Betracht zu ziehen. Dafs die Intensit\u00e4t des Mitgef\u00fchls durch Liebe zu dem Individuum, mit dem wir Mitgef\u00fchl haben, gesteigert wird, ist eine viel bemerkte Tatsache8; da, wo eine solche Steigerung der Intensit\u00e4t des Mitgef\u00fchls durch Liebe stattfindet, kann jedenfalls das Mitgef\u00fchl intensiver werden als jedes beliebige idiopathische Gef\u00fchl. Die Wirkungen einer solchen Intensit\u00e4tssteigerung \u00e4ufsern sich dann in Hingebung, Aufopferung.\nUninteressiertheit des Mitgef\u00fchls.\nDie Uninteressiertheit des Mitgef\u00fchls ist vorhanden, wenn der obenbezeichnete Sachverhalt rein und ausschliefslich den Inhalt einer Freude bzw. einer Trauer bildet.\nK\u00f6rperliche \u00c4nfsernngen des Mitgef\u00fchls.\na) Mitleid.\nSchon Descartes sagt: \u201eAu reste on pleure fort ais\u00e9ment dans cette passion (sc. la piti\u00e9).\u201c4 5 Tr\u00e4nen werden nach Kant bald durch Sympathie bald durch angenehme Empfindungen erregt. Kant nennt diese sympathetischen Tr\u00e4nen ganz animalisch.6 Die Bemerkung, dafs die Sympathie mit der Not anderer reichlicher Tr\u00e4nen erregt als unsere eigene Tr\u00fcbsal, finden wir bei Darwin.8 Der Umstand, dafs man beim Mitleid so leicht weint,\n1\tBouillier: Du plaisir et de la douleur. S. 79: \u201edouceur qu\u2019enferme tout \u00e9t\u00e2t sympathique\u201c. Den Grund daf\u00fcr sieht er, \u00e4hnlich wie Dubos, in einem \u201esurcro\u00eet d\u2019activit\u00e9 excit\u00e9 en nous par la sympathie\u201c.\n2\tDarwin a. a. O. S. 158 Anm.: \u201eWenn aber, wie es der Fall zu sein\nscheint, Sympathie eigentlich nur ein Instinkt w\u00e4re, so w\u00fcrde ihre Aus\u00fcbung ein direktes Vergn\u00fcgen verschaffen, in derselben Weise, wie..\ndie Aus\u00fcbung fast aller anderen Instinkte.\u201c\n8 Vgl. u. a. ebenda S. 158.\n4\tDescartes a. a. O. S. 193.\n5\tKant : STRACKESche Anthropol. S. 333.\n\u00ae Darwin: Ausdruck der Gem\u00fctsbewegungen. [Dtsch.] S. 190.","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nJS. Groethuysen.\nbietet eine gewisse Best\u00e4tigung der Ansicht, dafs dem Mitleid\neine lustartige Gem\u00fctsbewegung beigemischt ist. Mendelssohn\nnennt das Weinen eine vermischte Empfindung von Lust und \u25a0 \u2022\nUnlust.1 2 * \u00c4hnlich hatte sich schon Descartes ge\u00e4ufsert: rLes larmes ne viennent point d\u2019une extr\u00eame tristesse, mais seulement de celle qui est m\u00e9diocre ou accompagn\u00e9e ou suivie de quelque sentiment d\u2019amour ou aussi de joie.\u201c 2 Kant behauptet: \u201eBeim Weinen l\u00f6st sich der Schmerz; es ist das Aufh\u00f6ren des Schmerzes und eine nicht unangenehme z\u00e4rtliche R\u00fchrung. \u201c H Lenau spricht von der Wehmut s\u00fcfser Tropfen und Mendelssohn von den woll\u00fcstigen Tr\u00e4nen, die dem Betr\u00fcbten angenehmer sind als die reizendste Sinnenlust.4 5 * Eine gewisse Best\u00e4tigung finden wir in den vielen Tr\u00e4nen, die von mitleidigen Seelen vergossen werden, f\u00fcr unsere Behauptung, dafs dem Mitleid eine gewisse Menschenliebe beigemischt ist; denn gerade z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegungen rufen leicht Tr\u00e4nen hervor.\u00df\nWenn wir den von Saunders und Hall befragten Personen glauben wollen, so h\u00e4tten wir noch eine Unmenge anderer k\u00f6rperlicher Aufserungen des Mitleids anzuf\u00fchren, wie Hohlgef\u00fchl und Zusammenziehen im Magen, \u00dcbelkeit, Ersticken u. a.G Es war uns indessen schon fr\u00fcher zweifelhaft, ob wir es dabei noch mit Mitleid zu tun haben. Hiermit soll nicht geleugnet werden, dafs beim Mitleid wie bei anderen trauerartigen Gem\u00fctsbewegungen heftige physiologische Ver\u00e4nderungen auftreten k\u00f6nnen; ob man allerdings unter diesen physiologischen Ver\u00e4nderungen solche finden wird, die f\u00fcr das Mitleid charakteristisch sind, erscheint uns zweifelhaft.\nb) Mitfreude.\nBesondere k\u00f6rperliche Aufserungen der Mitfreude sind wohl nicht anzuf\u00fchren. Es w\u00e4re h\u00f6chstens an das L\u00e4cheln7 zu denken, das wir bei Erwachsenen sehen, wenn sie sich \u00fcber die kleinen\n1\tMendelssohn: Rhapsodie a. a. \u00dc. S. 45f.\n2\tDescartes a. a. O. S. 140.\n* Kant: STRACKKSche Authropol. S. 333.\n4\tMendelssohn : Rhapsodie a. a. O. S. 40.\n5\tVgl. Darwin: Ausdruck d. Gem\u00fctsbewegungen. S. 188.\nSaunders und Hall a. a. O. S. 576 u. a.\n7 Vgl. Ribot: Ps. d. s. 1. A., S. 237. Nach Darwin (Ausdr. d. Gem\u00fctsbeweg. S. 187) verursacht die Mutterliebe ein leichtes L\u00e4cheln und Ergl\u00e4nzen der Augen.","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Da* Mitgef\u00fchl.\n241\nFreuden der Kinder freuen. Dieses L\u00e4cheln d\u00fcrfte auch wiederum auf eine z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung hinweisen.\nAbgrenzung des Mitgef\u00fchls gegen\u00fcber verwandten psychischen\nTatsnchengebieten.\na) Gegen\u00fcber Sympathie im weitesten Sinne des Wortes.\nIm Laufe unserer Untersuchung ist es uns oft begegnet, dafs unter dem Namen \u201eSympathie\u201c Erscheinungen subsumiert worden sind, die mit Mitgef\u00fchl im hier definierten Sinne gar nichts zu tun haben. Wir k\u00f6nnen gegen eine solche Benennung an sich nichts einwenden; nur mufs dann diese ebenfalls mit dem Namen Sympathie bezeichnete Erscheinung von dem Mitgef\u00fchl scharf getrennt werden. Bei der vielfachen Anwendung des Wortes Sympathie auf solche Erscheinungen wird es sich nicht vermeiden lassen, den Terminus Sympathie \u2014 im weitesten Sinne des Wortes \u2014 auch in diesem Sinne zu gebrauchen.1\nWir verstehen unter Sympathie jedes Gef\u00fchl, das infolge der Wahrnehmung der Gef\u00fchls\u00e4ufserungen eines anderen Wesens, sei es durch Assoziation \u2014 Spencer, Bain \u2014, sei es durch Nachahmung der Ausdrucksbewegungen \u2014 Bain \u2014, sei es durch Ansteckung \u2014 Sutherland \u2014, sei es durch Suggestion \u2014 Baldwin 2 \u2014 entsteht und dem Gef\u00fchl dieses Wesens \u2014 nat\u00fcrlich unter Ber\u00fccksichtigung individueller Unterschiede \u2014 gleich ist. Der Fehler der in Parenthese erw\u00e4hnten Psychologen ist es, diese Sympathie im allgemeinsten Sinne nicht vom Mitgef\u00fchl geschieden zu haben. Die Unterschiede zwischen der Sympathie im allgemeinsten Sinne und dem Mitgef\u00fchl sind folgende: W\u00e4hrend der Sachverhalt, dafs ein anderes Wesen ein lustartiges bzw. ein unlustartiges Gef\u00fchl hat, zum Inhalt des Mitgef\u00fchls geh\u00f6rt, ist ein so bestimmter Inhalt f\u00fcr die erw\u00e4hnten psychischen\n1 Jodl hat den Vorschlag gemacht, die Termini Sympathie und Mitgef\u00fchl in verschiedener Bedeutung zu gebrauchen. So w\u00fcnschenswert auch eine scharfe terminologische Sonderung w\u00e4re, so k\u00f6nnen wir doch eine solche Trennung bei dem jetzigen Stande der wissenschaftlichen Terminologie nicht f\u00fcr ang\u00e4ngig halten; es sind dieselben Fehler bei der Begriffsbestimmung des \u201eMitgef\u00fchls\u201c gemacht worden \u2014 vgl. z. B. B\u00f6sch: Das menschliche Mitgef\u00fchl \u2014 wie bei der Begriffsbestimmung der \u201eSympathie\u201c.\n* Baldwin: Handbook of Psychology. S. 188ff.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 34.\n16","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nB. Groethuysen.\nErscheinungen nicht erforderlich. W\u00e4hrend die Sympathie im allgemeinsten Sinne alle nur m\u00f6glichen emotionellen Qualit\u00e4ten annehmen kann \u2014 es kann Verwunderung oder physischer Schmerz, z. B. der bei anderen wahrgenommene Augenschmerz, ansteckend sein1 \u2014, so sind die m\u00f6glichen emotionellen Qualit\u00e4ten beim Mitgef\u00fchl beschr\u00e4nkt auf Trauer und Freude. Ferner ist die Sympathie im allgemeinsten Sinn ein Gleich* gef\u00fchl, w\u00e4hrend das Mitgef\u00fchl nur gleiche Vorzeichen wie das Gef\u00fchl des Mitgef\u00fchl erregenden Individuums zu haben braucht Es wird sich auch zeigen, dafs die Entstehungsweisen der Sympathie im allgemeinen Sinn und des Mitgef\u00fchls verschieden sind.2 *\nb) Gegen\u00fcber den \u00fcbrigen Fremdgef\u00fchlen.\nUnter Fremdgef\u00fchlen wollen wir in Anlehnung an \u00e4hnliche Begriffsbestimmungen von Horwicz 8 und Jodl4 * 6 * Gef\u00fchle verstehen, die das Vorhandensein irgend welcher'psychischen Zust\u00e4nde, Handlungen, Eigenschaften anderer Personen zum Inhalt haben, die wir gegen, mit, \u00fcber oder f\u00fcr jemand f\u00fchlen. Als Fremdgef\u00fchle seien hier in \u00dcbereinstimmung mit Horwicz\u00ae und Jodl8\n1 Bain : E. a. w. S. 178, A. Smith a. a. O. 8. 6, B\u00f6sch a. a. O. S. 16. Man kann die Sympathie im allgemeinen Sinne auch weiter ausdehnen als blols auf Gef\u00fchle, man kann auch die Mitempfindung im Sinne von Hobwicz (Fs. Anal.II*, 8.31 Iff.) und gewisse motorische Reaktionen, wie Mitlachen, Mitg\u00e4hnen, Mitheulen bei Hunden, dazuzfthlen. In diesem erweiterten Sinne fassen Spencer und Ribot die Sympathie auf ; vgl. auch A. Smith a. a. O. S. 4 f., 35,\n8 Dafs die Sympathie im allgemeinen Sinne und das Mitgef\u00fchl ihrem ethischen Werte nach vollst\u00e4ndig verschieden sind, ist klar. Die herzliche Freude der Mutter \u00fcber die Freude ihres Kindes ist ethisch wertvoll. Die Heiterkeit, die in einem Menschen durch ansteckendes Lachen erregt wird,, ist in ethischer Beziehung ein vollst\u00e4ndiges ddiayopov.\n\u00ae Hobwicz a. a. O. II2, 8. 304.\n4 Jodl a. a. O. S. 664.\n6 Hobwicz a. a. O. IIS, S. 307.\n6 Jodl a. a. O. S. 663f., vgl. auch H\u00fcffdinq : Ethik. [Dtsch.] 1901. S. 608. H\u00f6ffding unterscheidet Sympathie im Sinne von Mitgef\u00fchl und im Sinne von reproduziertem Gef\u00fchl eineB anderen Wesens. Vgl. Hume a. a. O. u. a. B. Il, P. II, S. V: \u201eWhat ewer other passions are may be actuated by; pride, ambition, avarice, curiosity, revenge or lust; the soul or animating principle of them all is sympathy.\u201c Hume st\u00fctzt seine Behauptung folgendermafsen : \u201eThe sentiments of other can never affect\nus, but by becoming, in some measure, our own;............a mere\nidea .... won\u2019d never alone be able to affect us.\u201c Diese Pr\u00e4misse kann eben nicht zugegeben werden. Im \u00fcbrigen findet sich schon bei Hume die","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n243\nMitleid, Mitfreude, Neid, Schadenfreude, Dankbarkeit, Rachegef\u00fchl angef\u00fchrt. Nach Hobwicz sind alle Fremdgef\u00fchle Mitgef\u00fchle. Jodl will die Fremdgef\u00fchle nicht als Mitgef\u00fchle bezeichnen ; er will im Gegenteil den Terminus Mitgef\u00fchl auf Mitleid und Mitfreude beschr\u00e4nken; behauptet aber, dafs in dm Fremdgef\u00fchle eine Gef\u00fchlsnachbildung als Element eingeht, f\u00fcr die er den Terminus Sympathie vorschl\u00e4gt.* 1 Jodl beruft sich dabei auf den Gebrauch, den Hume und Smith von dem Worte Sympathie gemacht haben. Gegen\u00fcber Hobwicz und Jodl mufe bestritten werden, dafs eine Teilnahme an fremden Gef\u00fchlen, wie Hobwicz sich ausdr\u00fcckt, oder eine Nachbildung fremder Gef\u00fchle in allen Persongef\u00fchlen stattfindet. Ich habe seinerzeit ausf\u00fchrlich dargelegt, dafs in Neid, Schadenfreude, Hafe u. dgl. ein solches \u201eF\u00fchlen eines fremden Gef\u00fchls\u201c nicht zu beobachten ist. Daher kann ich auch die Wahl des Terminus Sympathie f\u00fcr Gef\u00fchlsnachbildung im Sinne Jodls nicht f\u00fcr gl\u00fccklich halten, da es sich bei dem, was er als Gef\u00fchlsnachbildung bezeichnet, durchaus nicht immer um Gef\u00fchle zu handeln braucht, sondern auch um symbolische Gef\u00fchlsvorstellungen. Jodl behauptet nun zwar, dafs Gef\u00fchlsvorstellungen leicht in prim\u00e4re Zust\u00e4nde \u00fcbergehen; doch kann eben nicht anerkannt werden, dafs ein solcher \u00dcbergang in allen Fremdgef\u00fchlen statt-findet.\nWas den Unterschied der \u00fcbrigen Fremdgef\u00fchle von dem\noft bemerkte Zweideutigkeit im Gebrauch des Wortes \u201eSympathie\u201c. Einerseite identifiziert er allgemeines Wohlwollen oder Humanit\u00e4t mit Sympathie (vgL Inquiry concerning the Principles of morals. Append. II, note 3); andererseits nennt er die Furcht, die von einem Tiere auf ein anderes \u00fcbertragen wird, \u201eSympathie\u201c (vgl. Treat, of hum. nat. B. II, P. II, S. XII). Smith, der auch die Sympathie in einem weiteren Sinne nimmt, h\u00e4lt daran fest, date der Sympathisierende \u201enicht nur die Umst\u00e4nde, sondern auch Person und Charakter mit dem anderen wechselt\u201c (vgl. a. a. O. S. 466).\nVgL von Neueren auch B\u00f6sch a. a. 0. 8. 72: Auch im direkt entgegengesetzten Gef\u00fchl Mitgef\u00fchl; und Spenceb: Ego - altruistische Gef\u00fchle. Pr. d. Ps. H, S. 668 ff.\n1 Jodl a. a. 0. S. 147 f., 667 f. Jodl beschr\u00e4nkt die Gef\u00fchlsnachbildung nicht nur auf Fremdgef\u00fchle, sondern will auch in den Eigengef\u00fchlen, wie 8tolz, Ehrgeiz, Bescheidenheit, Reue, Scham eine solche Gef\u00fchlsnachbildung sehen. Gerade bei den Eigengef\u00fchlen d\u00fcrfte sich besonders klar die Notwendigkeit heraussteilen, wie weit es sich dabei um Nachbildung von Gef\u00fchlen oder um Geftihlsvorstellungen, auch blote symbolischer Natur, handelt.\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nB. Groethuysen.\nMitgef\u00fchl betrifft, bo haben gewisse Fremdgef\u00fchle, wie Schadenfreude, Neid und Mifsgunst zwar den Sachverhalt, dafs ein anderer ein Gef\u00fchl hat, zum Inhalt ; aber das Gef\u00fchl des anderen und das Fremdgef\u00fchl haben nicht die gleichen Vorzeichen; andere wiederum, wie Dankbarkeit und Rachegef\u00fchl haben nicht das Vorhandensein eines Gef\u00fchls als solchem zum Inhalt, sondern eine auf uns oder uns Nahestehende gerichtete Handlung. Bei den \u00fcbrigen Fremdgef\u00fchlen d\u00fcrften sich leicht \u00e4hnliche Unterschiede des Inhalte feststellen lassen.\nc) Gegen\u00fcber den \u00fcbrigen altruistischen Gef\u00fchlen.1\nDie Anzahl der verschiedenen altruistischen Gef\u00fchle ist\nunermefslich grofs. Hier nur einige Beispiele aus dem Leben\nder Mutter: Furcht, Hoffnung der Mutter, date ihr Kind etwas\n\u2022\u2022\ntun oder leiden wird, Arger und Zorn dar\u00fcber, dafs ihrem Kinde\n\u2022\u2022\netwas geschehen ist* ja sogar Arger und Zorn gegen jemand, der ihrem Kinde etwas getan hat ; ja \u2014 wir k\u00f6nnen noch weiter gehen \u2014 einen gewissen Neid, Schadenfreude, kleine Bosheiten gegen andere Kinder; die gewisse Vorz\u00fcge haben, die ihr Kind nicht hat, werden wir als altruistische Gef\u00fchle im weitesten Sinne betrachten m\u00fcssen. Man sieht ohne weiteres, dafs bei den altruistischen Gef\u00fchlen eine Beschr\u00e4nkung auf Freude und Trauer nicht mehr m\u00f6glich ist. Auch gleiche Vorzeichen zwischen den Gef\u00fchlen der Mutter und den Gef\u00fchlen des Kindes k\u00f6nnen nicht als Kriterium dienen. Wenn wir \u00e4rgerlich dar\u00fcber sind, dafs ein anderer \u00e4rgerlich ist, so hat zwar das Gef\u00fchl des anderen und unser Gef\u00fchl gleiche Vorzeichen; es ist aber doch kein altruistisches Gef\u00fchl. Ein gemeinsames Kriterium der altruistischen Gef\u00fchle k\u00f6nnen wir nur darin finden, dafs bei allen das Mitgef\u00fchl die Voraussetzung ist. H\u00f6rt die Mutter auf, sich dar\u00fcber zu freuen, dafs ihr Kind sich freut oder dar\u00fcber traurig zu sein, dafs ihr Kind traurig ist, so h\u00f6rt sie auch auf, f\u00fcr ihr Kind Furcht und Hoffnung und all die vielen anderen altruistischen Gem\u00fctsbewegungen zu f\u00fchlen.\n1 Meinong (Ps.-etli. Unters. . . . S. 46f.) will unter altruistischen Ge. f\u00fchlen oder Mitgef\u00fchlen diejenigen Gef\u00fchle verstehen, die das Gef\u00fchl eines anderen zum Gegenst\u00e4nde haben ; er teilt sie ein in sympathische und anti-pathische Gef\u00fchle. Wir k\u00f6nnen diese Bezeichnungsweise, die keineswegs mit dem bisher \u00fcblichen Gebrauch des Wortes \u201ealtruistisch\u201c in Einklang steht, nicht f\u00fcr eine gl\u00fccklich gew\u00e4hlte halten.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n245\nEntstehung des Mitgef\u00fchls.\nDie psychologische Voraussetzung des Mitgef\u00fchls ist ein Urteil oder eine Annahme, deren Inhalt der Sachverhalt bildet, dafs ein anderer ein Lust- bzw. ein Unlustgef\u00fchl f\u00fchlt.\nFraglich k\u00f6nnte es scheinen, ob auch eine Annahme psychologische Voraussetzung des Mitgef\u00fchls sein kann. Mkinong hat in seinen \u201ePsycholog.-eth. Unters.\u201c die Mitgef\u00fchle als Urteils* * gef\u00fchle bezeichnet. Nach seiner Lehre von den \u201eAnnahmen\u201c sollen sich nun die Wertgef\u00fchle nicht nur als Urteilsgef\u00fchle, sondern eventuell auch als Annahmegef\u00fchle, genauer gef\u00fchlsartige Zust\u00e4nde darstellen. Unter den gef\u00fchlsartigen Zust\u00e4nden will Meinong Quasigef\u00fchle, d. h. einen speziellen Fall von Phantasiegef\u00fchlen verstehen.1 Phantasiegef\u00fchle sind nach ihm psychische Erscheinungen, denen eine Art Mittelstellung zwischen Vorstellung eines Gef\u00fchls und einem Gef\u00fchl selbst zugeschrieben werden mufs, analog der Zwischenstellung, welche die Annahmen zwischen Vorstellung und Urteil einnehmen.2 Als Beispiel f\u00fchrt er Furcht und Mitleid bei der Trag\u00f6die an: \u201eeine Furcht, bei der man sich im Grunde gar nicht f\u00fcrchtet und ein Mitleid, das n\u00e4her besehen eigentlich doch gar nicht weh tut. . .\t8 Was Meinong\nhier als Phantasiegef\u00fchle bezeichnet, bedarf einer genaueren Analyse und Abgrenzung gegen\u00fcber Gef\u00fchl und Gef\u00fchlsvorstellung. Sollten sich die Behauptungen Meinongs als haltbar erweisen, so h\u00e4tten wir ein wichtiges Unterscheidungsmittel zwischen dem Mitleid bei, der Trag\u00f6die, weiterhin der sogenannten \u00e4sthetischen Sympathie und des Mitgef\u00fchls im t\u00e4glichen Leben. Die Frage, die uns hier besch\u00e4ftigt ist nur, ob eine Annahme \u2022psychologische Voraussetzung des Mitgef\u00fchls, als eines wirklichen Gef\u00fchls, sein kann. Meinong selbst will nicht in Abrede stellen, dafs manchem im Theater wirkliches Mitleid beikommen mag; dabei ist es aber doch wohl nicht notwendig, dafs der Betreffende an die Wirklichkeit . der dargestellten Vorg\u00e4nge glaubt, dafs er aufh\u00f6ren mufs \u201eblofs anzunehmen\u201c. Ebenso verh\u00e4lt es sich, wenn gewisse Leute beim Lesen von M\u00e4rchen, Romanen u. dgl. in ein nicht zu stillendes Weinen verfallen. Dafs Annahmen wirkliche Gef\u00fchle erregen k\u00f6nnen, m\u00fcfste schon\n1 Mbkqko: Annahmen. S. 250f.\n*\tEbenda S. 233.\n*\tEbenda S. 234.","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nB. Groethuysen.\ndas \u201eSichhineinversetzen\u201c, das ja Meinong durch eine Annahme deutet, beweisen ; wir verweisen auf die fr\u00fcher angef\u00fchrten Beispiele.\nDas Gef\u00fchl des anderen ist in dem Urteil oder in der Annahme, den psychologischen Voraussetzungen des Mitgef\u00fchls, als Vorstellung gegeben. Dafs diese Vorstellungen jedenfalls auch symbolische sein k\u00f6nnen, m\u00f6chten wir in Gegensatz zu Ehbenfels behaupten. Darauf deutet schon das h\u00e4ufige Mitleid mit sinnlichen Gef\u00fchlen hin, die uns in vielen F\u00e4llen nur als symbolische Vorstellungen gegeben sein k\u00f6nnen. \u201eNach einer kr\u00e4ftigen Mahlzeit d\u00fcrfte es doch nahezu unm\u00f6glich sein, sich auch nur in irgend welchem Grade jene Sehnsucht nach Nahrung vorzustellen, die vor der Mahlzeit da war\u201c 1 ; und doch k\u00f6nnen wir auch dann Mitleid mit dem Hungrigen f\u00fchlen.\nUm ein Urteil dar\u00fcber zu gewinnen, wie es dem anderen zumute ist, versetzen wir uns in seine Lage M\u00e9linaud sagt nicht mit Unrecht: \u201e(sc. pour \u00e9prouver de la sympathie) il faut \u00eatre capable d\u2019imaginer vivement un int\u00e9rieur d\u2019\u00e2me, de le cr\u00e9er on soi tel qu\u2019il est en autrui. Il y a l\u00e0 un certain caract\u00e8re po\u00e9tique qui fait de la sympathie r\u00e9elle et profonde une esp\u00e8ce d\u2019oeuvre d\u2019art.\u201c 2 Es ist die Frage, ob ein \u201eSichhineinversetzen\u201c immer beim Mitf\u00fchlenden stattfindet. Sieht man bei jeder Gef\u00fchlsvorstellung, die auf einen anderen gedeutet wird, ein solches \u201eSichhineinversetzen\u201c, so mufs die Frage bejaht werden; sieht man dagegen im \u201eSichhineinversetzen\u201c eine Annahme, ich sei in der Lage des anderen, so wird die Selbstbeobachtung wohl kaum best\u00e4tigen, dafs ein \u201eSichhereinversetzen\u201c in allen F\u00e4llen stattfindet Hat so die Theorie des \u201eSichhineinversetzens\u201c eine allerdings sehr eingeschr\u00e4nkte Berechtigung, so ist andererseits zu betonen, dafs das Mitgef\u00fchl als solches kein Gef\u00fchl ist, das ich auf einen anderen deute oder in der Annahme f\u00fchle, ich sei der andere. Der Mitf\u00fchlende weifs recht wohl, dafs sein Gef\u00fchl nicht nur inhaltlich immer verschieden ist von dem Gef\u00fchl des Mitgef\u00fchl erregenden Individuums, sondern sehr oft\n1 Spenceb: Pr. d. Ps. I, S. 240; vgl. auch 8ully: Hum. Mind. II, 8.73f. ; A. Smith (a. a. O. 8. 35) will wegen der schweren Vorstellbarkeit sinnlicher Gef\u00fchle Sympathie mit sinnlichen Gef\u00fchlen \u00fcberhaupt ableugnen, oder nur zugestehen, dafs sinnliche Gef\u00fchle schwache Sympathie erregen; ein deutlicher Hinweis darauf, dafs zwischen Sympathie im weitesten Sinne und Mitgef\u00fchl scharf unterschieden werden mufs.\n8 M\u00e9linaud: Grande Encyclop\u00e9die. Artikel: Sympathie.","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Da\u00bb Mitgef\u00fchl.\n247\nauch qualitativ. Daher sind Ausdr\u00fccke, wie \u201esich identifizieren, zu einem anderen werden, eins werden mit einem anderen\u201c, zum mindesten mifsverst\u00e4ndlich. Der andere ist mit seinen Gef\u00fchlserlebnissen als von mir gesonderte Pers\u00f6nlichkeit in der psychologischen Voraussetzung des Mitgef\u00fchls als Inhalt meiner Vorstellung gegeben. Eine T\u00e4uschung, Verwechselung meiner Pers\u00f6nlichkeit mit einer fremden oder derartiges, findet im Mitgef\u00fchl nicht statt. Es st\u00e4nde auch wirklich traurig um die moralische Ausr\u00fcstung des Menschen, wenn er nur infolge einer solchen T\u00e4uschung dar\u00fcber traurig sein k\u00f6nnte, dafs seine Nebenmenschen traurig sind.\nKeine Entstehung des Mitgef\u00fchls durch Assoziation.\nEntsteht ein Gef\u00fchl assoziativ durch die Wahrnehmung des Gef\u00fchlsausdrucks eines anderen, so ist es kein Mitgef\u00fchl; es fehlt die psychologische Voraussetzung des Mitgef\u00fchls : ein Urteil oder eine Annahme. Solange ich nicht weifs oder annehme, dafs ein anderer ein lustartiges bzw. ein unlustartiges Gef\u00fchl f\u00fchlt, solange habe ich kein Mitgef\u00fchl. Das Mitgef\u00fchl kann nicht durch blofse Vorstellungen hervorgebracht werden; es kann also nicht assoziativ entstehen. Es ist nicht die mindeste Berechtigung vorhanden, das Verh\u00e4ltnis zwischen der psychologischen Voraussetzung des Mitgef\u00fchls und dem Mitgef\u00fchl selbst als eine assoziative zu fassen. Hiermit soll nicht geleugnet werden, dafs auf psychologische Voraussetzungen mit gleichem oder \u00e4hnlichem Inhalt unter gleichen oder \u00e4hnlichen Umst\u00e4nden gleiche oder \u00e4hnliche Mitgef\u00fchle folgen.1 Wenn ich dar\u00fcber traurig bin, dafs A. krank ist, so werde ich auch mit B. Mitleid haben, wenn er krank ist und \u00e4hnliche Umst\u00e4nde vorhanden sind, z. B. wenn B. meinem Herzen ebenso nahe steht wie A An dieser Tatsache, dafs auf \u00e4hnliche Voraussetzungen \u00e4hnliche Gef\u00fchle folgen, ist weiter nichts Auff\u00e4lliges, nichts, was uns veranlassen k\u00f6nnte, die Assoziationshypothese zu Hilfe zu nehmen. Die Bedeutung des Assoziationsprinzips f\u00fcr den Mit-gef\u00fchlsprozefs besteht darin, dafs verm\u00f6ge von assoziativ geweckten Erinnerungen an \u00e4hnliche F\u00e4lle \u2014 in unserem vorigen\n1 Vgl. Saxhtoer a. a. 0. 8. 894: \u201eGleiche oder \u00e4hnliche Dispositionserreger (sc. = psychologische Voraussetzungen) werden bei umge\u00e4nderter \u25a0Gef\u00fchlsd is position gleiche oder \u00e4hnliche Gef\u00fchlserregungen ausl\u00f6sen.u \u00dcber Gef\u00fchlsdispositionen sp\u00e4ter.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nB. Groethuysen.\nBeispiel z. B. Krankheitsf\u00e4lle, \u2014 die Vorstellung des Zustandes eines anderen \u2014 in unserem Fall der Leidenszustand von B. \u2014 sich bildet, und wir infolgedessen den Sachverhalt \u2014 in unserem Fall, dafs B. leidend ist \u2014 erkennen k\u00f6nnen.\nKeine Entstehung des Mitgef\u00fchls durch Nachahmung von Ans*\ndrucksbewegnngen.\nDie Gr\u00fcnde hierf\u00fcr lassen sich leicht den vorigen Er\u00f6rterungen entnehmen. Die Bedeutung der Nachahmung der Ausdrucksbewegungen k\u00f6nnte h\u00f6chstens darin bestehen, dafs wir uns durch diese Nachahmung leichter in die Lage eines anderen versetzen und so den Sachverhalt erkennen k\u00f6nnen.\nKeine Entstehung des Mitgef\u00fchls\ndurch \u00dcbergang einer Gef\u00fchlsvorstellnng in ein Gef\u00fchl.1 2\nAbgesehen von den den vorigen Er\u00f6rterungen zu entnehmenden Gr\u00fcnden, sei darauf hingewiesen, dafs eine Vorstellung des Gef\u00fchls eines anderen als solche ja bleibend vorhanden sein mufs, damit \u00fcberhaupt Mitgef\u00fchl da sei. Dafs ein solcher \u00dcbergang ebenso wie eine Gef\u00fchlsnachahmung nur \u00fcberhaupt in den F\u00e4llen in Betracht kommen k\u00f6nnte, in denen das Mitgef\u00fchl und das Gef\u00fchl des anderen gleich sind, dar\u00fcber haben wir schon gesprochen.\nWenn wir uns zum Schlufs fragen, warum denn aber nun auf Grund einer bestimmten psychologischen Voraussetzung ein Mitgef\u00fchl eintritt, so wird sich daf\u00fcr wenigstens bis jetzt ebensowenig ein Grund angeben lassen, wie daf\u00fcr, dafs wir uns f\u00fcrchten, wenn ein Sachverhalt als gef\u00e4hrlich beurteilt wird. Wie wir wohl erkl\u00e4ren k\u00f6nnen, wie beim Anblick des Feuers, assoziativ in uns Vorstellungen fr\u00fcherer Schmerzen erweckt werden, nicht aber, warum wir uns vor dem Feuer f\u00fcrchten, so ist es auch entsprechend beim Mitgef\u00fchl. Es bleibt uns in solchen F\u00e4llen nichts \u00fcbrig, als auf angeborene Gef\u00fchlsdispositionen zu rekurrieren.* Auf die Mitgef\u00fchlsdisposition werd\u00ebn wir bei der Ent-\n1\tErkl\u00e4rung der. Sympathie aus dem \u00dcbergang einer Gef\u00fchls Vorstellung in ein Gef\u00fchl: Theorie von Hums (Treat, of hum. nat. B. II, P. I, S. I; B. II, S. VII, S. IX) ; diese Ansicht vertreten neuerdings Bain in seiner Theorie der fixen Idee und Jodl (a. a. O. S. 661 ff.).\n2\tUnter Gef\u00fchlsdisposition verstehe ich die Eigenschaft (eines Individuums) auf bestimmte psychische Erlebnisse mit einem bestimmten Gef\u00fchl zu reagieren und zwar so, dafs der Inhalt der betreffenden Erlebnisse","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n249\nstehung des Mitgef\u00fchls beim Kinde zur\u00fcckkommen. Wenn wir dann schliefslich noch die Gr\u00fcnde f\u00fcr das Entstehen von Gef\u00fchlsdispositionen kennen lernen wollen, so werden uns die letzten Aufkl\u00e4rungen dar\u00fcber vielleicht erst aus der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise der psychischen Vorg\u00e4nge kommen.1 Hierin liegt auch die Berechtigung der vielen entwicklungsgeschichtlichen Hypothesen, die die Entstehungsweise der Sympathie im Laufe der Entwicklung des Kindes und der Rasse aufzeigen wollen. Es sei daher noch kurz auf die Entwicklung der Sympathie eingegangen.\nDie Entwicklung des Mitgef\u00fchls beim Kinde.\nZun\u00e4chst seien einige Erscheinungen im Gebiete des psychischen Lebens des Kindes angef\u00fchrt, die auf Mitleid gedeutet werden k\u00f6nnen. Pkeyeb fand, dafs sein Kind im 27. Monat weinte, wenn die Papierfiguren durch rasches Schneiden in Gefahr kamen, einen Arm oder einen Fufs zu verlieren.9 Auch sonst fand er bei seinem Kinde im 27. Monat auffallend h\u00e4ufige \u00c4ufserungen des Mitleids.8 Baldwin will beobachtet haben, dafs sein Kind im 5. Monat schrie, wenn er einen Flaschenkork kniff und deutet dieses Schreien auf Sympathie. Im 22. Monat soll das Kind beim Anblick eines Bildes, auf dem ein weinender Mann mit auf die H\u00e4nde gebeugtem Haupte und mit im Stock gefesselten F\u00fcfsen dasafs, geweint haben.4 Dabwin sagt: \u201eWith\n*u dem Inhalt des betreffenden Gef\u00fchls wird, oder, anders ausgedr\u00fcckt, den seelischen Strukturzusammenhang, um uns eines Ausdrucks Diltheys (vgl. Ideen \u00fcber eine beschreibende und zergliedernde Psychol. Berl. A.-B. 1894, S. 1370 ff.) zu bedienen, der zwischen bestimmten psychischen Erlebnissen und bestimmten Gef\u00fchlen besteht. So ist die Mitleidsdisposition die Eigenschaft eines Individuums, auf Grund eines beurteilten Sachverhalts, dato ein anderer traurig ist, Trauer \u00fcber diesen Sachverhalt zu f\u00fchleiv Treten bestimmte Gef\u00fchle auf Grund bestimmter Erlebnisse bei einem Menschen h\u00e4ufig und stark auf, so sprechen wir von einer starken, im umgekehrten Falle von einer schwachen Gef\u00fchlsdisposition. F\u00fcr besondere starke Gef\u00fchlsdispositionen hat die Sprache besondere Namen, wie Furchtsamkeit u. dgL Vgl. zu meiner Definition die Definitionen von Saxingbr (a. a. O. S. 392) und Ehkrnfels (Werttheor. u. Eth. a. a. O. S. 212, Syst. d. Werttheor. I, S. 118).\nK Vgl. Stumpf a. a. O. S. 68.\n*\tPbbybb a. a. O. S. 95.\n*\tEbenda S. 330.\n4 Baldwin : Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse. [Dtsch.] S. 311.","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nB. Oroethu\u00ffsm.\nrespect to the allied (sc. with affection) sympathy, this was clearly shown at 6. months and 11 days by his (sc. of the child) melancholy face, with the comers of his mouth well depressed, when his nurse pretented to cry.\u201c1 Sully schreibt, dafs sein 91/* * Monate altes Kind heftig weinte, wenn seine Mutter sich so stellte, als ob sie weinte. Von dieser Nachahmung eines Kummers, um daran teilzunehmen, meint Sully, ist nur ein Schritt zur unmittelbar mitf\u00fchlenden Auffassung des Kummers. Wann eine wirkliche Teilnahme stattfindet, ist nach ihm unm\u00f6glich zu sagen.\u00ae Der letzten Bemerkung Sullys k\u00f6nnen wir nur beistimmen. Es ist wohl unm\u00f6glich zu bestimmen, wenn zum erstenmal auf Grund eines beurteilten Sachverhalts Mitleid oder Mitfreude auftritt Erst dann, wenn diese psychologische Voraussetzung des Mitgef\u00fchls beim Kinde gegeben ist, k\u00f6nnen wir von Mitgef\u00fchl reden. Danach w\u00e4re die Frage zu entscheiden, ob in den von den erw\u00e4hnten Psychologen beobachteten F\u00e4llen tats\u00e4chlich Mitgef\u00fchl vorhanden war. Dafs z. B. in dem von Baldwin zuerst angef\u00fchrten Fall ein solcher beurteilter Sachverhalt nicht anzunehmen ist, d\u00fcrfte wohl klar sein. Baldwin selbst gibt dies zu und betrachtet diesen Fall als ein Beispiel der organischen Sympathie. Organische Gem\u00fctsbewegungen sind Instinkterscheinungen ; \u201esie scheinen zu dem physischen Organismus zu geh\u00f6ren und durch die Vererbung so eng in die Struktur des K\u00f6rpers verwoben zu sein, dafs sie ohne Beistand unserer Denkprozesse uns vor Schaden zu besch\u00fctzen und Vorteile zu gew\u00e4hren scheinen.\u201c 8 Als organische Gem\u00fctsbewegungen f\u00fchrt Baldwin die Furcht an, die ein S\u00e4ugling bei lautem L\u00e4rm f\u00fchlt und die Sympathie in den ersten Lebensjahren des Kindes. In betreff dieser organischen Sympathie k\u00f6nnen wir unter entsprechenden Ab\u00e4nderungen dieselbe Frage stellen, die Stumpf in betreff einer erblichen Furchtsamkeit aufzuwerfen hat Gibt es eine Sympathie ganz ohne Idee eines anderen in einem be-stimmten Gem\u00fctszustand sich befindenden Menschen? \u201eWird es sich nicht einfach um angeborene Reflexmechanismen handeln, die durch bestimmte Sinneseindr\u00fccke ausgel\u00f6st werden ohne\n1 Darwin: A biographical scotch of an infant Mind 2, 1877, S. 289; deutsche \u00dcbers. Zeitschr. Kosmos 1.\n\u2022\tSully: Unters, \u00fcb. d. Kindh. 8. 228.\n*\tBaldwin: Das soziale und sittliche Leben erkl\u00e4rt durch die seelische Entwicklung. [Dtsch.] 1900. 8. 149.","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Da\u00bb Mitgef\u00fchl.\n251\nDazwischenkunft irgend eines Affektes?\u201c1 * * Wenn das Kriterium fortf\u00e4llt, das uns der Inhalt des Mitgef\u00fchls gibt, so w\u00fcfsten wir kein anderes, das uns das Recht g\u00e4be, ein Gef\u00fchl als Mitgef\u00fchl zu bezeichnen.\nVon der organischen Sympathie unterscheidet Baldwin die reflektive Sympathie. Die Entstehung dieser reflektiven Sympathie ist nach Baldwin deutlich eine Funktion des lehbegriffs.\u00ae Die Ichvorstellung entwickelt sich im projektiven, subjektiven und ejektiven Stadium. Der durch Nachahmung anderer im subjektiven Stadium gewonnene Ichbegriff wird im ejektiven Stadium wieder in die Personen der Umgebung vom Kinde hineingelesen.8 Da nun so dem Gedanken an den ego und an den alter derselbe Inhalt zugrunde liegt, so erregen beide dieselbe Gem\u00fctsbewegung. Dieselbe Gem\u00fctsbewegung, die man f\u00fcr sich selbst f\u00fchlt, mufs auch erregt werden, wenn derselbe Gedanke sich auf eine Person mit dem unterscheidenden Merkmal \u201eein anderer\u201c bezieht Sympathie ist die unvermeidliche Folge der Entstehung der Ichvorstellung.4 *\nGegen diese Theorie ist folgendes einzuwenden: Baldwin selbst mufs zugeben, dafs bei dem Gedanken an den anderen die Ichvorstellung mit dem unterscheidenden Merkmal \u201eein anderer\u201c auftritt. Wenn nun aber der ego und der alter ein unterscheidendes Merkmal besitzen, so ist es nicht von vornherein notwendig, dafs der ego und der alter dieselbe Gem\u00fctsbewegung erregen. Wenn dann noch die Erfahrung ergibt, dafs diesem unterscheidenden Merkmal eine wesentliche Bedeutung f\u00fcr die Erregung der Gem\u00fctsbewegungen zukommt, so ist damit die Behauptung widerlegt, dafs der Gedanke an den ego und der Gedanke an den alter dieselbe Gem\u00fctsbewegung erregen mufs. Dafs dieses Merkmal tats\u00e4chlich von entscheidender Bedeutung f\u00fcr das emotionelle Leben ist, beweist die allt\u00e4glichste Erfahrung. Abstrahiert man von diesem unterscheidenden Merkmal, so bleibt nur ein Engel \u00fcbrig, wie Lotze sich ausdr\u00fcckt, der sich selbst nur vorkommt als eines, aber nicht als irgend ein bevorzugtes von vielen Beispielen eines Wesens.6 Die Evidenz und Innig-\n1 Stump\u00bb a. a. O. 8. 52.\n1 Baldwin: 8. u. \u00bb. L. S. 177.\n1 Ebenda 8. 8, Xf. (Referat von Babth).\n4 Ebenda 8. 177 f.\n\u2022 Lora: Mikr. I, S. 281; Grdag. d. Pa. 8.48; Media. Ps. 8. 499 f.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nB. Groethuysen.\nkeit, mit der jedes f\u00fchlende Wesen sich selbst von der ganzen Welt unterscheidet, kommt ohne Zweifel auch in der Vorstellung des ego zum Ausdruck.\nDer Terminus \u201eGedanke an den anderen\u201c ist \u00fcberhaupt nicht gl\u00fccklich gew\u00e4hlt Die Frage, die hier zu stellen w\u00e4re, w\u00fcrde lauten : L\u00e4fst sich die Entstehung des Mitgef\u00fchls dadurch erkl\u00e4ren, dafs beim Kinde zun\u00e4chst ein das eigene Ich betreffender beurteilter Sachverhalt die Voraussetzung einer Gem\u00fctsbewegung bildet und dann derselbe Sachverhalt nur mit dem Unterschied, dafs er einen anderen betrifft, Voraussetzung einer qualitativ gleichen sympathetischen Gem\u00fctsbewegung ist? Die Frage ist. glaube ich, mit Nein zu beantworten. Wie m\u00fcfste der beurteilte Sachverhalt, der die Voraussetzung einer idiopathischen Gem\u00fctsbewegung sein soll, in Worten ausgedr\u00fcckt lauten, ura dem beurteilten Sachverhalt, der die Voraussetzung eines Mitgef\u00fchls ist, im eben bezeichneten Sinne zu entsprechen? Es w\u00e4re etwa der Sachverhalt, der durch das Urteil ausgedr\u00fcckt wird: \u201eich bin unlustgestimmt\u201c Ich selbst bin ja aber im allgemeinen nicht dar\u00fcber traurig, dafs ich unlustgestimmt bin; mein Gef\u00fchl bezieht sich in der Regel nicht wieder auf eigene Gef\u00fchlserlebnisse; und selbst, wenn wir einr\u00e4umen, dafs es gewisse F\u00e4lle gibt in denen sich das Gef\u00fchl auf eigene Gef\u00fchlserlebnisse bezieht, in denen wir eine Art Autosympathie in noch n\u00e4her zu bestimmendem Sinne f\u00fchlen, was berechtigt uns, diese Autosympathie als das Prim\u00e4re gegen\u00fcber dem Mitgef\u00fchl mit anderen zu betrachten ? Dieses Bedenken erstreckt sich auf alle Theorien, die das Mitgef\u00fchl aus einem idiopathischen Gef\u00fchl ableiten wollen. Bei den Gef\u00fchls\u00fcbertragungs- oder Motivver-sohiebungstheorien ist nicht nur bedenklich, dafs sie keine der Voraussetzung des Mitgef\u00fchls entsprechende Voraussetzung eines idiopathischen Gef\u00fchls aufweisen, sondern dafs auch das Gef\u00fchl, das sich \u201e\u00fcbertragen\u201c soll, als solches vom Mitgef\u00fchl verschieden ist1 Wenn die Liebe von dem Zweck auf die Mittel \u00fcbergegangen ist \u2014 wir verweisen auf das bekannte Beispiel des Geizhalses, der das Geld um seiner selbst willen liebt \u2014, so liebt\n1 Wir verweisen von \u00c4lteren auf Hartley: Observation on Man 1749; von Neueren auf P. Frledemajoj ; The Genesis of desinterested Benevolence. Mind 1878; kurzes Referat dar\u00fcber: H\u00f6ffdino: Pb. [dtsch.] 1887. 8.309 Anm. \u00dcber Gef\u00fchls\u00fcbertragung vgl. Sully: Hum. Mind. II, S. 78; Outl. of P*. S. 486.\t...","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n253\nman eben das Mittel; wenn man urspr\u00fcnglich die Wohltaten geliebt hat und die Liebe sich auf den Wohlt\u00e4ter \u00fcbertr\u00e4gt, so liebt man eben den Wohlt\u00e4ter; damit ist aber noch keineswegs gegeben, dafs man Mitgef\u00fchl mit dem Wohlt\u00e4ter hat.\nDie Analogie des fremden Ich mit dem eigenen Ich ist insofern von Bedeutung f\u00fcr die Entstehung des Mitgef\u00fchls, als verm\u00f6ge dieser Analogie das Kind den Sachverhalt, dafs ein anderer gewisse Gef\u00fchle f\u00fchlt, beurteilen kann. Die Voraussetzung, damit ein solcher Sachverhalt beurteilt werden kann, ist die Bildung von Vorstellungen der Gef\u00fchle anderer. Eine viel diskutierte Frage ist, ob die Gef\u00fchle anderer alle vom Kinde verm\u00f6ge des Assoziationsprozesses erkannt werden, oder eine gewisse Kenntnis von Gef\u00fchlen anderer angeboren ist.1 Im \u00fcbrigen mufs man, wie schon erw\u00e4hnt, um den Ursprung des Mitgef\u00fchls\naufzuzeigen, auf angeborene Dispositionen rekurrieren. Dafs eine\n\u2022 \u2022\nMitleidsdisposition tats\u00e4chlich vorhanden ^ist, hat Olzelt-Nevin nachzuweisen versucht. Der Gang seiner Beweisf\u00fchrung ist folgender: Er weist auf ausf\u00fchrlich beschriebene F\u00e4lle hin, in denen bei jugendlichen Verbrechern jede Spur von Mitleid fehlte; er betrachtet die Gr\u00fcnde, die einen solchen Defekt erkl\u00e4ren k\u00f6nnten, wie mangelhafte intellektuelle Bef\u00e4higung, mangelhafte Erfahrung von eigenem Leid, mangelhaftes Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis, und konstatiert, dafs keiner dieser Defekte bei den von ihm als Beispiel heran gezogenen jugendlichen Verbrechern vorhanden war. Also, schliefst er weiter, ist bei diesen Individuen ein angeborener Mangel von Mitleidsdisposition vorhanden, w\u00e4hrend bei den anderen normalen Individuen diese Mitleidsdisposition vorhanden ist.2\nIst also eine Mitleidsdisposition vorhanden und ist der Geist des Kindes gen\u00fcgend entwickelt, um zu erkennen, dafs ein anderer gewisse unlustartige Gef\u00fchle f\u00fchlt, so sind die Bedingungen f\u00fcr die Entstehung des Mitleids gegeben. \u00c4hnlich wird es sich mit der Mitfreude verhalten, nur dafs uns hier nicht das Beweismaterial zu Gebote steht, wie es Olzelt-Newin f\u00fcr seine Behauptung der Existenz einer Mitleidsdisposition zur\n1 Vgl. Bain: E. a. w. S. 172 f. ; Compayb\u00e9: Entwicklung der KindeB-eeele. [Dtsch.j 1901. 8. 69; in seiner feinen humoristischen Weise hat Fechnrr in der \u201eVorschule d. \u00c4sthet.\u201c die Frage behandelt (vgl. I, S. 164 ff.).\n* \u00d6lzelt-Xbwin: \u00dcber sittliche Dispositionen. 1892. Referat: H\u00f6flbb: Psychol. S. 593 ff.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nB. Groethuysen.\nVerf\u00fcgung stand. Die Mitleidsdisposition, d. h. also die Disposition traurig zu sein, wenn der Sachverhalt erkannt wird, dafs ein anderer unlustgestimmt ist und die Disposition zur Mitfreude, d. h. die Disposition sich zu freuen, wenn der Sachverhalt erkannt wird, dafs ein anderer lustgestiramt ist, k\u00f6nnen in geringerem oder h\u00f6herem Grade vorhanden sein. Eine starke Mitgef\u00fchlsdisposition nennen wir Gutherzigkeit; wir sprechen in solchen F\u00e4llen davon, dafs das Kind ein gutes Herz hat. Eine weitere Frage w\u00e4re nun, wie sich im Laufe der tierischen und menschlichen Entwicklung eine solche Mitgef\u00fchlsdisposition gebildet hat. Die Versuche, diese Frage zu beantworten, finden wir in den nun folgenden Hypothesen.\nGenerelle Entwicklung des Mitgef\u00fchls.\na) Die Hypothese H\u00f6 ff dings.1\nNach H\u00f6ffding geht ein halbunbewufster Instinkt bei der Entwicklung der Sympathie der eigentlichen Entwicklung voraus. Diesen halbunbewufsten Instinkt charakterisiert er als Mutter-und Liebesinstinkt. Das Muttergef\u00fchl ist direkt physiologisch begr\u00fcndet in der physischen Verbindung des m\u00fctterlichen Organismus mit dem neuen Organismus vor der Geburt.2 * Nachdem die physische Verbindung der beiden Organismen durch die Geburt unterbrochen ist, unterh\u00e4lt der Instinkt eine feste Verbindung. Erst da aber, wo die Mutter das Kind als selbst\u00e4ndigen Organismus vor sich hat, entwickelt sich der Mutterinstinkt zum Muttergef\u00fchl. \u201eWenn sich die lebhafte Vorstellung von einem selbst\u00e4ndigen Bewufstseinsleben des Kindes gebildet hat, so ist die psychologische Verdoppelung, worin die Sympathie besteht, ganz und gar fertig.\u201c 8 Die Mutterliebe legt nun durch die Stiftung des urspr\u00fcnglichsten gesellschaftlichen Verh\u00e4ltnisses den Grund zu all den Mitteln und Formen, durch die die Sympathie sich weiter entwickeln kann. So w\u00e4chst das sympathische Gef\u00fchl unmittelbar aus dem Naturinstinkt hervor.4\nDie zweite wichtige Grundlage der Sympathie ist das Liebes-gef\u00fchl. In den niederen Formen der geschlechtlichen Fort-\n1\tH\u00f6ffding: Psychol. [Dtsch.] 1887. S. 311 ff.\n2\tEbenda S. 313.\ns Ebenda S. 314.\n4 H\u00f6ffding: Ethik. S. 37.","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n255\npflanzung finden sich noch die entsprechenden Organe in ein und demselben Individuum. Die weitere Entwicklung zeigt uns verschiedene Formen von geschlechtsloser zur geschlechtlichen Fortpflanzung. In seiner rein primitiven Form ist das Liebes-gefflhl, wie das Muttergef\u00fchl, ein Moment des allgemeinen Lebensgef\u00fchls. Das Liebesgef\u00fchl wird gel\u00e4utert, je mehr es sich an das Bild eines anderen selbst\u00e4ndigen Individuums kn\u00fcpft und durch dasselbe bestimmt wird. \u201eDas Gef\u00fchl erh\u00e4lt nun den Charakter der Sympathie, indem es durch das Gef\u00fchl des anderen Individuums bestimmt und bedingt wird, so dafs dieses nicht mehr blofs als Mittel der eigenen Befriedigung auf gesucht wird.\u201c1 *\nDer Mutter- und der Liebesinstinkt sind es, die den Menschen von Anfang an \u00fcber sich selbst hinausf\u00fchren. Ist nun einmal dieser Instinkt zum Gef\u00fchl geworden und hat er sich an eine Vorstellung gekn\u00fcpft, so kann sich dieses Gef\u00fchl an weitere Vorstellungen kn\u00fcpfen, die mit der ersten Vorstellung in assoziativer Verbindung stehen.\u00ae\nDie Hypothese H\u00f6ffdings hat etwas Bestechendes. Doch mufs auch hier auf gewisse Schwierigkeiten hingewiesen werden. Zun\u00e4chst ist zu betonen, dafs nicht gegen jeden ausgeschiedenen Teil ihres Organismus die Mutter einen solchen Liebesinstinkt hegt Die Tiere, die sich h\u00e4uten, werden kaum mit besonderer Liebe ihre abgelegte Haut betrachten; auch gegen einen Parasiten, der den tierischen Organismus verl\u00e4fst, wird das Tier alles eher als besondere Liebe f\u00fchlen.3 Aus der Tatsache, dafs das Kind vor der Geburt einen Teil des m\u00fctterlichen Organismus bildete, w\u00fcrde also ein solcher Liebesinstinkt nicht ohne weiteres folgen.4 So mufs denn H\u00f6ffding annehmen, dafs der Instinkt auch nach der Geburt eine feste Verbindung mit dem neuen Organismus unterh\u00e4lt. Aber auch wenn man annimmt, dafs nach der Geburt durch den m\u00fctterlichen Instinkt der neue Organismus gewissermafsen ein Teil des m\u00fctterlichen Organismus bleibt, ergeben sich noch genug Schwierigkeiten. Man kann\n1 H\u00f6ffding: Pb. S. 317.\n*\tEbenda S. 317 f. ; vgl. 8. 301 f*. : Gesetze der Entwicklung des Gef\u00fchls.\n*\tTats\u00e4chlich scheint es Theoretiker gegeben zu haben, die die Mutterliebe in Verbindung mit dem Parasitismus brachten; vgl. Ribot: Ps. d. s. 1. A., S. 274. Doch d\u00fcrfte eine solche Behauptung wohl kaum einer ernsthaften Diskussion f\u00e4hig sein.\n4 Vgl. Espinas: Des soci\u00e9t\u00e9s animales. S. 170.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nB. Groethuyscn.\n-doch nicht behaupten, dafe die Mutter jeden Teil ihres Organismus liebt; ferner ist zu erw\u00e4gen, dafs die Mutter selbst in den tiefsten Stadien des Tierreichs viel mehr f\u00fcr ihr Kind tut als sie f\u00fcr einen Teil ihres Organismus tun w\u00fcrde.\n\u00c4hnliche Schwierigkeiten ergeben sich bei der an Platos Symposion erinnernden Ableitung der Sympathie aus dem urspr\u00fcnglichen Hermaphroditismus. H\u00f6ffding weist daraufhin, dafs in den niedrigsten Stufen der Hermaphrodit die ganze Gattung repr\u00e4sentiert. Hier zeigt es sich nun besonders deutlich, dafs das Liebesgef\u00fchl, das den Mann zum Weibe treibt, doch etwas anderes ist als das Gef\u00fchl, das der Mann gegen irgend -einen Teil seines Organismus f\u00fchlt.\nDer Hauptmangel der Hypothese H\u00f6ffdings liegt aber darin, dafs nicht scharf genug zwischen Liebe und Sympathie unterschieden wird. H\u00f6ffding nennt die Lust an der Lust anderer und die Unlust an der Unlust anderer Sympathie der Liebe.1 Der Ausdruck \u201eSympathie der Liebe\u201c tr\u00e4gt zur Kl\u00e4rung nichts bei. Sympathie und Liebe sind nun einmal verschiedene Gef\u00fchle. Auch wenn die Mutter die Vorstellung eines selbst\u00e4ndigen Bewufstseinslebens ihres Kindes bildet, so mag dann zwar die Liebe auch die geistige Pers\u00f6nlichkeit des Kindes umfassen, aber die Mutterliebe als solche wird nicht zum Mitgef\u00fchl. Was wir annehmen k\u00f6nnen, ist, dafs die Liebe der Mutter zu ihrem Kinde -es war, die eine Disposition geschaffen hat f\u00fcr das Mitgef\u00fchl mit ihrem Kinde, ja dafs sie es vielleicht zuerst im Laufe der Entwicklung war, die das Individuum zum Mitgef\u00fchl disponiert hat.2 \u00c4hnlich mag es sich mit der Liebe der Geschlechter zueinander verhalten. Im Laufe der weiteren Entwicklung wirkt\n1\tH\u00f6ffding: Ps. S. 296.\n2\tRibot (Ps. d. s. 1. A., S. 275) nennt die Mutterliebe \u201eporte par o\u00f9 le sentiment de la bienveillance a fait son entr\u00e9 dans ce monde\u201c. \u00c4hnliche Ansichten wie H\u00f6ffding vertreten Ziegler (a. a. O. S. 167), Jodl (a. a. 0. S. 680), Sully (Hum. Mind. II, S. 218), Ladd (a. a. 0. S. 542). Was die Mutterliebe selbst anbetrifft, so sagt Ribot (a. a. 0. S. 372), dafs es in der Tierpsychologie nichts R\u00e4tselhafteres gibt als die Mutterliebe. Horwicz (a. a. O. II*, S. 364 ff.) will die Mutterliebe erkl\u00e4ren durch die Annahme einer \u00dcbertragung eines Gef\u00fchls der Erleichterung nach der Geburt, der Lust der Erinnerung an die Konzeption, der Lust des S\u00e4ugens u. dgl. auf die Person des Kindes. \u00dcber den Ursprung der Mutterliebe im Tierreich vgl. Espinas a. a. O. S. 175 ff.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n257\ndann die Zuneigung der Familien-1 oder der Herdenglieder zueinander als dispositionsbildendes Moment.\nb) Spencers Hypothese.\n\u2022\u2022\nUber Spencers Herdenhypothese habe ich ausf\u00fchrlich gehandelt. Macht H\u00f6ffding keinen gen\u00fcgenden Unterschied zwischen Liebe und Mitgef\u00fchl, so unterscheidet Spencer Sympathie im allgemeinsten Sinne des Wortes und Mitgef\u00fchl nieht gen\u00fcgend. Auch hier ist zuzugeben, dafs in der Herde durch eine gewisse gegenseitige kameradschaftliche Zuneigung* eine Mitgef\u00fchlsdisposition erzeugt wird. \u201eSicher ist, dafs vereint lebende Tiere ein Gef\u00fchl der Liebe f\u00fcreinander empfinden.\u201c8 \u201eSie sind ungl\u00fccklich, wenn sie lange Zeit voneinander gesondert sind, und gl\u00fccklich, wenn sie wieder mit ihnen vereint werden.\u201c 4 Ist sowohl infolge von Familienliebe, als auch von gegenseitiger Zuneigung in der Herde eine Mitgef\u00fchlsdisposition entstanden, so sind bei Kenntnis fremder Gef\u00fchlszust\u00e4nde und gen\u00fcgender intellektueller Entwicklung g\u00fcnstige Umst\u00e4nde f\u00fcr die Erweckung des Mitgef\u00fchls vorhanden. Ob allerdings, und wenn ja, wann die geistige Entwicklung im Tierreich so weit fortgeschritten ist, dafs die Tiere sich ein Urteil dar\u00fcber bilden, dafs ein anderes Wesen traurig oder freudig ist, ist eine schwer zu beantwortende Frage.6 Selbst Darwin, welcher annimmt, dafs manche Tiere\n1 Auf die Vaterliebe, die im Familienleben auf sp\u00e4teren Stufen noch hinzukommt und deren Ursprung nach Ribot (a. a. O. S. 275) noch schwerer aufzuzeigen ist als der der Mutterliebe, k\u00f6nnen wir hier nicht n\u00e4her \u00a9inr geben. Das Vatergef\u00fchl ist nach H\u00f6ffding (Ps., Zusatz der 2. Aufl., S. 348) \u00fcberwiegend soziologisch begr\u00fcndet, w\u00e4hrend das Muttergef\u00fchl physiologisch begr\u00fcndet ist; es ist bedingt durch das Zusammenleben, durch das Eigentums- und Gemeinschaftlichkeitsgef\u00fchl. Vgl. ferner J. Mill (Anal, of the hum. Mind, herausgegeben von J. St. Mill. 1869. Bd. II, S. 219), der die Vaterliebe aus angenehmen Assoziationen, die sich an die Person des landes kn\u00fcpfen, erkl\u00e4ren will, Bain (E. a. w. S. 80), Jodl (a. a. O. S. 680f.) und Hobwicz (a- a- 0. IIg, S. 369). Aristoteles behauptet, dafs^die Kinder geliebt werden, weil sie unser Werk sind (Rhet. I, 11).\n\u00dcbrigens sahen schon die Stoiker die Quelle der nat\u00fcrlichen Sympathie in der Liebe der Eltern zu ihren Kindern (vgl. H\u00f6ffding: Grundlegung d. hum. Eth. S. 20).\n* \u00dcber die Geselligkeit der Herdentiere vgl. Spenceb: Pr. d. Ps. II, S. 637 ff.\ns Dabwin: Abstammung d. Menschen. (Reel.) S. 151.\n4 Ebenda S. 167.\nVgl. Green: Prolegomena to Ethies. S. 167.\nZeitschrift far Psychologie 34.\n17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nB. Groethuysen.\nsicherlich miteinander in Kummer und Gefahr sympathisieren, gesteht, dafs es oft schwer ist zu beurteilen, ob Tiere ein Gef\u00fchl f\u00fcr die Leiden von ihresgleichen haben. \u201eWer kann sagen, was die K\u00fche empfinden, wenn sie einen sterbenden oder toten Genossen umgeben und den Blick starr auf ihn richten ?\u201c 1 Mag nun auch die Erkenntnis, dafs ein anderes Wesen sich freut oder leidet in den h\u00f6heren Entwicklungsstufen des Tierreichs oder erst durch den Menschen gewonnen worden sein, jedenfalls kann man vermuten, dafs zuerst die gesellige Zuneigung und die Liebe eine Mitgef\u00fchlsdisposition geschaffen haben. Zun\u00e4chst war nur eine Disposition vorhanden, Mitgef\u00fchl zu f\u00fchlen, wenn bestimmte Individuen, gegen welche man starke Zuneigung f\u00fchlte, ein Gef\u00fchl erlebten.'2 * 4 F\u00fchlte man aber einmal Freude oder Trauer dar\u00fcber, dafs bestimmte Individuen bzw. lust- bzw. unlustgestimmt waren, so war die M\u00f6glichkeit vorhanden, dafs das Mitgef\u00fchl auch bei \u00e4hnlichen Sachverhalten, die andere Individuen betrafen, erweckt wurde. Doch auch in diesen sp\u00e4teren Stadien wird die Mitgef\u00fchlsdisposition verst\u00e4rkt und erh\u00e4lt ihre besondere Richtung durch die Zuneigung zu bestimmten Individuen; man ist besonders geneigt, mit dem Mitgef\u00fchl zu haben, den man liebt.8 Die Liebe ist nicht nur eine Beimischung und ein die Intensit\u00e4t des Mitgef\u00fchls steigerndes Moment; sondern sie spezialisiert gewissermafsen das Mitgef\u00fchl auf besondere bevorzugte Individuen; wie andererseits, wenn bestimmte Individuen Hafs erwecken, was die Entwicklungsgeschichte der Sympathie \u00fcberall best\u00e4tigt, ung\u00fcnstige Bedingungen f\u00fcr die Erweckung des Mitgef\u00fchls vorhanden sind.\nDie Entwicklungsgeschichte weist \u00fcberall auf einen innigen Zusammenhang zwischen Liebe und Sympathie hin. Sie zeigt uns ferner, dafs da, wo wir \u00fcberhaupt im Tierreich das Vorhandensein von Gef\u00fchlen annehmen k\u00f6nnen, die Gef\u00fchle ebensowohl der Erhaltung der Gattung wie der des Individuums dienen. Lange bevor wir von Mitgef\u00fchl sprechen k\u00f6nnen, gibt es schon Gef\u00fchle, die \u201edas Individuum \u00fcber sich selbst hinaus f\u00fchren\u201c. Wollen wir die Gef\u00fchle, die sich auf die Erhaltung der Gattung richten, mit Sfenceh* als bewufst oder unbewufst\n1\tVgl. Darwin a. a. O. S. 152.\n2\tVgl. ebenda S. 158.\n8 Vgl. Bain: E. a. w. S. 80\n4 Vgl. Spencer: Pr. d. Eth. Kap. XII: Altruismus versus Egoismus.","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n259\naltruistische bezeichnen und ihnen die \u00fcbrigen Gef\u00fchle als egoistische gegen\u00fcberstellen, so sind die altruistischen Gef\u00fchle ebenso alt wie die egoistischen. Es ist also vom Standpunkt der teleologischen Betrachtungsweise durchaus nichts r\u00e4tselhaftes am Mitgef\u00fchl. Der teleologische Charakter der Gef\u00fchle erstreckt sich von jeher nicht nur auf die Selbsterhaltung, sondern auch auf die Erhaltung der Gattung und einer beschr\u00e4nkten Anzahl von Angeh\u00f6rigen der Gattung.1 *\nAutosympathie.3\nWir k\u00f6nnen die Autosympathie definieren als die Trauer oder Freude dar\u00fcber, dafs ich unlust- bzw. lustgestimmt bin. Doch ergibt sich hierbei die Schwierigkeit, ob in dem beurteilten Sachverhalt, der den Inhalt der Autosympathie bildet, wieder ein Gef\u00fchl enthalten sein kann oder blofs der Inhalt einer Gef\u00fchlsvorstellung. Es handelt sich hierbei um die schwierige Frage nach den Gef\u00fchlsgef\u00fchlen.3 Jedenfalls wird es der psychologischen Selbstbeobachtung schwer sein, einen Fall zu finden, indem man zu gleicher Zeit \u00fcber irgend etwas traurig (zornig) ist und aufserdem noch dar\u00fcber, dafs man traurig (zornig) ist\nLeichter wird man es begreiflich finden, dafs man sich in Reflexionen \u00fcber die eigenen Gef\u00fchlszust\u00e4nde ergeht, dafs die Vorstellungen der eigenen Gef\u00fchle sich bilden, und man dann z. B. dar\u00fcber traurig ist, dafs man unlustgestimmt ist oder war, wobei dann das Unlustgef\u00fchl als inhaltliche Bestimmung des Mitgef\u00fchls uns als Inhalt einer Gef\u00fchlsvorstellung gegeben ist Besonders h\u00e4ufig mag dieses Gef\u00fchl gegen\u00fcber Ereignissen unserer eigenen Vergangenheit sein, z. B. den Entbehrungen einer harten Jugendzeit 4, da uns dann unsere eigenen Gef\u00fchle schon in Form von Gef\u00fchlsvorstellungen gegeben sind.\n1 Vgl. Dilthbys Ausf\u00fchrungen \u00fcber den teleologischen Strukturzusammenhang der Seele (Ideen \u00fcb. eine beschr. u. zergl. Ps. Berl. Ak. 94, S. 1777 ff.). Dilthey weist darauf hin, dafs Freude und Schmerz \u00fcberall in einem Zweckverh\u00e4ltnis nicht nur zum Individuum, sondern auch zu der Gesellschaft stehen.\n8 Terminus \u201eAutosympathie\u201c in \u00e4hnlicher Bedeutung wie hier bei Mauxiok: La vraie m\u00e9moire affective. Rev. psychol. 1901, 1, S. 147.\n8 Vgl. Meinong: Psych.-eth. Unters. ... S. 62 ff.\n4 Vgl. Sa\u00fcndebs u. Hall a. a. O. S. 569: \u201eWhat a pitiful creature I was. I could weep over my folly and hardships.\u201c\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nB. Groettiuyaen.\nAuch beim Mitleid mit sich selbst ist eine Beimischung ein\u00ab lustartigen Gem\u00fctsbewegung zu beobachten, und zwar ist auch diese Beimischung als Liebe, in diesem Fall nat\u00fcrlich gegen sich selbst gerichtet, zu beurteilen.1 * 3 Daher nimmt auch das Mitleid mit sich selbst oft einen weichen, weichlichen Charakter an. Volkelt spricht von der tr\u00e4nenweichen Stimmung im Mitleid mit sich selbst*; das ger\u00fchrte Mitleid mit sich selbst ist ein Mittel, wodurch die geprefsten Gef\u00fchlsmassen aufgelockert werden* Ebenso ist h\u00e4ufig eine Beigesellung von Grausamkeitswollust zu beobachten. Es sind dies die Schauder der gegen sich selbst gerichteten Grausamkeit, ein reicher, \u00fcberreicher Genuls am eigenen Leiden, am eigenen sich Leidenmachen, wie Nietzsche sich ausdr\u00fcckt.4\nDas Mitleid mit sich selbst kann leicht dadurch geweckt werden, dafs andere mit uns Mitleid haben. So sagt Jean Paul, dafs die weiche mitleidende Mutterstimme dem Kinde Mitleid mit sich selbst einfl\u00f6fst, und das Blind dann fortweint zui Lust.5 Andererseits kann durch lebhafte R\u00fcckerinnerung an l\u00e4ngst vergangene gl\u00fcckliche Zeiten Mitleid mit unserem jetzigen Zustande entstehen.6\nAuch das Mitleid mit sich selbst findet seinen Ausdruck oft im Weinen. Melinaud will auf die Weise sogar jedes Weinen auf das Mitleid zur\u00fcckf\u00fchren. \u201eNous pleurons sur nos propres souffrances ; mais dans ce cas encore, c\u2019est la piti\u00e9 qui est la vraie source des larmes .... c\u2019est que nous r\u00e9fl\u00e9chissons sur notre destin\u00e9e et que nous la trouvons lamentable.\u201c 7 \u00c4hnlich\n1 Vgl. Baut : E. a. w. 8.104, M. a. m. S. S. 283, E. e. v. S. 94. \u00dcber \u201etender emotion directed upon seif\u201c vgl. E. a. w. S. 98 ft.\n8 Volkelt: Tragische Entladung der Affekte. Zeitschr. f. Philoa.u.philot Krit. 1898, 112, S. 1.\n3\tEbenda S. 3.\n4\tNietzsche: Jens. v. Gut u. B\u00f6se. S. 197.\n5\tJean Paul: Levana. Ges. W. 1862, Bd. 22, S. 121.\n* Darwin: Ausdr. d. Gem\u00fctsbeweg. S. 189.\n7 M\u00e9lina\u00fcd: Gr. Encycl. Artikel: Piti\u00e9. M\u00e9linaud geht mit seiner Be* hauptung wohl zu weit. F\u00fcr Kinder d\u00fcrfte sie nicht zutreffen. Vgl. Da*-win: Ausdr. d. Gem\u00fctsbeweg. S. 135: \u201eDas Weinen scheint, wie wir bei Kindern sehen, die urspr\u00fcnglichste und nat\u00fcrlichste Ausdrucksform f\u00fcr Leiden irgend welcher Art zu sein, mag es k\u00f6rperlicher Schmerz . . ., oder geistiges Ungl\u00fcck sein\u201c; vgl. auch Preyer a. a. O. S. 196f. \u00fcber das Schreiweinen der Kinder.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n261\nhatte schon Jean Paul die Ursache des Weinens \u00fcber eigene Leiden im Mitleid gesehen. \u201eDer unentwickelte Schmerz ist ohne Tr\u00e4nen . . . .; aber wenn der Mensch das Herz voll zu-sammenfliefsender Wunden durch Phantasie aus dem eigenen Busen zieht, und die Stiche z\u00e4hlt und dann vergifst, dafs es sein eigen ist: so weint er mitleidig \u00fcber das, was so schmerzlich in seine H\u00e4nde schl\u00e4gt, und dann besinnt er sich und weint noch mehr.\u201c1 F\u00fcr die Erscheinung der Mitfreude mit sich selbst lassen sich leicht Beispiele finden. Wenn man nach einer langen Reihe ungl\u00fccklich verlebter Tage gl\u00fccklich ist, so kann man sich dar\u00fcber freuen, dafs man endlich gl\u00fccklich ist.\nDie Definition des Mitgef\u00fchls wird leicht diesen Ausf\u00fchrungen entsprechend zu erg\u00e4nzen sein. Wir haben mit Absicht das Mitgef\u00fchl mit sich selbst bei unserer Begriffsbestimmung aufser acht gelassen, weil die Frage, ob wir die zuletzt beschriebene psychische Erscheinung als Mitgef\u00fchl bezeichnen sollen, eine Frage des Sprachgebrauches ist. Das Mitgef\u00fchl bezieht sich zun\u00e4chst auf andere. Wir selbst stehen uns nie so gegen\u00fcber, wie wir anderen gegen\u00fcberstehen. Die Vorstellung unseres eigenen Ich hat immer unterscheidende Merkmale. Will man von diesen unterscheidenden Merkmalen absehen, so kann man die Freude oder Trauer dar\u00fcber, dafs man bzw. lust- bzw. unlustgestimmt ist, als Mitgef\u00fchl mit sich selbst bezeichnen ; aber auch nur in diesem Fall.\nIndividuelle Unterschiede in bezug auf das Mitgef\u00fchl.\nDie Intensit\u00e4t, Dauer und H\u00e4ufigkeit des Mitgef\u00fchls ist bei den Individuen verschieden.* *\nEis gibt wohl kaum ein Gef\u00fchl, \u00fcber dessen Unlust- oder Lustcharakter soviel verschiedene Meinungen vorhanden sind, wie das Mitleid. In letzter Linie beruhen diese verschiedenen Urteile wohl auf verschiedenen psychischen Erfahrungen. So gibt es Menschen, die das Mitleid haupts\u00e4chlich als \u201esentiment tr\u00e8s doux\" im Sinne Rousseaus kennen, d. h. nur als schwaches Unlustgef\u00fchl mit starker Lustbeimischung und andere, die mit Spinoza ausschliefslich oder fast ausschliefslich die reine \u201etristitia\u201c, d. h. nur oder fast nur ein starkes Unlustgef\u00fchl im Mitleid er-\n1 Jban Paul: Hesperus. II. Ges. W. Bd. VI, S. 169.\n* \u00dcber die Kreise der individuellen Unterschiede vgl. Dilthby: Ideen \u00fcb. beschr. u. zergl. Ps. Berl. Ak. 91, S. 1403.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\n\u00df. Ghroethuysen.\nfahren haben. \u00c4hnlich mag es sich in bezug auf Mitfreude verhalten. Gab es doch Philosophen, die \u00fcberhaupt die Existenz der Mitfreude zu beweisen f\u00fcr n\u00f6tig fanden \\ w\u00e4hrend andere Menschen ihr h\u00f6chstes Gl\u00fcck in der Mitfreude finden.\nEbenso verschieden sind die Individuen in bezug auf die Dauer des Mitgef\u00fchls. Bain sah in jedem Mitgef\u00fchl eine fixe Idee, ein Gef\u00fchl, das uns nicht mehr locker l\u00e4fst; andere wiederum kennen das Mitgef\u00fchl haupts\u00e4chlich in der Form einer rasch vergehenden Aufwallung. Auch die H\u00e4ufigkeit des Mitgef\u00fchls ist verschieden. Wie es Menschen gibt, die ihr ganzes Gl\u00fcck und Ungl\u00fcck nur in der Freude bzw. Trauer \u00fcber fremde Freude bzw. Trauer f\u00fchlen, so hat es Menschen gegeben, und gibt es Menschen, die so selten Mitgef\u00fchl f\u00fchlen, dafs sie \u00fcber* haupt die Existenz des Mitgef\u00fchls abgestritten haben oder ab* streiten.\nDie individuellen Verschiedenheiten in bezug auf das Mitgef\u00fchl lassen sich erkl\u00e4ren aus den individuellen Verschiedenheiten in bezug auf die g\u00fcnstigen oder ung\u00fcnstigen Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen der psychologischen Voraussetzung des Mitgef\u00fchls, ferner in bezug auf die die Mitgef\u00fchlsdisposition steigernden oder mindernden Momente und endlich aus der Verschiedenheit der angeborenen Anlagen zum Mitgef\u00fchl. Eine detaillierte Behandlung aller der in Betracht kommenden Momente ist hier nicht beabsichtigt.\nGrofser Wert ist von manchen Forschern auf den geringeren oder st\u00e4rkeren Grad der Lebhaftigkeit der Vorstellungen fremder Gef\u00fchle gelegt worden.1 2 Das Mitleid soll bei den Individuen verschieden sein, je nachdem sie sich mehr oder minder lebhafte Gef\u00fchlsvorstellungen machen k\u00f6nnen. Ich glaube nicht, dafs man eine solche Regel aufstellen kann ; es macht, im allgemeinen keinen grofsen Unterschied, ob man beim Mitleid z. B. mit jemanden, der Zahnschmerzen hat, wirklich einen leisen Anflug von Zahnschmerzen f\u00fchlen kann oder nicht; ja man k\u00f6nnte sogar behaupten, dafs, wenn eine gewissermafsen halluzinationsartige Realisierung des Zahnschmerzes zustande\n1\tVgl. dar\u00fcber schon bei A. Smith a. a. O. S. 60.\n2\tVgl. mein Referat \u00fcber Ehrenfels; von \u00e4lteren: Schiller: \u00dcber die tragische Kunst. Ges. W. (Cotta) Bd. 11. S. 346f.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n263\nk\u00e4me1, dies eher die Aufmerksamkeit vom Leidenden ablenken und dadurch das Mitleid beeintr\u00e4chtigen w\u00fcrde. Andererseits kann eine lebhafte Vorstellung oder gar eine Anschauung der ganzen Umst\u00e4nde, in denen sich der andere befindet, ein das Mitgef\u00fchl f\u00f6rderndes Moment sein. Unsere Aufmerksamkeit ist in solchen F\u00e4llen viel mehr als sonst auf den Sachverhalt gerichtet; wir werden l\u00e4nger gen\u00f6tigt, daran zu denken; ja wir werden in gewissen F\u00e4llen den Gedanken an das fremde Leid \u00fcberhaupt nicht mehr los, so dafs die psychologische Voraussetzung des Mitgef\u00fchls immer wieder zu Bewufstsein kommt Es m\u00f6gen dies F\u00e4lle sein, in denen wir wirklich von einer fixen Idee im Sinrie Bains sprechen k\u00f6nnen. In gewisser Beziehung kann man also sagen, dafs individuelle Unterschiede in bezug auf das Mitgef\u00fchl bestehen, je nachdem die Menschen sich mehr oder weniger lebhaft die Umst\u00e4nde, in denen sich eine f\u00fchlende Person befindet, vorstellen. Doch wird sich auch in dieser Formulierung keine durchgehend geltende Regel aufstellen lassen. Die Virtuosen des Mitgef\u00fchls findet man meistens nicht unter Leuten mit ausgesprochen lebhafter Phantasie, unter Dichtern, K\u00fcnstlern ; es sind vielmehr oft genug ganz gew\u00f6hnliche Altags-menschen, bei denen wir keinen Grund haben anzunehmen, dafs sie sich durch eine besondere F\u00e4higkeit, anschauliche Vorstellungen zu bilden, auszeichnen.\nEine grofse Verschiedenheit der Individuen ergibt sich daraus, ob sie sich leicht durch den Inhalt blofser Annahmen r\u00fchren lassen, oder ob ein Urteil als psychologische Voraussetzung des Mitgef\u00fchls notwendig ist. Im allgemeinen wird die Regel gelten, dafs je h\u00f6her der Mensch gebildet ist, desto weniger er sich durch einen fingierten Sachverhalt zu Mitleidsgef\u00fchlen, wie sie die Wirklichkeit erregt, hinreifsen l\u00e4fst. Bei den Vorstellungen von R\u00fchrst\u00fccken in Volkstheatern ist der gr\u00f6fsere Teil des Publikums zu Tr\u00e4nen ger\u00fchrt, w\u00e4hrend der Gebildete bei den tragischsten Szenen kaum ein solches \u201eWirklichkeitsgef\u00fchl\u201c f\u00fchlen wird.\nWichtiger aber als die Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen der psychologischen Voraussetzung des Mitgef\u00fchls sind die Verschiedenheiten in den Momenten, die die Mitgef\u00fchlsdisposition\n1 Fouill\u00e9e beschreibt einen Versuch, den er an sich selbst ausf\u00f6hrte, Zahnschmerzen halluzinationsartig zu realisieren (vgl. Psychol, des id\u00e9es forces. I, S. 203 f.).\nI","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nB. Groethuysen.\nsteigern. Erw\u00e4hnt wurde schon die N\u00e4chstenliebe. \u201eDie Liebe ist eine angeborene, aber verschieden ausgeteilte Kraft und Blutw\u00e4rme des Herzens\u201c, sagt Jean Paul.1 Aus dieser angeborenen Verschiedenheit ergeben sich die gr\u00f6fsten Verschiedenheiten in bezug auf das Mitgef\u00fchl. Weitere g\u00fcnstigere, bzw. ung\u00fcnstige Bedingungen und dementsprechend individuelle Unterschiede lassen sich den allgemeinen Bedingungen f\u00fcr das Auftreten eines Gef\u00fchls entnehmen. Wenn man in freudiger Stimmung wenig geneigt ist, Trauer zu f\u00fchlen, so wird man auch wenig f\u00fcr das Mitleid disponiert sein, und umgekehrt in einer traurigen Stimmung f\u00fcr die Mitfreude. Doch bietet in diesem und in den noch weiter anzuf\u00fchrenden Momenten2 das Mitgef\u00fchl nichts, was diese Gem\u00fctsbewegung von anderen Gem\u00fctsbewegungen unterschiede.\nAlle die bisher angef\u00fchrten Momente gen\u00fcgen indessen nicht, um den individuellen Verschiedenheiten gerecht zu werden. Man wird doch in letzter Linie auf mehr oder minder starke Mitgef\u00fchlsdispositionen bei den einzelnen Individuen rekurrieren m\u00fcssen. Es m\u00fcfsten schon sehr beweiskr\u00e4ftige Argumente von den \u201eEmpiristen\u201c beigebracht werden, wenn die popul\u00e4re Meinung von den gutherzigen und hartherzigen Naturen widerlegt werden sollte. \u201eEs ist heute mehr als reichlich bewiesen, dafs jedes Gesch\u00f6pf von Natur oder infolge der Vererbung bei der Geburt seine Dispositionen und F\u00e4higkeiten mitbringt\u201c, sagt Compayr\u00e9.3 Auch in bezug auf das Gef\u00fchlsleben und speziell auf das Mitgef\u00fchl ist ein Kind keine tabula rasa. Wir verweisen hier auf Schopenhauer, der die unermefslichen Verschiedenheiten angeborener Dispositionen gerade mit Bezug auf die Teilnahme f\u00fcr andere betont hat.4\nMan kann annehmen, dafs bei jedem normalen Menschen eine Mitgef\u00fchls disposition vorhanden ist.5 Infolge angeborener\n1\tJean Paul: Levana. (Reel.) S. 282.\n2\tYgl. Saxing-er, a. a. O. S. 394 ff.\n3\tCompayr\u00e9 a. a. O. S. 380.\n4\tSchopenhauer: Parerga u. Parai. III. Bd., Kap. VIII, \u00a7117. Johannes M\u00fcller (Physiologie des Menschen. II. 1840. S. 549) hat f\u00fcr die Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr die Lust und Unlust der Mitmenschen den Kamen \u201eGem\u00fct im engeren Sinne\u201c.\n5\tVgl. Dilthey a. a. O. S. 1400: \u201eDie Gleichf\u00f6rmigkeit der menschlichen\nNatur \u00e4ufsert sich darin, dafs in allen......dieselben qualitativen Be-\nstimmungen und Verbindungsformen auftreten. Aber die quantitativen Ver","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n265\nDefekte k\u00f6nnen dagegen solche Dispositionen ganz fehlen und infolge krankhafter Ver\u00e4nderungen vermindert oder ganz zerst\u00f6rt werden. Beispiele hierf\u00fcr lassen sich bei gewissen Kategorien jugendlicher Verbrecher und entarteter M\u00fctter* 1 * * finden. Von grofsem Interesse ist ferner hierf\u00fcr die Erscheinung der Apathie. Hier kann die psychologische Voraussetzung f\u00fcr das Mitgef\u00fchl ganz gegeben sein, und doch ist der Kranke vollst\u00e4ndig teilnahmslos. Gerade die vollst\u00e4ndige Teilnahmslosigkeit gegen\u00fcber der Umgebung ist bei solchen Kranken die auf-fallenste Erscheinung.- Einer solchen Teilnahmslosigkeit begegnen wir bei angeborenem Schwachsinn, bei gem\u00fctlicher Verbl\u00f6dung infolge von Dementia praecox und Paralyse.8 L\u00f6st Bich das affektive Leben eines Individuums infolge irgend welcher Prozesse auf, so schwinden in der Regel die altruistischen Gef\u00fchle, gleich nachdem die Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr \u00e4sthetische und h\u00f6here intellektuelle Gef\u00fchle geschwunden ist.4 *\nDas Mitgef\u00fchl kann verschieden sein nach St\u00e4rke, Dauer und H\u00e4ufigkeit, je nach dem Alter der Individuen. Im allgemeinen richtet es sich nach dem gef\u00fchlsdispositionellen Typus jeder Altersstufe.6 *\n\u00dcber die Gef\u00fchllosigkeit der Kinder ist viel geklagt worden. Sie beruht wohl auf ungen\u00fcgender intellektueller Entwicklung. Sully erkl\u00e4rt sie aus der Verst\u00e4ndnislosigkeit der Kinder f\u00fcr einen grofsen Teil der Kundgebungen menschlichen Leides und aus der mangelnden Konzentrationsf\u00e4higkeit der Kinder.\u00ae Sind einmal die psychologischen Voraussetzungen f\u00fcr das Mitgef\u00fchl\nh<nisse, in denen sie sich darstellen, sind sehr verschieden\u201c; vgl. auch Ribot: Ps. d. s. 2. A., S. 425: \u201eNous avons admis que chez tout homme normal,\ntontes les tendences primitives existent........ Le caract\u00e8re individuel\nr\u00e9sult\u00e9 de la pr\u00e9pond\u00e9rance d\u2019une ou de plusieurs tendences\u201c, wobei allerdings zu bemerken ist, dafs Ribot die Frage als diskutierbar betrachtet, ob die Sympathie eine solche psychologische Tendenz ist, die die psychische Konstitution eines seelischen Organismus ausdr\u00fcckt.\n1 Vgl. Fe\u00e4ki\u00e4ni: Entartete M\u00fctter. [Dtsch.] S. 119: das wahre Modell\nder entarteten Mutter.\n*\tVgl. Stumpf a. a. O. S. 96 ff.\n*\tKbapelih a. a. O. S. 166 f.\n*\tVgl. Ribot a. a. O. 2. A., S. 426 ff.\n6 Vgl. Ehbenfels: Werttheor. u. Eth. a. a. O. S. 213; Syst. d. Werttheor.\nI, S. 118.\n0 Sully: Unters, \u00fcb. d. Kindh. S. 220ff.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nB. Groethuysen.\ngegeben, so finden wir beim Kinde h\u00e4ufige und starke \u00c4ufserungen besonders des Mitleids.1 So sagt schon Hume, dafs Kinder \u2014-und auch Frauen \u2014 am meisten dem Mitleid unterworfen sind.* Doch zeichnet sich das Mitleid entsprechend dem ganzen Ver-halten des kindlichen Gem\u00fctslebens durch einerseits zwar grofse St\u00e4rke, andererseits aber durch rasche Verg\u00e4nglichkeit aus.8 9\nJ\u00fcnglinge und Greise sollen nach Aristoteles zum Mitleid geneigt sein, die ersteren aus Menschenliebe4, oder wie er an einer anderen Stelle sagt, weil sie alle Menschen f\u00fcr gut und besser halten, als sie in Wirklichkeit sind5 6, die letzteren aus Schw\u00e4che weil sie meinen, dafs alles Schlimme auch sie in n\u00e4chster N\u00e4he bedroht. \u00dcber das Mitleid des reifen Mannesalters, d. h. des Alters, das alle n\u00fctzlichen Eigenschaften, welche bei Jungen und Alten getrennt auftreten, vereinigt besitzt7, \u00e4ufsert sich Aristoteles nicht.\nDafs die Frauen im allgemeinen besonders zum Mitleid neigen, ist von vielen behauptet worden, H\u00fcme8, St.-Lambert \u00f6, Kant10, Schopenhauer11, Comte1'2 3; von der muliebris misericordia spricht Spinoza. Dieses h\u00e4ufigere und st\u00e4rkere Mitleid l\u00e4fst sich dadurch erkl\u00e4ren, dafs durch die starke Liebe und Zuneigung zu Mann und Kindern in den Frauen eine g\u00fcnstige Disposition f\u00fcr das Mitgef\u00fchl erzeugt wird. Andererseits *mufs aber bemerkt werden, dafs das Mitleid der Frau durch bestimmte Zuneigungen mehr spezialisiert und eingeschr\u00e4nkt ist als das des Mannes.\nH\u00e4ufig ist bemerkt worden, dafs Mitleid h\u00e4ufiger und st\u00e4rker ist als Mitfreude, so von Rousseau13, Volkmann11 *, Paulsen16,\n1 \u00dcber Aufserungen sinnigen Mitgef\u00fchls bei Kindern vgl. Compayb\u00e9 &. a. O. S. 402ff.\n8 Hume a. a. O. B. II, P. II, S. VII.\n3\tVgl. Kr\u00e2pelin a. a. O. S. 169.\n4\tAristoteles: Rhet. II, 13.\nft Ebenda II, 12.\n6\tEbenda II, 13.\n7\tEbenda II, 14.\n8\tHume a. a. O. B. II, P. II, S. VII.\n9\tSaint - Lambert : Les saisons, ch. I, note I.\n10\tKant: Beob. \u00fcb. d. Gef. d. Sch. u. Erh. (Hartenst.) II, S. 252.\n11\tSchopenhauer: Die beiden Grdprbl. d. Eth. (Cotta) VII, S. 240\n12\tComte : Cours de philosophie positive. Ges. W. IV, S. 408.\n18 Rousseau a. a. O. S. 239, 242.\nu Volkmann: Ps. 3. A., II, S. 379.\n16 Paulsen: Ethik. II, S. 122.","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgef\u00fchl.\n267\nSclly \\ Laud *, Jodl.1 2 3 Das Gegenteil davon behauptet Spencer, der von dem auffallenden Gegensatz zwischen der allgemeinen Sympathie mit der Freude und der weniger raschen und keineswegs allgemeinen Sympathie mit dem Schmerze spricht.4 5 A. Smith behauptet : \u201e. . . we are generally most disposed to sympathize with small joys and great sorrows.\u201c 6 Nach Th. Brown ist kein Unterschied in der H\u00e4ufigkeit zwischen Mitleid und Mitfreude. Die Mitfreude wird nur weniger bemerkt, weil wir durch H\u00f6flichkeit in Gesellschaft gezwungen sind, immer eine freundliche Miene anzunehmen.6 Andere wieder weisen darauf hin, dafs Mitfreude gar kein gangbares Wort ist7; ein \u00fcber die Leisten von Mitleid gemachtes, gar kein sprachlebendiges Wort nennt Bernays das Wort \u201eMitfreude\u201c.8\nEs mag die Behauptung, dafs das Mitleid h\u00e4ufiger und st\u00e4rker ist, nat\u00fcrlich unter Ber\u00fccksichtigung individueller Unterschiede, ihre Berechtigung haben. Man hat das damit zu erkl\u00e4ren gesucht, dafs Mitfreude leicht einen gewissen Neid erzeugt, dafs \u00fcberhaupt der Schmerz mehr unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht als die Lust, dafs der Ungl\u00fcckliche mehr unserer Teilnahme bedarf als der Gl\u00fcckliche. Spencers Bemerkung gegen diese Behauptung k\u00f6nnen wir bei der Zweideutigkeit der Anwendung des Terminus Sympathie bei diesem Forscher wenig Wert beilegen. Beachtungswert erscheint uns dagegen Smiths Beobachtung. Es ist h\u00e4ufig zu bemerken, dafs bei etwas Naivit\u00e4t und Gutherzigkeit sich die Menschen \u00fcber die kleinen unschuldigen Freuden ihrer Mitmenschen von ganzem Herzen freuen k\u00f6nnen, w\u00e4hrend oft kleine Schmerzen, besonders physische Schmerzen kein Mitleid erregen, sondern eher den Spott herausfordern. Hume sagt, dafs wir bei geringen Leiden Ver-\n1\tSully: Hum. Mind. II, S. 111, 116.\n2\tLadd a. a. O. S. 588.\n*\tJodl a. a. 0. S. 686.\n*\tSpencer: Pr. d. Ps. II, S. 648; dagegen Sully: Hum. Mind. II, S. 114.\n5 Smith a. a O. 8. 55, vgl. jedoch S. 60ff., wo Smtth behauptet, dafs\nunsere Neigung, mit Freuden zu sympathisieren, viel st\u00e4rker ist als unsere Neigung, mit Kummer zu sympathisieren; allerdings nur dann, wenn kein Neidgef\u00fchl vorhanden ist.\n*\tTh. Brown: Lectures on the philos, of the hum. mind. S. 407.\n7\tHorwicz a. a. O. II*, S. 308.\n8\tBernays : Zwei Abhandl. \u00fcb. d. aristotel. Theor. d. Dramas. S. 117.","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nB. Groethuysen.\nachtung, bei grofsen Leiden Mitleid und Wohlwollen f\u00fchlen.1 Uber die kleinen Leiden in der Kom\u00f6die lachen wir; mit den grofsen Leiden in der Trag\u00f6die haben wir Mitleid. Andererseite kann das Mitleid beeintr\u00e4chtigt ja vernichtet werden, wenn das Leid, besonders der k\u00f6rperliche Schmerz, zu grofs wird, wie es schon Hume bemerkt hat2 Es \u00fcberkommt in solchen F\u00e4llen den Menschen ein Schaudern ; gewisse sinnliche Unlustgef\u00fchle treten auf und ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Es sind das jedenfalls Momente, die bei der Vergleichung der H\u00e4ufigkeit und St\u00e4rke von Mitleid und Mitfreude in Betracht gezogen werden m\u00fcssen. Dafs endlich das Wort Mitfreude kein popul\u00e4res, gangbares Wort ist, mufs zugegeben werden; andererseits sind aber Redewendungen, wie \u201eich freue mich dar\u00fcber, dafs du diese oder diese Freude geniefsestw so popul\u00e4r wie irgend welche andere derartige Wendungen. Die mit dem Worte Mitfreude bezeichnet\u00a9 Erscheinung ist jedenfalls keine erst um der Analogie mit Mitleid ausget\u00fcfftelte Tatsache. Wenn man auch die gr\u00f6fsere H\u00e4ufigkeit des Mitleids zugibt, so l\u00e4fst sich nicht daran r\u00fctteln, dafs man sich auch, wenn man nicht gerade ein \u201eNeidhammel\u201c ist, von ganzem Herzen \u00fcber die Freude seines Nebenmenschen freuen kann.\nZum Schlufs noch einige Bemerkungen \u00fcber Ausartungen des Mitleids. F\u00fcr die Ausartungen des Mitleids haben wir die Namen \u201eEmpfindelei\u201c, \u201eR\u00fchrseligkeit\u201c.3 Kant hat daf\u00fcr auch den Namen \u201eEmpfindlichkeit\u201c.4 Lotze spricht von der widrigen Sentimentalit\u00e4t, die alle Vorkommnisse des Lebens nur als Gelegenheit zu einer gef\u00fchlsvollen Erregung gebraucht.5 * In \u00e4hnlichem Sinn gebrauchen H\u00f6ffding0 und Bain7 das Wort Sentimentalit\u00e4t Ausartungen des Mitleids k\u00f6nnen dadurch entstehen, dafs die Trauer auf ein Minimum sinkt, w\u00e4hrend die beigemischte Lust auf ein Maximum steigt. Das ist der Fall in dem,\n1\tHume a. a. O. B. II, P. II, S. IX.\n2\tEbenda.\n3\tKant: Krit.d. Urteilskr. (Kehrbach) S. 131. \u2014 Schillbb: \u00dcber naive und sentimentale Dichtung. Ges. W., krit. Ausg., Bd. X, S. 177 f: \u00fcber Empfindelei und weinerliches Wesen.\n4\tKant: \u00d6TRACNESche Anthropol. S. 266f.\n6\tLotze : Mikr. II, 8. 375.\n8 H\u00f6ffdino: Ps. S. 326.\n7\tBain: E. e. v. S. 139f.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Das Mitgrf\u00fchl.\n269\nwas Bain Sentimentalit\u00e4t nennt, einem unt\u00e4tigen Mitleid verbunden mit der Wonne des Mitleids.1 * * In der Sentimentalit\u00e4t steigt die z\u00e4rtliche Gem\u00fctsbewegung auf ein Maximum; auch die dem Mitleid zuweilen beigesellte Grausamkeitswollust kann zu einer unnormalen St\u00e4rke anwachsen. Das scheint in den fr\u00fcher angef\u00fchrten bei Saunders und Hall erw\u00e4hnten F\u00e4llen der Fall zu sein, in denen die Personen sich ganz genau alle Einzelheiten von Martern ausmalen. Es ist ein Mitleid, das, wie Nietzsche sich ausdr\u00fcckt, seine S\u00fcfsigkeit von der eingemischten Ingredienz der Grausamkeit bekommt *, eine gewisse Gef\u00fchlsausschweifung.s Andererseits kann das Mitleid dadurch ausarten, dafs infolge pathologischer z\u00e4rtlicher Gem\u00fctsbewegungen \u2014 Ribot nennt diese Erscheinung \u201esensiblerie\u201c \u2014 f\u00fcr Personen und Tiere (zoophilie) eine annormal starke Disposition f\u00fcr das Mitleid geschaffen wird, und das Mitleid daher ohne gen\u00fcgenden Grund entsteht.4 5\nBei den vielen Verurteilungen, die das Mitleid gefunden hat, m\u00f6gen, so weit nicht allgemeinere Erw\u00e4gungen dabei in Betracht kommen, gerade die Ausartungen des Mitleids die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Spinoza, der von der muliebris misericordia spricht, behauptet: \u201ecommiseratio in homine, qui ex ductu rationis vivit, per se mala et inutilis est.\u201c A Kant nennt das Mitleid \u201ejederzeit schwach und blind.\u201c6 Der gr\u00f6fste Ver\u00e4chter des Mitleids ist Nietzsche. \u201eMitleiden wirkt an einem Menschen der Erkenntnis beinahe zum Lachen, wie zarte H\u00e4nde an einem Zyklopen7;\u201c er h\u00e4lt das Mitleid f\u00fcr ein Symptom der Degenereszenz.8 9 Ganz anders urteilen Aristoteles, Rousseau, Lessing, Schopenhauer. F\u00fcr Aristoteles ist das Mitleid ein jr\u00e2&o\u00e7 fj&OL'\u00e7 xqtjotoD 9 ; nach Lessing ist ohne Zweifel derjenige\n1 Bain: M. a. m. S. S. 245.\n*\tNietzsche: Jens. v. Gut u. B\u00f6se. S. 190.\n*\tNietzsche: Genealogie d. Moral. S. 171 ff.\n4\tRibot: Ps. d. s. 1. A., S. 235 Anm.\n5\tSpinoza: Eth. B. IV, P. L.\n*\tKant: Beobocht. \u00fcb. d. Gef. d. Sch. u. Erh. (Hartenst.) II, S. 238.\n7\tNietzsche: Jens. v. Gut u. B\u00f6se. S. 111, vgl. S. 134, 136ff. G\u00f6tzend\u00e4mmerung. S. 86 f.\n8\tNietzsche: Jens. v. Gut u. B\u00f6se. S. 179.\n9\tAristoteles: Rhet. II, 9.","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nB. Groetkugsen.\nder beste Mensch, der die gr\u00f6fste Fertigkeit im Mitleiden hat1 Ohne hier n\u00e4her auf die Frage nach der Wertung des Mitleids einzugehen, mufs betont werden, dafs der Wert des Mitleids ganz verschieden sein kann nach den Beimischungen des Mitleids. Ein weinerlich weibliches Mitleid oder ein Mitleid, dem sich eine starke Dosis Grausamkeitswollust beigesellt, hat nat\u00fcrlich einen ganz anderen Wert als ein Mitleid der kraftvoll erhabenen Art, als ein Mitleid f\u00f4ou\u00e7 x\u00e7rpxov.\n1 Lbssixg: Brief an Mksdklssohx vom 18. Dez. 17\u00e46.\n(Eingegangen am 4. August 1903.)","page":270}],"identifier":"lit32877","issued":"1904","language":"de","pages":"161-270","startpages":"161","title":"Das Mitgef\u00fchl","type":"Journal Article","volume":"34"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:33:14.536256+00:00"}