Open Access
{"created":"2022-01-31T16:36:24.021408+00:00","id":"lit32919","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Kiesow, F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 33: 453-461","fulltext":[{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"453\n(Aus der Abteilung f\u00fcr experimentelle Psychologie des physiologischen\nInstituts der Universit\u00e4t Turin.)\nBin Beitrag zur Frage nach den Reaktionszeiten der\nGeschmacksempfindungen.1\nVon\nF. Kiesow.\nStellt man Unter den Reaktionszeiten, welche v. Vintschgajj und H\u00f6nigschmied 2 bei verschiedenen Beobachtern auf Geschmacksreize fanden, einen Vergleich an, so fallen die grofsen Betr\u00e4ge auf, nm welche die Mittelwerte voneinander abweichen. Man ersieht dies deutlich aus der nachfolgenden Tabelle, die ich der Darstellung v. Vintschgatts in Hermanns Handbuch der Physiologie entnehme,3 und welche die an der Zungenspitze hei drei Beobachtern gewonnenen Durchschnittswerte in Sek. nach Auslassung aller zweifelhaften Versuche enth\u00e4lt :\n\tDie Versuche wurden vorgenommen bei\t\t\n\tH.\tDr. D.\tFu.\nBer\u00fchrung\t0,1507\t0,1251\t0,1742\nChlornatrium\t0,1598\t0,597\t\u2014\nZucker\t0,1639\t0,752\t0,3502\nS\u00e4ure\t0,1676\t.\u2014\t\u2014\nChinin\t0,2196\t0,993\t\u2014\n1\tDie Arbeit erscheint ebenfalls in den Rendiconti della R. Acc. dei Lincei zu Pom.\n2\tM. v. Vintschgau u. J. Honigs chmied : Ff l\u00fcg er s Archiv 10 S. Iff. 1875.\n3\tM. v. Vintschgau: Hermanns Handbuch Bd. III 2, S. 205.","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454 Fur Frage nach den Reaktionszeiten der Geschmacksempfindungen.\nDie Anzahl der einzelnen Beobachtungen, aus denen diese Werte gefunden wurden, ist f\u00fcr die auf Geschmacksreize ausgef\u00fchrten Reaktionen nach der zitierten ausf\u00fchrlichen Mitteilung1 folgende :\n\tH.\tDr. D.\tFu.\nChlornatrium\t57\t17\t\u2014\nZucker\t56\t15\t22\nS\u00e4ure\t61\t\u2014\t\u2014\nChinin\t64\t14\t_\nDie Unterschiede zwischen diesen Mittelwerten, die die Verfasser f\u00fcr die richtigen halten, sind in der Tat ganz enorme. Sie k\u00f6nnen nur etwa mit denen verglichen werden, die bei Zeitbestimmungen auf Geruchsreize gefunden wurden, aber sonst pflegen so grofse Verschiedenheiten unter normalen Bedingungen nicht vorzukommen. Auch sind die pers\u00f6nlichen Unterschiede nach den vorliegenden Untersuchungen2 3 im letzteren Falle immer noch geringer als im ersteren.\nDafs diese Abweichungen sich nicht aus dem Typus ergeben k\u00f6nnen, dem die Versuchspersonen angeh\u00f6rten, lehren die Reaktionszeiten, die die Verfasser auf Tastreize erhielten. Hier ist die Zeit bei Dr. D. kleiner als bei H., w\u00e4hrend die Zeitwerte f\u00fcr Geschm\u00e4cke bei ersterem aufserordentlich viel h\u00f6her liegen als bei letzterem. Ebenso reagiert Fu. auf den Tastreiz langsamer als Dr. D. und doch ist die Reaktionszeit auf Zucker bei Fu. um mehr als 400 a k\u00fcrzer als bei Dr. D. Es m\u00fcssen demnach andere Faktoren gewesen sein, welche diese grofsen Differenzen herbeif\u00fchrten.\nDa ich einen Einblick in diese Verh\u00e4ltnisse zu gewinnen w\u00fcnschte und es mich aufserdem interessierte, zu erfahren, wie sich die Reaktionszeiten f\u00fcr Geschmacksreize gegen\u00fcber dem von L. Lange 3 in Wundts Laboratorium gefundenen Unterschiede der sensoriellen und der muskul\u00e4ren Reaktion verhalten m\u00f6chten, so habe ich von Herrn Dr. A. Fontana einige Versuche ausf\u00fchren lassen, bei denen ich selbst Versuchsperson war.\nWir arbeiteten mit einem Applikationsapparat, der durchaus dem \u00e4hnlich war, den v. Vintschgau und H\u00f6nigschmxed be-\n1\tZit. Arbeit S. 42\u201444.\n2\tVgl. die Angaben bei W. Wundt, Grundz\u00fcge der physiol. Psychologie, 5. Anti., 8, S. 432.\n3\tL. Lange: Philos. Studien 4 1888, S. 479.","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"F. Kiesoiv.\n455\nnutzten. Der verwandte Pinsel war weich und wurde abgestutzt Der Durchmesser seiner Reizfl\u00e4che betrug, wenn er mit den Geschmacksstoffen getr\u00e4nkt war, ca. 2 mm. Im \u00fcbrigen war unsere Versuchsanordnung im wesentlichen derjenigen gleich, die ich in der vorhergehenden Mitteilung angegeben habe. Der einzige Unterschied bestand darin, dafs das Signal im Beobachtungszimmer gegeben wurde und der Experimentator ebenso von hier aus ein akustisches Zeichen erhielt, wann er die Uhr in Gang setzen sollte. Was die einzelnen Zeitwerte betrifft, so wurden auch hier nur solche gestrichen, die der Beobachter signalisierte.\nDie von uns benutzten Geschmacksstoffe waren w\u00e4sserige L\u00f6sungen von Kochsalz (konzentriert), Rohrzucker (50%), Salzs\u00e4ure (0,4%), und Chininsulfat (konzentriert). F\u00fcr jeden der Geschmacksstoffe wurden nach voraufgegangener Ein\u00fcbungen 50 Bestimmungen ausgef\u00fchrt. Gereizt wurde die Zungenspitze. Das Reizfeld betrug bei uns wie bei den genannten anderen Autoren ca. 1 qcm. Reagiert wurde im Momente, in welchem die erste Andeutung der Empfindung im Bewufstsein erschien. Der Versuchsperson war bekannt, welche Geschmacksreize appliziert wurden.\nBei diesen Versuchen zeigte sich nun, dafs auf Geschmacksreize nur sensoriell reagiert werden konnte, dafs eine muskul\u00e4re Reaktion bei dieser Versuchsanordnung gar nicht m\u00f6glich war. Was ich hierbei beobachtete, ist in den wesentlichen Punkten dem gleich, was Wundt \u00fcber Reaktionsversuche beschrieben hat, die auf Reize ausgef\u00fchrt wurden, welche nahe und auf der Schwelle lagen,1 Beobachtungen, die ich f\u00fcr taktile und akustische Eindr\u00fccke, \u00fcber die ich unl\u00e4ngst gearbeitet habe, durchaus best\u00e4tigen kann. N\u00e4hert man sich in diesen Empfindungsgebieten durch gradweise Verringerung der Reizintensit\u00e4t allm\u00e4hlich der Schwelle, so wird die muskul\u00e4re Reaktion zunehmend erschwert, bis sie zuletzt ganz unm\u00f6glich wird und man nur noch sensoriell reagieren kann. Nahe und besonders auf der Schwelle erh\u00e4lt man dann Werte von betr\u00e4chtlicher H\u00f6he und ebenso eine erh\u00f6hte mittlere Variation. So erhielt Wundt aus je 24 Beobachtungen f\u00fcr Schwellenwerte von Schall-, Licht- und Tasteindr\u00fccken Werte von 887, 381 und 827 er, bei mittleren Variationen von 50, 57 und 32.2 Man ist hier,\n1\tW. Wttndt, Grundz\u00fcge etc., 5. Aufl., Bd. Ill, S. 428.\n2\tW. Wundt, Grundz\u00fcge etc., 5. Aufl., Bd. Ill, S. 429.","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"456 Zur Frage nach den Reaktionszeiten der Geschmacksempfindungen.\nund schon bevor man die Schwelle erreicht, gezwungen, die Aufmerksamkeit ausschliefslich und mit h\u00f6chster Anspannung auf den erwarteten Eindruck zu konzentrieren, um den Moment des Eintritts der Empfindung ins Bewufstsein nicht zu verfehlen. Zugleich gew\u00e4hrt man eine grofse Unsicherheit im Reagieren und ebenso beobachtete ich regelm\u00e4fsig, dafs mich solche Versuche sehr erm\u00fcdeten.\nGanz \u00e4hnliche Erfahrungen machte ich nun bei den in Rede stehenden Reaktionsversuchen, nur mit dem Unterschiede, dafs das Erfassen der Empfindung hier noch viel mehr erschwert war. Es ist eine Tatsache, dafs die Geschmacksempfindung, auch wenn sie durch st\u00e4rkste Reize erzeugt wird, nicht wie z. B. bei intensiven Tast- und Geh\u00f6rsreizen geschieht, pl\u00f6tzlich einsetzt, sondern dafs sie langsam ansteigt und sich mit einem Minimum ihrer Intensit\u00e4t im Sensorium ank\u00fcndigt, wobei die einzelnen Qualit\u00e4ten sich noch wieder verschieden verhalten. Diese minimale Anfangsstufe richtig zu erkennen, ist sehr schwer, und gerade sie ist es, die den Moment bestimmt, in dem reagiert werden soll.\nDie an mir selbst angestellten Versuche ergaben nun folgende Werte, die ich dem Protokolle Dr. Fontanas entnehme:\nGes chmacks stoff Ar. Mittel Mittlere Variation\nKochsalz\t307,66\t6\nKohrzucker\t446,18\t6\nSalzs\u00e4ure\t536,06\t6\nChinin\t1081,94\t<j\n43,3188\n32,9956\n75,9072\n138,7904.\nWie man sieht, sind die Mittelwerte hier alle recht hoch und ebenso ist die mittlere Variation eine zum Teil ganz betr\u00e4chtlich grofse. Zieht man daher die vorerw\u00e4hnte vermehrte Unsicherheit im Reagieren in R\u00fccksicht, so w7\u00fcrden diese Ergebnisse in der Tat den Erfahrungen entsprechen, die man, wie oben ausgef\u00fchrt wurde, bei Reaktionen auf Schwellenwerte macht. Ich f\u00fcge noch hinzu, dafs ich eine ganz aufserordentliche Schwierigkeit und eine besonders grofse Unsicherheit beim Reagieren auf Chinin empfand. Diesem entsprechen dann auch wieder der h\u00f6here Mittelwert und die ungew\u00f6hnlich grofse mittlere Variation. Im \u00fcbrigen folgen die Zeitwerte f\u00fcr die einzelnen Qualit\u00e4ten der Ordnung, die Schirmer 1 f\u00fcr Geschmacksempfindungen\n1 R. Schirmeb: Deutsche Klinik 1859, XI, Kr. 13. 15. 18. Xonnullae","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"F. Kiesow.\n457\nan der Zungenspitze aus Mischungsversuchen schon vor nahezu 50 Jahren feststellte, und die ich auch in den Mittelwerten des Beobachters Dr. D. der v. VintschgAnsehen Tabelle (zum Teil auch in der des Beobachters H.) wiederfinde.\nAls wir nach Beendigung der an mir aufgenommenen Reihen\ndie Rollen vertauschten und Dr. Fontana als Versuchsperson\nfungierte, fanden wir auch bei ihm sehr hohe Zeitwerte. Wegen\n* *\nMangels an \u00dcbung waren sie aber sehr unregelm\u00e4fsig, so dafs ihre Mitteilung weiter keinen Zweck hat. Ich beschr\u00e4nke mich daher auf diese Angabe im allgemeinen und f\u00fcge nur noch hinzu, dafs auch seine sonstigen Erfahrungen mit den meinigen durchaus \u00fcbereinstimmten.\nTeilt man nun die Beobachter v. Vintschg aus und H\u00f6nig-schmieds nach ihren Reaktionszeiten f\u00fcr Geschm\u00e4cke in Gruppen ein, so w\u00fcrde H. mit seinen kurzen Zeiten zu einer ersteren und es w\u00fcrden Dr. D.. und Fu. mit ihren langen zu einer zweiten geh\u00f6ren. Dieser letzteren w\u00fcrden auch Fontana und ich selbst zuzuz\u00e4hlen sein. Aber damit finden wir uns aufs neue vor die Notwendigkeit gestellt, nach der Ursache zu suchen, die diese grofsen Unterschiede zwischen den Zeitwerten der beiden Gruppen bewirkt haben k\u00f6nnen.\nEs wurde gesagt, dafs sie aus dem Typus nicht folgen und nach dem Vorstehenden braucht hierauf nicht weiter eingegangen zu werden. Man k\u00f6nnte aber an anatomisch-physiologische Bedingungen denken, wie etwa daran, dafs die Verteilung der Endorgane innerhalb des Reizfeldes individuell verschieden war. Dafs hieraus Unterschiede zwischen den Zeitwerten erwachsen k\u00f6nnen, ist ohne weiteres gewifs, wTie sich denn solche innerhalb der Beobachter der zweiten Gruppe tats\u00e4chlich finden. Aber so grofs die Abweichungen auch noch sein m\u00f6gen, so sind Zeiten wie die an Dr. D. und mir selbst gefundenen doch eher untereinander vergleichbar. Da ich nun aus anderen Bestimmungen weifs, dafs ich selbst \u00fcber ein durchaus normales Geschmacksorgan verf\u00fcge, so wird es mir schwer zu glauben, dafs die geradezu kolossalen Differenzen zwischen den Werten von H. und denen aller anderen Beobachter ausschliefslich auf solche Ursachen zur\u00fcckzuf\u00fchren seien.\nde gustu disquisitiones. Diss. inaug. Gryphiae 1856. M. y. Vintschg au, zit. Arb. in Hermanns Handb., S. 157 n. 204.","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458 %ur Frage nach den Reaktionszeiten der Geschmacksempfindungen.\nBei einem Versuche, hierf\u00fcr eine Erkl\u00e4rung zu finden, m\u00f6chte ich vor allem darauf hin weisen, dafs man es bei Reaktionsversuchen, wie die in Rede stehenden, nicht mit einfachen, sondern mit komplizierteren Vorg\u00e4ngen zu tun hat.\nBei der grofsen Empfindlichkeit der Zungenspitze f\u00fcr Tasteindr\u00fccke empfindet man die Ber\u00fchrung mit dem Pinsel recht intensiv. Dieser Eindruck ist ferner andauernd und obwohl man die Aufmerksamkeit auf den erwarteten Geschmackseindruck einstellt, dr\u00e4ngt sich jener dem Bewufstsein doch der-mafsen auf, dafs die Aufgabe der Reagenten schliefslich darin besteht, die erste minimale Andeutung der Geschmacksempfindung von dem Tasteindruck zu unterscheiden.\nEs sei ferner daran erinnert, dafs, bevor die Qualit\u00e4t eines Geschmacksstoffes erkennbar wird, h\u00e4ufig eine Empfindung auf-tritt, die wohl im allgemeinen als Geschmackseindruck klassifiziert werden kann, von der man aber nicht die Qualit\u00e4t anzugeben vermag.\nEndlich sei hervorgehoben, dafs die einzelnen Geschm\u00e4cke von Eindr\u00fccken begleitet sind, die ich fr\u00fcher kurzweg als Tasteindr\u00fccke bezeichnet habe, die ich aber nach fortgesetzter Beobachtung zum Teil auf Erregungen frei endigender Nervenfasern zur\u00fcckzuf\u00fchren und somit f\u00fcr eine Spezifit\u00e4t der Schmerzempfindung zu halten geneigt bin. (Es sei nur an die Begleiterscheinungen der durch S\u00e4uren erzeugten Empfindung erinnert.) Wie diese letztgenannten Empfindungen bei Schwellenbestimmungen bereits fr\u00fcher als die Geschmacksempfindung auf-treten k\u00f6nnen, so werden sie auch wohl in F\u00e4llen wie die vorhegenden ihre Wirkung zeigen. Sie sind aufserdem bei den einzelnen Geschm\u00e4cken noch verschieden und, wie man bei Schwellenbestimmungen bemerkt, zuweilen derart, dafs sie infolge assoziativer Einfl\u00fcsse die noch nicht vorhandene Geschmacksempfindung bereits erraten lassen. Ich behaupte nicht, dafs dies immer geschieht, aber ich bemerke, dafs ich diese Beobachtung mehrfach gemacht habe.\nWenn man nun bedenkt, dafs auch den Beobachtern der genannten Autoren die applizierten Geschmacksstoffe bekannt waren, so d\u00fcrfte es nicht ohne weiteres zur\u00fcckzuweisen sein, dafs die hervorgehobenen Faktoren auf die Reaktionszeiten eingewirkt haben k\u00f6nnen.\nDafs nun der erste dieser Faktoren bei den Versuchen","page":458},{"file":"p0459.txt","language":"de","ocr_de":"F. Kiesow.\ny. Vintschgaus und H\u00f6nigschmieds tats\u00e4chlich mitgewirkt hat, scheint mir aus den Mittelwerten heryorzugehen, die die Verfasser bei Dr. D. erhielten, als dessen vorderste rechte Pap. eircumvallata gereizt wurde. Diese Werte waren:1\nBer\u00fchrung :\t0,1409\nChlornatrium :\t0,543\nZucker :\t0,552\nChinin :\t0,502\nHier ist entsprechend der geringeren Tastempfindlichkeit des Zungengrundes die Reaktionszeit f\u00fcr den taktilen Eindruck verl\u00e4ngert, daf\u00fcr aber die f\u00fcr die Geschm\u00e4cke verk\u00fcrzt. F\u00fcr die Bitterempfindung folgt dies aus der gr\u00f6fseren Empfindlichkeit des Zungengrundes f\u00fcr Bitterstoffe, nicht aber f\u00fcr die \u00fcbrigen Geschmacksempfindungen. Denn f\u00fcr s\u00fcfse Geschmacksstoffe besitzt die Zungenspitze die gr\u00f6fste Empfindlichkeit und doch ist die Reaktionszeit f\u00fcr Zucker am Zungengrunde um 200 <j k\u00fcrzer als am Zungenspitze. Ebenso wird Salz auf allen Schmeckfl\u00e4chen der Zunge ann\u00e4hernd gleich empfunden und doch ist auch f\u00fcr diese Substanz die Zeit am Zungengrunde immer noch um 54 o k\u00fcrzer als an der Zungenspitze. Dies letztere kann auf Zuf\u00e4lligkeit beruhen, aber die gr\u00f6fsere Zeitverk\u00fcrzung d\u00fcrfte w7ohl kaum anders erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen, als, wie oben hervorgehoben wurde, durch den Einflufs, den der Tasteindruck auf die Reaktion aus\u00fcbte.\nDafs infolge der zweiten der vorerw\u00e4hnten Faktoren die Reaktion, ohne dafs der Reagent sich dessen bewufst wird, zu fr\u00fch erfolgen kann, bedarf keines Beweises. Diese Vorstufe der zu erwartenden Qualit\u00e4t darf aber nicht mit F\u00e4llen verwechselt werden, in denen bei der gegebenen Versuchsanordnung die Empfindung sich schon aus physiologischen Ursachen \u00fcberhaupt nicht voll entwickelt. In solchen F\u00e4llen kann eine Verl\u00e4ngerung der Reaktionszeit eintreten. Wie man aus den von den Autoren mit grofser Sorgfalt zusammengestellten Beobachtungen des Dr. D. ersieht, k\u00f6nnen auf diese Weise Zeitwerte bis zu \u201eungef\u00e4hr 7 Sekunden\u201c Vorkommen. Diese Tabellen sind sehr wertvoll. Sie best\u00e4tigen voll und ganz, was ich oben \u00fcber die Unsicherheit im Reagieren auf Geschmacksreize, besonders auf Chinin ausgef\u00fchrt habe.\nDafs schliefslich auch der letzte der oben aufgez\u00e4hlten Fak-\n1 Zit. Arbeit, S. 205.","page":459},{"file":"p0460.txt","language":"de","ocr_de":"460 Zur Frage nach den Reaktionszeiten der Geschmacksempfindungen.\ntoren unbewufst einen verk\u00fcrzenden Einflufs auf die Reaktionszeit aus\u00fcben kann, braucht ebenfalls nicht weiter gezeigt zu werden.\nFasse ich alle Erfahrungen zusammen, die ich bei diesen Beobachtungen gewonnen habe, so entsteht in mir die Neigung, die l\u00e4ngeren Reaktionszeiten der bisher vorliegenden Untersuchungen im allgemeinen f\u00fcr die richtigeren zu halten. Bei der Betrachtung der sehr kurzen Zeitwerte des Beobachters H. steigt bei mir die Vermutung hoch, dafs seine Reaktionen aus einem oder dem anderen Grunde unabsichtlich doch zu fr\u00fch erfolgten. Es leuchtet z. B. schwer ein, dafs der Unterschied zwischen den Zeitwerten f\u00fcr Tasteindr\u00fccke und f\u00fcr Kochsalz auf der Zungenspitze nur 0,0091 Sekunden betragen sollte. Ich finde ferner die Differenzen zwischen den Zeiten f\u00fcr Kochsalz, S\u00e4ure und Zucker bei H. nicht auffallend genug, um daraus das ScHiEMEEsche Gesetz zu erkennen. Man kann darin h\u00f6chstens eine Andeutung desselben erblicken, aber man w\u00fcrde wohl kaum wagen, es daraus abzuleiten, wenn es nicht vorher bekannt gewesen w\u00e4re. Etwas deutlicher tritt es aus einigen Beobachtungen von H. hervor, wenn man statt der korrigierten Mittelwerte die Gesamtmittel in R\u00fccksicht zieht. Diese sind :1\nChlornatrium :\t0,1737\nZucker :\t0,1845\nS\u00e4ure :\t0,1882\nChinin :\t0,2581\nAber auch hier sind z. B. die Unterschiede zwischen den Zeiten f\u00fcr Zucker und S\u00e4ure nicht grofs genug, als dafs sie nicht wie die der korrigierten Werte auch auf Zuf\u00e4lligkeiten zur\u00fcckzuf\u00fchren w\u00e4ren. Die Verfasser haben diesen letzteren Umstand selbst auch schon erwogen.1 Deutlich erkennt man dieses Gesetz bei den korrigierten Werten an H. nur aus dem Unterschiede der Zeitwerte f\u00fcr Chinin und die \u00fcbrigen Substanzen. Man braucht aber nicht erst Reaktionsversuche anzuf\u00fchren, um festzustellen, dafs Bitterstoffe auf der Zungenspitze viel sp\u00e4ter empfunden werden, als die \u00fcbrigen schmeckbaren Substanzen. Viel deutlicher pr\u00e4gt sich das ScHiEMEEsche Gesetz dagegen in den drei Mittelwerten des Dr. D. und in meinen eigenen aus.\nMit der Vergr\u00f6fserung der Reizfl\u00e4che werden sich die Zeitwerte bis zu einem gewissen Grade verringern, wie sie anderer-\n1 Zit. Arbeit, S. 30.","page":460},{"file":"p0461.txt","language":"de","ocr_de":"F. Kiesow.\n461\nseits wachsen werden, wenn man jene noch verkleinern w\u00fcrde. Ebenso werden sich die Zeiten bei Abschw\u00e4chung der Reizintensit\u00e4t verl\u00e4ngern. Trotz der Exaktheit der Methoden aber, \u00fcber welche die neuere Forschung gebietet, werden bei der mehrfach hervorgehobenen Unsicherheit im Reagieren auf Geschmacksreize die pers\u00f6nlichen Unterschiede hier wohl immer noch gr\u00f6fser bleiben, als die, welche man bisher bei Reaktionen auf Gesichts-, Geh\u00f6rsund Tastreize fand.\nVielleicht sind es Faktoren \u00e4hnlicher Art gewesen, die bei der Ermittelung der Zeitwerte zusammengewirkt haben, welche bei Reaktionen auf Geruchsreize gefunden wurden, wenn nicht gar, wie Wundt vermutet, die Differenzen hier zum Teil schon durch die \u00e4ufseren Versuchsbedingungen gegeben sind, welche letzteren in diesem Gebiete auch kaum frei von Fehlerquellen sein d\u00fcrften.1 Dafs auch bei Schwellenbestimmungen von Geruchsempfindungen ein Vorstadium auftritt, in dem die Qualit\u00e4t noch nicht erkannt wird, ist unl\u00e4ngst von Zwaarde-makeb, gezeigt worden.2\nF\u00fcr geleistete Assistenz bei diesen Versuchen geb\u00fchrt Herrn stud. med. Molinaeio ein aufrichtiger Dank.\n1\tW. Wundt, Grundz\u00fcge etc., 5. Aufl., Bd. Ill, S. 432.\n2\tH. Zwaardemaker, Arch. f. Anat. u. FTiysiolPhysiol. Abt. 1903, S. 42\u201456.\n{Eingegangen am 9. Oktober 1903.)","page":461}],"identifier":"lit32919","issued":"1903","language":"de","pages":"453-461","startpages":"453","title":"Ein Beitrag zur Frage nach den Reaktionszeiten der Geschmacksempfindungen","type":"Journal Article","volume":"33"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:36:24.021413+00:00"}