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{"created":"2022-01-31T16:37:22.973747+00:00","id":"lit32910","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 33: 207-213","fulltext":[{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"207\nLiteraturbericht.\nH. Rickert. Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbiidnng. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. I!. T\u00fcbingen und Leipzig, Mohr (Siebeek), 1902. 743 S. Mk. 9.\u2014.\nF\u00fcr die modernen Geisteswissensehaften, oder wie Rickert sagt, die historischen Kulturwissenschaften, war es verh\u00e4ngnisvoll gewesen, dafs sich Logik und Methodologie der wissenschaftlichen Forschung und Zielsetzung fast ausschliefslich an den fr\u00fcher ausgebildeten naturwissenschaftlichen Kategorien und Verfahrungsweisen orientiert hatte. Die Folge war, dafs die Geisteswissenschaften entweder, auf logische Grundlage g\u00e4nzlich verzichtend, in roh spezialistischer Empirie verharrten, oder dafs sie die naturwissenschaftliche \u201eUniversalmethode\u201c zu ihrem Ideal erkoren. Dilthey war der erste, der dem gegen\u00fcber den leider unvollendet gebliebenen Versuch machte, den Geisteswissenschaften eine eigene philosophische, und zwar antinaturalistische, ja hypernaturalistische Grundlegung zu geben ; dann wurde nach l\u00e4ngerer Pause die Arbeit in intensiver Weise wieder aufgenommen von einer kleinen Gruppe innerhalb zusammenh\u00e4ngender s\u00fcd-westdeuscher Philosophen: Windelband, Rickert, M\u00fcnsterberg; und das vorliegende Buch darf als erster zusammenfassender Abschlufs dieser Bem\u00fchungen gelten.\nDafs in einer solchen Revision des globus intellectualis auch die Psychologie, die ja nach heute weithin herrschender Auffassung eine zentrale Stellung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften einnimmt, in entschiedenster Weise tangiert werden mufs, ist selbstverst\u00e4ndlich; sowohl ihre Stellung im System der Wissenschaften wie ihre Leistungsf\u00e4higkeit als \u201eGrundlage\u201c der Geisteswissenschaften enth\u00e4lt in der RicKERTSchen Gedankenf\u00fchrung eine Einschr\u00e4nkung, die zwar in vielen Punkten zweifellos zu weit geht, jedoch im grofsen und ganzen gegen\u00fcber den Anspr\u00fcchen und Hoffnungen der \u201ePsychologisten\u201c eine gesunde Reaktion darstellt und auch der psychologischen Spezialarbeit auf theoretischem und angewandtem Gebiet nur n\u00fctzen kann.\nSo verlockend es ist, das bedeutende Buch in seinem ganzen Umfange ausf\u00fchrlich zu w\u00fcrdigen, so werden wir uns doch, den Aufgaben dieser Zeitschrift entsprechend, haupts\u00e4chlich auf die Schlufsfolgerungen f\u00fcr die Psychologie konzentrieren und die \u00fcbrigen Gedankeng\u00e4nge nur, sowreit es f\u00fcr diesen Zweck n\u00f6tig ist, darstellen.","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"Li teratur bericht.\nDie ersten drei Kapitel des Buches sind bereits 1896 erschienen und haben in dieser Zeitschrift (16, 231) fr\u00fcher Besprechung gefunden. (Siehe dazu die Berichtigung 17, 397.) Der zweite, viel st\u00e4rkere Halbband umfafst nur zwei Kapitel, Kap. IV (Die historische Begriffsbildung), das freilich mehr als ein Drittel des gesamten Bandes ausmacht, und Kap. V (Natur-und Geschichtsphilosophie).\nDer Grundgedanke des Buches ist der, dafs die Hauptscheidung im System der Wissenschaften nicht nach einem sachlich - inhaltlichen, sondern nach einem formal-methodologischen Gesichtspunkt vorgenommen werden m\u00fcsse. Die \u00fcbliche Betrachtung scheidet nach der Verschiedenheit der Objekte, indem sie den Naturwissenschaften die physischen, den Geisteswissenschaften die psychischen Objekte zur Forschung \u00fcberwies. Die Folge war erstens, dafs die allgemeinste Wissenschaft vom psychischen, die Psychologie, als Fundament der Geistes Wissenschaften angesehen werden mufste, und ferner dafs, da ja nur die Objekte verschieden waren, in Fragen der Methode sehr wohl eine \u00dcbertragung aus einem Gebiet ins andere m\u00f6glich erschien. Dem gegen\u00fcber machte schon Windelband gerade eine methodologische Unterscheidung zum Trennungsmoment; Wissenschaft geht entweder auf Allgemeines oder auf Individuelles; und zwar ist die Naturwissenschaft \u201enomothetisch\u201c, Gesetze suchend, die Geschichtswissenschaft \u201eidiographisch\u201c, einmalige Ereignisse beschreibend.\nRickeet nimmt diesen Gedanken auf, vertieft ihn bedeutend und weist nach, dafs beide Wissenschaften in ihrer logischen Struktur ebenso wie in ihrer Aufgabe f\u00fcr Weltanschauung und Normgebung geradezu komplement\u00e4r zueinander sind.\nNicht nur die Welt im ganzen, sondern jedes einzelne Ding ist extensiv und intensiv von unendlicher Mannigfaltigkeit, die durch Wissenschaft nicht darstellbar ist. Deshalb kann Wissenschaft lediglich die Aufgabe haben, die Mannigfaltigkeit der Welt durch bestimmte Bearbeitung zu \u00fcberwinden. F\u00fcr diese Bearbeitung aber gibt es zwei Auswahlprinzipien: entweder wird die einzelne Tats\u00e4chlichkeit als Exemplar auf allgemein geltende Begriffe, Relationen und Gesetze bezogen: das ist Naturwissenschaft \u2014 oder sie wird als individuelles Sein auf allgemeine Werte bezogen: das ist Geschichtswissenschaft. Dort wird alles Individuelle, Besondere, Zeitliche ausgestofsen, weil es nicht durch Begriffe zu fassen ist, hier wird gerade das Individuelle Einmalige gesucht, weil und sofern sich in ihm ewige Werte verwirklichen.\nDas Ideal der Naturwissenschaft ist dort erreicht, wo die Dinge zu qualit\u00e4tslosen, gleichartigen und gleichwertigen Elementen (Atomen) verfl\u00fcchtigt sind, zwischen denen allgemeine zeitlose Relationen bestehen. Diesem Ideale kommen die einzelnen Naturwissenschaften freilich verschieden nahe, am n\u00e4chsten die mechanische Physik. Aber auch die Psychologie studiert das Seelenleben unter dem Gesichtspunkt des Allgemeing\u00fcltigen, nicht des Individuellen, sie sucht nichts als die \u00fcberall geltenden Beziehungen zwischen den atomisierten Bestandteilen des Seelenlebens und geh\u00f6rt somit methodologisch durchaus zu den Naturwissenschaften.","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Liter aturbericht.\n209\nW\u00e4hrend dieser Gedankengang nur insofern neu ist, als er ein Verfahren, das vielen als Kennzeichen der Wissenschaft \u00fcberhaupt gilt, lediglich auf die naturwissenschaftliche Betrachtung einschr\u00e4nkt, ist die Deduktion der geschichtlichen Begriffsbildung gerade im Positiven neu, und wie mir scheint, von h\u00f6chster Fruchtbarkeit. Geschichte geht nicht auf allgemeine Begriffe und Gesetze, sondern durchaus auf individuelles und einmaliges konkretes Dagewesensein; aber sie ist andererseits auch nicht eine blofse Registrierung beliebiger vergangener Tatsachen, womit sie, wie ja auch \u00f6fter behauptet werden, \u00fcberhaupt aus dem Rahmen der Wissenschaften herausfallen w\u00fcrde ; sondern sie tritt der Wirklichkeit mit einem besonderen Auswahl- und Bearbeitungsprinzip gegen\u00fcber, dem der Wertbeziehung, und bedarf daher auch einer besonderen Begriffsbildung, die zu den Begriffen des historischen Individuums, des historischen Zusammenhangs und der historischen Entwicklung f\u00fchrt.\nDas Individuelle, das die Geschichte darstellt, ist nicht wie das naturwissenschaftliche Individuum, ein beliebig Atomisierbares oder durch andere Individuen Ersetzbares, sondern ein teleologisches \u201eIn-dividuum\u201c, vom Wertstandpunkt nicht zu teilendes, weil ihm als Einzigartigem eine unersetzbare Bedeutung zukommt. Der Wertstandpunkt aber, zu dem ein Individuum Beziehung hat, darf nicht ein willk\u00fcrlicher, subjektiver sein, sondern mufs ein allgemeiner, also stets \u00fcberindividueller sein: z. B. ein politischer, religi\u00f6ser, \u00e4sthetischer u. s. w. Ist also das Individuum naturwissenschaftlich wichtig durch das, was es \u201emit allen gemeinsam hat\u201c, so historisch durch das, wodurch es \u201ef\u00fcr alle bedeutsam\u201c ist. Bedeutsam aber f\u00fcr alle ist das historische Individuum gerade durch das, worin es anders ist als alle. Damit ist Geschichte individualisierend.\nAuch die von der Geschichte zu fordernde Einordnung eines Individuums in einen historischen Zusammenhang darf nicht mit der Einordnung eines naturwissenschaftlichen Exemplars unter den Allgemeinbegriff verwechselt werden. Denn der Begriff ist eine Abstraktion, das historische Ganze aber, zu dem das Individuum geh\u00f6rt, die Gattung, das Volk u. s. w., ist selbst wieder etwas Konkretes, ein Individuum h\u00f6herer Ordnung. \u2014 Wichtig ist schliefslich die Betrachtung des Kausalit\u00e4tsprinzips, das die Naturwissenschaft f\u00e4lschlich mit dem Kausalit\u00e4ts g e s e t z ersch\u00f6pft glaubte. Auch die Geschichte behandelt Kausalzusammenh\u00e4nge, freilich nicht allgemeine, sondern individuelle ; und f\u00fcr diese gilt nicht der Satz : causa aequat effectum, der ja nur eine Folge der naturwissenschaftlichen Abstraktion vom Verschiedenen ist; vielmehr sind die historischen Kausalzusammenh\u00e4nge nur durch Kausalungleichungen ausdr\u00fcckbar.\nDafs sich die durchgef\u00fchrte Scheidung zwischen \u201enaturwissenschaftlicher\u201c und \u201egeschichtlicher\u201c Begriffsbildung durchaus nicht \u00fcberall mit der \u00fcblichen Abgrenzung der tats\u00e4chlich vorhandenen Natur- und Geschichtswissenschaften deckt, ist Rickert durchaus klar; und er benutzt jede Gelegenheit, zu zeigen, wo sich historische Bestandteile in den Naturwissenschaften, naturwissenschaftliche in den historischen Wissenschaften zeigen. So ist die Nebularhypothese der Astronomie und die biologische Konstruktion des Stammbaums der Arten durchaus Geschichte; denn nicht all-\n14\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 33.","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nLiteraturbericht.\ngemeine Gesetze, sondern einmaliges Geschehen soll dargestellt werden. Und andererseits ist der Versuch, regelm\u00e4fsige Wiederkehr bestimmter Geschehnisfolgen in der Geschichte als historische und soziologische \u201eGesetz-m\u00e4fsigkeiten\u201c zu konstatieren, durchaus Naturwissenschaft.\nIndessen gen\u00fcgt auch dies vielf\u00e4ltige Ineinandergreifen von naturwissenschaftlichen und historischen Momenten innerhalb der einzelnen Wissenschaften nicht, um tats\u00e4chlich das ganze Gebiet wissenschaftlicher Forschung logisch zu ersch\u00f6pfen. Es gibt zwischen dem absolut Allgemeinen des naturwissenschaftlichen Ideals und dem absolut Individuellen des historischen Ideals Zwischengebiete f\u00fcr welche R. den h\u00f6chst wichtigen, hier nicht n\u00e4her zu er\u00f6rternden Mittelbegriff des \u201erelativen Historischen\u201c schafft.\nSoweit ist die Scheidung der wissenschaftlichen Begriffsbildung lediglich auf formal methodologische Prinzipien begr\u00fcndet. Allein R. verhehlt sich nicht, dafs der bisher gewonnene Begriff des \u201eGeschichtlichen\u201c verglichen mit dem, was tats\u00e4chlich Gegenstand der sogenannten Geistes- und Kulturwissenschaften ist, viel zu weit ist; und nunmehr m\u00fcssen zur ferneren Determination auch sachlich-inhaltliche Gesichtspunkte hinzugezogen werden. Damit treten wir in Betrachtungen ein, die mehr oder minder direkt auf die Psychologie Bezug haben (S 531 ff.). Das Schwergewicht der R.schen Ausf\u00fchrungen beruht hier auf dem Nachweis, dafs auch sachlich der Unterschied zwischen \u201eNatur\u201c und \u201eGeist\u201c, nach dem sich die beiden Wissenschaftsgruppen nennen, nicht identifiziert werden darf mit dem Unterschied von \u201ePhysisch\u201c und \u201ePsychisch\u201c. Dieser Nachweis hat einen negativen und einen positiven Teil; zun\u00e4chst wird gezeigt, dafs die Wissenschaft vom Psychischen durchaus nicht eine Grundlage der geschichtlich kulturellen Wissenschaften sein k\u00f6nne, sodann wird dargelegt, wie man den Begriff des Geistes in \u201eGeisteswissenschaften\u201c zu verstehen habe.\nDafs die Psychologie mit den Naturwissenschaften die Methode, mit den Geisteswissenschaften das Objekt gemeinsam habe und damit zur nat\u00fcrlichen Mittlerin berufen sei, ist eine weit verbreitete \u00dcberzeugung. Dicke geisteswissenschaftliche B\u00fccher \u201eauf psychologischer Grundlage\u201c zeugen davon. R. h\u00e4lt diese \u00dcberzeugung und Hoffnung f\u00fcr ungerechtfertigt; weder die schon vorhandene naturwissenschaftliche Psychologie, noch eine erst zu schaffende beschreibende Psychologie (Dilthey) kann als Grundlage der geschichtlichne Geisteswissenschaften gedacht werden. Denn alle Psychologie geht ihrem Begriffe nach auf Unterordnung der Wirklichkeiten unter ein System zeitlos geltender Allgemeinbegriffe und damit h\u00f6rt ihre Leistung dort auf, wo die Aufgabe der Geschichte, Darstellung einer einmaligen individuellen Entwicklung, erst anf\u00e4ngt. Die Psychologie des Menschenkenners hat mit der verallgemeinernden Psychologie des Forschers nichts zu tun. \u201eDas nacherlebende Verstehen und die Unterordnung unter ein System allgemeiner Begriffe sind zwei geistige Prozesse, die einander aussehliefsen.\u201c Ist so die Psychologie keinesfalls die Grundlage der Geschichtswissenschaften, so entsteht die weitere Frage, ob nicht wenigstens von psychologischem Wissen und \u00dcberzeugtsein eine Beeinflussung der historischen Auffassung zu erwarten sei. R. gesteht die logische M\u00f6glich-","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Litera turbericht.\nkeit einer solchen Beeinflussung zu, h\u00e4lt sie aber tats\u00e4chlich f\u00fcr ganz bedeutungslos. So bestreitet er, dafs der \u00dcbergang, den die Psychologie von der Betrachtung der im Einzelbewufstsein sich abspielenden Ph\u00e4nomene zu sozialpsychologischen Untersuchungen gemacht hat, von Einflufs gewesen sei auf den entsprechenden \u00dcbergang der historischen Auffassung \u2014 wir kommen weiter unten noch auf dies Verh\u00e4ltnis zu sprechen. Endlich kann noch daran gedacht werden, dafs die von der Psychologie geschaffenen Allgemeinbegriffe von der Geschichte als Hilfsmittel ihrer individualisierenden Darstellung benutzt werden. Aber das ist keine prinzipielle Frage, aufserdem ist selbst diese Leistung sehr gering, um so geringer, je allgemeiner und einfacher, d. h. \u201epsychologischer\u201c die Begriffe sind. Von dem atomisierten und generalisierten Seelenleben des psychologischen Laboratoriums f\u00fchrt zur Geschichte und Geschichtsauffassung keine Br\u00fccke.\nAber noch von einem anderen Gesichtspunkte aus ist Psychologie als Grundlage der Geschichte unm\u00f6glich. Die Vorbedingung der Psychologie ist die begriffliche Scheidung des Physischen vom Psychischen, ja sogar, wTofern man den landl\u00e4ufigen Parallelismus acceptiert, die Leugnung eines Kausalzusammenhanges zwischen Physischem und Psychischem. Die \u00dcbertragung derartiger Gesichtspunkte auf die Geschichte w\u00fcrde diese ver\u00f6den und verzerren. Das Individuelle, das die Geschichte darstellt, ist durchaus psychophysische Einheit; die Kausalzusammenh\u00e4nge, die sie zu beschreiben hat, sind solche von Geistigem auf K\u00f6rperliches und umgekehrt ; gerade das, wovon die Naturwissenschaft abstrahiert, um Physisches und Psychisches \u201eparallel\u201c setzen zu k\u00f6nnen, ist Gegenstand der Geschichte selbst, die deshalb mit psychophysischen Kausalausgleichungen arbeiten mufs und darf.\nAber was bedeutet denn, wenn \u00fcberhaupt die Scheidung zwischen Physischem und Psychischen f\u00fcr die geschichtlichen Geisteswissenschaften irrelevant ist, der Terminus \u201eGeistes\u201c-Wissenschaft? Mit dieser Frage treten wir wieder in eine weitere h\u00f6chst wichtige Phase der Betrachtung. Der Unterschied zwischen Natur und Geist ist logisch methodologisch ein ganz anderer als der von Physisch und Psychisch. \u201eIn der Erfahrungswelt werden sich \u00fcberall solche Vorg\u00e4nge, in denen ein alternatives Verhalten, d. h. ein Anerkennen oder Abweisen, ein Billigen oder Mifsbilligen, ein Begehren oder Verabscheuen, m. a. W. ein Werten zum Ausdruck kommt, eindeutig von solchen Vorg\u00e4ngen abtrennen lassen, die indifferent gegen alle Werte sich verhalten.\u201c Nun ist bekanntlich Geschichte Darstellung derjenigen Wirklichkeiten, welche zu allgemeinen Werten Beziehung haben. Es ist verst\u00e4ndlich, dafs unter diesen Wirklichkeiten diejenigen eine zentrale Stellung einnehmen werden, welche selbst eine solche Beziehung zu Werten schaffen, m. a. W.: die zu Werten Stellung nehmen. Die \u201ehistorischen Zentren\u201c sind daher stets geistige, d. h. eines alternativen Verhaltens f\u00e4hige Wesen. Nun aber behandeln die Geisteswissenschaften nur die Beziehungen zu \u201eallgemeinen\u201c Werten, denen gegen\u00fcber von geistigen Wesen eine Stellungnahme gefordert werden mufs. Diese allgemeinen normativen Werte bezeichnen wir als \u201eKultur\u201c, und damit ist gegen den Begriff des indifferenten wertfreien Seins ein sach-\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nLiteraturbericht.\nlieher Gegensatz gefunden; den Naturwissenschaften treten die Kulturwissenschaften gegen\u00fcber, und dieser Terminus dr\u00fcckt f\u00fcr unseren Sprachgebrauch viel korrekter das Gemeinte aus, als \u201eGeistesWissenschaft\u201c, welcher Ausdruck nur f\u00fcr die HEGELSche Terminologie berechtigt war; denn f\u00fcr Heg-el war der (objektive) Geist nicht identisch mit unserem Begriff \u201ePsvche\u201c sondern mit \u201eKultur\u201c.\nEin Eingehen auf das V. Kapitel (Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie) m\u00fcssen wir uns, trotzdem es sehr viel des Sch\u00f6nen enth\u00e4lt, mit R\u00fccksicht auf die Ziele dieser Zeitschrift versagen. Nur soviel sei hier bemerkt, dafs es jeden Versuch, Geschichtsphilosophie und philosophische Normwissenschaften rational \u2014 also naturwissenschaftlich oder metaphysisch oder psychologistisch \u2014 zu begr\u00fcnden, zur\u00fcckweist, und die Philosophie, d. h. die normative Behandlung der Wertprobleme, in Fichte-schem Sinne auf den absoluten Wert des pflichtbewufsten Willens zur\u00fcckf\u00fchrt. \u2014\nZu einigen Punkten des RiCKERTSchen Buches sei noch kurz kritisch Stellung genommen. Zun\u00e4chst etwas Terminologisches, das aber, wie zu f\u00fcrchten ist, einer intensiven Wirksamkeit der wertvollen RiCKE\u00dfTschen Ideen hindernd in den Weg treten wird. Von so fundamentaler Bedeutung es ist, dafs das Dogma einer wissenschaftlichen Universalmethode, die nur auf Allgemeing\u00fcltigkeiten und Gesetzm\u00e4fsigkeiten gehe, zerst\u00f6rt wird, so bedenklich ist es, jene Methode mit dem Namen des Naturwissenschaftlichen zu decken. Der Sprachgebrauch, der das Wort \u201eNatur\u201c an bestimmte Objekte und nicht an bestimmte Methoden kn\u00fcpft, ist so eingewurzelt, dafs er sich nicht mehr in andere Richtung zwingen lassen wird. Kein Biologe, der den Ursprung der Arten untersucht, kein Astronom, der \u00fcber die Entwicklung unseres Sonnensystems Hypothesen aufstellt, wird zugestehen k\u00f6nnen und wollen, dafs er damit aus dem Rahmen des Naturwissenschaftlichen herausgefallen sei; und umgekehrt widerstrebt es uns, Hegels Versuch, die Gesichte auf Gesetzm\u00e4fsigkeiten zur\u00fcckzuf\u00fchren, als einen \u201enaturwissenschaftlichen\u201c zu bezeichnen. Eine Beibehaltung der Windelband-schen Terminologie \u201enomothetisch\u201c und \u201eideographisch\u201c w\u00e4re dann empfehlenswerter gewesen; auch andere Begriffspaare \u2014 rational und irrational, mechanisch und teleologisch h\u00e4tten zur Verf\u00fcgung gestanden.\nWas die Psychologie anbetrifft, so ist meines Erachtens der Nachweis gelungen, dafs sie ihrer logischen Struktur nach durchaus mit den theoretischen Naturwissenschaften auf einer Linie steht, dagegen von den historischen Geisteswissenschaften verschieden ist. Auch die Charakteristik des Psychologismus, welcher Kultur- und Nornrwissenschaften auf theoretische Kenntnis psychischer Ph\u00e4nomene gr\u00fcnden will, scheint mir zutreffend: \u201eDer Psychologismus ist die Form, welche der Naturalismus annehmen mufste, als der Materialismus abgetan war\u201c (S. 551). Indessen, so wenig die Psychologie als Grundwissenschaft der Geisteswissenschafteil zu gelten hat, so weitreichend ist der Umfang ihrer Dienstbarkeit und dieser wird R. durchaus nicht gerecht. Seine logische Konstruktion hat hier augenscheinlich einen sehr wichtigen Punkt vernachl\u00e4ssigt.\nAllgemeine Begriffe und Kausalgesetze einerseits, individuelle Wirklichkeiten und Kausalzusammenh\u00e4nge andererseits stehen freilich als letzte","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n213\nwissenschaftliche Ziele durchaus im Gegensatz zueinander, nicht aber als Arbeitsmittel. Denn der Wert des Allgemeinen bekundet und bew\u00e4hrt sich ja erst daran, dafs es auf Neues, Individuelles anwendbar ist. Auch der Arzt am Krankenbett will diesen individuellen Fall verstehen, der Techniker diese individuelle Br\u00fccke bauen; und wenn auch zu diesem Individualisieren niemals die blofse allgemeine Theorie gen\u00fcgen wird, so ist doch eben so klar, dafs es ohne Theorie, d. h. Anwendung des Allgemeinen, unter welches das Einzelne f\u00e4llt, auch nicht geht. Und genau das Gleiche gilt f\u00fcr die Geschichte. Um ein von R. gebrauchtes Beispiel zu w\u00e4hlen: das psychopathologische Ph\u00e4nomen \u201eC\u00e4sarenwahnsinn\u201c ist freilich ein (nach R.s Terminologie) naturwissenschaftliches Problem, die individuellen Taten Neros sind ein historisches Problem. Aber das historische Verst\u00e4ndnis Neros wird in hohem Mafse gef\u00f6rdert, wenn wir den individuellen Kausalzusammenhang seiner Taten als Anwendungsfall der allgemeinen Erscheinung \u201eC\u00e4sarenwahnsinn\u201c begreifen; als Anwendungsfall, nicht blofs als Gattungsexemplar; denn das freilich d\u00fcrfen wir nicht vergessen, dafs restlos das Individuelle nicht durch allgemeine Begriffe ersch\u00f6pft wird. In gleicher Weise kann die psychologische Erkl\u00e4rungskategorie der Massensuggestion sehr wohl das Verst\u00e4ndnis der Kreuzz\u00fcge f\u00f6rdern helfen; es kann ferner eine durchgef\u00fchrte Psychologie des Willens in einem einzelnen Fall das Verst\u00e4ndnis daf\u00fcr sch\u00e4rfen, inwiefern eine Tat als Ausflufs w\u00e4hlender und \u00fcberlegter Willenshandlungen des Einzelmenschen, inwiefern sie als Produkt aufserpers\u00f6nlicher ( Vererbungs-, Milieu-, spzialer, suggestiver etc.) Faktoren zu gelten habe. Es k\u00f6nnen die Gesetze der psychologischen Assoziation, Apperzeption, Gew\u00f6hnung u. s. w. auf gewisse Vorg\u00e4nge der Sprachgeschichte helles Licht werfen u. s. w. Und darum ist es Rickert gegen\u00fcber bestimmt zu behaupten, dafs die moderne Sozialpsychologie auch den Blick des Historikers f\u00fcr die Bedeutung \u00fcberindividueller Wirkungsfaktoren im historischen Leben gesch\u00e4rft hat, dafs ferner die Frage, ob man sich psychologisch zum Voluntarismus oder Intellektualismus, zum Determinismus oder Indeterminismus, zur Annahme oder Ablehnung des Unbewufsten, bekennt, nicht ohne Einflufs f\u00fcr die Art sein kann, wie man den Anteil psychischer Faktoren in den individuellen Kausalzusammenh\u00e4ngen der Geschichte auffasse. In dem berechtigten Bestreben, die Psychologie als Grundwissenschaft der geschichtlichen Wissenschaften zu bestreiten, sch\u00fcttet er das Kind mit dem Bade aus und r\u00e4umt ihr nun nicht einmal als Hilfswissenschaft die Rolle ein, die sie beanspruchen kann. Ob freilich die heutige Psychologie schon in weitem Mafse dieser Rolle gewachsen sei, w\u00e4re mit gr\u00f6fserem Fug diskussionsbed\u00fcrftig; dies aber ist eine Tatsachenfrage, nicht mehr eine solche der Logik und Methodologie.\nW. Stern (Breslau).\nO. Fl\u00fcgel. Die Seelenfrage mit R\u00fccksicht auf die neueren Wandlungen gewisser naturwissenschaftlicher Begriffe. Dritte vermehrte Auflage. G\u00f6then, Schulze, 1902. 158 S.\nAusgehend von der Tatsache, dafs der naturwissenschaftliche Materialismus darin Recht hat, dafs er eine Gesetzm\u00e4fsigkeit der Atome und ihrer Bewegung annimmt, sucht Verf. eine gleiche Gesetzm\u00e4fsigkeit auch f\u00fcr das","page":213}],"identifier":"lit32910","issued":"1903","language":"de","pages":"207-213","startpages":"207","title":"H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. II. T\u00fcbingen und Leipzig, Mohr (Siebeck), 1902. 743 S.","type":"Journal Article","volume":"33"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:37:22.973753+00:00"}