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{"created":"2022-01-31T16:37:08.871312+00:00","id":"lit32907","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ziehen, Th.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 33: 91-128","fulltext":[{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"91\nErkenntnistheoretische Auseinandersetzungen,\nVon\nTn. Ziehen in Halle a. S.\n2. Schuppe. Der naive Dealismus.\nAvenarius steht der immanenten Philosophie, d. h. der Lehre, dafs aufser unserem Bewufstseinsinhalt keine andersartige \u201eExistenz\u201c anzunehmen ist, in vielen Punkten sehr nahe, indes in der Annahme von \u201eUmgebungsbestandteilen\u201c und in der allerdings verschleierten Annahme eines \u201eIeh-Bezeichneten\u201c f\u00e4llt er in die transzendente Philosophie zur\u00fcck. Schuppe, welcher selbst f\u00fcr seine Lehre den Titel \u201enaiver Realismus\u201c acceptiert und sie selbst zur immanenten Philosophie rechnet, steht der immanenten Philosophie im Sinne der obigen Definition sehr viel n\u00e4her. Erst eine eingehende Betrachtung wird lehren, dafs auch er in einem wichtigen Punkt der Immanenz untreu geworden ist. Die folgenden Auseinandersetzungen mit der Lehre Schuppes gestalten sich darum einfacher als die vorausgegangenen mit der Lehre des Avenarius, weil Schuppes Lehre nicht jene allm\u00e4hliche Entwicklung und Umbildung erfahren hat1, welche diejenige von Avenarius in vielen Punkten erkennen l\u00e4fst. Es ist daher m\u00f6glich die Lehre Schuppes als Ganzes unter gleichzeitiger Ber\u00fccksichtigung aller seiner Werke zu besprechen. F\u00fcr die Erkenntnistheorie kommen folgende in Betracht:\n1.\tDas menschliche Denken. Berlin 1870.\n2.\tErkenntnistheoretische Logik. Bonn 1878.\n1 Ich pflichte jedoch Wundt (Philos. Stud. 12, S. 365 u. 376 Anm.) bei, dafs in dem \u00e4lteren Hauptwerk Schuppes, der \u201eErkenntnistheoretischen Logik\u201c, die empirische Seite der Theorie etwas mehr hervortritt. Yon den Erstlingswerken \u201eDas menschliche Denken\u201c und \u201eDie aristotelischen Kategorien\u201c sehe ich dabei nat\u00fcrlich ab.","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nTh. Ziehen.\n3.\tBergmanns \u201eReine Logik\u201c und die \u201eErkenntnistheoretische Logik\u201c mit ihrem angeblichen Idealismus. Vierteljahrssehr. f. iviss. Philos. 3, S. 467\u2014486. 1879.\n4.\tGrundz\u00fcge der Ethik und Rechtsphilosophie. Breslau 1881.\n5.\tDas metaphysische Motiv und die Geschichte der Philosophie im Umrisse. Breslau 1882.\n6.\tWas sind Ideen? Zeitsehr. f. Philos, u. philos. Kritik 82, S. 1\u201427 u. 161\u2014180. 1883.\n7.\tDie formen des Denkens. Vierteljahrs sehr. f. iviss. Philos. 7, S. 385.\n1883.\n8.\tZum Eud\u00e4monismus. Vierteljahrs sehr. f. iviss. Philos. 8, S. 129\u2014160.\n1884.\n9.\t\u00dcber Wahrnehmung und Empfindung. Zeitschr. f. Philos, u. philos. Kritik 98, S. 1\u201438. 1891.\n10.\tDie Best\u00e4tigung des naiven Realismus. Vierteljahrsschr. f. iviss. Philos. 17, 364-388. 1893.\n11.\tDie nat\u00fcrliche Weltansicht. Philos, Monatshefte 30, 1\u201414. 1894.\n12.\tGrundz\u00fcge der Erkenntnistheorie und Logik. Berlin 1894.\n13.\tRezension von Wundts Erkenntnislehre (2. Aufl.). Gotting. Gel. Anz. S. 178. 1894.\n14.\tBegriff und Grenzen der Psychologie. Zeitschr. f. immanente Philos. 1 (1), S. 37. 1896.\n15.\tDie immanente Philosophie. Zeitschr. f. immanente Philos. 2 (1), S. 1. 1897.\n16.\tDie immanente Philosophie und Wilhelm Wundt. Ibid. S. 51.\n17.\tDas System der Wissenschaften und das des Seienden. Zeitschrift f\u00fcr immanente Philos. 3. 1898.\n18.\tDer Zusammenhang von Leib und Seele. Wiesbaden 1902.\nUnter diesen Schriften 1 gibt die erkenntnistheoretische Logik weitaus die vollst\u00e4ndigste Darstellung der erkenntnistheoretischen Lehren Schuppes. Ich lege sie daher meinen Auseinandersetzungen in erster Linie zu Grunde. Eingeklammerte Seitenzahlen ohne weiteres Zitat beziehen sich stets auf dies Hauptwerk. Die \u00fcbrigen Werke zitiere ich unter abgek\u00fcrztem Titel nach den Ziffern der obigen Liste.\nA. Der erkenntnistheoretische Fundamentaltatbestand.\nSchuppes Erkenntnistheorie hat sich vorzugsweise auf dem Boden der Logik entwickelt, und diese Entstehung aus der Logik hat ihr einen bleibenden Charakter aufgedr\u00fcckt. Erst in sp\u00e4teren,\n] Einige rechtsphilosophische Schriften habe ich nicht auf gef\u00fchrt, weil sie f\u00fcr die Erkenntnistheorie Wichtiges nicht enthalten.","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n93\nk\u00fcrzeren Darstellungen seiner Lehre hat Schuppe seine Anschauungen auch unabh\u00e4ngig von seiner Logik zu entwickeln versucht. Ein Vergleich mit der von mir entwickelten Erkenntnistheorie ist dadurch sehr erschwert. Soviel aber scheint sich mir aus den Schriften Schuppes mit Sicherheit zu ergehen, dafs auch er nur die Empfindungen und Vorstellungen als gegeben ansieht und dafs er, wie Avenarius und ich, die Empfindungen nicht in einem hypothetischen Aufenthaltsort der Seele, z. B. in den Ganglienzellen der Grofshirnrinde lokalisiert (Introjektionstheorie), sondern sie da sein l\u00e4fst, wo sie \u201edraufsen\u201c gegeben sind. Dabei habe ich mir gestattet, die Termini Schuppes gegen die meinigen zu vertauschen. Der Sinn ist derselbe. Was ich Empfindung nenne, bezeichnet Schuppe auch als den \u201eunmittelbaren Empfindungsinhalt\u201c (S. 57).1 Er verlangt, dafs wir das \u201etats\u00e4chlich bewufst Empfundene in aller seiner unmittelbaren und urspr\u00fcnglichen positiven Bestimmtheit ganz als das und ganz so, wie es sich ank\u00fcndigt, gelten lassen\u201c. Mit anderen Worten : unsere Empfindungserlebnisse mit ihren charakteristischen sog. T\u00e4uschungen sind uns im Raume gegeben. Die Projektion der Empfindungen in einen leeren Raum ist eine voreilige Fabel der Naturwissenschaft. Schuppe hat dies bereits im \u201emenschlichen Denken\u201c (S. 34) und seinem Hauptwerk, somit vor Avenaeius in ausgezeichneter Weise auseinandergesetzt (S. 59).2\nDafs alle unsere Vorstellungen sich aus diesen unmittelbaren Empfindungsinhalten, bei welchen an nichts \u201eInneres\u201c oder \u201eSubjektives\u201c gedacht werden darf, entwickeln, nimmt wohl auch Schuppe an, wenngleich nicht selten diese Abh\u00e4ngigkeit des Denkens von den Empfindungen in den Hintergrund tritt. Auch in diesem Punkt weicht sein Ausgangspunkt von dem erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand meiner Darstellung nicht wesentlich ab.\nIndes Schuppe rechnet noch ein weiteres zu dem erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand, \u201edas bewufste Ich\u201c, ja er r\u00e4umt dieser Ich-Tatsache noch die Priorit\u00e4t vor dem Tatbestand\n1\tVgl. auch: \u00dcber Wahrn. u. Empf. Nr. 9, S. 5.\n2\tIm Grundrifs der Erkenntnistheorie und Logik bek\u00e4mpft Schuppe die Intro jektionstheorie auch unter dem Titel der Lehre von der mit r\u00e4umlichen Grenzen sich abschliefsenden Seelensubstanz und von der Subjektivit\u00e4t der Empfindungen (vgl. z. B. S. 30). Nat\u00fcrlich decken sich diese Begriffe nicht vollst\u00e4ndig.","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nTh. Ziehen.\nder Empfindungen ein. Ausdr\u00fccklich heifst es (S. 60): \u201eAbsolut klare unmifsverst\u00e4ndliche unbezweifelbare Tatsache ist nur das Ich, oder was damit gleichbedeutend ist, \u201e\u201edas bewufste Ich\u201c\u201c. Und die Tatsache darf in keinem Falle einfach umgangen werden, dafs dieses bewufste Ich alle jene Data der Sinne zun\u00e4chst als Inhalt seines Bewufstseins vorfindet.\u201c \u201eDas Sein des Subjektes, d. i. das Erkenntnis \u2014\u2022 Ich ist keiner Anzweiflung zug\u00e4nglich.\u201c1 Hier ist die tiefe Kluft zwischen der ScHUPPEschen Lehre und meinen Entwicklungen. Schuppe sucht wohl auch den erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand rein, d. h. befreit von allen eingeschlichenen metaphysischen Hypothesen darzustellen, er verlangt mit Recht, dafs man bei der Analyse desselben von der Substantivform des Objekts oder Dings (Farbe, Ton) und von der Verbalform der T\u00e4tigkeit (H\u00f6ren, Sehen) absieht2, aber vor dem Ich bleibt er stillestehen. Es geh\u00f6rt f\u00fcr ihn ganz mit zum Fundamentalbestand. Ich hingegen rechne das bewufste Ich nicht zu dem erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand, sondern betrachte es als abgeleitet. Trotz der nahezu \u00fcbereinstimmenden erkenntnistheoretischen Auffassung der Empfindungen ergibt sich daher eine zunehmende Divergenz unserer Wege. Welcher Weg ist der richtige?\nSchuppe hat auf eine Begr\u00fcndung seiner Ich-Tatsache verzichtet. Er wiederholt nur immer wieder, dafs die Existenz des bewufsten Ich der einzig m\u00f6gliche Ausgangspunkt ist, dafs es kein leerer Begriff, sondern jedem das Sicherste und Bekannteste von der Welt ist, dafs wir nichts sicherer und genauer wissen, als dafs unser Ich existiert, dafs die Existenz des bewufsten Ich die erste oder prim\u00e4re Existenz ist, dafs sie das Urmafs ist, an welchem aller Begriff von Existieren gemessen wird (S. 63). Ausdr\u00fccklich gibt er dabei zu, dafs eine theoretische Erkenntnis eines angeblichen Wesens dieses bewufsten Ich nicht vorhanden ist. \u201eEs ist das Bekannteste und zugleich das Urgeheimnis des Bewufstseins\u201c (S. 155). Ist dem nun aber wirklich so? Hat wirklich z. B. das Kind im ersten Lebensjahr schon ein bewufstes Ich, d. h. doch eine Empfindung oder Vorstellung von seinem\n1 Zeitsehr. f. Thilos, u. phil. Krit. 82, S. 284. Ideen? Nr. 6, S. 165.\n2 Vgl. auch Nat\u00fcrl. Weltansicht (11), S. 4 ff.\nVgl. auch: Was sind","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n95\nIch?1 2 Man wird mir zugeben, dafs man wenigstens bei der Beantwortung dieser Frage zweifeln kann, und das gen\u00fcgt mir schon : ein Satz, der solche Zweifel gestattet, geh\u00f6rt nicht in den erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand. Man kann positiv verfolgen, wie bei dem Kind aus zahlreichen Empfindungen indirekt die Ich-Vorstellung sich entwickelt, aber nirgends tritt eine direkte Ich - Empfindung auf. Woher sollte also die von Schuppe behauptete \u201emit allem \u00e4ufseren Sein im Bewufstseins-inhalte absolut inkommensurable Natur des bewufsten Ich\u201c (S. 530) kommen? Auf Grund der Genese der Ich-Vorstellung ist meines Erachtens im Gegenteil eine absolute Kommensurabilit\u00e4t anzunehmen.\nSchuppe nimmt nun auch gar nicht an, dafs wir das Ich etwa empfinden, d. h. dafs es als Empfindungsinhalt in unserem Bewufstseinsinhalt vorkomme, sondern nach Schuppe soll sich das Ich im Akt des Selbstbewufstseins sich selbst gegenst\u00e4ndlich machen (S. 526). Und Schuppe gesteht selbst zu: \u201ees ist das Urgeheimnis und R\u00e4tsel des Daseins, wie doch \u00fcberhaupt ein bewufstes Ich m\u00f6glich ist, und was eigentlich im Akte des Be-wufstseins vor sich geht, wie Denken m\u00f6glich ist, und wie das Ich sich selbst gegenst\u00e4ndlich zu machen vermag, was als Ur-mafs und Urtatsache immer vorausgesetzt wird und in keiner erkl\u00e4renden Darstellung zu seinem Rechte kommen kann\u201c (S. 527). Danach sollte man glauben, dafs neben unseren Empfindungen und Vorstellungen noch ein Drittes vorkomme, was weder Empfindung noch Vorstellung ist, n\u00e4mlich ein sog. Selbstbewufst-sein oder, wenn man diese Bezeichnung vorzieht, \u201eein sich selbst sich gegenst\u00e4ndlich Machen des Ichs\u201c. Ich kann mit bestem Willen weder bei mir noch bei anderen dies Dritte entdecken. Sobald ich mein Ich mir gegenst\u00e4ndlich mache, finde ich nichts als zahlreiche V orstellungen, die in letzter Linie alle auf Empfindungen und ihre Gef\u00fchlst\u00f6ne zur\u00fcckgehen.2 Schuppe spricht einmal auch davon, dafs das wollende und f\u00fchlende und denkende Ich in einem Akte h\u00f6herer Reflexion sich selbst vorfinde und zum Gegenstand seines Denkens mache (S. 81). Wenn Schuppe\n1\tMit der anderen Annahme, dafs das Kind ein \u201eunbewufstes Ich\u201c habe, habe ich es hier nicht zn tun ; Schuppe postuliert ausdr\u00fccklich ein \u201ebewufstes Ich\u201c.\n2\tSchuppe selbst gesteht im Grundrifs zu (S. 18): \u201eDas Sich-selbstdenken des leeren Ich ist eine vollendete Undenkbarkeit.\u201c","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nTh. Ziehen.\nmit der h\u00f6heren Reflexion eine abgeleitetere Vorstellungsbildung meint, so ist gegen den Satz nichts einzuwenden. Ich f\u00fcrchte jedoch \u2014 und der Wortlaut schliefst dies nicht aus \u2014, dafs er mit dieser h\u00f6heren Reflexion noch einen ganz besonderen Akt des Sichselbstbewufstwerdens meint. Er erkennt selbst an, dafs das Subjekt v.aT igoxtfv das \u00e4rmste und leerste Ding von der Welt ist, dafs es nur zusammen mit seinem Inhalt existiert, \u201ef\u00fcr sich gedacht aber eine Abstraktion\u201c ist (S. 82). Wenn es abe nur eine Abstraktion ist, so geh\u00f6rt es nicht zum erkenntnistheoretischenFundamentalbestand, so ist es keine Urtatsache und \u201eseine Existenz nicht unbez weif eibar\u201c ; selbst der Begriff einer solchen abstrahierten Existenz bedarf erst noch der kritischen Pr\u00fcfung. Schuppe hat den Dingbegriff und den Ichbegriff mit ungleichem Mafs gemessen, indem er dem letzteren mit unmotivierter Freigebigkeit ohne weiteres die Existenz \u2014 ohne n\u00e4here Begr\u00fcndung und Erkl\u00e4rung \u2014 zugesteht.\nEinen anscheinenden Beweis f\u00fcr die Existenz dieses Ich k\u00f6nnte man vielleicht in der folgenden Argumentation Schuppes erblicken. Er sagt (S. 89) : wenn man den Inbegriff alles Seienden unter den Gattungsbegriff Bewufstseinsinhalt gebracht denke und dabei ganz von der Verschiedenartigkeit und der Bedeutung aller unter diesen Titel gebrachten Dinge abstrahiere und nur dieses Eine im Auge behalte, dafs sie eben Bewufstseinsinhalt sind, so stehe nat\u00fcrlich auch diesem Inhalte immer noch der Begriff des Bewufstseins, dessen Inhalt sie sind, gegen\u00fcber; das nach gedachter Zerlegung auf der einen Seite stehende Moment des blofsen Bewufstseins sei, obgleich undefinierbar, obgleich inhaltslos, doch absolut unentbehrlich, wenn nicht eben das andere Glied, der Bewufstseinsinhalt, den Charakter, in welchem seine Existenz liegt, verlieren soll. Ist dies nicht schliefslich doch eine Petitio principii? Nat\u00fcrlich mufs, wenn ich die Gesamtheit meiner Empfindungs- und Vorstellungserlebnisse, der einzigen urspr\u00fcnglichen Daten, bei ihrer Zusammenfassung als \u201eBewufstseinsinhalt\u201c bezeichne und diese Bezeichnung nicht einfach als Etikette, sondern im Sinne des zusammengesetzten Wortes \u201eBewufstseinsinhalt\u201c nehme, dann dem Inhalt ein Bewufstsein gegen\u00fcberstehen. Wer zwingt mich aber zu dieser Bezeichnung, mit welchem Recht darf Schuppe statt und mit der einfachen Bezeichnung, die nur zusammenfafst und zur Ver-st\u00e4ndigung dient, also nichts hinzuf\u00fcgt, ein offenbar weittragendes,","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n97\nsehr beweisbed\u00fcrftiges Urteil, dafs n\u00e4mlich alle diese Daten Inhalt eines Bewufstseins seien, einschieben? Ich w\u00fcrde z. B. als zusammenfassende Bezeichnung Existierendes oder I x oder 2 y Vorschl\u00e4gen. Wo bleibt dann \u201edas auf der einen Seite stehende Moment\u201c, das Bewufstsein bezw. das Ich? Dieses Ich ist also nicht nur eine Abstraktion und somit keinesfalls ein gegebenes Glied des fundamentalen erkenntnistheoretischen Tatbestandes, sondern noch dazu eine noch sehr der Erkl\u00e4rung-und des Berechtigungsbeweises bed\u00fcrftige Abstraktion. Meines Erachtens verf\u00e4llt Schuppe hier in denselben Fehler wie Berkeley und Avenarius : die Erkenntnistheorie mufs nach meinem Daf\u00fcrhalten, um es kurz auszudr\u00fccken, ich-los beginnen, d. h. von einem ich-losen Fundamentaltatbestand ausgehen.\nNoch eine andere \u201eschlichte Tatsache\u201c f\u00fchrt Schuppe zu Gunsten seines Ich gelegentlich an: er sagt, \u201ees gehe kein Wissen von etwas, das nicht als das Wissen eines Ich auf tr\u00e4te, welches eben dies oder jenes als s e in e n Bewufstseinsinhalt vorf\u00e4nde\u201c (S. 94). Wenn Schuppe damit meint, dafs tats\u00e4chlich die Ich-Vorstellung alle Empfindungs- und Vorstellungserlebnisse begleite, so ist der Satz nicht einmal f\u00fcr den Erwachsenen, geschweige denn f\u00fcr das Kind (z. B. in seinen ersten Lebensmonaten) richtig. Meint er aber, dafs die Ich-Vorstellung jederzeit hinzugedacht werden k\u00f6nne oder m\u00fcsse, so handelt es sich offenbar nicht um eine schlichte Tatsache, nicht um ein gegebenes Glied des erkenntnistheoretischen Fundamentalbestandes, sondern wiederum um einen sehr erkl\u00e4rungs- und beweis-bed\u00fcrftigen Satz. Ich erinnere an meine Besprechung der analogen Behauptungen von Avenarius in meinem ersten Aufsatz (diese Zeitschr. 27, S. 330 ff.). Die \u201evolle Erfahrung\u201c von Avenarius manipuliert auch mit einem solchen Ich, das hinzugedacht werden mufs oder von dem nicht abstrahiert werden darf.\nAusdr\u00fccklich mufs hervorgehoben werden, dafs Schuppe seihst sich vor die Frage gestellt sieht (S. 154 ff.), ob sein Ich nicht einfach identisch ist mit der Gesamtheit seiner Bewufst-seinsinhalte, jedoch er erkl\u00e4rt: das behaupte er nicht, aber wodurch das Ich sich als Ich noch von der Gesamtheit seiner Bewufstseinsinhalte unterscheide, k\u00f6nne doch wohl niemand sagen.1 Ich glaube und hoffe im folgenden zu zeigen, dafs\n1 Ich verweise bez\u00fcglich dieses Punktes namentlich auch auf die Aus-Zeitschrift f\u00fcr Psychologie 33.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nTh. Ziehen.\nSchuppe damit zu fr\u00fch resigniert hat; die Ich-Vorstellung ist keine Urtatsache, sondern hat sich sekund\u00e4r entwickelt (gewisser-mafsen als ein nachtr\u00e4glich ausgeschiedenes Schneckenhaus, das wir nun \u00fcberall mit uns herumtragen), aber in wohl nachweisbarer Weise, auf Grund ganz bestimmter und charakteristischer Unterschiede innerhalb des Bewufstseinsinhaltes. Man darf nur nicht in das Ich erst Geheimnisse hineindenken, wie dies bei der Auffassung des Ich als Urtatsache unvermeidlich ist, Geheimnisse, die sich dann freilich sp\u00e4ter jeder Aufdeckung entziehen. Schuppe wundert sich dar\u00fcber (S. 251), \u201ewie das Ich es machen mag, in allen seinen der Zeit und dem Inhalt nach grundverschiedenen Vorstellungen sich eben als absolut dasselbe Ich und doch in anderen Zust\u00e4nden zu finden\u201c. Demgegen\u00fcber mufs ich wiederum bezweifeln, ob ein solches sich absolut gleichbleibendes Ich wirklich durch alle Bewufstseinszust\u00e4nde hindurch nachweisbar ist. Wenn wir einen Baum Jahr f\u00fcr Jahr verfolgen, knospend, allm\u00e4hlich gr\u00fcnend, allm\u00e4hlich die Bl\u00e4tter verlierend, entlaubt und wieder knospend, so sind wir bekanntlich geneigt wegen der Stetigkeit der Ver\u00e4nderung ein Subjekt der Ver\u00e4nderungen, einen Tr\u00e4ger der sich ver\u00e4ndernden Eigenschaften, eine Substanz anzunehmen und diese Substanz, dies Baum-Ich gegen\u00fcber den sich ver\u00e4ndernden Eigenschaften gerade durch eine hypothetische Unver\u00e4nderlichkeit zu charakterisieren. Wir \u00fcbertragen die zusammenfassende, unifizierende, von den Ver\u00e4nderungen abstrahierende Vorstellungsbildung f\u00e4lschlich auf die Empfindungen, die sogenannten Objekte, und machen aus der Individualvorstellung Baum die Substanz Baum. So oft auch die Unzul\u00e4ssigkeit dieser Bildung von Substanz begriffen nachgewiesen worden ist, immer taucht sie wieder auf und am hartn\u00e4ckigsten bei unserem eigenen Ich. Ein gleichbleibendes Ich ist uns ebensowenig gegeben als eine gleichbleibende Substanz dieses oder jenes Baumes.\nSchuppe gibt \u00fcbrigens schliefslich auch selbst zu, dafs er mit seinem Ich einen Transcensus vollzieht, und meint, dieser Transcensus sei \u201enat\u00fcrlich \u00fcberhaupt unvermeidlich\u201c (S. 699). Er sagt ausdr\u00fccklich: \u201eIn der Reflexion finden wir uns als Objekt, aber diesem Objekt steht immer das Ich als Subjekt\nf\u00fchrungen Schuppes in : Die Best\u00e4t. d. naiv. Real. Nr. 10, S. 372 und Zum Eud\u00e4monismus Nr. 8, S. 152 ff.","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n99\ngegen\u00fcber, und dieses Subjekt geh\u00f6rt nicht dem Gegebenen an, da es ja im Gegens\u00e4tze zum Objekt steht und \u2014 auch wenn wir es zum Gegenstand der Beachtung und Betrachtung machen \u2014 doch sofort als das beachtende und betrachtende Subjekt wieder dem Objekt gegen\u00fcber steht\u201c (S. 699; vgl. auch S. 146). Hierin scheint mir das Zugest\u00e4ndnis bedeutungsvoll, dafs das Ich nicht dem Gegebenen angeh\u00f6rt. Es ist, wie oben bereits ausgef\u00fchrt, Produkt einer Abstraktion, keine Urtatsache, und Schuppe bleibt uns den Beweis, dafs diese seine Ich - Abstraktion richtig ist, schuldig. Selbstverst\u00e4ndlich ist mit dem ScHUPPEschen Ich nunmehr auch alles das nach meiner Auffassung zu verwerfen, was Schuppe als \u201eAufnehmen des Eindrucks in seiner positiven Bestimmtheit\u201c, als \u201eWirken des Identit\u00e4tsprinzips\u201c und als \u201eurspr\u00fcngliches Objektverh\u00e4ltnis\u201c 1 bezeichnet.\nB. Die logische Methode Schuppes. Allgemeinbegriff e.\nDingbegriff e.\nCharakteristisch f\u00fcr Schuppes Verarbeitung des erkenntnistheoretischen Fundamentalbestandes ist die Anlehnung an die Logik. Allenthalben ist Schuppe geneigt, das Denken im allgemeinen als Bewufstsein zu fassen (S. 94). Der Logik wird daher eine viel weitere Aufgabe zugeschrieben: sie hellt nicht nur die obersten Gattungen des Denkbaren und im Denken Verwendbaren, sondern auch die obersten Gattungen des Seienden in ihrer begrifflichen Wesenheit auf (S. 107 und 112).2 Sie ist also wesentlich materialer Natur. Damit h\u00e4ngt nun auch ein Hauptlehrsatz Schuppes zusammen: Denknotwendigkeit ist mit Wirklichkeit identisch (S. 175, 177). Hieran kn\u00fcpft sich der weitere Satz, dafs der Gedanke sich als solcher in den gedachten Dingen findet und in gewissem Sinne mit ihnen identisch ist (S. 106), und schliefslich ergibt sich der merkw\u00fcrdige Schlufs, dafs das Spezifische als die Verwirklichung des Generischen und letzteres als der tragende Grund und die innere M\u00f6glichkeit alles Spezifischen erscheint (S. 182); das Spezifische soll ohne das Generelle undenkbar sein (S. 181, 390, 392, 394, 396, 401, 574, 603).\n1\tSchuppe selbst bezeichnet es als uncharakterisierbar (S. 150).\n2\tVgl. z. B. auch Normen des Denkens N. 7, S. 403.\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nTh. Ziehen.\nHiermit wagt sich Schuppe \u00fcber die Grenzen der Erkenntnistheorie in das metaphysische Gebiet hinein. Wie die meisten Abschwankungen zur Metaphysik ist auch diese nur m\u00f6glich geworden durch eine unzureichende Analyse des psychologischen und psychophysiologischen Tatbestandes. Schuppe \u00fcbersieht oder scheint wenigstens zu \u00fcbersehen, dafs unsere Allgemein-vorstellungen lediglich aus den speziellen Vorstellungen entstammen, welche ihrerseits nur Erinnerungsbilder der Empfindungen sind, und dafs die Entwicklung der Allgemeinvorstellungen eng an unsere Gehirnt\u00e4tigkeit gebunden ist. Es w\u00e4re ja in der Tat \u00e0[\u00c27]%avov ev\u00e8at^iovia^ wenn die Skala der wirklichen Prozesse sich in dieser an Plato anklingenden1 Weise zu einer Kette schl\u00f6sse, indem die letzten Ergebnisse der Empfindungen, die Allgemeinvorstellungen, sich wieder als das innerste Wesen, der tragende Grund der (stets speziellen) Empfindungen entpuppten; aber die psychologischen und psychophysiologischen Tatsachen zerst\u00f6ren diese metaphysische Hoffnung vollkommen. Insofern ist meine Erkenntnistheorie viel skeptischer als diejenige Schuppes. Nach meiner Auffassung haben die Allgemeinvorstellungen nur die Aufgabe und F\u00e4higkeit, das Gemeinsame der Empfindungen zusammenzufassen. Sie arbeiten die Empfindungen um, ohne an ihrer \u201eVerwirklichung\u201c oder Wirklichkeit irgend welchen Anteil zu haben.\nVielleicht ist es zweckm\u00e4fsig hier noch besonders hervorzuheben, dafs zwei Ansichten vollst\u00e4ndig getrennt werden m\u00fcssen, n\u00e4mlich die Ansicht, dafs das Wesentliche der Empfindungen in dem ihnen Gemeinsamen (d. h. in den ihnen gemeinsamen Bestandteilen) und insofern im allgemeinen zu suchen sei, und die Ansicht, dafs in den Allgemein Vorstellungen das W esent-liche der Empfindungen gelegen sei. Die erste Ansicht wird sp\u00e4ter zu pr\u00fcfen sein, und es wird sich ergeben, dafs f\u00fcr unsere Hirnorganisation in der Tat das Allgemeine der Empfindungen in bestimmtem Sinne das Wesentliche der Empfindungen ist. Die zweite Ansicht ist die ScHUPPEsche ; ich kann kein Argument zu ihren Gunsten bei Schuppe finden und sehe ein entscheidendes Argument zu ihrer Widerlegung in dem Faktum, dafs die\n1 Auch Wundt hat auf solche Ankl\u00e4nge an Plato bei Schuppe aufmerksam gemacht. Manche Ausf\u00fchrungen Schuppes erinnern auch stark an die Lehren Eriugenas.","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\nAllgemeinvorstellungen erst Produkte sekund\u00e4rer psychologischer Umwandlungen sind.\nNoch in einer anderen Richtung bekommen die Allgemeinvorstellungen bei Schuppe eine transzendente Bedeutung, welche ihnen nach meinem Daf\u00fcrhalten nicht zukommt. Schuppe streift ihnen nicht nur die Entstehung aus speziellen Empfindungen individueller Objekte ab, sondern ist auch geneigt \u2014 entsprechend der bereits hervorgehobenen Ignorierung der psychophysiologischen Bedingtheit der Allgemeinvorstellungen \u2014 die individuelle, d. h. an das individuelle Gehirn gebundene Natur der Allgemeinvorstellungen zu \u00fcbersehen. Die Allgemeinvorstellungen sind bei Schuppe nicht nur Vorstellungen des Allgemeinen, wie sie sich bei diesem und jenem Individuum finden, sondern unindividuelle, von dem Individuum losgel\u00f6ste Allgemeinvorstellungsgebilde.1\nSchliefslich kann ich es mir nicht versagen, die ScHUPPEsche Darstellung der Allgemeinbegriffe, obwohl ich die erkenntnistheoretische Bedeutung der letzteren nicht anerkennen kann, wTegen ihres psychologischen Interesses noch etwas eingehender zu verfolgen. Nach Schuppe (vgl. z. B. S. 388) gewinnen wir aus dem einfachsten wirklichen Eindruck durch Unterscheidung drei Elemente : eine spezifische Sinnesqualit\u00e4t, eine r\u00e4umliche Bestimmtheit (Wo, Ausdehnung und Gestalt) und eine zeitliche Bestimmtheit (Wann und eine bestimmte Dauer). Vgl. auch S. 165/166. Unmittelbar aus dem so ausgesonderten Element, das sich sofort als Allgemeinbegriff, als Spezies darbietet, soll sich in der Spezies nach Schuppe die eigentliche Gattung aussondern. \u201eIndividuum ist also nur das Zusammen von Elementarspezies, jedes Element f\u00fcr sich ist Spezies, und in ihm sitzt unmittelbar die eigentliche Gattung, durch welche ich oben die Elementarspezies bestimmte\u201c (S. 389). Die Elemente haben den Charakter des Allgemeinen. Nur das Zusammen der Elemente in der wirklichen Erscheinung ist ein Individuelles. Jedes derselben f\u00fcr sich gedacht, und zwar ganz ohne Ver\u00e4nderung, so* wie es in der Wirklichkeit erschien, ist Spezies oder Artbegriff. Wir nennen es Elementarspezies\u201c (S. 169). Das Verh\u00e4ltnis der einzelnen Elementarspezies, welche in einem Eindruck verbunden\n1 So wird auch die W\u00fcNDTsche Behauptung einigerma\u00dfen verst\u00e4ndlich, dafs Schuppe \u201elogische Abstraktionen in reale Wesen verwandle\u201c.","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nTh. Ziehen.\nsind, zueinander betrachtet Schuppe als das eines kausalen Be-dingens1 (\u00e4hnlich wie das Verh\u00e4ltnis der Gattung zur Spezies); vgl. z. B. S. 167.\nZun\u00e4chst ist die letztere Auffassung berechtigten Zweifeln ausgesetzt. Es ist richtig, dafs Qualit\u00e4t, r\u00e4umliche und zeitliche Bestimmtheit stets zusammen Vorkommen ; folgt aber daraus, dafs diese Elemente \u201esich gegenseitig fordern als Bedingungen ihrer Existenz\u201c? Zum mindesten ist dieser Ausdruck sehr rnifs-verst\u00e4ndlich. Man wird verleitet irgendwelche kausale oder logische Beziehungen anzunehmen, eine Annahme, welche sich auf keinerlei Argumente st\u00fctzen kann.\nNoch viel bedenklicher scheint mir die Annahme Schuppes, dafs die Elemente unmittelbar den Charakter des Allgemeinen haben. Sein wesentliches Argument findet sich S. 171 : \u201eDenken wir zun\u00e4chst diese Abstraktionen (n\u00e4mlich von den r\u00e4umlichen Eigenschaften) auch nur an einer einzigen Erscheinung vollzogen , so haben die ausgesonderten Elemente die Natur des Allgemeinen, und wenn wir jedes von ihnen von den anderen losgel\u00f6st uns vorzustellen versuchen und dabei inne werden, dafs uns dies unm\u00f6glich ist, so ist das ein Experiment von demselben Wert und derselben Beweiskraft, wie jedes Experiment. Es beweist, dafs diese Qualit\u00e4t, d. h. nicht der individuelle eben erfahrene Eindruck, sondern diese Qualit\u00e4t als Allgemeinbegriff ohne Wo und Wann nicht vorstellbar ist. Dafs diese Elemente sich gegenseitig bedingen, ist also keine individuelle Erfahrung, sondern der Kausalzusammenhang haftet an dem Allgemeinen, und es bedarf zu seiner G\u00fcltigkeit keiner weiteren Erfahrung mehr.\u201c Die Korrektheit des angef\u00fchrten Experiments und die Berechtigung, aus diesem Experiment wie aus jedem anderen Schl\u00fcsse zu ziehen, ist ohne weiteres zuzugeben. Aber die Richtigkeit der von Schuppe gezogenen Schl\u00fcsse ist zweifelhaft. Die r\u00e4umlichen Eigenschaften der Empfindung zerfallen f\u00fcr die erste Analyse in Form (auch Gestalt genannt), Ausdehnung (auch Gr\u00f6fse genannt), Anordnung und Lage (auch Lokalisation genannt, auch oft als das Wo der Empfindung bezeichnet). Bei homogenen Empfindungen f\u00e4llt die Anordnung 2 weg. Bei nicht homogen zusammengesetzten Empfin-\n1\tInteressant ist, wie auch bei Avenakius der Begriff der Bedingung und des Bedingten ontologisch verwertet wird.\n2\tDafs sie nicht \u00fcberhaupt ohne weiteres mit der Form zusammen-","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n103\nd\u00fcngen darf sie als die spezielle Beziehung zwischen Qualit\u00e4t und r\u00e4umlichen Faktoren nicht vernachl\u00e4ssigt werden. Da Schuppe nur von homogenen Empfindungen spricht, w7erde sie hier unber\u00fccksichtigt gelassen. Es bleiben also Form, Ausdehnung und Lage. Dazu kommen als zeitliche Eigenschaften Zeitpunkt (zeitliche Lage, das Wann der Empfindung) und Dauer, wobei ich wieder von der Anordnung (Reihenfolge), weil sie nur bei nicht homogen zusammengesetzten Empfindungen in Betracht kommt, absehe. Von sonstigen Eigenschaften der Empfindung w\u00e4ren aufser der Qualit\u00e4t noch Intensit\u00e4t und Gef\u00fchlston zu ber\u00fccksichtigen. Da die Hineinziehung der beiden letzteren die prinzipielle Analyse nur komplizieren, aber nicht wesentlich ver\u00e4ndern w\u00fcrde, will ich dieselben mit Schuppe im allgemeinen unbeachtet lassen. Es kann also z. B. die optische Empfindung eines roten W\u00fcrfels, gekennzeichnet durch eine bestimmte Rotn\u00fcance, die W\u00fcrfelform, eine bestimmte Gr\u00f6fse, eine bestimmte r\u00e4umliche Lage, einen bestimmten Zeitpunkt (zeitliche Lage) und eine bestimmte Dauer als Beispiel gelten. Ich glaube nun, dafs man die einzelnen Abstraktionen (im weitesten Sinne), welche wir mit einer solchen Empfindung vornehmen, noch viel spezieller unterscheiden mufs, als Schuppe dies getan hat. Auch darf bei diesen Unterscheidungen nur der psychologische Standpunkt mafsgebend sein, nicht der logische; denn erst durch psychologische T\u00e4tigkeit kommen ja die bez. Abstraktionen zu st\u00e4nde. Im allgemeinen tut man gut, von vorn herein zwei Hauptformen der Abstraktion von diesem Gesichtspunkt aus zu unterscheiden, je nachdem ein Merkmal der Empfindung ganz weggelassen wird oder nur die Bestimmtheit eines Merkmals aufgegeben und dies Merkmal in engerem oder weiterem Umfang unbestimmt gelassen wird. Man kann die erste Abstraktion auch als die isolierende oder auch als die zerlegende, die zweite als die zusammenfassende oder auch als die variier ende bezeichnen. Die isolierende Abstraktion f\u00fchrt nicht zu Allgemeinbegriffen, sondern zu Partialbegriffen ; nur die zusammenfassende Abstraktion f\u00fchrt zu wirklichen Allgemein begriffen, welche sich\nf\u00e4llt, bedarf keiner weiteren Er\u00f6rterung; man denke nur an eine Fahne, deren Farben bald in dieser bald in jener Keihenfolge aufeinander folgen.","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nTh. Ziehen.\nam zutreffendsten mit Integralen vergleichen lassen.1 Die Partialbegriffe der isolierenden Abstraktion sind allgemeiner Anwendung f\u00e4hig, aber nicht allgemeinen Inhalts.\nIm speziellen beginnen unsere Abstraktionen nun damit, dafs wir den r\u00e4umlich - zeitlichen Individualkoeffizienten, wie ich die r\u00e4umlich-zeitliche Lage, das Wo und Wann zu bezeichnen vorgeschlagen habe, entweder ganz weglassen (im Sinne der isolierenden Abstraktion) oder unbestimmt lassen (im Sinne der zusammenfassenden Abstraktion). Die beiden so entstandenen Begriffe, die \u201eraum- und zeitlose Individualvorstellung\u201c und die \u201er\u00e4umlich-zeitlich unbestimmte Individualvorstellung\u201c2 sind im allgemeinen nur als Durchgangsstufen bedeutsam.3 Sie kennzeichnen jedoch bereits scharf die beiden Wege, welche unsere Begriffsbildung nun weiter einschl\u00e4gt. An der raum- und zeitlosen Individualvorstellung arbeitet die Abstraktion in der Richtung weiter, dafs sie nunmehr auch die anderen r\u00e4umlichen Merkmale, Form und Ausdehnung wegl\u00e4fst (im Sinne der isolierenden Abstraktion) oder unbestimmt l\u00e4fst (im Sinne der zusammenfassenden Abstraktion).4 So entsteht einerseits die Vorstellung \u201eRot\u201c und andererseits die Vorstellung \u201eRotes\u201c, indem wir im ersten Fall Form und Ausdehnung (W\u00fcrfelform und W\u00fcrfelgr\u00f6fse) ganz wegdenken, also die Qualit\u00e4t isolieren und im zweiten Fall Form und Ausdehnung nur unbestimmt lassen, also viele rote Formen und Ausdehnungen zusammenfassen.5 \u201eRot\u201c ist kein A 11g em ein begriff, wenigstens nicht in demselben Sinn wie \u201eRotes\u201c. Der Begriff \u201eRot\u201c ist allgemeiner Anwendung f\u00e4hig, aber involviert noch keine Allgemeinheit. Erst aus der Erfahrung anderer roter K\u00f6rper ergibt sich diese allgemeine Anwendbarkeit. Die Allgemeinheit der \u201eElementarspezies\u201c (um Schuppes Ausdruck zu gebrauchen) ist also\n1\tHingegen wenig zutreffend mit Summen, als welche vielmehr mit den Kollektivbegriffen zu vergleichen sind.\n2\tKoch pr\u00e4ziser w\u00e4ren die Bezeichnungen \u201eohne Raum- und Zeit l\u00e4ge\u201c statt \u201eraum-und zeitlos\u201c und \u201enach Raum-und Zeit l\u00e4ge unbestimmt\u201c statt \u201er\u00e4umlich - zeitlich unbestimmt \u201c.\n3\tDaher auch das Fehlen von Wortbezeichnungen f\u00fcr diese Stufen.\n4\tSelbstverst\u00e4ndlich l\u00e4fst sie in einem zweiten Verfahren in analoger Weise, um zu Raumvorstellungen zu gelangen, auch die Qualit\u00e4tsmerkmale (z. B. rot) weg bezw. l\u00e4fst sie diese Qualit\u00e4tsmerkmale unbestimmt.\n5\tDie Qualit\u00e4t soll dabei noch unver\u00e4ndert festgehalten werden, es handelt sich also noch immer um eine einzelne ganz bestimmte Rotn\u00fcance.","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n105\nnicht unmittelbar gegeben, eine Induktion nicht \u00fcberfl\u00fcssig, sondern unerl\u00e4fslich. Die Allgemeinbegriffe, mit anderen Worten, sind nicht, wie Schuppe allenthalben vorauszusetzen scheint, unabh\u00e4ngig von der Induktion schon in der einzelnen Sinneserfahrung gegeben, sondern erst das Ergebnis vieler Sinneserfahrungen. Man kann Schuppe eventuell zugeben, dafs f\u00fcr die Abstraktion \u201eRot\u201c ein einmaliges Sehen eines roten W\u00fcrfels gen\u00fcgt, aber diese Abstraktion \u201eRot\u201c entbehrt, solange das Sehen nur einmal stattgefunden bat, der Allgemeinheit. Erst mit dem \u00d6fteren Sehen roter Objekte ergibt sich, dafs meine Abstraktion \u201eRot\u201c' einer allgemeinen Anwendung f\u00e4hig ist. An dieser Tatsache \u00e4ndert auch der Umstand nichts, dafs ich sp\u00e4ter aus Analogiegr\u00fcnden diesen durch isolierende Abstraktion entstandenen Begriffen eine allgemeine Anwendbarkeit auch ohne mehrfache Einzelerfahrungen zuschreibe. Prinzipiell ist nur wesentlich, dafs an sich mit diesen isolierenden Abstraktionen wie Rot eine Allgemeinheit nicht verbunden ist. Anders der durch zusammenfassende Abstraktion entstandene Begriff \u201eRotes\u201c. Dieser entsteht \u2014 wenn ich wiederum von sp\u00e4teren Analogiebildungen absehe \u2014 \u00fcberhaupt nur und erst auf Grund mehrfacher \u00e4hnlicher Sinnesempfindungen und ist dank dieser Entstehung unmittelbar ein Allgemeinbegriff. \u2014 Das Verhalten der Sprache ist auch hier interessant. Sprachliche Bezeichnungen sind auf dieser Stufe der Begriffsbildung im allgemeinen nur f\u00fcr die isolierenden Abstraktionen wie Rot zu finden. F\u00fcr die zusammenfassenden Abstraktionen wie Rotes fehlen sie, weil die alsbald zu besprechenden Dingbegriffe im allgemeinen einen ausreichenden Ersatz liefern.\nWenn Schuppe sagt: \u201eDasjenige, was eine spezielle Farbe, z. B. Rot, zu dem Speziellen macht, was sie ist, kann ich absolut nicht denken, ohne das Generische, was die Farbe als Gattung ausweise, mitzudenken\u201c (S. 181), so l\u00e4fst dieser Satz mehrfache Deutungen zu. Keinesfalls ist er in dem Sinn richtig, dafs ich bei dem Begriff \u201erot\u201c den Begriff Farbe mitdenken mufs oder faktisch stets mitdenke. Der Begriff \u201eFarbe\u201c entsteht nicht aus dem Begriff \u201eRot\u201c allein, sondern aus den Begriffen \u201eRot\u201c, \u201eGr\u00fcn\u201c u. s. f. durch Anwendung der zusammenfassenden oder variierenden Abstraktion. Erst nachtr\u00e4glich also stelle ich Rot als ein Glied (eine Variante) dieser Abstraktionsreihe vor und","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nTh. Ziehen.\ndenke also erst nachtr\u00e4glich das Generische, d. h. eben die ganze Reihe hinzu.1 Der Vollst\u00e4ndigkeit wegen bemerke ich noch, dafs streng genommen zwischen die oben besprochene Vorstellung Rot im Sinne einer bestimmten Rotn\u00fcance und die Allgemeinvorstellung Farbe sich noch die Allgemeinvorstellung niederen Grads eines Rots, welche viele bezw. alle Rotn\u00fcancen umfafst, dazwischenschiebt, und dafs streng genommen die sprachliche Bezeichnung \u201eRot\u201c von Anfang an, d. h. schon bei dem Sprechenlernen des Kindes alsbald auf diese niedergradige Allgemeinvorstellung ausgedehnt wird.\nDie Dingbegriffe haben mit dieser letztbesprochenen Entwicklung prinzipiell nichts zu tun. Sie kn\u00fcpfen vielmehr an das zuerst besprochene Stadium der r\u00e4umlich und zeitlich unbestimmten Individualvorstellungen an. Wir beobachten n\u00e4mlich h\u00e4ufig, dafs eine r\u00e4umlich zusammenh\u00e4ngende Empfindung oder ein r\u00e4umlich zusammenh\u00e4ngender Empfindungskomplex mit der Zeit (also in successiven zeitlichen Lagen) seine sonstigen Eigenschaften s\u00e4mtlich oder einzeln, z. B. Form oder Farbe 2, stetig ver\u00e4ndert. Fasse ich nun alle diese stetigen successiven Variationen im Sinn der zusammenfassenden Abstraktion zusammen, so gelange ich zu der Vorstellung des individuellen Dings. Bei dieser werden also erstens die zeitlichen Lagen, r\u00e4umlichen Lagen, Formen und Qualit\u00e4ten innerhalb mehr oder weniger bestimmter Grenzen3 unbestimmt gelassen, zweitens aber wird aufser einer stetigen r\u00e4umlichen Ausdehnung eine stetige Ver\u00e4nderung der einzelnen oder aller Eigenschaften mit der Zeit verlangt. Diese letztere Stetigkeit nehmen wir in tausend und aber tausend F\u00e4llen wahr, in vielen anderen nehmen wir sie hypothetisch an. Nach Analogie setzen wir sie schliefslich beinahe bei jedem Empfindungskomplex, den wir erleben, voraus, und nehmen an, dafs es sich um ein Ding handle, welches sich stetig ver\u00e4ndert hat\n1\tIch erinnere nochmals daran, dafs diese Auseinandersetzung zun\u00e4chst nur f\u00fcr homogene Empfindungen gilt. Ihre Ausdehnung auf zusammengesetzte Empfindungen bleibt einer anderen Stelle Vorbehalten.\n2\tVon Gr\u00f6fse und Anordnung will ich der K\u00fcrze wegen wieder ab-sehen.\n3\tDiese Grenzen sind, nebenbei gesagt, f\u00fcr einen exakten Dingbegriff ebenso notwendig, wie f\u00fcr ein bestimmtes Integral; bei extremen Form-und Qualit\u00e4tsver\u00e4nderungen h\u00f6ren wir auf, von \u201edemselben\u201c Ding zu sprechen.","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnis theoretische Auseinanderse tzungen.\n107\nund stetig ver\u00e4ndern wird. Fast alles wird zum Ding. Im popul\u00e4ren Dingbegriff ist schlechterdings nicht mehr enthalten.1 Alle Gegen\u00fcberstellungen des Dings gegen unsere Empfindungen, unser Ich u. s. f. sind sekund\u00e4re Variationen des nat\u00fcrlichen Dingbegriffs. Wir meinen urspr\u00fcnglich und meinen, sofern nicht durch sekund\u00e4re \u00dcberlegungen (Introjektion etc.) unsere Vorstellungen modifiziert worden sind, auch sp\u00e4ter nur unsere Empfindungskomplexe und zwar diese im Hinblick auf die oben genannten Bedingungen.\nVergleiche ich Schuppes Ansichten \u00fcber die Entwicklung der Dingbegriffe mit dieser meiner Auffassung, so ist vorauszuschicken, dafs Schuppe seine Auffassung im Lauf der Jahre etwas modifiziert hat. Im \u201eMenschlichen Denken\u201c glaubte Schuppe noch, dafs das individuelle Ding als solches erst erkennbar sei, wenn die Begriffe von Arten und Gattungen entstanden sind. In der erkenntnistheoretischen Logik (S. 452 ff.) wird eine solche Abh\u00e4ngigkeit der Dingbegriffe von Allgemeinbegriffen nur in eingeschr\u00e4nktem Umfang noch behauptet (S. 457) Schuppe legt bei seiner neueren Darstellung gr\u00f6fseres Gewicht auf die Gemeinschaft in Buhe und Bewegung. Es liegt in der Tat auf der Hand, dafs bei der Abgrenzung der Individuen von einem Hintergrund dieser Faktor, den ich noch lieber als Kontrast gegen den Hintergrund charakterisieren m\u00f6chte, oft eine erhebliche Rolle spielt. Andererseits kann er doch f\u00fcr den Dingbegriff nicht mafsgebend sein, insofern in zahllosen F\u00e4llen, z. B. bei Formver\u00e4nderungen, die einzelnen Teile eines Dings sich in Bezug auf Ruhe sehr ungleichm\u00e4fsig verhalten, ohne dafs wir den Dingbegriff aufgeben. Schuppe h\u00e4lt auch die Vorstellung von Raumindividuen f\u00fcr eine notwendige \u201eVoraussetzung des Dingindividuums\u201c. Meines Erachtens gen\u00fcgt die oben angef\u00fchrte stetige r\u00e4umliche Ausdehnung. Endlich legt Schuppe das Gewicht mehr auf die Gesetzm\u00e4fsigkeit der Ver-\u00e4nderungen, w\u00e4hrend ich die Stetigkeit der Ver\u00e4nderungen f\u00fcr wesentlich halte. Ich berufe mich dabei auf die Tatsache, dafs das Kind und oft genug auch der Erwachsene von sich ver\u00e4ndernden Dingen spricht und Dingbegriffe bildet, ohne die\n1 Eine in einigen Punkten verwandte Auffassung hat bekanntlich John Stuaet Mill vertreten. Der Widerlegungsversuch St\u00f6beings (Diss. Halle 1889) ist nicht gegl\u00fcckt.","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nTh. Ziehen.\nGesetzm\u00e4fsigkeit der Ver\u00e4nderungen irgendwie festgestellt zu haben oder auch nur an die Gesetzm\u00e4fsigkeit der Ver\u00e4nderungen zu denken, w\u00e4hrend die Erwartung das Ding stetig seine Form, seine Lage etc. ver\u00e4ndern zu sehen allerdings unsere Dingvorstellung von Anfang an begleitet.\nMit der Feststellung der psychologischen Entwicklung des Dingbegriffs ist die Frage nach der Bedeutung der dem Ding zugeschriebenen Einheit bezw. der Beharrlichkeit einer ihm etwa zu Grunde liegenden \u201eSubstanz\u201c noch nicht erledigt. Auf die modernen L\u00f6sungsversuche dieses HuMEschen Problems werde ich demn\u00e4chst bei einer Besprechung der Erkenntnistheorie von v. Schubert - Soldern zur\u00fcckkommen. Die Er\u00f6rterungen Schuppes \u00fcber diese Frage stehen zu den Haupts\u00e4tzen seiner Erkenntnistheorie in keiner n\u00e4heren Beziehung.\nC. Die Bedeutung der Sinnesorgane und zerebralen Sinnesleitungen und -Zentren f\u00fcr die Empfindungen. ^-Empfindungen.\nEine wesentliche weitere Differenz zwischen der Schuppe-schen Erkenntnistheorie und der meinigen besteht in der erkenntnistheoretischen Auffassung der Bedeutung der sinnesphysiologischen Prozesse. Im allgemeinen ber\u00fccksichtigt Schuppe die f\u00fcr die Erkenntnistheorie entscheidende Fundamentaltatsache der Sinnesphysiologie zu wenig. Diese Fundamentaltatsache l\u00e4fst sich kurz folgendermafsen angeben : Die Beschaffenheit1, r\u00e4umliche und zeitliche Lage einer Empfindung ist in mannigfacher Weise vom Zustand der Sinnesorgane, Sinnesbahnen und Sinneszentren abh\u00e4ngig. Erkenntnistheoretisch exakter ist folgende Formulierung: Wenn die Empfindungen unserer Sinnesorgane, Sinnesbahnen und Sinneszentren2 \u2014 die v- Empfindungen \u2014\nsich \u00e4ndern, so \u00e4ndern sich auch die Objektempfindungen. \u2022 \u2022\nDiese \u00c4nderungen habe ich als \u201eR\u00fcckwirkungen\u201c bezeichnet Wenn ich beispielsweise f\u00fchle oder im Spiegel sehe, dafs ein Freund meinen rechten Augapfel nach links verschiebt, so \u00e4ndern sich meine Objektempfindungen insofern, als z. B. eine vor mir stehende Stange doppelt gesehen wird. Ebenso bedingt jede\n1\tUnter Beschaffenheit will ich hier Qualit\u00e4t, r\u00e4umliche und zeitliche Anordnung, Form und Ausdehnung kurz zusammenfassen.\n2\tGenitivus objeetivus !","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n109\nVer\u00e4nderung der Einwirkung der Objekte auf meine Sinnesorgane1, z. B. das Vorhalten eines gr\u00fcnen Glases vor mein Auge, eine Ver\u00e4nderung vieler Empfindungen. Die \u00e4lteren Erkenntnistheorien kannten in dieser Beziehung keine Schwierigkeiten. Beherrscht von der Introjektion nahmen sie fast ausnahmslos an, dafs die vom Objekt, dem Beiz, verursachten Erregungen, in das Gehirn gelangt, in diesem oder auch noch jenseits desselben die Empfindungen ausl\u00f6sten; damit wird es nat\u00fcrlich \u00fcberfl\u00fcssig von R\u00fcckwirkungen zu sprechen. Avenabius und Schuppe haben nachgewiesen, dafs die Introjektionslehre unzul\u00e4ssig ist. Unabh\u00e4ngig von beiden bin ich zu demselben Ergebnis gekommen. Sowohl Avenaeius wie- auch Schuppe haben jedoch vers\u00e4umt, der oben erw\u00e4hnten sinnesphysiologischen Tatsache, deren Bedeutung nunmehr gerade durch die Verwerfung der Introjektion r\u00e4tselhaft scheint und f\u00fcr die Er-Kenntnistheorie entscheidend ist, gen\u00fcgend R\u00fccksicht zu tragen. Wir fragen, wenn wir die Empfindungen nicht mehr in das Gehirn, sondern an den Ort der sog. Objekte verlegen, billigerweise: wie kommt es, dafs die Empfindungen ihrer Beschaffenheit nach allenthalben von dem Gehirnzustand, von der M\u00f6glichkeit und von der Art und Weise der Einwirkung auf das Gehirn abh\u00e4ngig sind ? Im Santoninrausch erscheinen helle Fl\u00e4chen gr\u00fcngelblich, bei geschlossenen Augen verschwinden die Gesichtsempfindungen, bei einem Aufsetzen einer blauen Brille werden alle Gesichtsempfindungen bl\u00e4ulich u. s. f. Wie erkl\u00e4ren sich diese eigent\u00fcmlichen \u201eR\u00fcckwirkungen\u201c unseres Gehirns? Wie kommen gar Halluzinationen zu st\u00e4nde, welche wie die normalen Empfindungen an einem bestimmten Ort auf-treten und offenbar oft ausschliefslich auf krankhaften Prozessen unseres Gehirns beruhen ?\nSchuppe hat in seinem Hauptwerk alle diese Fragen nur sehr fl\u00fcchtig ber\u00fchrt (vgl. z. B. auch S. 665 ff.). Etwas mehr n\u00e4hert er sich ihnen in seiner j\u00fcngsten im Jahre 1902 erschienenen Schrift \u201eDer Zusammenhang von Leib und Seele\u201c.2\n1\tDie exaktere erkenntnistheoretische Formulierung ergibt sich auch hier ohne weiteres.\n2\tDieselbe ist mir erst zur Kenntnis gekommen, als dies Manuskript bereits im Wesentlichen abgeschlossen war. Sie erschien mir jedoch wichtig genug, um einzelne Er\u00f6rterungen \u00fcber die in ihr nieder gelegten Er\u00f6rterungen nachtr\u00e4glich in das Manuskript einzuschieben.","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nTh. Ziehen.\nS. 44 spricht er ausdr\u00fccklich von der oben erw\u00e4hnten Schwierigkeit. Es findet, dafs dieselbe \u201ekaum geringer wird, wenn das Gehirn als Empf\u00e4nger der Einwirkung und Aus\u00fcber der Gegenwirkung, welche das Sehen ist, gedacht werden soll; er will das jedoch nicht als wissenschaftliche Erkl\u00e4rung gelten lassen, sondern \u201eviel lieber bekennen, den eigentlichen Hergang der Sache nicht zu kennen\u201c. Nur \u201eeinige Hilfe\u201c glaubt Schuppe von seinem Standpunkt gew\u00e4hren zu k\u00f6nnen. Er setzt zun\u00e4chst auseinander, dafs \u201edas Ich, wenn es in einem Menschenleibe1 oder als ein Menschenleib konkrete Existenz haben soll, die F\u00e4higkeit, Sichtbares zum Inhalt seines Bewufstseins zu haben, d. h. zu sehen, in sich selbst haben mufs\u201c. Alles, was oben gegen die Aufstellung eines prim\u00e4ren Ich gesagt worden ist, ist auch gegen\u00fcber diesem Satz geltend zu machen. Die oben ber\u00fchrte Schwierigkeit l\u00f6st er \u00fcberdies nicht im geringsten. Schuppe selbst f\u00fchlt dies. Es bleibt noch zu erkl\u00e4ren, \u201ewelchen Anteil die Sinnesorgane und die Vorg\u00e4nge in ihnen an dem Gesamtresultat haben, dafs jedes Ich von allem sinnlich Wahrnehmbaren gerade immer dieses oder jenes zum Inhalt seines Bewufstseins gewinnt oder wahrnimmt\u201c, und \u201eohne eine bestimmte Behauptung zu wagen, will er doch folgenden Gedanken der Beachtung empfehlen\u201c : da nach Schuppe sich das Ich \u201eals raumerf\u00fcllendes, einen Platz im Raum einnehmendes findet, und da es selbst, dieses diesen Ort einnehmende Ich die sichtbare Welt zu seinem Bewufstseinsinhalt haben soll, so mufs die sichtbare Welt sich auch in Beziehung auf diesen Ort, den das Ich einnimmt, ordnen und zwar in Beziehung auf einen ganz bestimmten Punkt in diesem Orte, das Auge\u201c. Darin kann ich nun allerdings keine L\u00f6sung, auch keine ann\u00e4hernde, des R\u00e4tsels finden. Es bleibt doch die Tatsache bestehen, dafs unsere Sinnesapparate inkl. Gehirn nicht nur der Ordnung der Eindr\u00fccke dienen, sondern vor allem ihre Qualit\u00e4t bestimmen. Letzere ist sogar in viel h\u00f6herem Mafs von unseren Sinnesorganen abh\u00e4ngig als erstere. Schuppe selbst erkennt denn auch sofort an, dafs er dem Auge Lichtempfindlichkeit zuerkennen mufs und\n1 Damit h\u00e4ngt auch die Lehre Schuppes zusammen, dafs das konkrete Ich \u201edas sich als seinen Leib wissende Ich\u201c ist. Vgl. auch Nat\u00fcrl. Welt-ans. (11), S. 10: \u201eunmittelbar findet sich das Ich ein St\u00fcck Raum erf\u00fcllend1. Sch. \u00fcbersieht hier die Rolle der Organ- und Bewegungsempfindungen.","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\nIll\ndafs damit die ganze Schwierigkeit wiederkehrt, und meines Erachtens behauptet er daher mit Unrecht unmittelbar danach doch, dafs sein L\u00f6sungsversuch die philosophische Schwierigkeit der Erkl\u00e4rung der Leistungen der Sinnesapparate erheblich gemindert habe. Sie ist dieselbe geblieben und bleibt bestehen, solange man sich nicht auf den Boden der 1898 von mir entwickelten S\u00e4tze stellt. Danach ergibt die Analyse der Welt, d. h. unserer Empfindungen zwei Gesetzlichkeiten, die eine entspricht den Kausalgesetzen der Naturwissenschaft, die andere habe ich als das Parallel- oder R\u00fcckwirkungsgesetz bezeichnet. Popul\u00e4r ausgedr\u00fcckt, gibt letzteres an, welcher psychischer Prozefs jeder Hirnerregung des Individuums und daher auch \u2014 ceteris paribus -\u2014 einem bestimmten Reiz entspricht. Das Gesetz der spezifischen Energie ist ein Spezialfall dieser Parallelgesetzlichkeit. Jede einzelne Erscheinung (Empfindung) ist die Resultante beider Gesetzlichkeiten.1 Durch Elimination der individuellen R\u00fcckwirkungen gelange ich zu den \u201eReduktionsbestandteilen\u201c der Empfindungen oder versuche ich wenigstens zu solchen Reduktionsbestandteilen zu gelangen. Ich glaube, dafs diese Auffassung, deren einzelne Darlegung und Begr\u00fcndung ich in meiner Erkenntnistheorie nachzulesen bitten mufs, im Gegensatz zur ScmiPPEschen den Tatsachen der Hirn- und Sinnesphysiologie wirklich Rechnung tr\u00e4gt und die nach Verwerfung der Introjektion sich ergebende erkenntnistheoretische Schwierigkeit bez\u00fcglich des Einflusses unserer Sinnesapparate (einschliefslich des Gehirns) auf die Empfindungen wirklich beseitigt. Freilich eine \u201eErkl\u00e4rung\u201c darf man f\u00fcr diese R\u00fcckwirkungen, eine \u201eBegr\u00fcndung\u201c f\u00fcr das einzelne R\u00fcckwirkungsgesetz nicht verlangen. Eine solche Erkl\u00e4rung und Begr\u00fcndung k\u00f6nnen ' wir jedoch auch f\u00fcr die naturwissenschaftlichen Kausalgesetze nicht geben. Wir k\u00f6nnen nicht erkl\u00e4ren, weshalb Attraktionserscheinungen existieren, und nicht begr\u00fcnden, warum f\u00fcr diese Attraktionserscheinungen gerade diese und keine anderen Gesetze\n1 Pie Unterschiede beider Gesetzlichkeiten habe ich hier nicht nochmals anseinanderzusetzen. Ich hebe nur nochmals hervor, dafs die Zeit als unabh\u00e4ngige Variable nur bei der Kausalgesetzlichkeit eine Rolle spielt; nur die Kausalvorg\u00e4nge laufen in der Zeit ab, mit der bestimmten Rinden-erregung ist hingegen gleichzeitig die parallele psychische Qualit\u00e4t im Sinne der R\u00fcckwirkungen gegeben. Von \u201eWirkungen\u201c im gew\u00f6hnlichen Sinne ist also bei letzteren nicht die Rede.","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nTh. Ziehen.\ngelten. Schon das erste Gesetz der Mechanik, den Lehrsatz vom Parallelogramm der Kr\u00e4fte, m\u00fcssen wir als eine Tatsache hinnehmen. Nicht einmal im einfachsten Fall zweier gleicher, z. B. rechtwirklich zueinander auf einen Punkt wirkender Kr\u00e4fte k\u00f6nnen wir erkl\u00e4ren oder beweisen, dafs die Resultante den rechten Winkel halbiert und nicht etwa gerade in entgegengesetzter Richtung verl\u00e4uft, d. h. den \u00fcberstumpfen Winkel (von 270\u00b0) halbiert. Ebensowenig d\u00fcrfen wir Erkl\u00e4rungen und Beweise f\u00fcr die R\u00fcckwirkungen und ihre Gesetze verlangen. Auch hier k\u00f6nnen wir nur Tatsachen konstatieren und die Tatsachen zu Gesetzen zusammenfassen. Ich glaube also, dafs die erkenntnistheoretische Bedeutung unserer Sinnesapparate richtiger in meiner Erkenntnistheorie dargelegt ist.\nDamit h\u00e4ngt noch eine andere Schwierigkeit zusammen, welche auch Schuppe nicht entgangen ist. Wenn wir auf die Introjektion verzichten und als das Wirkliche die Summe der Empfindungen betrachten, so erhebt sich die Frage: was wird aus dem Baum, wenn ich ihm den R\u00fccken drehe und \u2014 wie wir etwa noch hinzuf\u00fcgen k\u00f6nnen \u2014 auch kein anderes lebendes Wesen ihn gerade sieht? Schuppe meint, dafs \u201edie absolut zuverl\u00e4ssige Gesetzlichkeit, dafs ich und jeder andere, die n\u00f6tigen Bedingungen vorausgesetzt, z. B. die der Anwesenheit an bestimmtem Orte, eine Wahrnehmung bestimmter Art machen wfird, nicht nur ein Beweis f\u00fcr die Existenz dieses Wahrnehmbaren, sondern gleichbedeutend mit seiner Existenz ist, auch wenn gerade niemand diese Wahrnehmung macht.1 * Daher betont er auch, dafs \u201eder Begriff des wirklichen Seins nicht in der blofsen Empfindung aufgeht, sondern die absolute Gesetzlichkeit einschliefst, nach welcher je nach Umst\u00e4nden und Bedingungen bestimmte Empfindungsinhalte bewufst werden4. Diesen S\u00e4tzen gegen\u00fcber mufs man vor allem fragen, welche absolute Gesetzlichkeit Schuppe meint. Die naturwissenschaftlichen Kausalgesetze gen\u00fcgen nicht. Die R\u00fcckwirkungsgesetze meiner Erkenntnistheorie sind ganz unerl\u00e4fslich. Die Erscheinungen (Empfindungen) lassen eine Gesetzlichkeit \u00fcberhaupt nicht erkennen, bevor die Zerlegung in die Kausalgesetzlichkeit und die Parallelgesetzlichkeit erfolgt ist. F\u00fcr\n1 Grundrifs S. 30. Die Sperrung des Druckes in den letzten Worten\nhabe ich hinzugef\u00fcgt.","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n113\nSchuppe geht der Begriff des existierenden Unwahrgenommenen in dem Begriff dessen auf, was seinem Begriffe nach Wahrnehmbares ist, z. B. Rotes, Rundes. Hier klingt wieder die oben bereits bestrittene Lehre von der Realit\u00e4t des Allgemeinen oder Gattungs-m\u00e4fsigen hinein, und, auch hiervon abgesehen, ist nicht verst\u00e4ndlich, mit welchem Recht das seinem Begriff nach Wahrnehmbare als existierend bezeichnen kann. Die Notwendigkeit des Eintretens bei tats\u00e4chlicher Anwesenheit bestimmter Bedingungen kann man eventuell mit Schuppe dem Sein gleichsetzen, jedoch die Notwendigkeit des Eintretens bei m\u00f6glichem Erf\u00fclltsein bestimmter Bedingungen ist von dem Sein absolut zu trennen. Von zahllosen Objekten ist es sehr fraglich, ob sie z. B. jemals gesehen werden. Darf ich sie nun deshalb als existierend bezeichnen, weil sie, wenn jemand in ihrer N\u00e4he und in einer bestimmten Stellung (mit offenen Augen etc.) ihnen gegen\u00fcber st\u00e4nde, gesehen w\u00fcrden? Mit welchem Recht darf ich die Begriffe der Existenz so \u00fcber das tats\u00e4chlich Gegebene hinaus in das Gebiet des M\u00f6glichen erweitern? Jedenfalls meine ich noch etwas ganz anderes als diese M\u00f6glichkeit oder \u201eErwartung^ sie sei auch noch so gesetzlich und zuverl\u00e4ssig, wenn ich etwas Nicht-Wahrgenommenes als existierend bezeichne: ich schreibe ihm auch w\u00e4hrend des Nicht-Wahrnehmens irgend etwas zu, was wir\n9 \u2022\neben als Existenz bezeichnen. Uber diese Schwierigkeit kommt Schuppe nicht hinweg. Meine Erkenntnistheorie scheint mir auch hier den richtigen Ausweg zu bieten. Dieser zufolge ergaben sich bei der Zerlegung der Empfindungen (der Erscheinungswelt oder wie man das Unmittelbargegebene sonst nennen will) zwei Bestandteile, die Reduktionsbestandteile und die v - Komponenten1 (Parallelkomponenten). Erstere stellen den den naturwissenschaftlichen Kausalgesetzen gehorchenden Teil der Empfindungen, letztere den von den Parallelgesetzen (Gesetzen der spezifischen Energie) beherrschten Teil der Empfindungen dar. Die ersteren h\u00f6ren infolge der Reduktionen nicht auf psychisch oder, was hiervon nicht verschieden ist, bewufst2 zu sein, nur die indi-\n1\tBeil\u00e4ufig gesagt, erinnern dieselben an die Upadhis der Ved\u00e4ntalehre.\n2\tMit dem Wort bewufst kann man entweder einfach alle tats\u00e4chlich gegebenen psychischen Prozesse bezeichnen und dies ist der \u00fcbliche Sprachgebrauch, oder man kann als bewufst diejenigen psychischen Prozesse bezeichnen, deren Ablauf ausdr\u00fccklich und tats\u00e4chlich mit der Vorstellung der Beziehung auf mein Ich verbunden ist. Von dem letzteren\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 33.\t8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nTh. Ziehen.\nviduelle R\u00fcckwirkung des individuellen Gehirns ist eliminiert. Wir gelangen also zur Vorstellung* 1 einer Existenz, f\u00fcr welche die y - Komponenten ausgeschaltet sind. Das Psychische ist bei diesem Begriff der Existenz nicht preisgegeben, nur die Individualr\u00fcckwirkung. Wir haben nicht das geringste Recht, etwa f\u00fcr letztere ausschliefslich das Attribut \u201epsychisch\u201c zu reservieren und f\u00fcr die Reduktionshestandteile (die \u201ereduzierten Empfindungen\u201c) eine andere ganz inhaltlose Form der Existenz (Materie etc.) zu ersinnen. Wenn ich2 3 die Augen schliefse und damit z. B. die R\u00fcckwirkungen in Bezug auf ein bestimmtes Sehobjekt zu Null werden, so verschwindet die individuelle Gesichtsempfindung, aber nicht ihr Reduktionsbestandteil. Es ist eine der in der Parallelgesetzlichkeit enthaltenen Tatsachen, dafs der R\u00fcckwirkung Null oder, auf die Hirnrinde bezogen, der Erregung Null bezw. einer unter der Schwelle bleibenden Erregung oder endlich, auf die Reize bezogen, der Abwesenheit des Reizes oder einem im Sinne des WEBERschen Gesetzes unter der Schwelle bleibenden Reiz das Verschwinden der Individualempfindung entspricht. Ich sehe nicht ein, weshalb wir ein solches Gesetz nicht ebensogut als Tatsache hinnehmen sollten wie z. B. die Gesetze des Gleichgewichts in der Mechanik. Damit ist die Existenzfrage der gerade nicht wahrgenommenen Objekte erledigt. F\u00fcr die Naturwissenschaft scheint mir nur durch meine L\u00f6sung eine volle Aktionsfreiheit gesichert zu sein.\nSinn des Worts, welcher besser durch die Bezeichnung \u201eselbstbewmfst\u201c oder \u201eichbewufst\u201c wiedergegeben wird, sehe ich hier wie auch in meinen fr\u00fcheren Schriften ganz ab. Die Reduktionsbestandteile sind schlechthin psychisch oder bewufst (im ersten Sinn) oder, wenn man die Elimination der individuellen R\u00fcckwirkungen besonders betonen will, \u201eallgemein-bewufst\u201c. Letzteres bedeutet also nicht etwra: \u201eim Bewufst-sein eines allgemeinen Ichs oder eines allgemeinen Selbst-bewufstseins gegeben\u201c, sondern bedeutet eben nur schlechthin, dafs die individuellen Parallelr\u00fcckwirkungen eliminiert sind.\n1 Ich sage geflissentlich \u201ezur Vor Stellung einer Existenz\u201c und nicht\n\u201ezu einer Existenz\u201c und bitte dies meinem skeptischen Standpunkt (Psycho-phys. Erkenntnistheorie S. 97) zugute zu halten.\n3 Vgl. meine Erkenntnistheorie S. 33, 35 u. s. f. Auf S. 35 ist auf der 9. Zeile von oben statt Ox- Empfindungen nat\u00fcrlich Ox- Empfindungen zu lesen.","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Erhenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n115\nAus dem soeben besprochenen Fehler der ScHUPPEschen Erkenntnistheorie erkl\u00e4rt sich meines Erachtens auch die Neigung Schuppes, die sekund\u00e4ren Qualit\u00e4ten Lockes nicht zum Subjektiven, sondern zum \u201eobjektiv Wirklichen\u201c zu rechnen.1 Der Raum ist f\u00fcr Schuppe mit Qualit\u00e4ten erf\u00fcllt (S. 446 und vielfach sonst). Die Abh\u00e4ngigkeit der Farbe von der Lagerung und Bewegung der Atome soll f\u00fcr die erkenntnistheoretische Logik nicht in Betracht kommen. Alle diese Widerspr\u00fcche mit den physikalischen Tatsachen fallen bei meiner Deutung weg. Bei meiner \u201eReduktion\u201c f\u00e4llt nicht nur das weg, was ein individuelles Subjekt vom anderen unterscheidet, sondern alles das, was wir als spezifische Energien bezeichnen.\nD. Ding an sich und Kausalit\u00e4tsprinzip.\nDarin, dafs ein Ding an sich ein Unding, d. h. ein ganz inhaltloser und noch dazu durch einen falschen Schlufs gebildeter Begriff ist, stimme ich mit Schuppe v\u00f6llig \u00fcberein. Speziell lassen seine Ausf\u00fchrungen im Grundrifs (S. 10 ff.) in dieser Richtung an Deutlichkeit nichts zu w\u00fcnschen \u00fcber. Ich habe daher hier nur weniges anzumerken. Zun\u00e4chst bez\u00fcglich der Anwendung des sog. Kausalit\u00e4tsprinzips auf die Erscheinungen (Empfindungen) zum Behuf der Konstruktion eines Dings an sich. Bekanntlich hat man schon sehr bald Kant vorgeworfen, dafs er bei der Annahme eines Dings an sich von dem Kausalit\u00e4tsbegriff einen unerlaubten transzendenten Gebrauch gemacht habe. Viel wesentlicher scheint mir die fehlerhafte doppelte Anwendung2 des Kausalit\u00e4tsprinzips, welche bei dieser Konstruktion des Dings an sich unvermeidlich unterl\u00e4uft. F\u00fcr einen Erscheinungskomplex b postulieren wir erstens einen ihn verursachenden Erscheinungskomplex a innerhalb der Erscheinungsreihe und zweitens ein ihm zu Grunde liegendes, d. h., wenn wir das Kausalit\u00e4tsprinzip zum Beweis des Dings an sich gebrauchen, auch wieder ihn verursachendes \u201eDing an sich\u201c aufserhalb der Erscheinungsreihe. Die Allgemeing\u00fcltigkeit des Kausalgesetzes ist nur innerhalb der Erscheinungsreihe nach-\n1\tVgl. z. B. Grundrifs S. 33 Siehe auch Normen des Denkens Nr. 7 S. 394.\n2\tIch wage nicht bestimmt zu entscheiden, ob Schuppe im Menschl. Denken S. 9 auch an diese doppelte Anwendung gedacht und sie schon damals verworfen hat.\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nTh. Ziehen.\ngewiesen; damit verbietet sich geradezu eine zweite Anwendung auf irgend ein anderes Gebiet hin.\nDafs ich endlich dem Kausalit\u00e4tsgesetz nicht die Apriorit\u00e4t zugestehen kann, welche Schuppe ihm namentlich im menschlichen Denken (S. 130 ff.) vindiziert, bedarf nicht der Hervorhebung. Ich hoffe auf diese Frage demn\u00e4chst bei einer Auseinandersetzung mit den Mach sehen erkenntnistheoretischen Anschauungen ausf\u00fchrlich zur\u00fcckzukommen.\nSchuldig bleibt uns Schuppe eine erkenntnistheoretische Untersuchung der \u00fcmformungsmethoden, welche die Naturwissenschaft an den Erscheinungen ausf\u00fchrt. Darin erblicke ich die Bedeutung meiner Reduktionsvorstellungen bezw. Reduktionsbestandteile , dafs sie im Sinne der naturwissenschaftlichen Beobachtungstatsachen (nicht im Sinne vieler naturwissenschaftlicher Hypothesen \u00fcber Materie etc.) an Stelle des Dings an sich treten.\nE. Die Pluralit\u00e4t der Ichs.1\nAvenaeius hat das Problem, welches in der Tatsache liegt, dafs der eine \u201eUmgebungsbestandteil\u201c (z. B. ein bestimmter Baum) seiner Terminologie bei mir und zahlreichen Mitmenschen ebensoviele Empfindungen hervorruft, fast ganz \u00fcbersehen. Mit der Verwerfung der Introjektion taucht auch dies Problem auf. Wenn die Empfindungen nicht \u201ein unserer Hirnrinde sind\u201c, sondern, wie Avenakius, Schuppe und ich gemeinschaftlich annehmen, nur da sind, wo sie im Raum von uns gesehen, geh\u00f6rt, gef\u00fchlt werden u. s. f., so erhebt sich doch die Frage: wie verh\u00e4lt sich meine Empfindung eines bestimmten Baums zu der Empfindung, welche mein Mitmensch M an derselben Stelle von demselben Baum hat? Um so dringlicher wird diese Frage, als unsere beiden Empfindungen je nach unserem Standort nicht vollst\u00e4ndig \u00fcbereinstimmen. Schuppe hat zuerst einen wesentlichen Teil dieser Frage gel\u00f6st, und hierin erblicke ich \u2014 n\u00e4chst der Beseitigung der Introjektion \u2014 seine zweite grofse erkenntnistheoretische Entdeckung. Schon in der erkenntnistheoretischen Logik (S. 77 ff.) spricht er den Satz aus, dafs \u201eein Teil des Be-\n1 Schuppe braucht meist den Plural \u201edie Iche\u201c, wie man ihn z. B. auch bei Fichte findet. Dem jetzt herrschenden Sprachgebrauch, welcher \u00fcbrigens auch fr\u00fcher \u00fcberwog, scheint mir die Form \u201edie Ichs\u201c mehr zu entsprechen.","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n117\nwufstseinsinhalts den Ich \u2014 seiner und ihrer Natur nach \u2014 gemeinsam ist\u201c (vgl- auch S. 658 und S. 696 ff.). Klarer noch ist die Darstellung im Grundrifs der Erkenntnistheorie und Logik. Ich kann mir nicht versagen, die Hauptstelle hier w\u00f6rtlich anzuf\u00fchren (S. 30) : \u201eDa nach obiger Lehre (d. h. derjenigen Schuppes) das Ich, welches Inhaber der Wahrnehmungen ist, nicht r\u00e4umlich begrenzt ist, so liegt nicht nur nicht der mindeste Grund vor, die nat\u00fcrliche Ansicht, dafs die Iche im Falle \u00fcbereinstimmender Wahrnehmung wirklich dasselbe numerisch Eine wahrnehmen, gewaltsam umzudeuten, sondern es ist auch nicht mehr m\u00f6glich. Der erf\u00fcllte Raum, welcher uns bewufst ist, ist derselbe eine Raum, und wenn die Ausschnitte desselben und die ihn erf\u00fcllenden Wahrnehmbaren nach festen Gesetzen in den Bewufstseinsinhalten wechseln resp. irgendwie voneinander ab weichen, so ist es absolut nichts Widersprechendes, nichts Unm\u00f6gliches oder auch nur Befremdliches, sondern ganz selbstverst\u00e4ndlich, dafs es dasselbe wirklich Eine ist, welches bald von mehreren zugleich, bald nacheinander wahrgenommen wird, und dafs die Unterschiede der Wahrnehmungen, soweit sie in dieser objektiven Wirklichkeit als gesetzlich an bestimmte Bedingungen gekn\u00fcpfte begr\u00fcndet sind, dieselbe Existenz des f\u00fcr alle Wahrnehmbaren haben, soweit sie dies aber nicht sind, auf die physische oder psychische Eigenart des Individuums zur\u00fcckf\u00fchr-bar als subjektive Alterationen gelten m\u00fcssen. Auch im letzteren Falle ist, soweit die Wahrnehmungen doch noch \u00fcbereinstimmen, dasselbe wirklich Eine wahrgenommen, und mit ihm verquickt, zu dem Bilde des einen Dinges oder Ereignisses verschmolzen ist das Alterierende, Subjektive. Wenn auch die beiden Bestandst\u00fccke nicht wie Konkreta voneinander abtrennbar sind, sondern jenes nur in gewissen Partien zum Teil abstrakter Art besteht, so ist es eben die das physische und psychische Individuum ausmachende Gesetzlichkeit, nach welcher das wirklich Eine nicht vollst\u00e4ndig, sondern mit subjektiven Ab\u00e4nderungen dieses Bewufstseins Objekt wird.\u201c\nMit diesen S\u00e4tzen kann ich fast vollst\u00e4ndig \u00fcbereinstimmen. Meine Ansicht gestaltet sich nur dadurch viel einfacher, dafs das Gemeinsame der Empfindungen der verschiedenen Individuen nichts anderes ist als der Reduktionsbestandteil der Empfindungen,, d. h. ihre von den individuellen R\u00fcckwirkungen befreite Komponente.","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nTh. Ziehen.\nIn den weiteren Schl\u00fcssen und in den folgenden Entwicklungen gehen allerdings unsere Meinungen wieder weit auseinander. Schuppe meint, \u201edafs die \u00fcberein- und zusammenstimmenden Wahrnehmungen eben auch an dasjenige gekn\u00fcpft und in demjenigen begr\u00fcndet sind, was dem individuellen Bewufst-sein gemeinsam ist, das ist das Gattungsm\u00e4fsige des Bewufst-seins \u00fcberhaupt, welches allen m\u00f6glichen spezifischen und individuellen Unterschieden (den Bestimmtheiten) als Bedingung ihrer Denkbarkeit zu Grunde liegt\u201c. Ich kann nicht einsehen, weshalb das Gemeinsame der Wahrnehmungen der verschiedenen Menschen \u00fcberhaupt noch einmal an etwas gekn\u00fcpft oder in etwas begr\u00fcndet sein sollte. Und gar nun das \u201eGattungsm\u00e4fsige des Bewufstseins \u00fcberhaupt\u201c ! Gewifs tr\u00e4gt das Gemeinsame der Wahrnehmungen, der Reduktionsbestandteil der Empfindungen insofern einen allgemeineren Charakter, als die individuellen v-Komponenten eliminiert worden sind, aber deshalb hat es doch mit einem Allgemeinbegriff im gew\u00f6hnlichen Sinn, einem Gattungsbegriff nichts zu tun. Ein solcher umfafst eine Reihe verschiedener, aber \u00e4hnlicher Individuen, deren gemeinsame Merkmale numerisch nicht identisch sind : die charakteristische F\u00fchlerform des Maik\u00e4fers existiert so oft, als es Maik\u00e4ferindividuen gibt. Der Reduktionsbestandteil, das Gemeinsame der Empfindungen existiert hingegen nur einmal, es ist dasselbe numerisch Eine, wie Schuppe selbst sagt. Es verh\u00e4lt sich zu den individuellen Empfindungen nicht wie die Gattung zur Art, sondern etwa wie ein Bild zu seinen Erscheinungsweisen bei verschiedener Beleuchtung. Es handelt sich nicht um einen Gattungsbegriff, sondern um ein gemeinsames Substrat der Individualempfindungen, dessen Vorstellung durch unsere Ideenassoziation aus den Individualempfindungen abgeleitet worden ist, und nur in diesem Sinn um eine Allgemeinvorstellung.1\nSo wird es auch verst\u00e4ndlich, dafs Schuppe die Grenze zwischen dem gemeinsamen Substrat und den individuellen Zugaben ganz anders zieht als ich. Wenn ich Schuppe recht verstehe, ist er geneigt, dem ersteren die sekund\u00e4ren Qualit\u00e4ten Lockes, Farbe etc. nicht v\u00f6llig abzusprechen, w\u00e4hrend sie nach\n1 Man t\u00e4te wohl besser in der Logik die Allgemeinbegriffe eines Gemeinsamen, welches in den Individuen numerisch ein und dasselbe ist, als Substratbegriffe besonders abzuscheiden.","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n119\nmeiner Anschauung als solche ganz den \u201eR\u00fcckwirkungen\u201c zufallen (vgl. oben S. 27).\nAuch die Auffassung der anderen \u201eIchs\u201c gestaltet sich hei Schuppe \u2014 vielleicht auch im Zusammenhang mit der soeben besprochenen Differenz, namentlich aber im Zusammenhang mit der verschiedenen Auffassung des eigenen Ich \u2014 abweichend Schuppe betont: die Existenz anderer Ichs ist zwar erschlossen, aber doch ebenso unzweifelhaft als z. B. gewisse Aussagen \u00fcber die Sterne oder das Erdinnere, welche ebenfalls nicht auf tats\u00e4chlicher Wahrnehmung beruhen (S. 77). Ein Transcensus scheint ihm mit diesem Schlufs auf andere Ichs nicht verbunden (vgl. auch S. 699). Da ich schon die Annahme des eigenen Ichs, wenn sie etwas anderes bedeuten soll als die Annahme eines an mein Gehirn gebundenen Komplexes von R\u00fcckwirkungen, als eine unzul\u00e4ssige Transzendenz erwiesen zu haben glaube, so gilt dies nat\u00fcrlich auch von dem Analogieschlufs auf andere solche transzendente Ichs. Nach meiner Auffassung (Psychoph. Erkenntnisth. S. 38) handelt es sich sowohl bei dem eigenen Ich wie bei den fremden Ichs um Komplexe individueller R\u00fcckwirkungen (1. c. S. 40) oder, was auf dasselbe hinausl\u00e4uft, die Summe der \u201eR\u00fcckwirkungen\u201c der einzelnen Gehirne (streng genommen der Reduktionsbestandteile derselben). Eine sp\u00e4tere Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie von v. Schubert-Soldan wird mir Gelegenheit geben, die Differenz zwischen dieser Anschauung und den verschiedenen Formen des Solipsismus noch n\u00e4her zu er\u00f6rtern.\nF. Die Reflexionspr\u00e4dikate.\nEs ist eines der gr\u00f6fsten Verdienste Schuppes, die eigenartige Stellung der von ihm sog. Reflexionspr\u00e4dikate aufgedeckt und namentlich auch auf ihre erkenntnistheoretische Bedeutung hingewiesen zu haben. Bei diesen Reflexionspr\u00e4dikaten soll es sich um eine Pr\u00e4dikation handeln, \u201ewelche das Pr\u00e4dikat einem anderen der drei von Schuppe abgegrenzten Gebiete entnimmt, als dem das Subjekt angeh\u00f6rt\u201c (S. 155). Das als Objekt fungierende Ding, auf welches sich die inneren Zust\u00e4nde und T\u00e4tigkeiten der Seele beziehen, kann auch zum Subjekt gemacht und von ihm ausgesagt werden, was die T\u00e4tigkeit der Seele an ihm getan hat, z. B. dafs es gesehen, gedacht, geliebt, gewollt werde u. s. f., dafs es existiert u. s. f. Weitere Erg\u00e4nzungen zu","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nTh. Ziehen.\ndieser Lehre von den Reflexionspr\u00e4dikaten finden sich im Hauptwerk namentlich S. 269, 376, 428, 456, 506, 522 ff., 564, und schliefslich widmet ihnen Schuppe ein besonderes Kapitel S. 622 ff. Das erkenntnistheoretische Interesse an diesen Reflexionspr\u00e4dikaten liegt klar zu Tage; beziehen sich doch alle die hierhergeh\u00f6rigen Urteile direkt oder indirekt gerade auf dasjenige Verh\u00e4ltnis, welches f\u00fcr die Erkenntnistheorie ein Hauptproblem ist, auf die Beziehung zwischen \u201eIch\u201c und Objekt.\nSo sehr ich nun das Verdienst Schuppes anerkenne bez\u00fcglich der Hervorhebung dieser \u201eReflexionspr\u00e4dikate\u201c, so kann ich doch seiner Auffassung derselben in manchen Punkten nicht beipflichten. Vor allem glaube ich nicht, dafs die ScHUPPEschen Reflexionspr\u00e4dikate, wofern man von der logischen Form absieht und ihren psychologischen Inhalt ber\u00fccksichtigt, getrennt werden k\u00f6nnen von den Pr\u00e4dikationen \u00fcber das Ich. Schuppe sagt, dafs das Ich in einer besonderen Form der Pr\u00e4dikation sich selbst zum Objekt macht und von sich Bestimmungen aussagt, die so in ihm als Teil oder Bestandteil erkannt werden k\u00f6nnen, wie in den Objekten ihre Eigenschaften (S. 154), und unterscheidet davon noch Pr\u00e4dikationen, in welchen die Denkarbeit als solche zum Gegenstand des Bewufstseins gemacht wird (S. 155). Ich kann nun zwischen diesen beiden Pr\u00e4dikationen und den Reflexionspr\u00e4dikationen keinen inhaltlichen Unterschied finden. Inhaltlich kommt es doch auf dasselbe hinaus, ob ich sage : \u201eich sehe eine Rose\u201c und \u201eich denke eine Rose\u201c oder ob ich sage: \u201eeine Rose wird von mir gesehen\u201c und \u201eeine Rose wird von mir gedacht\u201c. Auch in den Pr\u00e4dikationen \u00fcber mein Ich mufs ich ein Objekt, ein spezielles oder im allgemeinen ein Objekt, hinzudenken; Pr\u00e4dikat und Subjekt liegen schliefslich also doch auch auf verschiedenen \u201eGebieten\u201c. Bei den Pr\u00e4dikationen \u00fcber mein Ich in der Aktivform (\u201eich sehe die Rose\u201c) wird diese Tatsache nur dann verschleiert, wenn es sich um allgemeine Pr\u00e4dikationen handelt (\u201eich sehe\u201c ohne spezielles Objekt). Dann k\u00f6nnte man glauben, dafs das Sehen noch im Gebiet des Ichs liegt und dafs sonach die ganze Pr\u00e4dikation sich auf einem\neinzigen \u201eGebiet\u201c im Sinne Schuppes abspielt. Indes ergibt eine\n\u25a0 \u2022\nn\u00e4here \u00dcberlegung sofort, dafs auch hier das Objekt nicht verschwunden, sondern nur verallgemeinert bezw. unbestimmt gelassen ist.1 Ein Sehen ohne Sehobjekt ist ein Unding. Gerade,\n1 In der Tat kann ich auch sehr gut die entsprechenden allgemeinen","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n121\nwer wie Schuppe mit Recht die Intro jektion und Projektion verwirft, darf nicht zwei Gebiete* 1 unterscheiden und nun das Sehen, Denken, Wollen etc. als Verbindungsstrafse zwischen beiden behandeln. Auch als Abstraktion ist dies nicht zul\u00e4ssig.\nAuch wTenn Schuppe etwa die Ich-Pr\u00e4dikationen auf Willens-, Gef\u00fchl-2 3 und Denkprozesse s. str. einschr\u00e4nken wollte, w\u00fcrde ich eine Trennung dieser Ich-Pr\u00e4dikationen im engeren Sinn von den \u201eReflexions-Pr\u00e4dikationen \u201c nicht f\u00fcr zul\u00e4ssig halten. Auch hei den Ich-Pr\u00e4dikationen s. str. ist das Hinzudenken eines speziellen oder allgemeinen Objekts unerl\u00e4fslich.\nMeines Erachtens fallen also die Reflexionspr\u00e4dikationen Schuppes, soweit sie \u00fcberhaupt eine besondere Stellung beanspruchen, mit den Ich-Pr\u00e4dikationen zusammen. Beide gemeinschaftlich verdienen jedoch in der Tat psychologisch und erkenntnistheoretisch die gr\u00f6fste Beachtung. Es fr\u00e4gt sich n\u00e4mlich, ob wir nun wirklich mit diesen Reflexionspr\u00e4dikaten im weiteren Sinn \u2014 unter diesem Namen m\u00f6chte ich die ScHUPPEschen Reflexionspr\u00e4dikate s. str. und die Ieh-Pr\u00e4dikate zusammenfassen \u2014 neue Inhalte denken oder ob es sich um bequeme verallgemeinernde Zusammenfassungen h\u00e4ufig Vorkommen der psychologischer Situationen (\u201eSehen\u201c etc.) durch die Sprache handelt. Ich entscheide mich durchaus f\u00fcr die letztere Alternative und verweise auf die Beweisf\u00fchrung in meiner physiologischen Psychologie (6. Aufl., S. 148). Ich will hier nur hinzuf\u00fcgen, dafs z. B. auch Sigwakt 3 die Schwierigkeit dieser Reflexionspr\u00e4dikate im weiteren Sinn nicht entgangen ist und dafs er, um die Existenz solcher Reflexionspr\u00e4parate zu retten, sich gen\u00f6tigt sieht, z. B. f\u00fcr alles Sehen \u201eeine gleichartige sich als solche auf unmittelbare Weise ank\u00fcndigende Erregung des Subjekts anzunehmen, die unmittelbar als verschieden von der Erregung aufgefafst wird, welche allem H\u00f6ren gemeinsam ist\u201c. Es liegt auf der Hand, dafs dies \u201esich auf unmittelbare Weise Ank\u00fcndigen\u201c das Problem nicht im geringsten l\u00f6st. Nach meiner Auffassung ist das Problem falsch gestellt. Wir kommen \u00fcber die Allgemein-\nReflexionspr\u00e4dikate bilden: \u201eetwas wird gesehen\u201c oder \u201ees wird gesehen\u201c.\n1\tDaher halte ich auch den von Schuppe vielfach gebrauchten Vergleich (Ich-Mittelpunkt und Peripherie der Objekte) nicht f\u00fcr zweckm\u00e4fsig.\n2\tVgl. S. 526 u. 623 ff.\n3\tLogik. 2. Aufl., 2. Bd., S. 189 ff. 1893.","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nTh. Ziehen.\nVorstellungen Farbe, Licht etc. auf optischem Gebiet nicht hinaus, im Reflexionspr\u00e4dikat \u201eSehen\u201c wird uns dies nur vorget\u00e4uscht. Wenn ich das Urteil f\u00e4lle: \u201edie Rose wird von mir gesehen\u201c, so stelle ich mir nicht etwa ein \u201eSehen\u201c vor, sondern ich assoziiere mit der Gesichtsvorstellung bezw. Gesichtsempfindung Rose die Vorstellungen meines Auges, meines Gehirns, meines K\u00f6rpers, meiner Pers\u00f6nlichkeit im allgemeinen (meines \u201esekund\u00e4ren Ich\u201c) und kausale Beziehungsvorstellungen zwischen der ersteren und den letzteren. Wenn ich \u201eH\u00f6ren\u201c und \u201eSehen\u201c und \u201eVorstellen\u201c und \u201eUrteilen\u201c und \u201eF\u00fchlen\u201c unterscheide, so meine ich damit doch nichts anderes als die undefinierbaren Verschiedenheiten, welche zwischen den Gesichts vor Stellungen im allgemeinen, Geh\u00f6rsvorstellungen im allgemeinen, Erinnerungsbildern im allgemeinen etc. bestehen. Von den zugeh\u00f6rigen psychischen Prozessen als solchen habe ich keine Vorstellung, kann also \u00fcber sie auch keine Urteile bilden. Die gel\u00e4ufigen S\u00e4tze der Sprache: ich sehe, f\u00fchle, freue mich etc. dr\u00fccken denn in der Tat auch nichts anderes als einen speziellen oder allgemeinen Tatbestand von Empfindungen und Vorstellungen aus und ihre Beziehung zum K\u00f6rper und zum sekund\u00e4ren Ich. Eine Vorstellung des psychischen Prozesses wollen wir damit gar nicht geben. H\u00f6chstens k\u00f6nnen wir dabei noch einen unbestimmten und unbestimmbaren Vergleich mit k\u00f6rperlichen Prozessen im Auge haben. Schuppe hat in so ausgezeichneterWeise dargelegt (S. 152), dafs der Satz \u201edie Rose ist rot\u201c psychologisch ganz anders zu analysieren ist, als es die gew\u00f6hnliche Logik, irregeleitet vom sprachlichen Ausdruck getan hat; sollten nicht auch Urteile wie \u201edie Rose wird von mir gesehen\u201c bei der psychologischen Analyse eine ganz andere und zwar die oben von mir gegebene Zusammensetzung zeigen? Ein solches Ergebnis w\u00fcrde mit der Verwerfung des ScmiPPEschen Ichs nat\u00fcrlich in bestem Einklang stehen.\nIm Grundrifs der Erkenntnistheorie und Logik findet sich S. 164 ft. eine eingehende Behandlung der Reflexionspr\u00e4dikate. Wenn ich Schuppe recht verstehe, ist hier der Begriff des Reflexionspr\u00e4dikats wesentlich modifiziert. Hier \u00e4ufsert Sch. z. B. \u201eDie Urteile : die Rose ist rot, sie bl\u00fcht, ist eine Blume, ziert den Garten desgleichen stellen direkt die Begriffsinhalte des Subjekts und des Pr\u00e4dikates als das eine Ganze vor Augen; fragen wir nach dem Verh\u00e4ltnis zwischen Subjekt und Pr\u00e4dikat und er-","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n123\nkennen, dafs dieses Ganze nicht blofs in einem augenblicklichen r\u00e4umlichen Nebeneinander besteht, sondern in dem Zusammengeh\u00f6ren, einem Verursachen und vielf\u00e4ltigen Bedingen, sich gegenseitig notwendig resp. m\u00f6glich sein, so ist, wenn diese Auskunft der logischen Reflexion in den obigen Worten ausgedr\u00fcckt zum Pr\u00e4dikat gemacht wird, dieses ein Reflexionspr\u00e4dikat\u201c. Ich halte diese neue Definition nicht f\u00fcr unmittelbar identisch mit derjenigen der \u201eErkenntnistheoretischen Logik\u201c. Die \u201eT\u00e4tigkeit der Seele\u201c, von welcher in letzterer die Rede war, scheint hier zur\u00fcckzutreten und die mehr als r\u00e4umliche Beziehung in den Vordergrund zu treten. Ich will nicht bestreiten, dafs eine Verbindung der beiden Definitionen eventuell herzustellen ist, und hoffe, dafs Schuppe sich noch entschliefsen wird, seine Lehre von den Reflexionspr\u00e4dikaten nochmals in einer \u00fcbereinstimmenden, definitiven Form abzuhandeln. Vorl\u00e4ufig sind wir auf seine jetzigen Darstellungen angewiesen. Bei diesen ist mir unverst\u00e4ndlich, inwiefern z. B. \u201eDie Rose wird gesehen\u201c ein Reflexionspr\u00e4dikat involvieren soll, w\u00e4hrend das Urteil: \u201edie Rose ist rot\u201c ein solches nicht enthalten soll. \u201eDie Rose ist rot\u201c kann schliefslich doch auch nur bedeuten \u201edie Rose wird rot gesehen\u201c, das Urteil \u201edie Rose ist rot\u201c unterscheidet sich inhaltlich sonach nur dadurch von dem Urteil \u201edie Rose wird gesehen\u201c, dafs erstens das Pr\u00e4dikat qualitativ spezieller ist (\u201erot bezw. rot gesehen\u201c statt \u201egesehen\u201c), zweitens aber dies selbe Pr\u00e4dikat zeitlich allgemeiner ist, d. h. weniger deutlich auf ein gegenw\u00e4rtiges Gesehenwerden hinweist. Nat\u00fcrlich sind dies auch Differenzen, aber diese Differenzen scheinen mir erkenntnistheoretisch von untergeordneter Bedeutung und namentlich nicht von der ihnen durch Schuppe zugeschriebenen Bedeutung zu sein.\nMan k\u00f6nnte im Hinblick auf die soeben hervorgehobene Verschiedenheit der Darstellung geradezu zweifeln, ob Schuppe vom Standpunkt des Grundrisses (1894) noch das Urteil: die Rose wird gesehen, uneingeschr\u00e4nkt als Reflexionspr\u00e4dikation gelten lassen w\u00fcrde. In der Erkenntnistheoretischen Logik schien das Wesentliche der Reflexionspr\u00e4dikationen die Aussage einer T\u00e4tigkeit der Seele zu sein, und als solche Seelent\u00e4tigkeit schien z. B. auch die einfach-r\u00e4umliche Wahrnehmung zu gen\u00fcgen. Im Grundrifs scheint Schuppe die Aussage einer durch unsere Seelent\u00e4tigkeit und zwar speziell durch logische Re-","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nTh. Ziehen.\nflexion herauslindbaren mehr als r\u00e4umlichen Beziehung f\u00fcr die Reflexionspr\u00e4dikationen zu verlangen.\nGerade, weil ich auch anderweitig geh\u00f6rt habe, dafs die ScHUPPEsche Lehre von den Reflexionspr\u00e4dikaten, so wie sie vorliegt, unklar und widerspruchsvoll ist oder wenigstens scheint, wollte ich diesen Zweifeln im vorstehenden kurz Ausdruck geben. Ein n\u00e4heres Eingehen wird sich erst dann empfehlen, wenn \u00fcber die eigentliche Meinung Schuppes kein Zweifel mehr besteht.\nG. Die kategoriale Beziehungsvorstellung der Verschiedenheit. Die erste Verarbeitung des erkenntnistheoretischen Fundamentalbestands.\nOben wurde bereits in ablehnendem Sinne die erkenntnistheoretische Bewertung der Allgemeinbegriffe bei Schuppe besprochen. Aber auch wenn man von dieser absieht, bleibt eine nicht unwesentliche Differenz zwischen der ScHUPPEschen und meiner Darstellung der ersten Verarbeitung des erkenntnistheoretischen Fundamentalbestands, eine Differenz, welche wohl zum guten Teil mit der logischen Tendenz und Grundlage der ScHUPPEschen Erkenntnistheorie zusammenh\u00e4ngt.1\nSchon im \u201eMenschlichen Denken\u201c spricht Schuppe davon, dafs durch eine besondere Tat (\u201eerste Bewegung\u201c) die \u201enoch nicht zum Gedanken erhobene Nerven aff ektion oder Empfindung erst in das Bewufstsein gehoben werde und zum \u201eGedanken\u201c 2 werde. Mit Ulrici erblickt er in diesem Vorgang ein \u201eWerk des Identit\u00e4tsprinzips\u201c, aber \u2014 abweichend von Ulrici \u2014 nimmt er an, dafs das Identit\u00e4tsprinzip, welches sp\u00e4ter in allen unseren Urteilen wirksam ist, hier schon unbewufst, gewisser-mafsen \u201evorhistorisch\u201c als wirksam vorausgesetzt werden inufs. \u201eEigentlich\u201c, sagt er selbst3, \u201ed\u00fcrfen wir uns jenen Vorgang nicht wie ein gew\u00f6hnliches Urteil vor stellen, in welchem ein Pr\u00e4dikat mit einem Subjekte verbunden wird, sondern als eine Vereinigung des geistigen Elementes mit dem sinnlichen, hervorgebracht durch jene geheimnisvolle Kraft, welche eben jenes\n1\tAuch der Einflufs Ulricis d\u00fcrfte beteiligt sein. Ygl. Das menschl. Denken S. 46.\n2\tDabei ist zu beachten, dafs Schuppe stets geneigt ist, das Wort \u201eDenken\u201c im Sinne von \u201eim Bewufstsein haben\u201c zu gebrauchen. Das Bewufstsein ist ihm stets lebendige Th\u00e4tigkeit, w\u00e4hrend ich es nur als eine allgemeine Eigenschaft der psychischen Prozesse kenne (vgl. z. B. auch Nat\u00fcrl. Weltansicht S. 9 ff.).\n3\tDas menschliche Denken S. 49.","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n125\ngeistige Element, das Denken selbst ist, ohne welches weitere Verwendung und Verbindung unm\u00f6glich ist, das nicht nur den ersten Sinnenreiz zum Gedachten und zum Wort macht, sondern auch alle weitere Verbindung von Gedanken und Worten zu Urteilen und Schl\u00fcssen bewirkt . . . Als Fixieren, Bestimmt-und Festmachen des aufgenommenen Eindrucks, Aufnehmen des Eindrucks in seiner positiven Bestimmtheit, Aneignen, Aufnehmen der Hirnaffektionen1 ins Bewufstsein, kann man nach Schuppe diesen ersten Prozefs auch bezeichnen. Das eigentliche Unterscheiden und Wiedererkennen (Identifizieren) ist nach Schuppe nur sekund\u00e4r, ist, wie er sich ausdr\u00fcckt, \u201enur die sichtbare notwendige Folge jener Tat\u201c.\nWenn ich recht sehe, ist Schuppe dieser Lehre auch in der Erkenntnistheoretischen Logik im wesentlichen treu gebliehen. S. 145 heilst es: \u201eWir k\u00f6nnen uns der Erkenntnis nicht ver-schliefsen, dafs in diesem einfachsten Bewufstseinsinhalt, der sich uns als unzerlegbares Ganzes pr\u00e4sentiert, auch ein Anteil ist, der dem Denken als solchem zukommt, zwar nicht dem Denken im engeren und eigentlichen, doch aber dem im weiteren Sinne, und dafs er ein geistiges Eigentum ist, etwas im weiteren Sinne doch jedenfalls allem geistigen Geschehen Gleichartiges, insoweit schon, um \u00fcberhaupt in ihm erscheinen und als Bestandteil verwendet werden zu k\u00f6nnen. Dafs die vorauszusetzende Denkarbeit passend mit dem Namen des Identit\u00e4tsprinzipes bezeichnet werden kann, glaube ich im \u201eMenschlichen Denken\u201c erwiesen zu haben, weil wir uns diesen Vorgang nicht anders denken k\u00f6nnen als das Aufnehmen des Eindruckes in seiner positiven Bestimmtheit, zugleich nat\u00fcrlich mit dem Ausschlufs von allem anderen, worin allein seine Denkbarkeit und seine Verwendbarkeit im Denken besteht.\u201c\nIm Grundrifs (S. 39) weicht die Darstellung insofern etwas ab, als Schuppe bestimmter erkl\u00e4rt, dafs man das Fixieren und Auf nehmen nicht als eine subjektive T\u00e4tigkeit denken d\u00fcrfe, sondern nur als das Bewufstsein von dieser positiven Bestimmtheit, durch welche eben erst Unterscheidbarkeit von anderem m\u00f6glich ist. Ausdr\u00fccklich f\u00fcgt er bei: \u201eDie psychologische Voraussetzung des n\u00f6tigen Erinnerungsbildes sowie die psychologische Seite des Wiedererkennens gehen uns hier nichts an.\n1 Demgegen\u00fcber bitte ich zu bedenken, dafs uns diese \u201eHirnaffektionen\u201c doch auch nur als bewufste Empfindungen gegeben sind.","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nTh. Ziehen.\nDas Wiedererkennen oder Insbewufstseintreten der Identit\u00e4t findet freilich mit der ins Bewnfstsein tretenden positiven Bestimmtheit zugleich statt, aber der Begriff desselben und der dieses Bestimmten sind doch zu unterscheiden.\u201c\nEs versteht sich von selbst, dafs an dieser Frage der ersten Verarbeitung der gegebenen Empfindungen sowohl die Psychologie als auch die Erkenntnistheorie ein ganz wesentliches Interesse hat. Ich will deshalb im folgenden auf die ScHUPPEsche Antwort noch etwas ausf\u00fchrlicher eingehen.\nZun\u00e4chst mufs ich im geraden Gegensatz zu Schuppe behaupten, dafs in erster Linie eine psychologische und psychophysiologische quaestio facti vorliegt. Wir haben einfach empirisch festzustellen: Was geschieht tats\u00e4chlich? Meine Antwort lautet so: Alle unsere Empfindungen sind als solche bewufst. Unbewufste Empfindungen sind erst durch ungen\u00fcgend begr\u00fcndete Hypothesen eingeschmuggelt worden. Die Empfindung weckt durch Assoziation ein Erinnerungsbild einer gleichen oder mehr oder weniger \u00e4hnlichen Empfindung. Diesen \u00c4hnlichkeitsassoziationen, welche man sich nat\u00fcrlich nicht als disparaten, d. h. springenden Prozefs, sondern ebenso wie den zu Grunde liegenden materiellen Vorgang als kontinuierlich im Sinne einer \u201eVerschmelzung\u201c oder partiellen Koinzidenz vorzustellen hat, entspricht das Wiedererkennen im Sinne der sog. Bekanntheitsqualit\u00e4t. Nur zuweilen schliefst sich daran weiter ein Wiedererkennungsurteil, d. h. das Urteil: dieser Gegenstand ist derselbe, den ich fr\u00fcher schon gesehen etc. habe.\nWoher weifs Schuppe, dafs \u201eeine noch nicht zum Gedanken erhobene Nervenaffektion oder Empfindung\u201c existiert? Und vor allem, was f\u00fcgt Schuppes \u201eAuffassen des Eindrucks in seiner positiven Bestimmtheit\u201c, welches Schuppe vom Wiedererkennen trennen will, zu der Empfindung hinzu? Die Empfindung ist doch als solche qualitativ bestimmt und positiv und bewufst. Was soll noch dies Auffassen? Ich kann mir nicht anders denken, als dafs Schuppe hier durch den Einflufs1 des Kant-schen Apprehensionsbegriffes und dieser oder jener Variante des Apperzeptionsbegriffs von der durch seine eigenen erkenntnistheoretischen S\u00e4tze gewiesenen Bahn abgedr\u00e4ngt worden ist. Der Begriff \u201edasselbe\u201c und \u201eder Begriff dieses Bestimmten\u201c sind gewifs zu unterscheiden, aber nicht, wie Schuppe will, durch das\n1 Y gl. auch S. 36, Anm. 1.","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.\n127\nAuffassen des Eindrucks in seiner positiven Bestimmtheit, sondern dadurch, dafs der Begriff \u201edasselbe\u201c ein Wiedererkennungs-urteil (Wiedererkennen in Urteilsform) involviert, w\u00e4hrend der \u201eBegriff dieses Bestimmten\u201c nichts anderes ist als das von jeder Empfindung zur\u00fcckbleibende Erinnerungsbild. Ich betrachte das \u201eAuffassen\u201c als einen durch nichts belegten, hypothetischen Akt, der, wie so viele andere hypothetische Seelent\u00e4tigkeiten, nichts erkl\u00e4rt und nichts zu erkl\u00e4ren hat.\nDamit ist auch das Identit\u00e4tsprinzip der etwas mystischen Bolle entkleidet, welche es nach Schuppe bei allen Bewufstseins-vorg\u00e4ngen spielen soll. Bei der bewufsten Empfindung als solcher hat es \u00fcberhaupt nichts zu tun und ist vielmehr nichts anderes als eine der wichtigsten Beziehungsvorstellungen, welche nicht nur bei dem Wiedererkennen, sondern auch bei dem Aufbau unserer zusammengesetzten Vorstellungen und unserer Urteile als Hauptfaktor wfirksam ist und die Verarbeitung des erkentnnistheoretischen Fundamentalbestandes zusammen mit der Kausalit\u00e4tsvorstellung und der von mir hinzugef\u00fcgten R\u00fcckwirkungsvorstellung vollst\u00e4ndig beherrscht. Insofern habe ich sie als Kategorialvorstellung bezeichnet. Man darf jedoch nicht vergessen, dafs der Name Identit\u00e4tsprinzip sehr ungl\u00fccklich gew\u00e4hlt ist. Es handelt sich erstens nicht um ein Prinzip, sondern\num eine Beziehungsvorstellung, und zweitens ist die Identit\u00e4t\n\u2022 \u2022\nein relativ seltener Spezialfall. Verschiedenheit und \u00c4hnlichkeit,\n* * ______________________\nVer\u00e4nderung und Ahnlichbleiben sind die H a up t f\u00e4lle, welche das Prinzip umfafst (vgl. meine Erkenntnisth. S. 7 ff.).\nDabei verkenne ich durchaus nicht, dafs das Wiedererkennen selbst erkenntnistheoretisch noch grofse Schwierigkeiten darbietet. Die Beziehung des Erinnerungsbildes auf die Grundempfindung\nund die Identifikation beider im Wiedererkennen bleibt ein Pro-\n\u2022 \u2022\nblem, zu dessen L\u00f6sung ich nur auf die tats\u00e4chliche \u00dcbereinstimmung der an die Grundempfindung und der an das Erinnerungsbild assoziierten Vorstellungen hinweisen kann; aber das Problem wird durch die ScHUPPEsche Hypothese der L\u00f6sung keinen Schritt n\u00e4her gef\u00fchrt.\nSchliefslich kann ich nicht umhin zu betonen, dafs Schuppe zu seiner hypothetischen Zerlegung der Empfindung in ein Objekt und in ein Ergreifen des Objekts, jedenfalls auch durch seine fr\u00fcher bereits besprochene und von mir bek\u00e4mpfte Ich-Hypothese gedr\u00e4ngt worden ist. Nachdem er ein Ich als Ur-","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nTh. Ziehen\ntatsache aufgestellt hatte, mufs nat\u00fcrlich dieses Ich die Empfindung erst \u201eergreifen\u201c (S. 145). Es scheint mir auch gar nichts zu helfen, dafs Schuppe ausdr\u00fccklich selbst erkl\u00e4rt, dafs \u201edie Vorstellung von einer T\u00e4tigkeit des Subjekts, welche das Objekt ergriffe, nicht im eigentlichen Sinne zul\u00e4ssig sei, da wir das Objekt als noch unergriffenes, welches erst ergriffen w\u00fcrde, uns nicht vorstellen k\u00f6nnen, und dafs dieses Zusammen der beiden Bestandteile eben Urtatsache sei und uns als Urvoraussetzung gelten m\u00fcsse\u201c. In welchem Sinn ist dann diese Vorstellung des Ergreifens noch zul\u00e4ssig oder gar als Hypothese behufs k\u00fcrzerer, korrekterer und allgemeinerer Beschreibung der Tatsachen gerecht-fertigt ? Auch an diesem Punkte scheint mir sich wieder zu zeigen, dafs die ScHUPPEsche Spaltung des erkenntnistheoretischen Fundamentalbestands in Objekt und Ich und ein Ergreifen nicht nur unbewiesen und unaufkl\u00e4rend, sondern auch undurchf\u00fchrbar ist. Sie f\u00fcgt zu den schweren Problemen der Erkenntnistheorie ein neues R\u00e4tsel hinzu und entpuppt sich selbst als \u201enicht im eigentlichen Sinn zul\u00e4ssig\u201c. Demgegen\u00fcber scheint mir meine Zerlegung des erkenntnistheoretischen Fundamentaltatbestands in die \u201eReduktionsbestandteile\u201c und die v-Komponenten bis in alle Konsequenzen durchf\u00fchrbar und durchaus geeignet zur allgemeinsten und k\u00fcrzesten und korrektesten Beschreibung der Tatsachen. An Stelle des \u201eErgreifens\u201c treten die wohlbekannten physikalischen und psychophysiologischen Vorstellungen der Kausalwirkungen und der Parallelwirkungen (d. h. der sog. spezifischen Energien).\nSelbstverst\u00e4ndlich habe ich mit diesen Auseinandersetzungen die ScHUPPEschen Lehren nicht ersch\u00f6pft. Eine ersch\u00f6pfende Darstellung war auch in keiner Weise mein Zweck, ich beabsichtigte vielmehr nur einen Vergleich einiger Hauptpunkte der ScHUPPEschen Erkenntnistheorie und der meinigen zu versuchen und die meinige gegen\u00fcber der ScHUPPEschen zu verteidigen und in einzelnen Punkten weiter zu entwickeln. Die ScHUPPEsche Erkenntnistheorie hat nach meiner \u00dcberzeugung noch nicht die verdiente Beachtung gefunden. Ich halte sie f\u00fcr eine der bedeutendsten des vergangenen Jahrhunderts. Auch die Begr\u00fcndung dieser Ansicht ist ein Zweck der vorausgegangenen Er\u00f6rterungen gewesen.\n(Eingegangen am 3. Juli 1903.)","page":128}],"identifier":"lit32907","issued":"1903","language":"de","pages":"91-128","startpages":"91","title":"Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen: 2. Schuppe. Der naive Realismus","type":"Journal Article","volume":"33"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:37:08.871318+00:00"}