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{"created":"2022-01-31T16:37:37.550798+00:00","id":"lit32911","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Moskiewicz","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 33: 213-216","fulltext":[{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n213\nwissenschaftliche Ziele durchaus im Gegensatz zueinander, nicht aber als Arbeitsmittel. Denn der Wert des Allgemeinen bekundet und bew\u00e4hrt sich ja erst daran, dafs es auf Neues, Individuelles anwendbar ist. Auch der Arzt am Krankenbett will diesen individuellen Fall verstehen, der Techniker diese individuelle Br\u00fccke bauen; und wenn auch zu diesem Individualisieren niemals die blofse allgemeine Theorie gen\u00fcgen wird, so ist doch eben so klar, dafs es ohne Theorie, d. h. Anwendung des Allgemeinen, unter welches das Einzelne f\u00e4llt, auch nicht geht. Und genau das Gleiche gilt f\u00fcr die Geschichte. Um ein von R. gebrauchtes Beispiel zu w\u00e4hlen: das psychopathologische Ph\u00e4nomen \u201eC\u00e4sarenwahnsinn\u201c ist freilich ein (nach R.s Terminologie) naturwissenschaftliches Problem, die individuellen Taten Neros sind ein historisches Problem. Aber das historische Verst\u00e4ndnis Neros wird in hohem Mafse gef\u00f6rdert, wenn wir den individuellen Kausalzusammenhang seiner Taten als Anwendungsfall der allgemeinen Erscheinung \u201eC\u00e4sarenwahnsinn\u201c begreifen; als Anwendungsfall, nicht blofs als Gattungsexemplar; denn das freilich d\u00fcrfen wir nicht vergessen, dafs restlos das Individuelle nicht durch allgemeine Begriffe ersch\u00f6pft wird. In gleicher Weise kann die psychologische Erkl\u00e4rungskategorie der Massensuggestion sehr wohl das Verst\u00e4ndnis der Kreuzz\u00fcge f\u00f6rdern helfen; es kann ferner eine durchgef\u00fchrte Psychologie des Willens in einem einzelnen Fall das Verst\u00e4ndnis daf\u00fcr sch\u00e4rfen, inwiefern eine Tat als Ausflufs w\u00e4hlender und \u00fcberlegter Willenshandlungen des Einzelmenschen, inwiefern sie als Produkt aufserpers\u00f6nlicher ( Vererbungs-, Milieu-, spzialer, suggestiver etc.) Faktoren zu gelten habe. Es k\u00f6nnen die Gesetze der psychologischen Assoziation, Apperzeption, Gew\u00f6hnung u. s. w. auf gewisse Vorg\u00e4nge der Sprachgeschichte helles Licht werfen u. s. w. Und darum ist es Rickert gegen\u00fcber bestimmt zu behaupten, dafs die moderne Sozialpsychologie auch den Blick des Historikers f\u00fcr die Bedeutung \u00fcberindividueller Wirkungsfaktoren im historischen Leben gesch\u00e4rft hat, dafs ferner die Frage, ob man sich psychologisch zum Voluntarismus oder Intellektualismus, zum Determinismus oder Indeterminismus, zur Annahme oder Ablehnung des Unbewufsten, bekennt, nicht ohne Einflufs f\u00fcr die Art sein kann, wie man den Anteil psychischer Faktoren in den individuellen Kausalzusammenh\u00e4ngen der Geschichte auffasse. In dem berechtigten Bestreben, die Psychologie als Grundwissenschaft der geschichtlichen Wissenschaften zu bestreiten, sch\u00fcttet er das Kind mit dem Bade aus und r\u00e4umt ihr nun nicht einmal als Hilfswissenschaft die Rolle ein, die sie beanspruchen kann. Ob freilich die heutige Psychologie schon in weitem Mafse dieser Rolle gewachsen sei, w\u00e4re mit gr\u00f6fserem Fug diskussionsbed\u00fcrftig; dies aber ist eine Tatsachenfrage, nicht mehr eine solche der Logik und Methodologie.\nW. Stern (Breslau).\nO. Fl\u00fcgel. Die Seelenfrage mit R\u00fccksicht auf die neueren Wandlungen gewisser naturwissenschaftlicher Begriffe. Dritte vermehrte Auflage. G\u00f6then, Schulze, 1902. 158 S.\nAusgehend von der Tatsache, dafs der naturwissenschaftliche Materialismus darin Recht hat, dafs er eine Gesetzm\u00e4fsigkeit der Atome und ihrer Bewegung annimmt, sucht Verf. eine gleiche Gesetzm\u00e4fsigkeit auch f\u00fcr das","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"Liter aturbericht.\n214\npsychische Geschehen nachzuweisen. Auch die seelischen Vorg\u00e4nge sind \u00c4ufserungen einer Kraft, die wie jede Kraft an einen Stoff gebunden sein mufs. Dieser Stoff ist jedoch nicht das Gehirn, Bewegung und Empfindung sind zwei v\u00f6llig verschiedene Dinge. Darum hat der naive Materialismus Unrecht, beide miteinander zu identifizieren, er verwechselt die Bedingung des Denkens mit dem Denken selbst. Nicht jedoch ist der Materialismus durch erkenntnistheoretische Betrachtungen zu widerlegen, wie dies z. B. Er. Alb. Lange versucht hat. Denn Erkenntnistheoretiker und Materialisten verstehen unter Materie etwas ganz Verschiedenes. Der Erkenntnistheoretiker versteht unter der Materie das, was an der Materie sinnlich wahrgenommen wird, also ihre Qualit\u00e4ten, der Materialist aber abstrahiert gerade von \u2022diesen sinnlichen Eigenschaften und will unter Materie das verstanden wissen, was unabh\u00e4ngig vom Wahrnehmenden noch \u00fcbrig bleibt, also letzte Elemente. Auch wenn von der Materie als Grund des Geistes und umgekehrt vom Geiste als dem Grunde der Materie gesprochen wird, so ist hier unter Grund zweierlei zu verstehen. Wenn der Erkenntnistheoretiker vom Geiste als dem Grunde der Materie, d. h. der vorgestellten Materie spricht, so meint er nur, dafs der Geist eine Materie vorstelle. Hier ist also der Erkenntnisgrund gesetzt. Sagt jedoch der Materialist, die Materie, d. h. die Atome, seien die Ursache des Geistes, so meint er damit den Real-grund. Beides aber vertr\u00e4gt sich v\u00f6llig miteinander, die Materie ist, soweit sie vorgestellt wird, Wirkung des Geistes, sofern sie aber aus Atomen zusammengesetzt gedach.t wfird, ist sie dessen Ursache.\nVerf. wendet sich sodann zum modernen Parallelismus, den er in der Form der Identit\u00e4tshypothese verwirft. Wird die doch nun einmal bestehende Verschiedenheit von Physischem und Psychischem in der Alleinheit der absoluten Substanz aufgehoben, wie dies schon Spinoza und Schelling getan haben, so ist nicht einzusehen, wie dieses Eine zur Ursache der Vielheit werden kann. Die Mannigfaltigkeit ist uns nun einmal gegeben und wenn man diese als Schein betrachtet, so bleibt v\u00f6llig unerkl\u00e4rbar, wie dieser Schein von etwas gar nicht Existierendem entstehen k\u00f6nne.\nDann wiederholt Verf. eine Reihe von Einw\u00e4nden, die gegen den Parallelismus schon oft erhoben und ebenso oft widerlegt worden sind. W\u00e4re der Leib nur Erscheinung der Seele, wie ist es dann zu erkl\u00e4ren, so meint z. B. Erhardt, dafs man vom K\u00f6rper Teile entfernen kann, ohne dafs die Seele sich \u00e4ndert; wie steht es mit dem Tode, wro doch die Seele verschwindet und der Leib bestehen bleibt? Diese und \u00e4hnliche Einw\u00e4nde lassen sich leicht widerlegen, wenn man sich an die haupts\u00e4chlich von Heymans vertretene idealistische Formulierung des Parallelismus h\u00e4lt. Allerdings \u00e4ndert sich die Seele, um Gesagtes noch einmal zu wiederholen, wrenn man einzelne Teile des K\u00f6rpers entfernt, insofern als bestimmte Organempfindungen von der Seele nun nicht mehr wahrgenommen werden k\u00f6nnen, wodurch sicherlich eine, wenn auch minimale, so doch nicht wegzuleugnende Ver\u00e4nderung der Seele hervorgerufen wird. Und dafs der tote K\u00f6rper nicht Erscheinung eines Psychischen ist, das leugnet ja gerade der monistische Parallelismus, der \u00fcberhaupt nichts in der K\u00f6rperwelt kennt, das nicht Erscheinung eines Psychischen w\u00e4re. \u201eEbenso wie der K\u00f6rper beim Tode in seine elementaren Bestandteile zerf\u00e4llt, so auch der Geist, und die realen","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n215\nVorg\u00e4nge eines Leichnams m\u00f6gen sich zu unserem Bewufstsein verhalten, wie die einfache chemische Zusammensetzung des toten zu der komplizierten des lebenden K\u00f6rpers.\u201c\nEbensowenig berechtigt erscheint mir die Behauptung, wrenn die Materie zur Erscheinung herabsinkt, f\u00e4nde das Energiegesetz keine Anwendung mehr auf sie, das vielmehr eine reale und mechanisch aufzufassende Materie voraussetze.\nAbgesehen davon, dafs das Energiegesetz ein Gesetz einer Spezialwissenschaft ist, die das in der Erfahrung gegebene Material hinzunehmen hat, ohne nach dessen erkenntnistheoretischen Grundlagen zu fragen, so gestattet doch gerade der Parallelismus eine konsequente Durchf\u00fchrung des Energiegesetzes. Indem er eine Wechselwirkung zwischen Physischem und Psychischem leugnet, welch letzteres doch nie mechanisch gedeutet und auch nicht dem Energiegesetz unterworfen werden kann, indem er andererseits behauptet, dafs aufser dem Physischen auch alles Psychische, also somit die gesamte Wirklichkeit, f\u00fcr uns in die Erscheinung tritt, also als Physisches betrachtet werden kann, erm\u00f6glicht er es, die ganze Welt rein mechanisch zu konstruieren und dem Energiegesetz zu unterwerfen. Denn mechanistische Naturauffassung und Energiegesetz sind doch nur Hypothesen, die wir auf die physische Welt anwenden, um in ihr einen eindeutigen Zusammenhang hersteilen zu k\u00f6nnen. Und was daran \u00e4ndern soll, dafs die Materie in letzter Linie nur Erscheinung eines Geistigen ist, vermag ich nicht einzusehen.\nVerf. geht nun zum positiven Teil seiner Arbeit \u00fcber.\nAls letzte Ursachen sind Kr\u00e4fte anzunehmen, und da nach der Kategorie der Substantialit\u00e4t jede Kraft an einen Stoff gebunden sein mufs, so gelangt man zur Annahme von Atomen, die mit urspr\u00fcnglichen, nicht weiter ableitbaren Qualit\u00e4ten ausgestattet sind. Aber wollte man diese Kr\u00e4fte als zum Wesen des Atoms geh\u00f6rig betrachten, die vor und abgesehen von aller Bewegung mit anderen Atomen wirken k\u00f6nnen, so h\u00e4tte man ein Geschehen ohne Ursache, ein ursachloses Wirken. Auch f\u00fcr die einfachen Kr\u00e4fte der Atome m\u00fcssen Ursachen existieren, die nat\u00fcrlich nicht wieder in anderen Kr\u00e4ften gesucht werden, vielmehr nur durch die Wechselwirkung der einzelnen Atome ausgel\u00f6st werden k\u00f6nnen. Die Verschiedenheit der Wirkung ist Verschiedenheit der Qualit\u00e4ten, die den einzelnen Atomen zukommen, die nicht zu verwechseln sind mit den Eigenschaften, die wir den einzelnen Dingen zuschreiben. Qualit\u00e4tsgleiche Atome w\u00e4ren nicht im st\u00e4nde sich gegenseitig zur Kraftentfaltung zu veranlassen. Eine Mannigfaltigkeit mufs in der Natur also von vornherein angenommen werden. So gelangt man zum Pluralismus, nicht zum Monismus.\nDurch \u00e4hnliche \u00dcberlegungen, ebenfalls von dem Satze ausgehend, dafs jede Kraft einen Stoff voraussetzt, der ihr Tr\u00e4ger ist, verwirft Verf. alle Anschauungen, die die Einheit des Bewufstseins ohne die Annahme einer Seelensubstanz erkl\u00e4ren wollen; sie alle scheitern daran, dafs man \u201eaus der Zusammenwirkung von Zust\u00e4nden, die nicht Zusammenwirken k\u00f6nnen, weil sie verschiedenen Wesen angeh\u00f6ren, einen Gesamtzustand ableiten will, der, wreil jedes Tr\u00e4gers entbehrend, kein Zustand sein kann. Man sieht sich also schliefslich gezwungen, keine formale, sondern eine reale Ver-","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nLitera turberich t.\neinigung der verschiedenen geistigen Zust\u00e4nde anzunehmen, und eine solche ist nur m\u00f6glich, wenn dieselben als- Zust\u00e4nde eines und desselben unteilbaren Wesens gedacht werden. Die Seele ist nach Art der Atome also ein einfaches reales Wesen, das zwar infolge seiner grofsen qualitativen Verschiedenheit nicht dieselben chemischen Vorg\u00e4nge eingeht wie die Gehirnatome, aber doch mit diesen in bestimmter Wechselwirkung steht, die an sich nicht geheimnisvoller ist als die zwischen den k\u00f6rperlichen Atomen untereinander. Der Geist ist nun ein System von T\u00e4tigkeitszust\u00e4nden in diesem Seelenwesen. Indem nun mit diesen inneren Zust\u00e4nden der Seele solche des Gehirns und des \u00fcbrigen K\u00f6rpers verbunden sind, und da sich innere und \u00e4ufsere Zust\u00e4nde einander widersprechen, ist es erkl\u00e4rlich, wie die Seele durch Gehirn und Organismus zu wirken im st\u00e4nde ist.\nDiese Anschauung ist kein Dualismus im Sinne eines schroffen Gegensatzes zwischen Leib und Seele, vielmehr besteht eine durchg\u00e4ngige Wechselwirkung zwischen leiblichen und geistigen Vorg\u00e4ngen ; die alledem Gesetze von der Erhaltung der Energie unterworfen sind. Daraus folgt dann schliefslich die pers\u00f6nliche Unsterblichkeit des Geistes.\nMoskiewicz (Breslau).\nL. Busse. Geist und K\u00f6rper, Seele und Leib. Leipzig, D\u00fcrr, 1903. 488 S. Mk. 8,50.\nDas vorliegende, flott, mafsvoll und klar geschriebene, angenehm zu lesende, mit zahlreichen Literaturnachweisen versehene Buch beabsichtigt einmal allgemein \u00fcber die verschiedenen in Bezug auf die Frage des Verh\u00e4ltnisses zwischen Physischem und Psychischem vorliegenden Standpunkte zu orientieren, sodann die eigene, aus seinen fr\u00fcheren Schriften bekannte Auffassung des Verf. m\u00f6glichst sicher zu begr\u00fcnden und zu verteidigen. Zu diesem Zwecke bietet es zuerst (S. 12\u201461) eine nur als \u201eentr\u00e9e\u201c gemeinte Widerlegung des Materialismus; dann folgt (S. 62\u2014474) die \u201epi\u00e8ce de r\u00e9sistance\u201c unter dem Titel: \u201ePsychophysische Wechselwirkung oder psychophysischer Parallelismus?\u201c Der psychophysische Parallelismus wird zun\u00e4chst nach drei Gesichtspunkten eingeteilt: nach der \u201eModalit\u00e4t\u201c in empirischen und metaphysischen Parallelismus, nach der \u201eQuantit\u00e4t\u201c in partiellen und universellen Parallelismus, nach der \u201eQualit\u00e4t\u201c in materialistischen, realistisch-monistischen, idealistisch-monistischen und dualistischen Parallelismus; von diesen werden der empirische, der partielle und der materialistische Parallelismus als unechte, mit Inkonsequenzen behaftete, entweder nichtssagende oder in den reinen Materialismus verlaufende Formen ausgeschieden, und die anderen einer genaueren Pr\u00fcfung unterzogen. Als Vorteile des Parallelismus werden die vollst\u00e4ndige W\u00e4hrung der Rechte der Naturwissenschaft und die Erm\u00f6glichung einer wenigstens scheinbaren Vers\u00f6hnung von Verstand und Gem\u00fct anerkannt; diesen Vorteilen wird aber ein langes S\u00fcndenregister (S. 129\u2014379) gegen\u00fcbergestellt. Was zuerst den metaphysischen Unterbau anbelangt, so seien weder die zur Erl\u00e4uterung der realistisch-monistischenAuffassung verwendeten Bilder \u00fcberzeugend, noch auch der Gedanke einer durch ein unbekanntes Drittes vermittelten, oder auch nicht vermittelten Identit\u00e4t zweier heterogener Erscheinungsreihen wirklich fafsbar. Nicht viel besser sei es um","page":216}],"identifier":"lit32911","issued":"1903","language":"de","pages":"213-216","startpages":"213","title":"O. Fl\u00fcgel: Die Seelenfrage mit R\u00fccksicht auf die neueren Wandlungen gewisser naturwissenschaftlicher Begriffe. Dritte vermehrte Auflage. C\u00f6then, Schulze, 1902. 158 S.","type":"Journal Article","volume":"33"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:37:37.550804+00:00"}