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{"created":"2022-01-31T16:34:10.187236+00:00","id":"lit32920","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Volkelt, Johannes","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 32: 1-37","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"1\nDie Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die\n\u00e4sthetische Einf\u00fchlung.\nVon\nJohannes Volkelt.\n1. Vor einiger Zeit er\u00f6rterte ich in dieser Zeitschrift* 1 die Frage, inwieweit die niederen Empfindungen als sinnliche Form des \u00e4sthetischen Gegenstandes in Betracht kommen. Die folgenden Untersuchungen sollen die \u00e4sthetische Bedeutung der niederen Empfindungen nach einer anderen Richtung hin ins Auge fassen. Es soll nicht gefragt werden, ob und inwieweit der \u00e4sthetische Gegenstand selbst in Form etwa von Geruchs-, Geschmacks-, Tast-, Temperaturempfindungen erscheint, sondern es soll darauf geachtet werden, ob und in welchem Umfange innerhalb der \u00e4sthetischen Einf\u00fchlung die niederen Empfindungen als Mittelglied Vorkommen. Wir haben uns vorzustellen, dafs die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung in einer Verschmelzung zwischen Anschauung und Gef\u00fchl besteht, und es entspringt so die Frage: bedarf die zwischen diesen beiden Bewufstseinsbet\u00e4tigungen stattfindende Verschmelzung gewisser niederer Empfindungen als Zwischengliedes, oder geht sie ohne derartige Vermittlung vor sich?\nNaturgem\u00e4fs erweitert sich diese Frage. Die Aufmerksamkeit f\u00fchlt sich durch sie auf das Vorhandensein vermittelnder Glieder in der \u00e4sthetischen Einf\u00fchlung \u00fcberhaupt gelenkt. Es entsteht sonach die allgemeinere Frage: bedarf die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung stets vermittelnder Funktionen zwischen Anschauung und Gef\u00fchl? oder gibt es neben vermittelter Einf\u00fchlung auch Einf\u00fchlung unmittelbarer Art? oder geht die Einf\u00fchlung etwa immer unmittelbar vor sich?\n1 Im 29. Bd. S. 204 ff. (\u201eDer\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 32.\n\u00e4sthetische Wert der niederen Sinne\u201c).\n1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nJohannes Volkelt.\nEs wird sich zeigen, dafs beide Formen der Einf\u00fchlung \u2014 die vermittelte und die unmittelbare \u2014 Vorkommen. Unter den vermittelnden Funktionen aber werden die niederen Empfindungen, und genauer: die Bewegungsempfindungen, in besonderem Grade hervortreten. Neben den niederen Empfindungen werden sich auch, freilich nur in \u00e4ufserst geringem Umfange, Geh\u00f6rs- und Gesichtsempfindungen als Vermittlung innerhalb der Einf\u00fchlung ergeben. Sodann aber wird sich uns auch das Erfahrungswissen als ein vermittelndes Band heraussteilen. Und sowohl nach H\u00e4ufigkeit wie nach sachlicher Bedeutung wird dem Erfahrungswissen eine hervorragende Stellung in dem Zustandekommen der Einf\u00fchlung zuzuschreiben sein. Haupts\u00e4chlich indessen soll meine Aufmerksamkeit den niederen Empfindungen zugewandt bleiben. Ich will vor allem den Anteil genau verfolgen, den diese auf den verschiedenen Gebieten an der Einf\u00fchlung haben.\nZwei Bemerkungen m\u00fcssen vorangehen. Will man die Bedeutung der Empfindungen f\u00fcr die Vermittlung der \u00e4sthetischen Einf\u00fchlung feststellen, so mufs zwischen den wirklichen und den nur vorgestellten Empfindungen unterschieden werden. Es wird sich zeigen, dafs jene Vermittlung zwar in zahlreichen F\u00e4llen von wirklichen Empfindungen geleistet wfird, dafs aber die reproduzierten Empfindungen sich einer bei weitem gr\u00f6fseren Verbreitung in der Einf\u00fchlung erfreuen.\nSodann halte ich es f\u00fcr wichtig, dafs f\u00fcr die Behandlung unserer Frage die symbolische Einf\u00fchlung zun\u00e4chst bei seite gelassen und nur die eigentliche, d. h. die gegen\u00fcber der menschlichen Gestalt sich vollziehende Einf\u00fchlung in Betracht gezogen wird. Ich habe aus den Er\u00f6rterungen \u00fcber die Einf\u00fchlung bei verschiedenen Schriftstellern den Eindruck gewonnen, dafs manches von dem, was darin schief und unklar ist, auf Rechnung des Umstandes kommt, dafs die eigentliche und die symbolische Einf\u00fchlung v\u00f6llig ungetrennt oder doch zu wenig getrennt von einander behandelt werden. Ich will daher zun\u00e4chst alle Verwicklungen, die durch den symbolischen Charakter der Einf\u00fchlung entstehen, fernhalten.\n2. Ich fasse jetzt also allein die menschliche Gestalt ins Auge. Und zwar soll sie uns zuerst nur insoweit besch\u00e4ftigen, als sie als sich bewegend vor uns hintritt oder doch, wie in der bildenden Kunst, den Eindruck des Sichbewegenden","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 3\nmacht. Wenn wir einen Athleten im Zirkus mit k\u00fcnstlerischem Auge verfolgen oder die Bewegungen eines guten Schauspielers mit gespannter Aufmerksamkeit begleiten, so wird es wohl nicht fehlen, dafs die Gesichtswahrnehmungen, die wir von den Bewegungen haben, von den entsprechenden reproduzierten Bewegungsempfindungen belebt werden. Die gesehenen Bewegungen fordern uns unwillk\u00fcrlich auf, sie in unserer Einbildung mit unserem eigenen Leibe nachzumachen. Dabei entstehen in unserer Einbildung auch die entsprechenden Bewegungsempfindungen. \u00c4hnlich verh\u00e4lt es sich angesichts von Darstellungen des sich bewegenden Menschenleibes in der bildenden Kunst. Nicht nur wenn ich etwa Michelangelos gefesselten Sklaven, seinen Kentaurenkampf oder die Kreuzabnahme, sondern auch, wenn ich beispielsweise Lorenzo Ghibertis Reliefdarstellungen von der Opferung Isaaks, von der Gefangennahme Johannes des T\u00e4ufers, von der Austreibung der H\u00e4ndler aus dem Tempel, oder auch wenn ich Donatellos, Luca della Robbias oder Agostino di Duccios Darstellungen von singenden, musizierenden, tanzenden Kinder- und Engelsgestalten mit Hingebung betrachte, wrerde ich zum phantasiem\u00e4fsigen Nachahmen der gesehenen Bewegungen und so zum Vorstellen der entsprechenden Bewegungsempfindungen angeregt.\n3. So verh\u00e4lt es sich indessen nicht immer. Nur ein mittlerer Fall ist damit bezeichnet; es gibt auch ein Dar\u00fcber und ein Darunter. Ein Dar\u00fcberhinausgehen findet statt, wenn es nicht bei der Reproduktion der Bewegungsempfindungen bleibt, sondern zu wirklichen Bewegungsempfindungen kommt. Wenn die k\u00fcnstlerische Versenkung in die dargestellte Bewegung besonders lebhaft ist und auch die Bewegung selbst etwas mit sich Fortreifsendes hat, steigert sich unsere Teilnahme leicht dahin, dafs wir, wenigstens spur- und ansatzweise, die gesehenen Bewegungen der menschlichen Gestalt mit wirklichen Bewegungen und Bewegungsempfindungen begleiten. Wer z. B. die ausgezeichnete Schauspielerin Gutheil-Schoder als Carmen auf der B\u00fchne sieht, wird leicht an sich erfahren, dafs er manche ihrer h\u00f6chst charakteristischen Bewegungen mit andeutungs- und spurweise anklingenden wirklichen Streckungs-, Spannungs-, Beugungsempfindungen begleitet. Besonders eingehend und lehrreich hat \u00fcber diese \u201eimitatorischen Einstellungen\u201c und \u201emotorischen An-\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nJohannes Volkelt\npassungen\u201c Groos gehandelt.1 Ihm entnehme ich das Beispiel von der rhythmischen Bewegung von Bauarbeitern, die, in passenden Abst\u00e4nden \u00fcber einander aufgestellt, Backsteine von Hand zu Hand werfen, bis diese vom Boden aus oben auf dem Ger\u00fcste angelangt sind. Wer sich diesem Anblick hingibt, wird wahrscheinlich nicht blofse Reproduktionen von Spannungs- und Bewegungsempfindungen, sondern wirkliche Spannungen und Bewegungen in sich sp\u00fcren.2\nMan darf indessen das Vorkommen solcher wirklicher Bewegungsempfindungen nicht \u00fcbersch\u00e4tzen. Groos ist der Ansicht, dafs alles hervorragend frische und innige k\u00fcnstlerische Erleben, alles \u201eGepacktwerden\u201c durch den Eindruck nur mit Hilfe wirklicher Bewegungsempfindungen zu st\u00e4nde komme, ja dafs in solchem Falle der \u00e4sthetische Vorgang mit den \u201emotorischen Vorg\u00e4ngen\u201c geradezu beginne und sich so erst vom Leibe zum Geiste fortpflanze. 3 Dieser Ansicht vermag ich mich nicht anzuschliefsen. Zugegeben selbst, Groos h\u00e4tte bei Bewegungseindr\u00fccken Recht: kommt denn auch angesichts von ruhenden K\u00f6rperformen, etwa beim Anblick der Hera Ludovisi, der Aphrodite von Melos oder des sogenannten Meleager der volllebendige k\u00fcnstlerische Eindruck immer oder auch nur \u00f6fter mit Hilfe wirklicher Bewegungsempfindungen zu st\u00e4nde ? Ich glaube nicht, dafs die Erfahrung selbst bei k\u00fcnstlerisch erregbaren Menschen f\u00fcr Groos spricht. Und will denn Groos auch gegen\u00fcber den Eindr\u00fccken von Gestalten in Dichtungen seine Ansicht aufrecht erhalten? Er stellt seine Behauptung ganz allgemein auf als von dem hingegebenen \u00e4sthetischen Geniefsen \u00fcberhaupt geltend. Es m\u00fcfste sich also auch beim Lesen oder H\u00f6ren von dichterischen Darstellungen so verhalten, wie es Groos allgemein beschreibt. Ich weifs aber nicht, wie sich die Behauptung rechtfertigen liefse, dafs wir die vom Dichter f\u00fcr die Phantasie dargestellten Bewegungsvorg\u00e4nge oder Ruhezust\u00e4nde mit wirklichen Bewegungsempfindungen zu begleiten pflegen. Aber selbst die Bewegungsdarstellungen in der bildenden Kunst scheinen mir mit aller Frische und Innigkeit genossen werden zu k\u00f6nnen, ohne dafs sich wirkliche Bewegungs-\n1\tKael Geoos, Der \u00e4sthetische Genufs, Gleisen 1902. S. 55 ff., 193 ff.\n2\tGeoos, a. a. O. S. 195f.\n3\tGeoos, a. a. O. S. 59, 198 ff.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 5\nans\u00e4tze hinzugesellen. Sodann aber ist zu bedenken, dafs, wie sieb weiterhin zeigen wird, die Einf\u00fchlung in Farben und T\u00f6ne in weitem Umfang \u00fcberhaupt ohne die Beteiligung von Bewegungsempfindungen zu st\u00e4nde kommt; derart, dafs selbst Reproduktionen solcher Empfindungen der Natur der Sache nach ausgeschlossen sind. Wie kann nun gar diesen weiten Gebieten gegen\u00fcber die von Groos ausgesprochene Ansicht aufrecht erhalten werden, dafs die \u201ekr\u00e4ftige motorische Veranlagung\u201c f\u00fcr alles \u00e4sthetische Geniefsen die Grundlage bilde?\nEs handelt sich bei dem Hinzutreten wirklicher, ja auch reproduzierter Bewegungsempfindungen um eine Erscheinung, die in hohem Grade von der individuellen Anlage des einzelnen abh\u00e4ngig ist. Dies wird zwar auch von Groos und von Hirn, dessen Ansichten eine jenem nahe verwandte Richtung zeigen, zugestanden.1 Trotzdem machen beide das Verhalten des stark \u201emotorisch\u201c angelegten Menschen zum \u00e4sthetischen Mafsstabe und sprechen den Menschen, an deren \u00e4sthetischem Betrachten und Geniefsen Bewegungsempfindungen nur einen schwachen Anteil haben, \u00e4sthetische Vollg\u00fcltigkeit ab. Hierin erklicke ich eine ungerechte Bevorzugung der \u201emotorisch\u201c besonders empf\u00e4nglichen Personen. Will man mit seiner Theorie den Tatsachen nicht Gewalt antun, so darf man das von wirklichen Bewegungsempfindungen begleitete k\u00fcnstlerische Entz\u00fccken eines Menschen nicht ohne weiteres \u00fcber das derartige Empfindungen nicht aufweisende k\u00fcnstlerische Geniefsen eines anderen stellen. Es braucht hier kein Unterschied der Innigkeit und Tiefe des k\u00fcnstlerischen Geniefsens vorzuliegen; sondern es ist m\u00f6glich, dafs auch auf dem zweiten Wege eine ebenso starke, volle und nachhaltige Beteiligung des ganzen Selbst stattfindet. Ja ich halte selbst das Ausbleiben von reproduzierten Bewegungsempfindungen keineswegs f\u00fcr ein untr\u00fcgliches Zeichen, dafs die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung in bewegte Gestalten nur mangelhaft vorhanden sei. Vielmehr erkenne ich geradezu die unter jenem mittleren Fall zur\u00fcckbleibende M\u00f6glichkeit als prinzipiell ebenb\u00fcrtig an. Diese dritte M\u00f6glichkeit bedeutet zwar in sehr vielen F\u00e4llen, aber keineswegs immer ein unzul\u00e4ngliches \u00e4sthetisches Betrachten.\n\u00bb\t1 Groos, a. a. O. S. 210 f. \u2014 Yrj\u00f6 Hirn, The Origins of Art. London\n1902. S. 77 f.","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nJohannes Volkelt.\n4. Wir k\u00f6nnen menschliche Bewegungen auch in der Weise \u00e4sthetisch betrachten und geniefsen, dafs wir mit dem Gesichtseindruck ohne das Zwischenglied der reproduzierten oder wirklichen Bewegungsempfindungen allein verm\u00f6ge unseres Erfahrungswissens das Gef\u00fchl von dem Ausdruck der Bewegung verbinden. Wir wissen aus tausendfacher Erfahrung, dafs bestimmte Bewegungen diese bestimmten Affekte ausdr\u00fccken. Daher k\u00f6nnen uns einzig infolge dieses Wissens die Bewegungen als ausdrucksvoll erscheinen.1 In diesem Falle liegt, so k\u00f6nnte man sich ausdr\u00fccken, rein assoziative Einf\u00fchlung vor. Schon im Hinblick auf die Dichtung kann das Reproduziertwerden von Bewegungsempfindungen nicht als allgemeine Bedingung f\u00fcr den \u00e4sthetischen Eindruck menschlicher .Bewegungen gelten. Wenn wir z. B. die Erz\u00e4hlung h\u00f6ren, die bei Schiller der Hauptmann von dem Tode Max Piccolominis gibt, so wird unserer Phantasie eine Menge menschlicher Bewegungen, und zwar zumeist heftiger und rascher, vorgef\u00fchrt. Ich nehme dabei an, dafs diese Erz\u00e4hlung zum ersten oder zweiten Mal geh\u00f6rt wird, also Abstumpfung durch Bekanntsein nicht vorliegt. Selbst in diesem Falle nun, so scheint es mir, werden wohl die Allermeisten die Phantasiebilder von Fliehen, St\u00fcrzen, Werfen, Durchbrechen, Sprengen, Dr\u00e4ngen vollziehen, ohne auch nur eine Spur von den entsprechenden reproduzierten Bewegungsempfindungen in sich zu bemerken. Es geschieht wohl nur verh\u00e4ltnism\u00e4fsig selten, dafs die uns durch Dichtungen gegebenen Phantasiebilder menschlicher Bewegungen von den entsprechenden reproduzierten Bewegungsempfindungen begleitet werden. Dabei sehe ich nat\u00fcrlich von den F\u00e4llen ab, wo der Dichter durch Hinzuf\u00fcgung entsprechender Worte ausdr\u00fccklich den Leser zu Bewegungsempfindungen auffordert; wie wenn es etwa beim Dichter heifst, dafs sich zu irgend einer Bewegung jeder Muskel spannt. Anders als in der Dichtung liegt die Sache dort, wo die menschlichen Bewegungen unserer Gesichtswahrnehmung dargeboten werden. Hier d\u00fcrfte wohl das Fehlen\n1 Ich selbst bin in dem Aufs\u00e4tze \u201eDer \u00e4sthetische Wert der niederen Sinne\u201c \u00c7Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 29, S. 206) in dieser Beziehung nicht genug einr\u00e4umend gewesen. Ich sagte dort, dafs zum \u00e4sthetischen Verstehen menschlicher Bewegungen mindestens reproduzierte Bewegungsempfindungen unentbehrlich seien. Dies sei hiermit ausdr\u00fccklich berichtigt.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 7\njener Reproduktionen in der Mehrzahl der F\u00e4lle mehr oder weniger einen geringeren Grad der Frische und Kraft des \u00e4sthetischen Betrachtens bedeuten. Daher kennzeichnet sich besonders das wiederholte, durch Bekanntheit mit dem Gegenstand abgestumpfte k\u00fcnstlerische Betrachten durch das Fehlen jener Reproduktionen. Hier tritt uns das Ersetztsein dieser durch unser Erfahrungswissen von der Bedeutung der Bewegungen augenf\u00e4llig entgegen. Groos hat Recht, wenn er dem Unterschied zwischen neuer und durch Gewohnheit abgeschw\u00e4chter \u00e4sthetischer Betrachtung eines bestimmten Gegenstandes Wichtigkeit f\u00fcr die Behandlung dieser Fragen beimifst.1\n5. Weit k\u00fcrzer kann ich mich \u00fcber das Betrachten ruhender menschlicher Formen fassen. Auch abgesehen von der Dichtung und abgesehen von dem abgestumpften \u00e4sthetischen Geniefsen sind hier die F\u00e4lle weit zahlreicher, in denen es nicht einmal zu reproduzierten Bewegungsempfindungen kommt.\nOhne Zweifel weist auch gegen\u00fcber ruhenden K\u00f6rperformen das k\u00fcnstlerische Betrachten \u00fcberaus h\u00e4ufig reproduzierte Bewegungsempfindungen auf; und auch das Anwachsen zu wirklichen Bewegungsempfindungen ist keineswegs selten. Ich fasse -die ruhenden K\u00f6rperformen zun\u00e4chst insoweit ins Auge, als die ruhende Lage durch Willk\u00fcr hervorgebracht ist oder doch hervorgebracht sein k\u00f6nnte. Wenn wir den Barberinischen Faun, den sterbenden Fechter, die schlafende Ariadne oder etwa den Moses des Michelangelo hingebend betrachten, so werden wir unwillk\u00fcrlich zu einem Nachmachen der Streckungen, Spannungen, Erschlaffungen in unserer Einbildung aufgefordert ; und so entstehen in uns entsprechende Organempfindungen, sei es in reproduzierter, sei es in wirklicher Form.\nAnders dagegen verh\u00e4lt es sich gegen\u00fcber solchen ruhenden K\u00f6rperformen, deren ruhende Lage der Willk\u00fcr entzogen ist. Es ist also der festgef\u00fcgte Bau des menschlichen Leibes, der hier in Betracht kommt. Hier gibt es eine Menge von F\u00e4llen, in denen nicht einmal das Reproduziertwerden von Spannungs- oder Erschlaffungsempfindungen wahrscheinlich ist. Man denke an den Bau von Stirn und Sch\u00e4del, an die Gestalt von Nase, Wange, \u00abMund. Wenn man eine hohe, sanftgew\u00f6lbte, eine stark hervorspringende, eine schmale, zur\u00fcckfliegende Stirn betrachtet, wird\n1 Groos, a. a. O. S. 186, 188, 198, 210 und sonst.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nJohannes Volkelt.\nman wohl nur selten in seiner Phantasie sich leiblich in die Form der Stirn gleichsam hineinlegen und so das Ansteigen der Stirn mit Bewegnngsempfindungen begleiten; sondern es ist das erfahrungsm\u00e4fsige Wissen von dem Zusammensein der verschiedenen Stirnformen mit bestimmten Beschaffenheiten des Geistes, auf Grund dessen uns die eine Stirnform eine hohe und feine, eine andere eine grobe Intelligenz, die eine einen idealen Sinn, eine andere niedrige Begierden zu verk\u00f6rpern scheint. Wir stofsen hier also wieder auf die assoziative Einf\u00fchlung. Sodann k\u00f6nnte aber hier wie in den folgenden Beispielen auch eine rein optische Einf\u00fchlung, d. h. eine Einf\u00fchlung, die weder durch Bewegungsempfindungen, noch durch Erfahrungswissen, sondern rein nur durch die Gesichtswahrnehmung der Formen vermittelt ist, mitwirken. Hiervon wird bei Gelegenheit der symbolischen Einf\u00fchlung die Bede sein.\nEbensowenig erscheint es mir notwendig, dafs wir die Formen der Adler-, der Kartoffelnase, des niedlichen Stumpfn\u00e4schens u. dgl. in unserer Phantasie mit unserem K\u00f6rper andeutungsweise nachahmen m\u00fcfsten, um diese Nasenformen als Ausdruck bestimmter seelischer Anlagen anzusehen. Und legt sich uns etwa die Aufl\u00f6sung der Form in Bewegung und Bewegungsempfindungen nahe, wenn wir das edle Rund oder die vierschr\u00f6tige Klotzigkeit eines Sch\u00e4dels, dickwulstige, angenehm volle oder schmale Lippen, eingefallene oder leichtgerundete Wangen betrachten ? Ich behaupte nicht : das Durchlaufen dieser Formen mit unserer Phantasiebewegung sei unm\u00f6glich. Bei vielen Menschen mag es sich so verhalten. Ich will nur sagen: es scheint mir n\u00e4her zu liegen, dafs diese K\u00f6rperformen ohne das Zwischenglied der Bewegungsempfindungen f\u00fcr uns ihren Ausdruck erhalten. Dabei bleibe hier hingestellt, inwieweit an dieser Ausdrucksbeseelung unser Erfahrungswissen beteiligt ist, also assoziative Einf\u00fchlung vorliegt, und inwieweit auch diese Vermittlung fehlt und rein optische Einf\u00fchlung wirksam ist.\n6. Jetzt fragt es sich noch: wie verhalten sich die sei es reproduzierten oder wirklichen Bewegungsempfindungen zu dem Vorgang der Einf\u00fchlung ? Nach reiflicher \u00dcberlegung stellt sich mir die Beantwortung dieser Frage in der Hauptsache so dar, dafs die Bewegungsempfindungen streng genommen nicht zur \u00e4sthetischen Einf\u00fchlung selbst geh\u00f6ren, sondern als Erg\u00e4nzung des sinnlichen Eindruckes der menschlichen Bewegungen und","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"JDie Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 9\nder ruhenden menschlichen Glieder anzusehen sind und zu der Einf\u00fchlung nur das Verh\u00e4ltnis eines bedeutsamen Erleichterungsund Bef\u00f6rderungsmittels haben.\nDas Schreiten, Laufen, Reichen, Greifen, Beten, K\u00e4mpfen nehmen wir zun\u00e4chst mit dem Gesichte auf. Vielleicht wird dieser sinnliche Eindruck durch das H\u00f6ren erg\u00e4nzt: wir h\u00f6ren etwa das Treten in den Sand, das Keuchen, das Rufen u. dgl. Da bildet nun das Nachmachen der Bewegungsempfindungen (sei es in Reproduktion, sei es in Wirklichkeit) eine weitere Erg\u00e4nzung des sinnlichen Eindrucks. Wir haben die Bewegung mit den Augen aufgenommen; dazu gesellte sich die Aufnahme der mit der Bewegung gepaarten Schall\u00e4ufserungen durch das Ohr ; und nun sind es unsere Streckungs- und Spannungsempfindungen, durch die wir unser sinnliches Bild von der Bewegung erweitern. Wir betreten mit den reproduzierten oder -wirklichen Bewegungsempfindungen \u00fcberhaupt noch nicht das Gebiet der Gef\u00fchle; wir f\u00fcgen mit ihnen zu dem Bewegungsbilde lediglich ein weiteres sinnliches Empfinden hinzu. F\u00fcr die Einf\u00fchlung ist nur insofern etwas geschehen, als auf Grund der Bewegungsempfindungen sich die Auffassung der geschehenen Bewegung nach Ausdruck und Seele \u2014 also eben die Einf\u00fchlung \u2014 leichter und sicherer vollziehen kann. Wir haben .hier also streng genommen nur mit einer Vorstufe oder Vorarbeit zur Einf\u00fchlung, nicht mit dieser selbst zu tun.\nDie Zugeh\u00f6rigkeit der Bewegungsempfindungen zu dem sinnlichen Eindr\u00fccke vom Gegenst\u00e4nde tritt noch in helleres Licht, wenn wir beachten, dafs der Gesichtseindruck eines Gegenstandes auch durch Reproduktionen von Empfindungen anderer niederer Sinne erg\u00e4nzt werden kann. Ich denke dabei wiederum nur an die menschliche Gestalt und ihre Bewegungen und sehe von aller Stimmungssymbolik ab. Wenn jemand ein klebrig fettgl\u00e4nzendes Aussehen hat, so erg\u00e4nzt sich der Gesichtseindruck, den wir empfangen, durch gewisse reproduzierte Tastempfindungen. Bei Betrachtung der B\u00fcste des Niccol\u00f6 da Uzzano von Donatello gesellen sich den Gesichtswahrnehmungen wTegen der fleischlosen, hart und scharf hervortretenden Knochen reproduzierte Tastempfindungen harten, spitzen Widerstandes hinzu. \u25a0Tastempfindungen entgegengesetzter Art werden sich bei Bouchers nackten Venusgestalten mit ihren wie knochenlos aussehenden, schwellenden, nachgiebig polsterartigen Fleischmassen leicht re-","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nJohannes Volkelt.\nproduzieren. Sehen wir einen in Schweifs und Rufs keuchenden Arbeiter oder eine vor ihrem Toilettentisch stehende Kokotte gemalt, so sind es wiederum gewisse Geruchsempfindungen, die in reproduzierter Form erg\u00e4nzend zu den Gesichtseindr\u00fccken hinzutreten. Reproduktionen von Temperaturempfindungen dagegen k\u00f6nnen sich einstellen, wenn wir einen mit gl\u00fchendem Gesichte daliegenden Fieberkranken gemalt sehen. Oder man vergegenw\u00e4rtige sich den Gallier mit seinem Weibe im Museo Boncom-pagni-Ludovisi in Rom: der an Sieg und Rettung verzweifelnde Gallier st\u00f6fst, nachdem er sein Weib get\u00f6tet hat, sich selbst das Schwert in den Hals. Man kann dieses Kunstwerk kaum betrachten, ohne die Bewegung des das Schwert in den Hals stofsenden Armes mit lebhaft gesp\u00fcrten Reproduktionen von Bewegungsempfindungen zu begleiten. Zugleich aber reproduziert sich in uns die Empfindung des Scharfen, Schneidenden, also eine Tastempfindung. Man sieht an diesem Beispiel, dafs r\u00fccksichtlich der Erg\u00e4nzung des Gesichtseindruckes die Bewegungsempfindungen mit den Tastempfindungen auf gleicher Linie stehen.\n7. Wie oft in \u00e4hnlichen F\u00e4llen, so k\u00f6nnte man am Ende auch hier sagen: es sei lieber der Begriff der Einf\u00fchlung etwas weiter zu fassen und dann das, was ich als Vorstufe der Einf\u00fchlung bezeichnet habe, in die Einf\u00fchlung selbst hereinzuziehen. Es verl\u00f6re dabei freilich die Einf\u00fchlung ihre zweckm\u00e4fsig abgegrenzte Bedeutung: sie w\u00e4re nicht mehr blofs Einf\u00fchlung, sondern zugleich Einempfindung.\nAufserdem aber ist bei diesem Hinzurechnen der Bewegungsempfindungen zur Einf\u00fchlung zu beachten, dafs es sich dabei nur um den allerbescheidensten Anfang der Einf\u00fchlung handeln w\u00fcrde. Hie Einf\u00fchlung w\u00e4re etwas geradezu K\u00fcmmerliches und Kl\u00e4gliches, wenn sie auf der Stufe der Bewegungsempfindungen stehen bliebe. Von den Bewegungsempfindungen geht freilich Belebung und Erleichterung f\u00fcr die Einf\u00fchlung aus. Allein sie werden damit doch nicht aus ihrer untergeordneten Stellung herausgehoben. Sie dienen eben doch nur dazu, dafs sich auf ihnen jenes Ganze geistigerer Art auf baue, das wir Einf\u00fchlung nennen. Diese bei aller Wichtigkeit doch untergeordnete Stellung der Bewegungsempfindungen wird von Geoos in die H\u00f6he geschraubt. Denn bei aller vorsichtigen und einschr\u00e4nkenden Fassung kommt er schliefslich doch zu dem Ergebnis, dafs das","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. H\nSpiel mit den Organempfindungen \u201edas zentrale Ph\u00e4nomen des \u00e4sthetischen Geniefsens\u201c sei. Es l\u00e4uft bei ihm die Untersuchung darauf hinaus, dafs die Einf\u00fchlung im wesentlichen in einer \u201eorganischen Teilnahme von imitatorischem Charakter\u201c bestehe.1\nMan vergegenw\u00e4rtige sich doch, wie sich die nach ahmenden Bewegungsempfindungen des \u00e4sthetischen Betrachters zu den Bewegungsempfindungen des laufenden, werfenden Menschen verhalten, der den Gegenstand des \u00e4sthetischen Betrachtens bildet. Die nachahmenden Bewegungsempfindungen bleiben hinter diesen weit zur\u00fcck. Erstlich gehen sie in den meisten F\u00e4llen nur in der Form von Vorstellungen vor sich; und zweitens sind dort, wo es der \u00e4sthetische Betrachter zu Ans\u00e4tzen und Spuren von wirklichen Bewegungen bringt, diese Ans\u00e4tze und Spuren im Verh\u00e4ltnis zu dem wirklichen Laufen, Werfen u. dgl. doch etwas so Unvollkommenes, dafs auch in diesem Falle die nachahmenden Bewegungsempfindungen bei weitem hinter den wirklichen zur\u00fcckstehen. So reicht also das, was an Bewegungsempfindungen mit den Gesichtseindr\u00fccken vom Laufen, Werfen u. s. w. verw\u00e4chst, auch nicht entfernt an die wirklichen Bewegungs-ompfindungen heran, die beim Laufen, Werfen u. s. w. entstehen.\nUnd nun stelle man sich weiter vor, worin die volle Einf\u00fchlung in laufende, werfende Bewegungen besteht. Die menschlichen Gestalten, die in solchen Bewegungen begriffen sind, werden von dem \u00e4sthetischen Betrachter als Personen angeschaut, denen so oder anders zu Mute ist, die von bestimmtem Lebensgef\u00fchl erf\u00fcllt sind, in denen sich Stimmungen, Strebungen, Affekte zum Ausdruck bringen. Einf\u00fchlen heifst mit den gesehenen Bewegungen das eigent\u00fcmlich erregte Selbstgef\u00fchl des laufenden, werfenden Menschen, die Erregungen seines sinnlichgeistigen Gesamt-Ichs verschmelzen lassen. Im Vergleich hiermit sind jene nachahmenden Bewegungsempfindungen bei aller Bedeutsamkeit f\u00fcr die daran zu kn\u00fcpfenden weiteren Glieder doch etwas Geringf\u00fcgiges, Zerstreutes, \u00c4ufserliches, ja geradezu K\u00fcmmerliches. In der Einf\u00fchlung gilt es, die Menschengestalten mit Seele auszuf\u00fcllen. Hierf\u00fcr bilden die nachahmenden Bewegungsempfindungen zwar in sehr zahlreichen F\u00e4llen lebhafte \u201cund richtunggebende, doch aber immer nur \u00e4ufsere und zerstreute Ans\u00e4tze und Anhaltspunkte. Auch bei Betrachtung der\n1 Groos, a. a. O. S. 210.","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nJohannes Volkelt.\nsymbolischen Einf\u00fchlung werden die Bewegungsempfindungen in einer \u00e4hnlichen, trotz aller Wichtigkeit doch untergeordneten Stellung bleiben.\nAuf der anderen Seite wiederum geht Konrad Lange viel zu weit, wenn er die Bewegungsempfindungen oder, wie er sich ausdr\u00fcckt, die \u201esubjektive Bewegungsillusion\u201c \u00fcberhaupt nicht als-ein wesentliches Glied in dem Zustandekommen des \u00e4sthetischen Vorganges gelten l\u00e4fst. Einen Hauptgrund bei Lange bildet der Gedanke, dafs bei unangenehmen, schwierigen, m\u00fchsamen Bewegungen die \u201esubjektive Bewegungsillusion\u201c zu Unlustgef\u00fchlen f\u00fchren m\u00fcfste. Abgesehen von der seltsamen Annahme, als ob die nachahmenden Bewegungsempfindungen mit ungef\u00e4hr derselben H\u00f6he der Unlust verkn\u00fcpft w\u00e4ren, wie sie die entsprechende Bewegungsvollziehung im wirklichen Leben mit sich f\u00fchrt, liegt hierbei die Voraussetzung zu Grunde, dafs dem \u00e4sthetischen Genufs keine Unlustbestandteile zugemischt sein d\u00fcrfen.1 Diese Voraussetzung scheint mir mit den Tatsachen in schroffem Widerspruche zu stehen. In ihrem letzten Grunde h\u00e4ngt Langes ablehnende Haltung gegen die Bewegungsempfindungen mit der Stellung zusammen, die er zu der Einf\u00fchlung \u00fcberhaupt einnimmt. Sein Blick ist derart ausschliefs-lich auf den einen Gedanken der Illusion gerichtet, dafs er alle hiermit nicht geradezu zusammenfallenden Gesichtspunkte, selbst wenn sie sich mit dem Illusionsgedanken in gewissem Sinn und Umfang vertragen, ohne weiteres verwirft.\n8. Bisher habe ich immer nur die eigentliche Einf\u00fchlung im Auge gehabt. Die stimmungssymbolische Einf\u00fchlung bedarf einer besonderen Er\u00f6rterung, da in ihr die vermittelnden Glieder in eigent\u00fcmlicher Weise entwickelt Vorkommen.\nIn einem jeden symbolischen Einf\u00fchlungsVorgang hat man es mit einer doppelten Verschmelzung zu tun: mit der sinnlichen\n1 Konrad Lange, Das Wesen der Kunst. Berlin 1901. Bd. 1, S. 136 ff., 151 ff., 162 f., 166. Es ber\u00fchrt fast komisch, wenn Lange die seiner Ansicht nach bestehende Unm\u00f6glichkeit, uns mit unserer Bewegung in Atlanten und Karyatiden einzuf\u00fchlen, damit beweist, dafs, wenn wir uns unseren K\u00f6rper als eine Decke oder ein Geb\u00e4lk tragend d\u00e4chten, wir damit eine schwere Unlust auf uns nehmen w\u00fcrden (S. 151), oder wenn er die Unm\u00f6glichkeit, uns in Spiralen, Ranken, Palmetten leiblich einzuf\u00fchlen, mit dem Hinweis darauf begr\u00fcndet, dafs wir doch einen aufgerichteten und frei dahinwandelnden K\u00f6rper besitzen (S. 162). Lange k\u00e4mpft gegen eine plumpe Karikatur der Einf\u00fchlungstheorie.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 13\nWahrnehmung verschmilzt einmal die eigentliche Bedeutung des Wahrgenommenen, zugleich aber (und dies ist die Hauptsache) seine uneigentliche Bedeutung. Wir haben uns den Hergang so vorzustellen, dafs die sinnliche Wahrnehmung, in die die Vorstellung von der wirklichen Bedeutung des Gegenstandes eingeschmolzen ist, und mit der sie nun ein Ganzes ausmacht, die Grundlage f\u00fcr die symbolische Einf\u00fchlung bildet. Erscheint mir z. B. eine Linde als Ausdruck traulich edlen, mild und freundlich kraftvollen Lehens, so ist nat\u00fcrlich hierbei vorausgesetzt, dafs sich mir mit der sinnlichen Wahrnehmung zun\u00e4chst die Bedeutungsvorstellung \u201eLinde\u201c verbunden hat.\n9. Das Eigent\u00fcmliche der stimmungssymbolischen Einf\u00fchlung beginnt erst mit dem Hinzutreten der uneigentlichen Bedeutung. Dieser Bedeutung entspricht hier psychologisch keine abgegrenzte und entwickelte Vorstellung, sondern eine Stimmung. Und da erhebt sich nun die Frage : kn\u00fcpft sich die symbolische Stimmung unmittelbar an die Sinnenform des Gegenstandes, oder treten dabei gewisse Bewufstseinsvorg\u00e4nge als vermittelnde Glieder ein? Diese vermittelnde Rolle kann nun wieder entweder gewissen, insbesondere niederen Empfindungen (sei es in wirklicher, sei es in reproduzierter Gestalt), oder aber irgendwelchem Erfahrungswissen zufallen. Was die vermittelnden sinnlichen Empfindungen betrifft, so k\u00f6nnen diese nat\u00fcrlich nicht so gemeint sein, dafs in ihnen die Gegenst\u00e4nde, wie sie wirklich sind, gegeben w\u00fcrden; sondern sie k\u00f6nnen nur die Bedeutung haben, dafs durch sie der unmittelbare sinnliche Eindruck des Gegenstandes an die stimmungssymbolische Bedeutung angen\u00e4hert w\u00fcrde. Diese sinnlichen Empfindungen w\u00fcrden so selbst schon den Beginn der Symbolik bedeuten. Ich will sie daher kurz als symbolische Empfindungen und die durch sie vermittelte Einf\u00fchlung kurz als leiblich vermittelte Einf\u00fchlung bezeichnen.\nDiese sinnliche Vermittlung kann nun durch Empfindungen der verschiedensten Art geschehen. Nicht nur etwa Bewegungs-, sondern auch Tast-, Temperatur-, vielleicht auch Geruchs- und Geschmacksempfindungen, ebenso Organempfindungen aller Art k\u00f6nnen die Vermittlerrolle spielen; ja auch Gesichts- und Geh\u00f6rsempfindungen f\u00e4llt in einigen F\u00e4llen diese Aufgabe zu. Innerhalb dieser leiblich vermittelten stimmungssymbolischen Einf\u00fchlung will ich nur einen Fall mit einem besonderen Namen hervorheben. Ich will von motorischerSymbolik sprechen,","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nJohannes Volkelt.\nwo es Bewegungsempfindlingen sind, durch die an die Gesichtsoder Geh\u00f6rswahrnehmung oder vielleicht an das Phantasiebild die symbolische Stimmung angekn\u00fcpft wird.\nDer leiblich vermittelten Symbolik steht die assoziative Symbolik gegen\u00fcber. Hier ist es unser Erfahrungswissen, wodurch sich die Verschmelzung eines sinnlichen Eindrucks mit einer symbolischen Stimmung vollzieht. Nat\u00fcrlich kann sich diese Symbolik mit beliebigen Formen der durch Empfindungen vermittelten Symbolik paaren. Von reiner assoziativer Symbolik darf man dort sprechen, wo sich die Vermittlung lediglich durch Erfahrungswissen, ohne vermittelnde Empfindungen vollzieht.\nEndlich erhebt sich die Frage, ob die symbolische Einf\u00fchlung auch unmittelbar erfolgen kann. Wir werden sehen, dafs es sich vielfach wirklich so verh\u00e4lt. Zwei Hauptf\u00e4lle werden zu unterscheiden sein. Von optischer Symbolik k\u00f6nnte dort gesprochen werden, wo sich an die Gesichtswahrnehmung unmittelbar, ohne Zwischenglied, die symbolische Stimmung anschliefst. Entsprechend w\u00fcrde die akustische Symbolik ihre Eigent\u00fcmlichkeit darin haben, dafs mit der Geh\u00f6rswahrnehmung die symbolische Stimmung ohne die Hilfe eines Zwischengliedes verschmilzt. Im Hinblick auf die Dichtkunst k\u00f6nnte dann noch der dritte Fall unterschieden werden, dafs sich mit der Phantasieanschauung unmittelbar die symbolische Stimmung verbindet. Doch will ich f\u00fcr diesen Fall keinen besonderen Namen einf\u00fchren. Nat\u00fcrlicherweise k\u00f6nnte sich die unmittelbare Einf\u00fchlung auch mit der vermittelten paaren. Dann w\u00fcrde die Einf\u00fchlung so vor. sich gehen, dafs die eingef\u00fchlte Stimmung zugleich sowohl durch Verwandtschaft mit der Sinneswahrnehmung, also unmittelbar, als auch durch vermittelnde Glieder ihre Verschmelzung mit der Sinneswahrnehmung einginge.\nEs kann nun nicht meine Absicht sein, alle Gebiete, auf denen es Stimmungssymbolik gibt, darauf hin bis ins besondere und einzelne genau zu untersuchen, wie es mit dem Vorkommen und Nicht Vorkommen symbolischer Empfindungen und \u00fcberhaupt vermittelnder Glieder stehe. Meine Absicht zielt allein darauf, Klarheit dar\u00fcber zu gewinnen, ob alle soeben bezeichneten M\u00f6glichkeiten von stimmungssymbolischer Einf\u00fchlung auch wirklich Vorkommen, und von welcher Wichtigkeit die ver-","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 15\nschiedenen vorkommenden Formen im allgemeinen f\u00fcr das \u00e4sthetische Betrachten sind.\n10. Ich fasse zun\u00e4chst die Farben ins Auge. Flier helfen f\u00fcr die Stimmungssymbolik Empfindungen der verschiedensten Art mit. Gem\u00e4lde mit bl\u00e4ulichem oder silbergrauem Grundton sehen aus, als ob ihnen eine k\u00fchle Seele eingehaucht w\u00e4re. Wer hat nicht schon von den Bildern eines Terborch, Dow und anderer holl\u00e4ndischer Kleinmaler den Eindruck der feinen, vornehmen K\u00fchle empfangen! Umgekehrt lebt in den Bildern mit goldigem Grundton eine warme, gl\u00fchende Seele; wie dies z. B. von einem grofsen Teil Rembrandtscher Bilder gilt. Wenn somit gewisse Farben k\u00fchl und kalt, andere warm und feurig aussehen, so ist dies wohl so zu deuten, dafs durch gewisse Farben Reproduktionen bestimmter Temperaturempfindungen ausgel\u00f6st werden. Temperaturempfindungsankl\u00e4nge reproduktiver Art erm\u00f6glichen es, dafs dann der Eindruck warmen oder k\u00fchlen Seelenlebens entsteht. Aber auch Tastempfindungen symbolischer Art kommen bei Farben vor. Gewisse Arten von Farbengebung machen den Eindruck des Weichen und M\u00fcrben, andere des Harten und Spitzen. In anderer Hinsicht kann man schw\u00e4chlich glatte und kraftvoll rauhe Farbenbehandlung unterscheiden. Hier liegen ohne Zweifel Reproduktionen von Tastempfindungen vor, an die sich dann die entsprechenden symbolischen Stimmungen schliefsen. Tastempfindungen vermitteln es hier, dafs den Farben ein bl\u00fchend weiches oder widrig hartes, ein nichtssagend glattes oder ein markig rauhes Leben innezuwohnen scheint. Auch wenn mir gewisse Farben, etwa ein Violett, als voll, andere, etwa ein Rosa, als leer erscheinen, so sind Tastempfindungen mit im Spiel.\nFreilich darf man von dem sprachlichen Ausdruck nicht ohne weiters auf die symbolische Verwendung bestimmter Empfindungsgruppen schliefsen. Wenn man z. B. von duftigen Farben spricht, so liegt darin keineswegs schon, dafs sich mit den Farben eine reproduzierte Duftempfindung verbindet. In der Regel wird damit vielmehr gesagt sein, dafs etwa die Landschaft durch die Farbenbehandlung denselben Gesichtseindruck hervorruft, den man in der Wirklichkeit als duftiges Aussehen der Landschaft bezeichnet. Aber es kommt doch wohl auch vor, dafs durch Farben Geruchsempfindungen mit symbolischer Bedeutung erweckt werden und mit ihnen ver-","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nJohannes Volkelt.\nschmelzen. Ein jugendlicher weiblicher Leib kann so gemalt sein, als ob ein s\u00fcfser Duft von den sch\u00fcchtern bl\u00fchenden Farben ausginge ; und K\u00f6rperzerfleischung in Gemetzel oder Folter kann in Farben gehalten sein, die aussehen, als ob widriger Geruch von ihnen ausstr\u00f6mte. Hier greifen reproduzierte Geruchsempfindungen in die symbolische Einf\u00fchlung ein. Ob Geschmacksempfindungen vermittelnd eingreifen k\u00f6nnen, ist mir mindestens zweifelhaft. Die Bezeichnung \u201es\u00fcfs\u201c, die man, wie auf Unz\u00e4hliges, auch auf Farben anwendet, ist kein Beweis. Denn das Wort \u201es\u00fcfs\u201c hat hier die ganz abgeblafste Bedeutung des in besonderem Grade Angenehmen. Wenn ich dagegen bei K\u00f6stlin lese, dafs er den Eindruck des Violett als herb und bitter schildert1, so k\u00f6nnte man wenigstens die Frage aufwerfen, ob hier nicht eine Geschmacksreproduktion anklinge. Was die Geh\u00f6rsempfindungen betrifft, so sind sie zweifellos mitt\u00e4tig, wenn gewisse Arten von Bot und Gelb einen schreienden Eindruck machen. Es gibt l\u00e4rmende, posaunende, polternde, quietschende, fl\u00fcsternde Farbenzusammenstellungen. Auch Organ- und Bewegungsempfindungen greifen vielfach vermittelnd ein. Es gibt Farben und Farbenzusammenstellungen, die den Eindruck des Gesunden, Lebensfrischen, andere, die den Eindruck des Kr\u00e4nkelnden, Absterbenden machen. Hier liegen ohne Zweifel gewisse Ankl\u00e4nge von Organempfindungen vor. Auch der Eindruck des Ges\u00e4ttigten, Satten, den gewisse Farbenstufen machen, geh\u00f6rt hierher. Wenn dagegen manche Farben etwas Emporfahrendes, andere etwas Abgrundtiefes zu haben scheinen, so sind in diesen F\u00e4llen Bewegungsempfindungsankl\u00e4nge dem Sinneseindruck zugesellt. Hier haben wir also motorische Symbolik auf dem Gebiete der Farbenempfindung.\nEs kann nun nicht fraglich sein, dafs bei den Farbeneindr\u00fccken auch viel assoziative Symbolik im Spiel ist. Der Eindruck des Gr\u00fcn z. B. ist zum teil dem vermittelnden Eingreifen unseres Erfahrungswissens von dem Gr\u00fcn als der Farbe der Wiesen und des Waldes, als der Farbe der lebendigen, zeugungskr\u00e4ftigen Natur zuzuschreiben. Der Eindruck des Blau ist zweifellos oft von der Erinnerung an die Himmelsbl\u00e4ue, der Eindruck des Bot von der Erinnerung an das Blut abh\u00e4ngig.\n1 K\u00f6stlin, \u00c4sthetik, S. 488 f.","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 17\nUnd an dem Eindruck, den bleiche, fahle Farben hervorbringen, d\u00fcrfte wohl unser Erfahrungswissen von dem Vorkommen solcher Farben an kr\u00e4nklichen und vergr\u00e4mten Menschen mitbeteiligt sein.1 Nat\u00fcrlich ist dies nicht so zu verstehen, als ob dort, wo solche assoziative Symbolik vorliegt, symbolische Empfindungen notwendig fehlen m\u00fcfsten. Vielmehr k\u00f6nnen neben dem unterst\u00fctzenden Erfahrungswissen auch symbolische Empfindungen jeder Art die Einf\u00fchlung vermitteln. Eine bleiche Gesichtsfarbe z. B. kann wahres Fr\u00f6steln erzeugen. In diesem Falle ist beides im Spiele: jenes Erfahrungswissen und eine durch dunkle Analogie hervorgerufene symbolische Temperaturempfindungsreproduktion oder vielleicht sogar diese Empfindung selbst.\nSo gibt es denn auch endlich rein optische Einf\u00fchlung. Wenn uns eine Farbengebung als zart oder sch\u00fcchtern, eine andere als k\u00fchn oder frech erscheint, wenn uns Farben den Eindruck des Heiteren, Frischen, Kraftvollen oder des D\u00fcstern, Drohenden, Matten, Traumhaften machen, so w\u00e4re es eine K\u00fcnstelei, wenn man annehmen wollte, dafs hier \u00fcberall symbolische Empfindungen, wie etwa Organempfindungen des Gesunden und Belebenden odes des Krankhaften und Ermattenden das Mittelglied bildeten. Aber auch assoziatives Erfahrungswissen ist nicht n\u00f6tig. Vielmehr stellt sich die Einf\u00fchlung in zahlreichen F\u00e4llen hier wohl so her, dafs schon der Gesichtseindruck der Farben selbst \u00e4hnliche Stimmungen in uns hervorruft. Der frische Farbenton als solcher verkn\u00fcpft sich mit frischer Stimmung, der zarte Farbenton erweckt durch sich selbst ein entsprechendes Gef\u00fchl. Die Eindr\u00fccke, die das Auge von den Farben empf\u00e4ngt, haben als solche Verwandtschaft mit allerhand Stimmungen. Wenn z. B. K\u00f6stlin das Weifs als die Farbe des Heiteren, Offenen, Lauteren, Edlen, Heiligen schildert, so liegt hier wenigstens vorwiegend unmittelbare Verwandtschaft zu Grunde.2\nEs ist nat\u00fcrlich kein Widerspruch, anzunehmen, dafs dieselbe Einf\u00fchlung teils auf sinnlichen Empfindungen beruht, teils assoziativer, teils rein optischer Art ist. Hiermit w\u00fcrde nur ge-\ns Man vergleiche zn diesem ganzen Abschnitt die trefflichen, aus kraftvollem Schauen und sinnreichem F\u00fchlen stammenden Ausf\u00fchrungen Friedrich Yischers (\u00c4sthetik \u00a7 247 ff.) und K\u00f6stlins (\u00c4sthetik S. 462 ff.) \u00fcber die Stimmungsbedeutung der Farben.\n2 K\u00f6stlin, \u00c4sthetik, S. 476 f.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 32.\n2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nJohannes Vo\u00efkelt.\nsagt sein, dafs sich mit einer bestimmten Farbe eine bestimmte Stimmung aus verschiedenen Ursachen zugleich verbindet: infolge vermittelnder Empfindungen, aber auch infolge von Erfahrungswissen und zugleich infolge unmittelbarer Verwandtschaft.\n11. So sehen wir also, dafs im Reiche der Farben die Einf\u00fchlung in h\u00f6chst mannigfaltiger Weise zustande kommt. In \u00fcberaus h\u00e4ufigen F\u00e4llen greifen symbolische Empfindungen vermittelnd ein. Abgesehen von den Geschmacksempfindungen und selbstverst\u00e4ndlich auch von den Gesichtsempfindungen haben wir dabei alle Hauptgattungen der Empfindungen, die einen mehr, die anderen weniger, angetroffen. Die Bewegungsempfindungen zeigten sich dabei naturgem\u00e4fs nur sehr wenig beteiligt. Doch ist es immerhin bemerkenswert, dafs die Bewegungsempfindungen nicht nur gegen\u00fcber den r\u00e4umlichen Formen ihr Spiel entfalten, sondern auch zur Einf\u00fchlung in die Farben ihr wenn auch bescheidenes Teil beitragen. Oft nun verbindet sich mit den symbolischen Empfindungen noch Erfahrungswissen. Die assoziative Einf\u00fchlung kann aber auch f\u00fcr sich allein Vorkommen. Endlich gibt es zahlreiche F\u00e4lle von Farbeneinf\u00fchlung, wo sich unmittelbar an den Farbeneindruck die Stimmung schliefst; also F\u00e4lle rein optischer Einf\u00fchlung. Soweit aber Empfindungen als Zwischenglied auftreten, geschieht dies wohl bei weitem \u00fcberwiegend in der Form von Empfindungsreproduktionen. Selbst bei \u00e4ufserst lebhafter Einf\u00fchlung und bei empfindungsreizbaren Menschen geschieht es gegen\u00fcber Farben wohl nur sehr selten, dafs wirkliche Empfindungen die symbolische Vermittlung ausmachen.\n\u00dcbrigens mufs man sich h\u00fcten, in die Farbeneinf\u00fchlung und \u00fcberhaupt in die symbolische Einf\u00fchlung Empfindungsreproduktionen als symbolisches Mittelglied hereinzuziehen, die als sinnliche Erg\u00e4nzung des Sinneneindrucks anzusehen sind. Wenn ich Seide, Pelzwerk, Leder, Holz, Silber, Perlen, sei es in Wirklichkeit, sei es auf einem Bilde, k\u00fcnstlerisch betrachte, so verbinden sich mit dem Gesichtseindruck reproduzierte Tast- und Temperaturempfindungen. Diese haben aber eine v\u00f6llig andere Stellung zur Einf\u00fchlung als jene Empfindungen, von denen bisher die Rede war. Wenn mir eine Farbengebung den Eindruck des Harten, Weichen, Schweren, Leichten, K\u00fchlen, Warmen macht, so bedeuten diese Empfindungen nichts,","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 19\nwas den entsprechenden Gegenst\u00e4nden wirklich znk\u00e4me; sie haben lediglich die Bedeutung einer Umsetzung ins Analoge, eben eine symbolische Bedeutung. Dagegen besagen die reproduzierten Tast- und Temperaturempfindungen, die ich beim Anblick yon Seide, Pelz, Leder, Silber u. s. w. habe, dafs die entsprechenden Gegenst\u00e4nde diese Tast- und Temperaturempfindung wahrhaft und wirklich hervorbringen w\u00fcrden, wenn ich sie betastete. Hier hat man es also mit reproduktiver Erg\u00e4nzung des wirklichen Sinneseindrucks zu tun.\n12. Fragt man nun nach der Stellung der symbolischen Empfindung zur Einf\u00fchlung, so kommt man hier zu einem etwas anderen Ergebnis als oben, wo es sich um das Verh\u00e4ltnis der Bewegungsempfindungen zur eigentlichen Einf\u00fchlung handelte. Dort konnte ich in den Bewegungsempfindungen nur eine Vorstufe der Einf\u00fchlung erblicken. Hier dagegen, wo die Einf\u00fchlung symbolisch ist, kommt den Sinnesempfindungen eine Stellung innerhalb der Einf\u00fchlung selbst zu. Denn sie vermitteln ja die Symbolik. Sie stellen die Ann\u00e4herungsm\u00f6glichkeit zwischen dem Farbeneindruck und der entsprechenden Stimmung dar.\nAndererseits darf man die Verschmelzung der Farbeneindr\u00fccke mit den Empfindungsproduktionen nicht als die Hauptsache und das Wesen der Einf\u00fchlung ausgeben. Durch die symbolische Einf\u00fchlung erhalten die Farben so etwas wie ein eigent\u00fcmliches Leben; es scheint etwas in ihnen zu walten und sich zu regen; etwas unserem Seelenleben Verwandtes scheint sie zu durchziehen. Es sind leise oder heftige, zur\u00fcckhaltende oder innige, oberfl\u00e4chliche oder tiefe, aufstrebende oder sich l\u00f6sende, r\u00fccksichtslose oder sch\u00fcchterne Strebungen und Regungen, was in ihnen zu leben scheint. Kurz die Farben sehen nach einem Innenleben aus. Es ist klar, dafs die symbolischen Empfindungen nur die Bedeutung haben, eine Ann\u00e4herung hieran auszudr\u00fccken. An sich selbst bedeuten sie noch nicht den symbolischen Sinn der Farben. Wenn ich mit gewissen Farben die Empfindungsreproduktionen des Warmen oder Kalten, des Schweren oder Leichten, des Harten oder Weichen, des Gesunden oder Kr\u00e4nkelnden verbinde, so soll damit nicht gesagt sein, dafs die Farben des Bildes so gehalten seien, als ob in ihnen die entsprechenden Naturvorg\u00e4nge oder Natureigenschaften walteten. Nur wenn dies\nder Sinn der Farbensymbolik w\u00e4re, liefse sich behaupten, dafs\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nJohannes Volkelt.\nin jenen Empfindungsreproduktionen das Wesen der Einf\u00fchlung best\u00fcnde. Vielmehr m\u00fcssen die Empfindungsreproduktionen umgedeutet, in das Seelische \u00fcbersetzt werden, wenn Einf\u00fchlung in die Farben zustande kommen soll. Auf Grund der Empfindungsreproduktionen entstehen die analogen Regungen und Wallungen des Selbstgef\u00fchls, die mannigfaltigen Arten und Weisen des Zumuteseins. Dann erst ist Sinn und Ziel der Einf\u00fchlung erreicht. Die Farben scheinen von einem gewissen sinnlich-geistigen Lebensgef\u00fchl erf\u00fcllt zu sein, eine Art von Stimmungsseele in sich zu bergen. Das Hinzutreten also der symbolischen Sinnesempfindungen zu der Farbenwahrnehmung ist sehr weit entfernt davon, die ganze Einf\u00fchlung oder auch nur die Hauptsache darin zu sein.\n13. Wenn ich jetzt zur Betrachtung der Symbolik der untermenschlichen Raumformen \u00fcbergehe, so kann ich mich nach der eingehenden Behandlung der Farbensymbolik k\u00fcrzer fassen. Wir wenden uns zun\u00e4chst den bewegten oder als bewegt dargestellten Raumformen zu. Hier ist, wie bei den Bewegungen der Menschengestalt, den Bewegungsempfindungen ein breites Feld aufgetan.\nH\u00fcpfende B\u00e4che, sich w\u00e4lzende Wogen, st\u00fcrzende Wasserf\u00e4lle, eilende Wolken, niederfahrende Blitze, sich wiegende Grashalme, sturmgepeitschte B\u00e4ume, flatternde Haare und Gew\u00e4nder : dies alles fordert uns zu Bewegungsempfindungen auf, sei es dafs wir sie in reproduzierter oder in wirklicher Form vollziehen. Bald dr\u00fcckt sich in den wahrgenommenen Bewegungen wilde Wut, besinnungslose Leidenschaft, bald stolze Kraft, mutiges Dr\u00e4ngen, bald mutwilliger Scherz, neckendes Spiel aus. F\u00fcr alle diese F\u00e4lle ist es zweifellos von Vorteil, wenn die uns durch Natur oder Kunst gebotenen Bewegungen von uns durch entsprechende Bewegungsempfindungen oder deren Reproduktionen begleitet werden. Auch bei unbeseelten Dingen machen wir deren Bewegungen unwillk\u00fcrlich mit der eigenen Leiblichkeit spur- und ansatzweise nach.\nHiermit ist ein erster Anfang in der Beseelung der an sich unbeseelten Dinge gemacht : es ist ihnen etwas von innerer Kraft der Bewegung gegeben. Es kommt dann aber auch hier weiter darauf an, dafs sich hieran die verwandten Stimmungen und Leidenschaften schliefsen (wie ich deren einige vorhin zum Ausdruck gebracht habe). Vergegenw\u00e4rtigen wir uns z. B. Gott-","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 21\nVater, wie ihn Michelangelo wie Sturmwind dahinhrausend hei Erschaffung der Welt und Adams dargestellt hat. Auch sein wehendes, sich bauschendes Gewand erh\u00e4lt von unserer Einf\u00fchlung etwas von der kolossalen Willens- und Herrschaftsbewegung, von der Gott-Vater erf\u00fcllt ist. Erleichtert aber wird diese Leidenschaftsbeseelung durch die Bewegungsempfindungen, mit denen wir in unwillk\u00fcrlichem Nachahmen die Bewegungen des Mantels verfolgen. Auch hier findet also eine Umsetzung der Bewegungsempfindungen in das Seelische statt. Diese Umsetzung verl\u00e4uft allerdings etwas anders als in der Farbensymbolik. Doch halte ich diese Abweichung nicht f\u00fcr wichtig genug, um darauf einzugehen.\nDie Einf\u00fchlung in Bewegungen von Tieren steht in der Mitte zwischen der eigentlichen Einf\u00fchlung in die bewegte Menschengestalt und der (symbolischen) Einf\u00fchlung in bewegte unbeseelte Wesen. Die in uns durch die Bewegung von Tieren ausgel\u00f6sten Bewegungsempfindungen stehen, um je h\u00f6here Tiere es sich handelt, dem, was die Tiere selbst empfinden, um so n\u00e4her. Symbolisch ist die Einf\u00fchlung auch hier : denn wir legen den Tieren eben doch menschen\u00e4hnliche Seelenregungen unter. Wenn uns der L\u00f6we majest\u00e4tisch stolz, die Hy\u00e4ne gemein blutgierig, der Adler k\u00fchn aufstrebend, der Singvogel harmlos fr\u00f6hlich erscheint, so sind dies Erh\u00f6hungen ins Menschliche. Doch aber steht die jedesmal eingef\u00fchlte Menschlichkeit dem eigenen Innenleben der Tiere weit n\u00e4her als dem Wesen der Pflanzen oder leblosen Dinge. So ist also die Einf\u00fchlung von Bewegungsempfindungen in Tiere auch schon ein Schritt auf dem Wege des Symbolischen, aber nicht in der entschiedenen Weise, wie dies bei der Einf\u00fchlung von Bewegungsempfindungen in leblose Dinge oder Pflanzen der Fall ist.\nDoch ist nicht in allen F\u00e4llen die Einf\u00fchlung in bewegte Raumgestalten motorischer Art. Wie gegen\u00fcber der bewegten Menschengestalt, so kommt es auch hier h\u00e4ufig vor, dafs Bewegungen nicht unter Vermittlung von Bewegungsempfindungen, sondern infolge unseres Erfahrungswissens mit bestimmten Stimmungen ausgef\u00fcllt werden. Und wie dort, so gilt dies auch hier vor allem von dichterischen Schilderungen.\n14. Was dann die ruhenden untermenschlichen Raumformen betrifft, so mufs man eine Unterscheidung machen. Einmal kommen dabei die untermenschlichen Dinge und Lebewesen","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nJohannes Volkelt.\nund sodann die willk\u00fcrlichen Gruppierungen von Baumformen in Betracht, wie sie vor allem Baukunst und Kunsthandwerk auf weisen. Wir haben hier also ein \u00fcberaus weites Gebiet vor uns.\nEs kann nun kein Zweifel bestehen, dafs auch f\u00fcr die Einf\u00fchlung in die ruhenden Formen die Bewegungsempfindungen weit mehr als alle anderen Arten von Empfindungen die Vermittlung \u00fcbernehmen. Die ruhenden Formen erhalten durch die Einf\u00fchlung Leben, Streben aller Art ; sie machen den Eindruck, dafs seelenartige Kr\u00e4fte sich in ihnen regen, entfalten, steigern, sich gegeneinander spannen, sich bek\u00e4mpfen, mildern, beruhigen. So werden die ruhenden Formen in Bewegung aufgel\u00f6st. Es scheint in ihnen ein Auf und Nieder, ein Aus- und Gegeneinander zu herrschen. Die ruhenden Linien werden zum Ausdruck des Auf- und Absteigens, des Emporfahrens und Niederst\u00fcrzens, des Sichausweitens und Sichzusammenschliefsens, des Auseinander-strebens und Gegeneinanderstemmens u. s. w. Ist nun die Einf\u00fchlung lebhafter und intimer Art, so kommt diese scheinbare Bewegung zwar nicht immer, aber doch in \u00fcberwiegender Weise durch Bewegungsempfindungen zu st\u00e4nde.\nDie gegen den Himmel sich abhebenden Linien einer Gebirgskette \u2014 etwa von Grindelwald oder vom Gornergrat aus \u2014 fordern besonders eindringlich zu phantasiem\u00e4fsiger Aufl\u00f6sung in Bewegung auf. In den Linien selber scheint es zu klettern, herabzust\u00fcrzen, sich leise zu senken, sich schwerf\u00e4llig zu erheben, sich zu spalten und zu zerreifsen, sich aufzubauen, zu t\u00fcrmen u. dgl. Wenn wir so empfinden, so liegen Bewegungsempfindungen (sei es reproduzierte, sei es wirkliche) als Begleitung der Gesichtswahrnehmungen vor. Jeder Baum, auch wenn er v\u00f6llig unbewegt dasteht, kann sich dem \u00e4sthetischen Betrachter in Bewegung Umsetzern Wenn wir den Stamm leicht oder k\u00e4mpfend hinanstreben, die \u00c4ste hemmungslos oder ruck- und stofsweise sich ausbreiten sehen, so sind es naturgem\u00e4fs Bewegungsempfindungen, wodurch sich dem k\u00fcnstlerischen Betrachter diese Eindr\u00fccke erzeugen. Das Auge f\u00fcr sich sieht wohl die Knickungen, Brechungen oder den geraden Wuchs der \u00c4ste; allein erst durch die dazutretenden Bewegungsempfindungen erhalten diese Linien Kraft, Leben und Bedeutung.\nHierher geh\u00f6ren nun auch die Baukunst und das Kunsthandwerk. Mag es sich um einen Giebel, eine Pforte oder eine","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 23\nS\u00e4ule, um einen Krug, einen Schrank oder einen Bucheinband handeln: \u00fcberall kann die Einf\u00fchlung durch Bewegungsempfindungen vermittelt werden. Es ist hier nicht der Ort, auf dieses unermefslich weite Gebiet einzugehen. Hier kommt es nur darauf an, nachzuweisen, dafs auch hier die Einf\u00fchlung in weitestem Umfang durch Bewegungsempfindungen vor sich geht. Wenn man die Belebung, die das Einf\u00fchlen den baulichen Formen zu teil werden l\u00e4fst, n\u00e4her betrachtet, so ergibt sich, dafs dabei besonders folgende Strebungen beteiligt sind. Wir glauben mit den Formen entweder emporzustreben oder niedergedr\u00fcckt zu werden; entweder uns auszuweiten oder uns einzuengen; entweder uns zu T\u00e4tigkeit vorzubereiten und aufzuraffen oder uns zu beruhigen und einen Abschlufs zu machen; entweder uns in strenger Ordnung zu bewegen oder uns mehr spielend zu ergehen ; entweder uns hemmungslos auszuleben oder gegen Widerst\u00e4nde anzuk\u00e4mpfen. Besonders diese f\u00fcnf Entweder-Oder findet man in den Belebungen der baulichen Formen. In den verschiedensten Verbindungen und \u00dcberg\u00e4ngen treten sie uns hier \u00fcberall entgegen. Und etwas \u00c4hnliches l\u00e4fst sich von den Formen kunstgewerblicher Erzeugnisse sagen. Es ist klar, dafs derartige Belebungen durch die entsprechenden Bewegungsempfindungen in hohem Grade gef\u00f6rdert und erleichtert werden. Niemand ist so fein in diese Art von Beseelung eingedrungen wTie Lipps. Er weifs die sich an die Gesichtswahrnehmung der Linien und Fl\u00e4chen kn\u00fcpfenden Bewegungsempfindungen in haarscharfer Weise zu zergliedern.1\n15. Ich habe mich schon oft des Ausdruckes \u201eunwillk\u00fcrliche Nachahmung\u201c bedient. Wenn wir in Bewegung befindliche Menschengestalten vor uns haben, so versetzen wir uns, so sagte ich, mit unwillk\u00fcrlicher Nachahmung in die wahrgenommene Bewegung. Auch gegen\u00fcber den ruhenden menschlichen Gliedern, ja auch gegen\u00fcber den Bewegungen in der Natur kann immer noch mit einigem Rechte von nachahmenden wirklichen oder phantasiem\u00e4fsigen Bewegungen die Rede sein. Dagegen w\u00e4re es verkehrt, hinsichtlich einer S\u00e4ule, eines Kruges, einer Gebirgs-linie von Nachahmung zu sprechen. Die Bewegung, in die wir die ruhenden Linien aufl\u00f6sen, ist vielmehr eine sch\u00f6pferische Hinzuf\u00fcgung. Die ruhenden Formen der unbeseelten Natur er-\n1 Theodor Lipps, Raum\u00e4sthetik. Hamburg u. Leipzig 1897.","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nJohannes Volkelt.\nhalten durch die Bewegungsempfindungen Leben, Streben, Seele. Von Nachahmung kann hier nur in mifsbr\u00e4uchlichem Sinne die Rede sein. Ich hebe dies gegen Yrj\u00f6 Hirn hervor, der in seinem Werke \u00fcber den Ursprung der Kunst die unbewufst nachahmende Bewegung zur Grundlage alles \u00e4sthetischen Verhaltens machen will. Solchen grofs klingenden und exakt scheinenden, in Wahrheit aber im Unbestimmten und Schwankenden sich haltenden Reden gegen\u00fcber, wie sie Hirn f\u00fchrt, wenn er die \u00e4sthetische Anschauung aus Nachahmung herleiten will1, ist es n\u00fctzlich, auf ganz bestimmte Gebiete und Tatsachen im \u00e4sthetischen Betrachten hinzuweisen, wo nur scheinbar Nachahmung, in Wahrheit aber etwas ganz anderes vorliegt. Die Bewegungsempfindungen, so sahen wir, sind in den bezeichnten F\u00e4llen wohl vorhanden, aber von Nachahmung ist nichts zu finden. Und nun gar die Welt der Farben! Hier w\u00e4re es geradezu Widersinn, wenn man die symbolischen Tast-, Temperatur- und anderen Empfindungen als nachahmend auffassen wollte. Sie bedeuten augenf\u00e4llig vielmehr ein sch\u00f6pferisches Beleben des Farbeneindrucks. Und \u00e4hnlich, so wird es sich zeigen, verh\u00e4lt es sich mit den T\u00f6nen. Denkt man dann an die zahllosen F\u00e4lle assoziativer und unmittelbarer Einf\u00fchlung, so sind damit weitere Gebiete bezeichnet, wo von nachahmender Bewegung keine Spur zu finden ist. Endlich aber mufs daran erinnert werden, dafs die Hauptsache in der Einf\u00fchlung nicht in den Ans\u00e4tzen von Bewegungs- und anderen Empfindungen, sondern in der Gef\u00fchlsentfaltung besteht, die sich mit der Anschauung verbindet, und dafs es so verkehrt wfie m\u00f6glich w\u00e4re, diese sch\u00f6pferische Verinnerlichung des Gesichts- oder Geh\u00f6rseindruckes als Nachahmung aufzufassen.\nSo finden wir uns durch die Kritik der Nachahmungstheorie wiederum, wie schon fr\u00fcher, darauf hingewiesen, dafs mit diesen (sei es reproduzierten, sei es wirklichen) Bewegungsempfindungen nicht entfernt die ganze Einf\u00fchlung geleistet ist. Die Bewegungsempfindungen w\u00fcrden, wenn sie f\u00fcr sich allein, ohne alle weiteren und h\u00f6heren Gef\u00fchlsbet\u00e4tigungen, mit den Gesichtswahrnehmungen verschmolzen w\u00fcrden, nur dies bedeuten* dafs ich, indem ich mich leiblich in die Linien des Berges oder Geb\u00e4udes hineinversetze, diese Linien in \u00e4hnlicher Weise sich\nYkj\u00f6 Hikn, The origins of art. S. 72 ff.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 25\nheben, st\u00fcrzen, dehnen u. dgl. sp\u00fcre, wie ich dies sonst an meinem Leibe empfinde. W\u00e4re dies die ganze Einf\u00fchlung, so w\u00e4re sie wahrhaft k\u00fcmmerlicher Natur. Denn erstlich w\u00fcrden wir das Emporstreben, Sichsenken, Sichausweiten u. dgl. schon als solches nur \u00e4ufserst undeutlich und bruchst\u00fcckweise sp\u00fcren. Sind doch die Bewegungsempfindungen, die wir angesichts eines Berges oder einer S\u00e4ule haben, selbst im g\u00fcnstigsten Fall nur \u00e4rmlich und zerrissen im Vergleich zu der Vollst\u00e4ndigkeit, mit der sie sich in uns vollziehen, wenn wir unseren Leib wirklich bewegen, indem wir klettern, heben, greifen u. s. w. Durch die Spuren von Bewegungsempfindungen allein w\u00fcrde also den Linien des Berges oder der S\u00e4ule nur ein d\u00fcrftiges Leben gegeben wTerden. Es mufs sich mit den Bewegungsempfindungen das entsprechende sinnliche Lebensgef\u00fchl verbinden. Hierzu aber ist Selbstgef\u00fchl, Ich-Erleben notwendig. Erst unter dieser Voraussetzung ist es m\u00f6glich, dafs uns Berg und Baum, S\u00e4ule und Giebel eine Art Leben zu f\u00fchren scheinen. Zweitens aber w\u00fcrde, wenn die Bewegungsempfindungen im wesentlichen die Einf\u00fchlung ausmachten, die ganze Vergeistigung des sinnlichen Lebensgef\u00fchls in Wegfall kommen. Diese aber ist doch \u00fcberall bei voller \u00e4sthetischer Hingabe vorhanden. Mancher Berg steigt k\u00fchn, trotzig an; gewisse Bergformen erscheinen b\u00f6sartig, von grauenhafter Wildheit, andere von vornehmer Haltung; es gibt wieder andere Bergformen, die der Ausdruck freundlichen, lieblichen, einladenden Sinnes zu sein scheinen. Der emporstrebende Turm hat zugleich etwas Siegreiches, Freies, etwas in ideale, \u00fcberirdische H\u00f6hen Hinweisendes. Von manchen Gew\u00f6lben scheint eine dumpfe, schwere Bedr\u00fcckung auszugehen. Ein Landhaus kann Formen haben, in denen an sich schon Traulichkeit, Kummerlosigkeit, bergende Kraft zu walten scheinen. Dies alles k\u00e4me in Wegfall, wenn die Einf\u00fchlung mit den Bewegungsempfindungen abgeschlossen w\u00e4re. So gilt also von diesen Empfindungen, \u00e4hnlich wie von den symbolischen Empfindungen bei der Farbeneinf\u00fchlung, der Satz, dafs sie zwar zu der Einf\u00fchlung selbst geh\u00f6ren, aber doch nur den Anfang darin bilden. Es mufs sich an sie das entsprechende sinnliche Lebensgef\u00fchl und weiterhin die Umsetzung in die entsprechende Geistesstimmung schliefsen.\n16. Indessen sind an der Einf\u00fchlung in untermenschliche Baumformen auch andere Empfindungen beteiligt. Namentlich","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nJohannes Volkelt.\nTastempfindungen greifen h\u00e4ufig vermittelnd ein. Gewisse Formen machen den Eindruck des Schweren, andere den des Leichten. Die dorische S\u00e4ule erscheint schwer im Vergleich zur jonischen, die \u00e4gyptische Baukunst im allgemeinen schwer, wenn man ihr die griechische im Durchschnitt gegen\u00fcberstellt. Dies ist nicht etwa so gemeint, dafs in dem Betrachter die \u00dcberlegung entsteht, dafs bei wirklichem W\u00e4gen die eine Masse schwerer w\u00e4re als die andere. Der Becher mit schweren Formen kann im Gegenteil ein geringeres Gewicht haben als der mit leichten. Sondern der Sinn jenes Eindrucks geht dahin, dafs die Formen so aussehen, als ob sie schwer oder leicht w\u00e4ren. Dies ist nur dadurch m\u00f6glich, dafs in dem Betrachter Druckempfindungsreproduktionen entstehen, die mit dem Gesichtseindrucke verschmelzen. Auch hier sind nat\u00fcrlich die Tastempfindungen nicht ein Letztes ; es w\u00e4re eine falsche Beschreibung des inneren Vorganges, wenn man sagen wollte: die ganze Einf\u00fchlung bestehe darin, dafs die Raumformen so aussehen, als oh wir in ihnen Schweres oder Leichtes empf\u00e4nden. Sondern es kommt weiter darauf an, dafs sich in Ankn\u00fcpfung an die Reproduktionen der Druckempfindungen das entsprechende sinnlich-geistige Lebensgef\u00fchl entfaltet, als dessen Ausdruck dann die Raumform erscheint.\nSo gibt es ferner Formen, die hart, andere, die weich erscheinen. Wenn ich freilich von den weichen Formen einer nackten weiblichen Gestalt von Tizian oder von den harten Formen an dem David oder an Johannes dem T\u00e4ufer von Andrea del Verrocchio spreche, oder wenn ich die Form eines Pfirsichs als wTeich bezeichne oder von einem Apfel sage: er sieht hart aus, so geh\u00f6rt dies nicht hierher. Denn mit diesen Bezeichnungen ist die Erg\u00e4nzung des Gesichtseindrucks durch die im eigentlichen Sinn verstandenen reproduzierten Tasteindr\u00fccke gemeint. Man will sagen: wenn man die weiblichen Gestalten, die Tizian gemalt hat, oder die m\u00e4nnlichen Gestalten, die Verrocchio dargestellt hat, in ihrer Wirklichkeit betasten k\u00f6nnte, so w\u00fcrde man dort die Empfindung des Weichen, hier die des Harten haben; und ebenso: wenn wir den Pfirsich oder den Apfel wirklich bef\u00fchlten, so w\u00fcrde uns die Empfindung des Weichen oder des Harten zu teil werden. Wenn wir dagegen die Formen gothischer Ger\u00e4te als hart empfinden im Vergleiche zu Renaissanceformen, so sind hier die Tastempfindungen im","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 27\nsymbolischen Sinne verwandt. Beh\u00e4lt doch die Bezeichnung ihre volle G\u00fcltigkeit, auch wenn die verglichenen Erzeugnisse aus demselben Metall hergestellt, also f\u00fcr das wirkliche Empfinden gleich hart sind.\nAuch Temperaturempfindungen k\u00f6nnen bei Betrachtung von Raumformen symbolisch eingreifen. Auch abgesehen von der Farbe kann schon die Formgebung als solche den Eindruck des Warmen oder Kalten hervorrufen. So habe ich das Gef\u00fchl: die Formen der Renaissancebaukunst beispielsweise erscheinen k\u00fchl im Vergleiche mit den Formen moderner Baustilversuche. Der moderne Bauk\u00fcnstler ist bestrebt, die Formen-Sprache, die er durch die Bauglieder und ihre Zusammenf\u00fcgung f\u00fchrt, m\u00f6glichst warm zu gestalten. Doch in wie weitem Umfange auch Tast-, Temperatur- und vielleicht noch mancherlei Organempfindungen an der Einf\u00fchlung in untermenschliche Raumformen beteiligt sein m\u00f6gen, so wird doch dadurch die bei weitem \u00fcberwiegende Bedeutung der Bewegungsempfindungen \u25a0f\u00fcr dieses ganze grofse Gebiet nicht ersch\u00fcttert. Die motorische Einf\u00fchlung f\u00fchrt hier die Herrschaft.\nEs fragt sich nun weiter, ob nicht auch assoziative Einf\u00fchlung mitspielt. Wie \u00fcberall, so fehlt es auch hier an solcher nicht. Wir wissen aus Erfahrung, dafs leidenschaftliche, aufgeregte Gem\u00fctsbewegungen sich in planlosem Rennen durch die Zimmer, im heftigen Sichwerfen zur Erde, im Ringen der H\u00e4nde, kurz in \u00e4ufserster Steigerung der K\u00f6rperbewegungen \u00fcufsern. So deuten wir dann unwillk\u00fcrlich nicht nur \u00e4hnliche Bewegungen an untermenschlichen Gegenst\u00e4nden, sondern -auch ruhende Formen an ihnen, die sich als Ergebnis derartiger Bewegungen auffassen lassen, gem\u00e4fs diesem Erfahrungswissen. Wenn mir niederfahrende Blitze als Ausdruck zerst\u00f6render Wut erscheinen, so kann (ich sage nicht : mufs) hierbei jenes Erfahrungswissen unbewufst mit wirken. Ebenso aber auch, wenn eine j\u00e4h emporsteigende Felsenwand \u2014 also hier ein Ruhendes \u2014 den Eindruck wild emp\u00f6rten, unnahbaren Trotzes macht. Und Entsprechendes kann beim Anblick sanfter Bewegungen und solcher ruhender Formen, die aus sanften Bewegungen entstanden sein k\u00f6nnten, der Fall sein.\nIch habe bis jetzt bei dem Erfahrungswissen immer nur daran gedacht, dafs man weifs, mit welchen Bewegungen gewisse Affekte u. dergl. verkn\u00fcpft sind. Doch kann das Erfahrungs-","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nJohannes Volkelt.\nwissen sich auch darauf beziehen, dafs mit gewissen ruhenden Formen des menschlichen Leibes eine gewisse Verfassung des Gem\u00fctes, Willens, der Intelligenz verbunden zu sein pflegt. Aber das Erfahrungswissen kann noch etwas anderes besagen : dies n\u00e4mlich, dafs sich die gegebene Form an irgendwelchen anderen edlen und hochgesch\u00e4tzten oder trivialen und gemeinen Gegenst\u00e4nden findet. Die \u00c4hnlichkeit gewisser Ornamente mit Palmen oder Rosen, Sternen oder Muscheln kann in erh\u00f6hendem, veredelnden Sinne wirken. Raffaels Grottesken k\u00f6nnen viel Beispiele f\u00fcr diese veredelnde Wirkung der Assoziationen liefern. Umgekehrt kann die Erinnerung an die Zwiebelgestalt gewissen Formen der Baukunst einen unangenehmen Beigeschmack geben.\nUnd endlich ist zu bedenken, dafs auch optische Einf\u00fchlung hier vorkommt. Auch ohne Vermittlung von sinnlichen Empfindungen und von Erfahrungswissen, also unmittelbar, kann sich an die wahrgenommene untermenschliche Raumform der entsprechende Stimmungsgehalt kn\u00fcpfen. Und zwar ist dies nicht nur bei abgestumpfter, sich nur mit dem Wiederbeleben bekannter Eindr\u00fccke besch\u00e4ftigender Stimmung der Fall, sondern es kann auch dann geschehen, wenn die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung lebhaft ist und einen neuen Gegenstand vor sich hat. Mir scheint, dafs zwischen gewissen Gesichtseindr\u00fccken von r\u00e4umlichen Formen und gewissen Gem\u00fctszust\u00e4nden eine unmittelbare Verwandtschaft besteht. Eine sanft geschwungene Linie scheint mir als solche, rein also f\u00fcr das Auge, Verwandtschaft zu haben mit sanften Bewegungen des Gem\u00fcts, w\u00e4hrend abgerissene, emporfahrende, niederst\u00fcrzende Linien mir schon als solche mit j\u00e4hen, wilden Affekten verwandt zu sein scheinen. So kann es kommen, dafs beim Anblick solcher Linien sich eine rein optische Einf\u00fchlung vollzieht. Es kann nat\u00fcrlich aber auch Vorkommen, dafs neben und zugleich mit assoziativer und motorischer Einf\u00fchlung auch die unmittelbare Verwandtschaft zwischen Linie und Stimmung mitspielt, also die optische Einf\u00fchlung einen Teil des gesamten Einf\u00fchlungsvorganges bildet. Immerhin wird man sagen d\u00fcrfen, dafs dort, wTo optische Einf\u00fchlung allein vorliegt, sehr h\u00e4ufig das \u00e4sthetische Betrachten matt und stumpf ist.\nDie optische Einf\u00fchlung war schon fr\u00fcher ber\u00fchrt, wo ich von der Einf\u00fchlung in die ruhende Menschengestalt sprach. Ich f\u00fchrte als Beispiele unter anderem die hohe, sanftgew\u00f6lbte","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 29\nStirn, die Adler- und die Kartoffelnase, schmale und volle Lippen, leichtgerundete und eingefallene Wangen an und hob hervor, dafs in diesen Beispielen Bewegungsempfindungen keinesfalls in erheblichem Grade Vorkommen, liefs es aber unbestimmt, inwieweit hierbei hinzutretendes Erfahrungswissen mafsgebend sei, und inwieweit etwa optische Einf\u00fchlung vorliege. Nach den soeben angestellten Ermittlungen kann es nicht zweifelhaft sein, dafs beides dabei vorkommt. Wenn z. B. die Nase mit einem Haken, einer Gurke, einer Kartoffel oder der Mund mit einem Schlitz, einer verschwollenen Spalte, einem Briefkasteneinwurf, einem Frefs- und Br\u00fcllorgan \u00c4hnlichkeit hat, so kann diese Assoziation f\u00fcr die Einf\u00fchlung mafsgebend werden und ihr etwas L\u00e4cherliches geben. Beim Eindruck, den das Ohr macht, kann die Assoziation in veredelndem Sinne helfen. Ich brauche, um dies zu verdeutlichen, nur folgenden Satz aus der \u00c4sthetik Vischers hierherzusetzen : \u201eBescheiden schmiegt sich die zierliche Muschel des Ohrs mit jenem schmuckartigen Fleisch tropfen, den kein Tier hat, dem L\u00e4ppchen, an die Schl\u00e4fe.\u201c1 Aber auch die optische Einf\u00fchlung kann hereinspielen. Die sanfte W\u00f6lbung von Stirn oder Wange kann schon als Eindruck f\u00fcr das Auge der Einf\u00fchlung die Richtung auf das Edle, Ruhige, Freundliche geben. Und die Gurkennase ist auch abgesehen von allem hinzugesellten Erfahrungswissen schon rein durch die wahrgenommene Form geeignet, in der Richtung auf das Gemeine zu wirken. Die r\u00e4umliche Form selbst hat hier eine gewisse Verwandtschaft mit trivialem, unedlem Wesen.\n17. Wenn ich zum Schlufs noch das Reich der T\u00f6ne ins Auge fasse, so wird sich hier dasselbe ergeben, wie bei Farben und Raumformen: die Einf\u00fchlung kommt auch hier teils mit Hilfe von symbolischen Empfindungen, unter denen hier die Bewegungsempfindungen bedeutsam hervortreten, teils vermittelst Erfahrungswissens, teils unmittelbar (so dafs also hier von akustischer Einf\u00fchlung die Rede sein kann) zu st\u00e4nde. \u00dcberall also begegnet uns Mannigfaltigkeit im Entstehen der symbolischen Einf\u00fchlung. Manche \u00c4sthetiker sind geneigt, die Einf\u00fchlung m\u00f6glichst eint\u00f6nig und gleichm\u00e4fsig sich vollziehen zu lassen. In Wahrheit ist das Gegenteil hiervon der Fall. Das Seelenleben bietet f\u00fcr das Zustandekommen der Einf\u00fchlung verschieden-\n1 Friedrich Vischer, \u00c4sthetik, \u00a7 318.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nJohannes Volkelt.\nartige Mittel dar. Diese werden alle verwandt. Das Ergebnis, die Einf\u00fchlung, ist das gleiche, die Wege dahin sind mannigfaltig.\nMan hat f\u00fcr die symbolische Einf\u00fchlung drei Gebiete von T\u00f6nen zu unterscheiden. Einmal kommen die Ger\u00e4usche der untermenschlichen Natur in Betracht: der plaudernde Bach, der rauschende Strom, das tosende Meer, der krachende Donner, das knisternde Feuer, die fl\u00fcsternden Bl\u00e4tter, der heulende Wind, die tickende Uhr, die knallende Peitsche, nat\u00fcrlich auch alle Tierstimmen. Ein zweites Gebiet bilden die musikalischen\nKl\u00e4nge. Hier handelt es sich um den k\u00fcnstlerischen, frei spielen-\n\u2022 \u2022\nden Aufbau von Kl\u00e4ngen. Einen \u00dcbergang in dieses Gebiet stellt der menschliche Gesang dar. Drittens endlich geh\u00f6rt die menschliche Sprache hierher, nicht freilich als solche, sondern nur insofern sie der Dichter zu freiem Spiel ben\u00fctzt. An sich ist die Einf\u00fchlung in die menschliche Sprache von eigentlicher Art. Dagegen kommt der symbolische Gesichtspunkt zur Geltung, insofern der Dichter die W\u00f6rter als Bausteine zu rhythmischen und vielleicht auch gereimten Gebilden verwendet. Dann sind die W\u00f6rter und Silben in \u00e4hnlicher Weise, wie die T\u00f6ne, Linien, Fl\u00e4chen, Farben in Ton- und Baukunst, f\u00fcr frei spielende Gruppierung verwertet.\nZuerst liegt mir daran, hervorzuheben, dafs f\u00fcr die T\u00f6ne die Bewegungsempfindungen in weitem Umfang die Einf\u00fchlung vermitteln. Vor allem ist es der musikalische und der sprachliche Rhythmus, in den sich die Einf\u00fchlung durch Bewegungsempfindungen vollzieht. Wie man auch sonst den Eindruck erkl\u00e4ren und zergliedern mag, den wir durch den Rhythmus empfangen: jedenfalls liegt in den Geh\u00f6rseindr\u00fccken die lebhafteste Aufforderung f\u00fcr das Entspringen begleitender Spannungsund Bewegungsempfindungen. Diese Empfindungen bilden die Grundlage f\u00fcr den ausgesprochen dynamischen Charakter, den der Rhythmus f\u00fcr uns besitzt. Rhythmus ist Ausdruck von Kraftbewegung, von regelm\u00e4fsig fortschreitender Kr\u00e4ftegestaltung. Die Geh\u00f6rseindr\u00fccke f\u00fcr sich allein w\u00fcrden dem Rhythmus kaum seinen ausgesprochen dynamischen Charakter zu geben verm\u00f6gen. Dieser scheint nur durch die Hinzugesellung von Spannungs- und Bewegungsempfindungen m\u00f6glich zu sein. Der regelm\u00e4fsige (freilich oft nur ann\u00e4hernd regelm\u00e4fsige) Ablauf dieser Empfindungen aber nach Zeitabstand und Betonungsgrad","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 31\ngibt dann dem Rhythmus seine besondere jeweilige Eigent\u00fcmlichkeit. Hierauf einzugehen, ist hier nicht der Ort.\nEs scheint mir, dafs die Einf\u00fchlung auf keinem Gebiete so innig und unl\u00f6slich mit den Bewegungsempfindungen verkn\u00fcpft ist wie im Rhythmus. Selbst gegen\u00fcber heftigen, auffallenden Bewegungen ist es eher m\u00f6glich, dafs die Einf\u00fchlung ohne die Vermittlung durch Bewegungsempfindungen verl\u00e4uft. Erfahrungswissen kann hier den Ersatz bilden. Dagegen droht die Einf\u00fchlung in die rhythmische Bewegung ohne Bewegungsempfindungen zu leerem, anteillosem H\u00f6ren herabzusinken. Damit h\u00e4ngt es auch zusammen, dafs bei keiner Gelegenheit so leicht wirkliche Bewegungsempfindungen eintreten wie hier. Es ist allbekannt, wie oft der Rhythmus der Musik, etwa ein Marsch oder Tanzst\u00fcck, uns zu wirklichen Bewegungsans\u00e4tzen treibt. Geoos glaubt sogar, dafs jeder \u201eintensive musikalische Genufs\u201c von wirklichen Bewegungsans\u00e4tzen begleitet ist,1\nNat\u00fcrlich ist auch hier wieder mit den Bewegungsempfindungen nur der Anfang der Einf\u00fchlung geschehen. An diese Empfindungen schliefsen sich dann die verwandten Kraftgef\u00fchle : mein Selbst erlebt verschiedene Arten und Grade von Spannung und T\u00e4tigkeit. So erh\u00e4lt der Rhythmus seine leichtbefl\u00fcgelte oder schwerf\u00e4llige, seine einfach muntere oder feierliche oder feurige, seine sich sentimental dehnende oder m\u00e4nnlich entschiedene Seele.\nDoch noch in anderer Hinsicht kommen die Bewegungsempfindungen f\u00fcr die Einf\u00fchlung in die T\u00f6ne in Betracht. Der Aufstieg der T\u00f6ne sowie ihr Abstieg, ihr Sichhinaufsehwingen zu immer entr\u00fcckteren H\u00f6hen und ihr Hinabst\u00fcrzen zu dunklen Tiefen, ihr Auf- und Niederschweben und Auf- und Niederflattern, ihr Sichhalten in ferner H\u00f6he und abgrundartiger Tiefe \u2014 dies alles sind Eindr\u00fccke, die unwillk\u00fcrlich durch Bewegungsempfin-\n1 Geoos, a. a. O. S. 206. Bei Hirn (a. a. 0. S. 89 f.) finden sich gute Beispiele f\u00fcr die zu Mitbewegungen antreibende Kraft des Rhythmus. Konrad Lange dagegen ist durch seine Erfahrungen zu der Einsicht gekommen, dafs \u201eGebildete\u201c durch den Rhythmus der Musik niemals zu wirklichen Bewegungen veranlafst werden (Das Wesen der Kunst, Bd. 1, S. 146). \u00dcber die Psychologie des Rhythmus enthalten die Abhandlungen von Ernst Mettmann (Untersuchungen zur Psychologie und \u00c4sthetik des Rhythmus. Leipzig 1894) und Max Ettlinger (Zur Grundlegung einer \u00c4sthetik des Rhythmus, ln dieser Zeitschrift 22, S. 161 ff.) eine F\u00fclle f\u00f6rdernder Untersuchungen.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nJohannes Volkelt.\ndangen vermittelt werden. Im allgemeinen wird man sagen d\u00fcrfen: die Ver\u00e4nderungen im Fortschritt der Tonbewegung nach H\u00f6he und Tiefe werden besonders dann von Bewegungsempfindungen begleitet, wenn sie sich in bedeutendem Grade oder in \u00fcberraschender Weise oder in anhaltend nach derselben Richtung gehender Bewegung f\u00fchlbar machen. Mit der Entschiedenheit freilich, mit der die Bewegungsempfindungen durch den Rhythmus hervorgerufen werden, kann sich die Art, wie sie den H\u00f6hen- und Tiefenwechsel der T\u00f6ne begleiten, nicht messen. Zu wirklichen Bewegungsempfindungen wird es von hier aus nur schwer kommen.\n18. Auch andere Empfindungen k\u00f6nnen in die Tonsymbolik vermittelnd eingreifen. Wenn man von einer weichen, geschmeidigen, harten, scharfen Stimme und in \u00e4hnlichen Eigenschaftsw\u00f6rtern auch von Melodie und Harmonie spricht, so m\u00f6gen Reproduktionen von Tastempfindungen den ersten Schritt in der Einf\u00fchlung bilden. Auch Temperaturempfindungen k\u00f6nnen sich infolge dunkler Analogie an die Geh\u00f6rseindr\u00fccke anschliefsen. Ein Tonsch\u00f6pfer wie Schubert wirkt in ausgesprochener Weise warm. Geruchsempfindungen d\u00fcrften, wie \u00fcberall, so auch hier, wohl nur ausnahmsweise vermittelnd eingreifen. Unm\u00f6glich ist es sicherlich nicht, dafs uns ein Tongewebe \u00e4hnlich wie gewisse Dufteindr\u00fccke ber\u00fchrt. Nat\u00fcrlich w\u00fcrde es nicht hierher geh\u00f6ren, wenn jemand erst durch Nachsinnen dazu k\u00e4me, gewisse Tonbewegungen mit bestimmten D\u00fcften zu vergleichen. Sollen Geruchsempfindungen ak Glied in der Einf\u00fchlung Vorkommen, so m\u00fcssen sie sich unwillk\u00fcrlich dem H\u00f6ren anschliefsen und so dicht ihm anschliefsen, dafs das Geh\u00f6rte geruchsartig klingt.\nNach dem Befund, der sich uns auf den verschiedenen Gebieten dargestellt hat, scheinen \u00fcbrigens die Geschmacksempfindungen noch weniger f\u00fcr die symbolische Einf\u00fchlung verwertbar zu sein als die Geruchsempfindungen. Am ehesten k\u00f6nnte wohl immer noch die Klangfarbe einer Stimme unwillk\u00fcrlich den Eindruck des S\u00fcfsen, S\u00fcfslichen, Sauren, S\u00e4uerlichen machen. Nat\u00fcrlich darf die bildliche Anwendung der W\u00f6rter: s\u00fcfs, bitter u. dgl., wie ich bereits oben angedeutet habe, nicht schon als ein Beleg f\u00fcr das Vorkommen von Geschmacksempfindungsreproduktionen angesehen werden.\nNoch mag bemerkt werden, dafs es Personen gibt, denen sich an","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 33\ndie Geh\u00f6rseindr\u00fccke unwillk\u00fcrlich Farbeneindr\u00fccke schliefsen. Besonders die Buchstaben, und zwar nicht nur die Selbst-, sondern auch die Mitlauter, t\u00f6nen manchen Personen so, als ob bestimmte Farben mitkl\u00e4ngen.1 * * * * * * 8 9 Aber auch die musikalischen T\u00f6ne sehen manchen Menschen nach bestimmten Farben aus. Es handelt sich hier um individuelle Sonderbarkeiten in der Richtung dunkler Sinnesr analogien. In diesen F\u00e4llen treten sonach Farbenempfindungen als leibliches Zwischenglied in der symbolischen Einf\u00fchlung in die T\u00f6ne auf. Von Lichtempfindungen dagegen glaube ich, dafs sie sich h\u00e4ufiger mit musikalischem H\u00f6ren verschmelzen. Ein Gewebe von hohen T\u00f6nen kann uns leicht wie ein Lichtreich, dagegen ein Auf- und Abwogen in den Tiefen wie Dunkel und Nacht anmuten.\n19. Neben der leiblich vermittelten Einf\u00fchlung kommt aber auch die assoziative Einf\u00fchlung auf dem Tongebiete in weitem Umfange vor. Wenn uns gewisse Melodien der Geige oder auch anderer Instrumente als Gesang erscheinen, so liegt Erinnerung an das menschliche Singen vor. Weil \u00e4hnliche Tonfolgen f\u00fcr das menschliche Singen charakteristisch sind, so kommt uns z. B. das erste Thema in dem Adagio der vierten Symphonie\n1 Ein 17 j\u00e4hriges M\u00e4dchen, dem alles k\u00fcnstliche Deuten v\u00f6llig fremd\nwar, schrieb mir vor Jahren die Farbenbedeutungen, die f\u00fcr sie die Buch-\nstaben besafsen, in folgender Weise auf: a \u2014 rosa, fast weifs; b = grau;\nc = braun ; d \u2014 hellbraun ; e = weifs ; f= graubraun ; g = hellgelb ; h = gr\u00fcn, w\u00e4sserig; i = hochrot; h = graublau; l = gelb; m = grasgr\u00fcn; n = oliv-\ngr\u00fcn; 0 = schwarz; p = mattbraun; g = pflaumenblau; r = schwarz; s = hellgrau; t = eichenholzbraun; u \u2014 pflaumenblau; v = rehbraun; w = blau, w\u00e4sserig; x = braun; y = bordeauxrot; z = gelb. Ich bin\ndessen v\u00f6llig sicher, dafs hier eine durchaus naive Verschmelzung vorliegt.\nDemselben M\u00e4dchen sahen \u00fcbrigens auch die Zahlen farbenanalog aus. Ihm erschien 1 grau, 2 weifs, 3 gr\u00fcn, 4 gelb, 5 rehbraun, 6 schwarz, 7 lila,\n8\thellblau, 9 bordeauxrot, 0 grau. F\u00fcr diese merkw\u00fcrdige Verbindung ist sicherlich nicht der Begriff der verschiedenen Zahlen, sondern der Eindruck, den das Ohr von den deutschen Namen der Zahlen empf\u00e4ngt, mafs-gebend. Dies wird mir ausdr\u00fccklich von einer urteilsf\u00e4higen Dame best\u00e4tigt, der sich gleichfalls gewisse Zahlen mit bestimmten Farben paaren. Ihr verkn\u00fcpft sich 2 mit weifs, 3 mit rot, 4 mit gr\u00fcn, 5 mit blau, 7 mit gelb,\n9\tmit braun. \u00dcber den farben\u00e4hnlichen Klang der Stimmen teilte mir dieselbe Dame folgendes mit. Braun klingt ihr eine tiefe, dunkle, etwas belegte, nicht sehr klangvolle Stimme, lila eine tiefe, weiche, klangvolle, traurige, gelb eine schrille, hohe, metalllose, rot eine hohe, schmetternde, fr\u00f6hliche, blau eine in der Mittellage sich haltende, ziemlich indifferente und unpers\u00f6nliche Stimme.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 32.\n3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nJohannes Volkelt.\nBeethovens wie reiner Gesang vor. Assoziative Einf\u00fchlung ist es auch, wenn uns gewisse Stellen in Tonst\u00fccken wie Gefl\u00fcster, wie Geseufze, wie Gepolter erscheinen. Hierher geh\u00f6rt es auch, wenn der Bach zu plaudern, das Meer wie im Schlachtenl\u00e4rm zu tosen scheint, oder wenn das Gezirpe der Grillen einem in sich verlorenen Selbstgespr\u00e4che der sommerlichen Natur gleicht.\nUnd endlich darf auch die unmittelbare, hier also rein akustische Einf\u00fchlung nicht vergessen werden. Wenn sich in einem Tonst\u00fcck Heiterkeit oder Schwermut, Schelmerei oder Sehnsucht, Sanftheit oder Wildheit, Gebundenheit oder Freiheit ausdr\u00fcckt, so ist keineswegs n\u00f6tig, dafs dies durch Vermittlung von Erfahrungswissen geschieht, oder dafs sinnliche Empfindungen als Zwischenglied auftreten. Sondern es kann hier ganz unmittelbar mit den T\u00f6nen die entsprechende Stimmung verschmelzen. Gewisse Melodien und Harmonien haben an und f\u00fcr sich, abgesehen von aller Vermittlung, \u00c4hnlichkeit mit heiteren, schwerm\u00fctigen, schelmischen, sehns\u00fcchtigen und anderen Stimmungen. Gerade die rein akustische Einf\u00fchlung ist, wenn man vom Rhythmus absieht, von entscheidender Bedeutung f\u00fcr den Eindruck der musikalischen T\u00f6ne.\n20. Von der Dichtkunst war nur bei Behandlung der Einf\u00fchlung in die Bewegungen der menschlichen Gestalt die Rede. Sonst habe ich sie absichtlich bei Seite gelassen. Im allgemeinen darf man sagen, dafs auch in der Dichtung alle Arten der Einf\u00fchlung Vorkommen. Nur macht sich in der Dichtung eine gewisse Eigent\u00fcmlichkeit geltend, die der Einf\u00fchlung eine besondere Gestalt gibt. In allen anderen K\u00fcnsten und im Natur\u00e4sthetischen ist unmittelbar nur die sinnliche Gestalt des \u00e4sthetischen Gegenstandes gegeben; der Gef\u00fchlsgehalt entsteht f\u00fcr uns ausschliefs-lich vermittelst der sinnlichen Gestalt. In der Dichtung dagegen kann der Gef\u00fchlsgehalt durch besondere Worte und Wendungen ausgedr\u00fcckt werden. Es kann hier die Sache so liegen, dafs durch gewisse Worte vorwiegend die anschauliche Gestalt vor die Phantasie tritt und durch andere Worte vorwiegend die Stimmungen, Gef\u00fchle, Affekte u. s. w. bezeichnet werden, die wir mit der anschaulichen Gestalt zu verschmelzen haben. Und etwas \u00c4hnliches gilt von den Bewegungsempfindungen und den anderen die Einf\u00fchlung vermittelnden Empfindungen und ebenso von dem vermittelnden Erfahrungswissen. Auch diese vermittelnden Glieder k\u00f6nnen in besonderen Worten und S\u00e4tzen ihren","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 35\nAnsdruck finden. Die leiblich vermittelte und die assoziative Einf\u00fchlung haben daher in der Dichtung \u00fcberaus h\u00e4ufig die Form, dafs die vermittelnden Empfindungen und Vorstellungen nicht, wie sonst \u00fcberall, durch die anschauliche Gestalt des Gegenstandes, sondern durch besondere Worte und S\u00e4tze, die neben ihr auftreten, hervorgerufen werden. Wenn z. B. etwas als gelb beschrieben wird, so kann durch besondere Worte und Wendungen darauf hingewirkt werden, dafs in dem Leser die W\u00e4rme des Gelb zur Empfindung gelangt. Im Gem\u00e4lde l\u00f6st die sinnliche Empfindung Gelb zugleich die Temperaturempfindungsreproduktion Warm in uns aus. Der Dichter dagegen kann sich besonderer Worte bedienen, die den Zweck haben, diese vermittelnde symbolische Empfindung in uns entstehen zu lassen. Oder der Dichter beschreibe, in welchen Linien sich der Lauf eines Gebirges gegen den Himmel abgrenzt. Hierdurch erh\u00e4lt unsere innere Anschauung ein Bild. Daneben nun kann der Dichter Worte gebrauchen, durch die diese Linien derart in Bewegung aufgel\u00f6st erscheinen, dafs in uns Bewegungsempfindungen hervorgerufen werden. So k\u00f6nnte er etwa davon sprechen, wie m\u00fchseligen Kletterns es bed\u00fcrfe, um einen Gipfel zu ersteigen. Auf diese Weise k\u00f6nnte es dahin kommen, dafs die innere Anschauung der steilen H\u00f6he mit Bewegungsempfindungsreproduktionen verschmilzt. Oder es komme in einer Dichtung die Schilderung des Klanges einer Glocke vor. Da kann der Dichter etwa sagen, dafs es ein lauter oder leiser, ein dumpfer oder heller Klang sei, und dann hinzuf\u00fcgen, welche Weiche oder H\u00e4rte in dem Klang lebe. So w\u00fcrden hier durch besondere Wendungen Urproduktionen von Tastempfindungen ausgel\u00f6st, die mit dem in der Phantasie Geh\u00f6rten verschmelzen k\u00f6nnen. So kommen in der Dichtung die verschiedenen Weisen der vermittelten Einf\u00fchlung vor; und zwar k\u00f6nnen, dies haben uns die jetzt betrachteten Beispiele gelehrt, die vermittelnden Glieder durch besondere Worte und S\u00e4tze im Bewufstsein hervorgerufen werden.\nDaneben aber kommt auch allenthalben der andere Fall vor, dafs solche besondere Worte und S\u00e4tze fehlen. Der Dichter leistet der Einf\u00fchlung des Lesers nicht in der bezeichneten Weise Hilfe; sondern es bleibt einfach dem Leser \u00fcberlassen, zur Phantasieanschauung die vermittelnden Empfindungsreproduktionen und Vorstellungen hinzuzuf\u00fcgen oder aber die Ein-\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nJohannes Volkelt.\nf\u00fchlung ohne solche vermittelnden Glieder zu vollziehen. Wenn Heine in dem Prolog zur Harzreise sagt:\n\u201eAuf die Berge will ich steigen,\nWo die dunkeln Tannen ragen,\nB\u00e4che rauschen, V\u00f6gel singen Und die stolzen Wolken jagen\u201c,\nso vollzieht sich bei hingebendem Lesen an den herangezogenen Naturgestalten der Vorgang der Einf\u00fchlung. Durch den ganzen Zusammenhang ist es das Gef\u00fchl frischen, freien, warmen Lebens, als dessen Ausdruck Berge, Tannen, B\u00e4che, V\u00f6gel, Wolken erscheinen. Fragt man aber, ob diese Einf\u00fchlung sich durch Vermittlung von Empfindungsreproduktionen oder Erfahrungswissen herstelle, so lautet die Antwort: h\u00f6chstens das Wort \u201ejagen\u201c kann bei lebhafter Beteiligung eine reproduzierte Bewegungsempfindung veranlassen; sonst ist kein Wort vorhanden, das auf die Erweckung vermittelnder Einf\u00fchlungsglieder ausdr\u00fccklich angelegt w\u00e4re. Es k\u00f6nnte also der Leser nur von sich aus, durch Kraft und Eigenart der Phantasieanschauung und Gef\u00fchle, dahin gebracht werden, entsprechende Bewegungsempfindungen u. dgl. hinzuzusetzen. Und unm\u00f6glich ist dies sicherlich nicht.\nEs kommt nun aber auch der mittlere Fall vor, dafs eben dieselben Worte einerseits der Erzeugung von Phantasieanschauung oder Gef\u00fchl, andererseits dem Erwecken von vermittelnden Gliedern dienen. Wenn es bei Heine in der Bergidylle heifst: \u201eFreundlich ernsthaft schwatzt die Wanduhr\u201c, so steht durch das Wort \u201eschwatzt\u201c die Wanduhr nicht nur als T\u00f6ne von sich gebend vor der Phantasie, sondern es wird zugleich ein assoziatives Zwischenglied herangezogen : die Erinnerung an trauliches Plaudern im Familienkreise. Die Worte \u201efreundlich ernsthaft\u201c dagegen sind unmittelbar der Erweckung der besonderen seelischen Stimmung gewidmet, die in die Phantasieanschauung der t\u00f6nenden Wanduhr eingef\u00fchlt werden soll.\nEs versteht sich von selbst, dafs es zwischen diesen drei F\u00e4llen allerhand Verbindungen und \u00dcberg\u00e4nge gibt. Hierauf einzugehen, erspare ich mir. Es sei nur noch bemerkt, dafs die Dichtkunst ohne Zweifel dasjenige Gebiet ist, auf dem das Zwischenglied der Empfindung im allgemeinen sich schw\u00e4cher und fl\u00fcchtiger als auf irgend einem anderen Gebiete der Einf\u00fchlung entwickelt zeigt.","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung. 37\n21. Das Ergebnis meiner Er\u00f6rterungen \u00fcber die Frage, wie es mit den Mittelgliedern in der \u00e4sthetischen Einf\u00fchlung stehe, l\u00e4fst sich, wie folgt, zusammenfassen. Das \u00e4sthetische Einf\u00fchlen kann, auch wenn man von seinen matteren und l\u00e4ssigeren \u00c4ufserungcn absieht, nicht auf dieselbe Grundformel gebracht werden. Das Ziel ist \u00fcberall das gleiche: Verschmelzung der sinnlichen Anschauung mit Stimmung, Strebung, Affekt, Leidenschaft. Die Wege dahin aber sind verschiedenartig. Das menschliche Seelenleben bietet f\u00fcr das Zustandekommen dieser Verschmelzung mehrere wesentlich verschiedene M\u00f6glichkeiten dar. Diese verschiedenen Wege habe ich als leiblich vermittelte, als assoziative und als unmittelbare Einf\u00fchlung bezeichnet. Der leiblich vermittelte Weg wieder ist je nach der Art der vermittelnden sinnlichen Empfindungen mannigfach geartet. Wir sahen nun: jene drei M\u00f6glichkeiten kommen s\u00e4mtlich in weitem Umfange vor. Nur sind sie f\u00fcr verschiedene Gebiete von verschiedener Wichtigkeit. Besonders die Bewegungsempfindungen ragen unter den vermittelnden Empfindungen hervor: f\u00fcr die Auffassung der menschlichen wie untermenschlichen Bewegungen, aber auch der ruhenden Formen steht die motorische Einf\u00fchlung an erster Stelle ; aber auch in der Tonwelt ist sie, soweit es sich um Rhythmus und H\u00f6henunterschiede handelt, von entscheidender Bedeutung ; f\u00fcr die Farben dagegen kommt motorische Einf\u00fchlung nur sehr wenig in Betracht. N\u00e4chst den Bewegungsempfindungen kommen f\u00fcr die Einf\u00fchlung besonders Tast- und Temperaturempfindungen in Frage ; namentlich auf dem Farben-\u00fcnd Tongebiete. Die assoziative Einf\u00fchlung bedeutet h\u00e4ufig einen \u00e4bgeschw\u00e4chten Grad der Einf\u00fchlung (so in den meisten F\u00e4llen gegen\u00fcber den in der bildenden Kunst und in der Wirklichkeit vorkommenden Bewegungen der menschlichen Gestalt). Zugleich aber ist mit ihr, und dies gilt von allen Gebieten der Einf\u00fchlung, eine Bereicherung des eingef\u00fchlten Gehaltes gegeben. Was die unmittelbare Einf\u00fchlung betrifft, so ist sie im allgemeinen von geringerem Umfang. Am h\u00e4ufigsten wohl kommt sie in der Dichtkunst und n\u00e4chstdem auf dem Tongebiete vor. In der Dichtkunst zeigt die leiblich vermittelte Einf\u00fchlung eine schw\u00e4chere Entwicklung als irgend anderswo.\n(Eingegangen am 19. Januar 1903.)","page":37}],"identifier":"lit32920","issued":"1903","language":"de","pages":"1-37","startpages":"1","title":"Die Bedeutung der niederen Empfindungen f\u00fcr die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung","type":"Journal Article","volume":"32"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:34:10.187241+00:00"}