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{"created":"2022-01-31T14:16:48.227627+00:00","id":"lit32922","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Dessoir, Max","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 32: 50-65","fulltext":[{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nDie \u00e4sthetische Bedeutung des absoluten Quantums.\nVon\nMax Dessoie.\nSchon vor etwa zwei Jahren habe ich mich in einem popul\u00e4ren Aufsatz \u201eDas Format in der Kunst\u201c und sp\u00e4ter in einem Vortrag \u00fcber die im vorstehenden Thema bezeichnete Frage ge-\u00e4ufsert. Da Aufsatz wie Vortrag nicht gen\u00fcgend auf Einzelheiten eingehen konnten, scheint mir eine erneute Behandlung an dieser Stelle angemessen zu sein.\nI.\nWie alle Wirklichkeit, so ist auch die k\u00fcnstlerische ein undefinierbares Zusammen von qualitativen und quantitativen Bestimmtheiten. Keine Eigenschaft an einem Kunstwerke entbehrt einer Gr\u00f6fse oder St\u00e4rke, und diese wiederum sind unter allen Umst\u00e4nden an Qualit\u00e4ten gebunden. Dennoch vermag die wissenschaftliche Abstraktion zu trennen, was tats\u00e4chlich f\u00fcr und mit einander da ist. Der Formalismus hat daher seit langer Zeit die Gr\u00f6fse- und St\u00e4rkeverh\u00e4ltnisse innerhalb von Kunstwerken untersucht. F\u00fcr diesen Standpunkt liegt die Sch\u00f6nheit im Verh\u00e4ltnis von Teilen oder Formgliedern. Wenn alles Sch\u00f6ne in Form besteht und Form eine zur Einheit irgendwie gesammelte Mannigfaltigkeit bedeutet, so kommt es blofs darauf an, dafs die Glieder zueinander in quantitative Beziehung gesetzt sind. Aber das absolute Quantum sowohl der Teile als auch des Ganzen gilt als \u00e4sthetisch bedeutungslos. F\u00fcr diese Auffassung ist, kurz gesagt, 10 : 20 dasselbe wie 1 : 2. Und da wir auch von der Psychologie belehrt werden, dafs im Seelenleben \u00fcberhaupt die Verh\u00e4ltnisse eine entscheidende, die Gr\u00f6fsen an sich eine geringe Rolle spielen, so neigen wir von vornherein zur entsprechenden \u00e4sthetischen Ansicht.\nZum gleichen Urteil dr\u00e4ngt die Theorie des sch\u00f6nen Scheins. Gesetzt, wir h\u00e4tten es in der Kunst mit blofsem Schein zu tun.","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetische Bedeutung des absoluten Quantums.\t51\nDann ist es offenbar gleichg\u00fcltig, inwiefern die Mafse der Wirklichkeit beibehalten oder abge\u00e4ndert werden: ob ein Mensch in Naturgr\u00f6fse oder um. ein beliebiges kleiner abgebildet, ob ein dramatischer Vorgang in der wirklichen oder in einer verk\u00fcrzten Zeit vollzogen wird. In jener hohen Lage des Seelischen, in der die Kunst sich bewegt, scheint es schliefslich garnicht mehr auf quantitative Bestimmtheit, sondern nur noch auf Qualit\u00e4t und Wertcharakter anzukom men.\nIn Wahrheit liegt es nicht so. Schon die Naturgegenst\u00e4nde, die wir als sch\u00f6ne auffassen, sind nach ihrer absoluten Gr\u00f6fse und Intensit\u00e4t festgelegt. Und zwar gilt im Leben das Gattungs-m\u00e4fsige als .die Norm: alles, was allzu stark nach oben oder unten davon abweicht, pflegt zu mifsfallen. Wenn minder empfindliche Betrachter an Kiesen und Zwergen eine gewisse Freude haben, so mag es mehr die Lust an der Seltenheit als an der L\u00e4nge oder Kleinheit sein. Dabei kann aufser Acht bleiben, ob die herrschende Vorstellung von der gattungs-m\u00e4fsigen quantitativen Beschaffenheit dem statistischen Durchschnitt gem\u00e4fs ist oder nicht. Der Schwerpunkt liegt darin, dafs ein Quantum als solches f\u00fcr das Eintreten des \u00e4sthetischen Genusses erforderlich ist.\nWichtiger und schwieriger scheint mir die Frage : inwiefern kommt bei der k\u00fcnstlerischen Umformung der Wirklichkeit das vom K\u00fcnstler gew\u00e4hlte Mafs oder die von ihm hergestellte Intensit\u00e4t in Betracht? Der Durchschnitt unserer Lebenserfahrungen, der dem Natursch\u00f6nen zur St\u00fctze dient, versagt hier seinen Dienst. Denn das Bild eines Menschen kann ebenso viele Centimeter wie Meter grofs sein. Dafs trotzdem diese absolute Gr\u00f6fse des Bildes ihre \u00e4sthetische Bedeutung besitzt, wird schon durch die eine Tatsache nahegelegt, dafs die Vergr\u00f6fserung oder Verkleinerung eines Formates bei vollkommen erhaltener Formgleichheit einen verschiedenen \u00e4sthetischen Eindruck her-vorrufen kann. Man vergleiche ein Kartonbild mit seiner um vieles kleineren Photographie : der Abstand ist erstaunlich. Das Originalbild hat durch seine tats\u00e4chlichen Mafse eine Wertnuance, die der verkleinernden Wiedergabe \u2014 auch der vollkommensten \u2014 fehlt. Es gibt ja genug Gem\u00e4lde, die beliebig gereckt oder beliebig verk\u00fcrzt werden k\u00f6nnen. Was aber als Monumentalbild gedacht ist, kann nicht zusammenschrumpfen,\nwas als Miniaturbild geplant ist, nicht ins Gr\u00f6fse gedehnt werden,\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nMax Dessoir.\nohne die wesentlichen Momente seines Reizes einzub\u00fcfsen. In ber\u00fchmten Domen sind nicht selten Modelle ansgestellt, die zum n\u00e4heren Studium der Einzelheiten dienen. Der Betrachter empfindet sofort, dafs z. B. der K\u00f6lner Dom ganz anders wirkt als sein Modell.\nSobald man auf die Bedeutsamkeit solcher allbekannten Erfahrungen aufmerksam geworden ist, bemerkt man auch, dafs das Raum Verh\u00e4ltnis eines Kunstwerkes zur Umgebung seinen \u00e4sthetischen Wert nicht nur aus der Beziehung, sondern auch aus der f\u00fcr sich betrachteten Eigengr\u00f6fse erh\u00e4lt. Freilich erscheint eine Kirche zwischen grofsen Bauwerken nicht so stattlich wie zwischen niedrigen H\u00e4usern; aber auch bei den g\u00fcnstigsten Bedingungen darf sie hinter einem gewissen Mafs nicht Zur\u00fcckbleiben, um imponierend zu wirken, und sie darf andererseits -\u2014 unbeschadet des Umgebungseinflusses \u2014 eine obere Grenze nicht \u00fcberschreiten, damit sie als k\u00fcnstlerische Einheit apperzi-pierbar bleibt. Wenn ein Bild aus einem kleinen Wohnraum in einen Museumssaal versetzt wird, so kann dieser Wechsel der Umgebung (beispielsweise bei sehr grofsen Formaten) g\u00fcnstig ein wirken. Dennoch ist der objektive Raum verbrauch, der sich ja nicht ge\u00e4ndert hat, die Grundlage f\u00fcr den Anteil des\nQuantums an der \u00e4sthetischen Wirkung.\n#\u00bb \u2022\u2022\n\u00c4hnlich steht es mit einem Bedenken, das sich der \u00dcberlegung sehr bald auf dr\u00e4ngt, n\u00e4mlich dafs wir ja vielfach von der absoluten Gr\u00f6fse des Kunstwerkes nichts wissen. Ich meine nat\u00fcrlich nicht, dafs uns die bestimmten Zahlenwerte unbekannt bleiben, sondern nur, dafs wir die Quantit\u00e4t des Ganzen und seiner Teile \u00fcberhaupt nicht mit Bewufstsein auffassen. Selbst in diesen F\u00e4llen braucht sie nicht unwirksam zu sein, was schon daraus hervorgeht, dafs sie in der Erinnerung ann\u00e4hernd reproduziert werden kann, obgleich sie bei der Wahrnehmung nicht beachtet worden war. Wenn nun gar die Raumgr\u00f6fse von den gewohnten Mittelwerten abweicht, \u00fcbt sie eine deutlich zu sp\u00fcrende Wirkung aus. So ist bei Bildern ein allzu kleines Format der Vertiefung meistens .hinderlich, vor allem, wenn viele Bilder dieser Art nebeneinander h\u00e4ngen. Noch ehe wir das Bild selber betrachtet haben, erhalten wir durch das Format den Eindruck: es lohne nicht recht. Wir sehen eine ganze Anzahl vor uns und verlieren von vornherein den Mut. Dieses Vorurteil beeinflufst dann den Genufs, sei es im Sinne der Be-","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetische Bedeutung des absoluten Quantums.\n53\nst\u00e4tigung sei es im Sinne einer erfreulichen Widerlegung, durch die dem Kunstwerk mehr zugeschrieben wird als es durch Inhalt und Ausf\u00fchrung verdient. Eine andere Disposition entsteht aus der Wahrnehmung betr\u00e4chtlicher Gr\u00f6fse, die der Wahrnehmung des Bildinhaltes vorauszugehen pflegt. Eine solche Gr\u00f6fse ist wie ein Alarm : ihm mufs das Gem\u00e4lde durch bedeutsamen Inhalt und grofsz\u00fcgige Technik, durch Vermeidung des Kleinlichen, durch derbe Linien und wuchtige Farben entsprechen.1\nEs ist von Kunstkennern darauf hingewiesen worden, dafs Verfehlungen in der Wahl des absoluten Quantums innerhalb der verschiedenen K\u00fcnste eine verschiedene Richtung zeigen. Von Malern wird eher ein zu kleines als ein zu grofses Format gew\u00e4hlt, sofern sie das Richtige nicht treffen. Das mag darin seinen Grund haben, dafs der Maler der Phantasie des Betrachters zutraut, auch \u00fcber das gegebene Mafs die Bestandteile des Bildes zu dehnen, w\u00e4hrend er im entgegengesetzten Falle f\u00fcrchtet, es werde der richtige Abstand verfehlt und daher die Einheit des Kunstwerkes nicht aufgefafst werden. Wenigstens w\u00e4re eine solche Erw\u00e4gung im durchschnittlichen Verhalten des Publikums hinreichend begr\u00fcndet. Hingegen pflegen Dichter und Musiker sich eher durch \u00dcberausdehnung zu vers\u00fcndigen. Selten bleibt ihr Werk hinter dem erforderlichen Mafse zur\u00fcck, oft genug \u00fcberschreitet es dasselbe und wird dadurch erm\u00fcdend.\nDiese Beobachtung f\u00fchrt nun bereits zur zweiten Klasse des extensiven Quantums, zur Zeitgr\u00f6fse, hin\u00fcber. Auch in R\u00fccksicht auf sie mufs zun\u00e4chst einmal der \u00e4sthetische Tatbestand, wenngleich nur in einigen Grundz\u00fcgen, aufgenommen werden.\nII.\nSchon Werke der Raumkunst k\u00f6nnen ein Moment enthalten, das der Zeitgr\u00f6fse nahe steht : die Wiederholung. Die einfache Wiederholung findet sich bei allen Mustern, in den meisten dekorativen Gebilden, an H\u00e4userfassaden und S\u00e4ulenbauten und zwar im Sinne einer quantitativen Verst\u00e4rkung. An sich w\u00e4re die zahlenm\u00e4fsige Mehrheit des Gleichen f\u00fcr den entwickelten Geschmack ebenso unertr\u00e4glich wie die plumpen Mittel, die man zur Hervorhebung und Kennzeichnung in Schrift und Druck verwendet, wie das Unterstreichen, Sperren oder gar das ein-\n1 Ich st\u00fctze mich hier auf Untersuchungen, die Hr. stud. phil. Everth in den von mir geleiteten \u00e4sthetischen \u00dcbungen angestellt hat.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nMax Dessoir.\ngeklammerte Ausrufungszeichen am Schlufs von Zitaten. Indessen dadurch, dafs in dem \u201eoft\u201c eine neue \u00e4sthetische Qualit\u00e4t sich andentet, wird es ertr\u00e4glich. Der S\u00e4ulenwald ist von der einzelnen S\u00e4ule eben nicht nur so unterschieden wie n : 1. Er hat in seiner gleichf\u00f6rmigen Vielheit etwas \u00dcberw\u00e4ltigendes, das der f\u00fcr sich stehenden S\u00e4ule abgeht. Wenn der K\u00fcnstler die allgemeine Beschaffenheit eines Gebildes verdeutlichen will, so kann er kein einfacheres Mittel w\u00e4hlen.\nNoch deutlicher wird die gleiche didaktische Absicht in der zeitlichen Verwendung der Wiederholung. Uns allen ist der Vorgang aus der Redekunst am vertrautesten. Obwohl ein Redner meist verschiedene Formen w\u00e4hlen d\u00fcrfte, um den H\u00f6rern mehrere Zugangswege zum Verst\u00e4ndnis zu \u00f6ffnen, so kann er doch auch bei besonders gut getroffenen Formulierungen der direkten Wiederholung nicht entraten. Die eindimensionale Beschaffenheit des Zeitverlaufes gibt kein besseres Mittel der Betonung an die Hand als die Wiederholung. Gleichsam auf der Mitte zwischen Raumkunst und Zeitkunst steht das Ballet mit seinen Reihen von gleichen Bewegungen: indem viele dasselbe machen, verliert es zwar an individuellem Reiz, pr\u00e4gt sich aber in seinen grofsen Z\u00fcgen dem Auge und dem Ged\u00e4chtnis besser ein. Die Poesie hat in ringf\u00f6rmigen Gedichten, wo die Schlufsworte den Anfang wiederholen, im Refrain u. dergl. eine Technik der Wiederholung ausgebildet; die \u00e4ltere Musik rechnet ganz wesentlich auf die Freude an der Wiederholung sowohl wenn sie schulgerechte Durchf\u00fchrungen als auch wenn sie Variationen bietet.\nF\u00fcr die Musik kommt ferner die Quantit\u00e4t d. h. die L\u00e4nge und K\u00fcrze der Kl\u00e4nge in Betracht, f\u00fcr die Lyrik einiger Sprachen und Zeiten ebenfalls die Quantit\u00e4t der Silben. Ein \u00e4lteres Lehrbuch der Poetik glaubt den \u00e4sthetischen Wert dieser Zeit-gr\u00f6fsen, freilich in ihrem Verh\u00e4ltnis zueinander, folgender-mafsen beschreiben zu k\u00f6nnen : \u201eWie das Vorausgehen der K\u00fcrze vor der L\u00e4nge dem Vers in der Regel einen andringenden, hinausst\u00fcrmenden, tatkr\u00e4ftigen Charakter gibt, so erh\u00e4lt der Vers durch die Stellung der L\u00e4nge vor der K\u00fcrze einen mehr nach innen gewandten, reflektierenden Zug. Der Vers beginnt gleichsam mit dem vollen, beruhigten, selbstgewissen Klang und breitet sich aus in einem gem\u00e4fsigten Hin- und Herwogen.\u201c (Gottschall I, 265.) Ganz so einfach liegt es wohl kaum. Aber","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetische Bedeutung des absoluten Quantums.\n55\nda hier nicht der Ort f\u00fcr eine Einzeluntersuchung \u00fcber diese Fragen ist, so gen\u00fcgt eine beliebige Beschreibung zum Erweis dessen, dafs dem quantitierenden Verfahren bestimmte \u00e4sthetische Folgen beigelegt werden.\nAuch dar\u00fcber herrscht seit alters Einigkeit, dafs quantitative Momente zur Unterscheidung von Kunstformen gebraucht werden k\u00f6nnen. Innerhalb der kleinsten musikalischen Organismen sondern sich Motiv und Thema haupts\u00e4chlich durch die L\u00e4nge; beim Thema weiterhin Fugenthema und Sonatenthema: das Fugenthema zwei bis vier Takte lang, das Sonatenthema in der Regel eine achttaktige Periode. Die Sonatine zeigt geringere Gesamtdauer als die Sonate, und daher in ihren Teilen ein verk\u00fcrztes Mafs. Alsdann in der Dichtkunst. Die Lyrik, die \u00fcberhaupt auf kleinere Formen beschr\u00e4nkt ist, gestattet dem Herkommen gem\u00e4fs der Romanze gr\u00f6fsere Ausf\u00fchrlichkeit als der Ballade; die Novelle sondert sich u. a. auch durch st\u00e4rkere Beschr\u00e4nkung von dem Roman. Epigramm und Aphorismus, Skizze und Fragment verdanken ihrer K\u00fcrze jene Besonderheit, die mit weiterer Ausdehnung und Vervollst\u00e4ndigung schwinden w\u00fcrde. Mit einem Wort: der Einflufs des Quantit\u00e4tsprinzipes ist unverkennbar.\nWir wenden uns jetzt dem intensiven Quantum zu. Jeder praktische Musiker macht die Erfahrung, dafs f\u00fcr gewisse k\u00fcnstlerische Wirkungen eine Macht, sei es des Instrumentes, sei es der Behandlung, notwendig ist. Man denke sich Liszts K-Dur-Polonaise auf dem Spinett gespielt! Auch bei sorgsamster Abstufung im Spiel kommt kein fortissimo heraus, wie es dem Wesen des St\u00fcckes gem\u00e4fs ist : es gen\u00fcgt eben nicht, dafs der h\u00f6chste Grad erreicht werde, der auf einem Spinett zu erzielen ist, sondern eine gewisse absolute St\u00e4rke. Wir urteilen nicht ausschliefslich nach der Proportion. Es gibt Klavierspieler, deren Anschlag eines klingenden pianissimo unf\u00e4hig ist. Wenngleich sie nun ihre Wiedergabe eines St\u00fcckes so anlegen k\u00f6nnen, dafs alles sorgsam abschattiert wird bis hinunter zu der geringsten ihnen m\u00f6glichen Intensit\u00e4t, so bleibt diese doch noch zu grofs. Ausgezeichnete S\u00e4nger sind in der Wahl ihrer Lieder beschr\u00e4nkt, weil ihnen gewisse Accente fehlen. K\u00f6nnte man das Requiem von Berlioz auf einer Mundharmonika nachblasen, und zwar so, dafs die ganze musikalische Struktur erhalten bliebe, so w\u00e4re der Eindruck dennoch ein ganz anderer. Im vierten Satz dieser","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nMax Dessoir.\nGrande Messe des Morts sind neben dem Hauptorchester noch vier kleine Bl\u00e4ser-Orchester verzeichnet; f\u00fcr jenes verlangt der Komponist zw\u00f6lf Pauken und aufserdem noch allerhand Schlaginstrumente; er schreibt f\u00fcr das Streichquartett eine Besetzung von 108 Mann vor, f\u00fcr den Chor verlangt er 70 Soprane, 60 Tenore, 70 B\u00e4sse. Dieser ganze Aufwand an Intensit\u00e4t wird nicht umsonst getrieben. Denn die Reduktion auf ein Zehntel der Besetzung w\u00fcrde zwar die Verh\u00e4ltnisse unber\u00fchrt lassen, aber das absolute (intensive) Quantum so herabsetzen, dafs das Werk unkenntlich w\u00fcrde.\n\u00c4hnliches beobachten wir im Gebiet der bildenden K\u00fcnste. Es ist neuerdings gegen die Scheintheorie eingewendet worden, dafs in der Architektur und im Kunsthandwerk die realen Eigenschaften des verwendeten Materials eine Bedeutung haben. Das feste, massige Holz der Eiche bestimmt es f\u00fcr schwere Kunstgegenst\u00e4nde; ein Palast mufs aus massivem Stoffe, darf nicht aus Pappe hergestellt werden. Also handelt es sich auch hier um \u00e4sthetische Quantit\u00e4ten. Denn die Eigent\u00fcmlichkeiten von Schwere und Festigkeit sind ja wohl solche des Grades, des intensiven Quantums. Die angezogene Erkenntnis bildet demnach nicht nur einen Einwand gegen den \u00e4sthetischen Ph\u00e4nomenalismus, sondern zugleich eine St\u00fctze f\u00fcr die hier vertretene Ansicht.\nFreilich k\u00f6nnen Vertreter einer relativistischen Weltanschauung dabei beharren, dafs alle unsere Beispiele schliefslich doch auf gegenseitige Beziehungen, mindestens auf eine Beziehung zu den anschaulichen Grenzwerten zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen. Wer \u00fcberhaupt nichts Absolutes als erfahrbar anerkennt, wird auch das, was wir absolutes Quantum nannten, in blofse Relativit\u00e4t aufl\u00f6sen. Allein diese Grundauffassung steht nicht zur Diskussion. Nur unter der Voraussetzung, dafs der \u00fcbliche Unterschied beibehalten wird, sprechen wir von einem absoluten Quantum und seiner \u00e4sthetischen Bedeutung.\nIII.\nIndem wir von der Aufnahme des Tatbestandes zu seiner Erkl\u00e4rung \u00fcbergehen, entwickeln wir zun\u00e4chst einen Gesichtspunkt, den Fechners \u201eVorschule der \u00c4sthetik\u201c aufgebracht hat. Die inhaltliche \u00c4sthetik bemifst den Rang eines Kunsb Werkes vornehmlich nach der Bedeutsamkeit des darin ausge-","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetische Bedeutung des absoluten Quantums.\n57\nsprochenen Inhaltes. Vielleicht darf man dieser Auffassung so weit nachgeben, dafs man die Beschaffenheit des mitgeteilten Gegenstandes als nicht gleichg\u00fcltig f\u00fcr die Gesamtwirkung bezeichnet. Alsdann wird die Forderung aufgestellt werden k\u00f6nnen, dafs die \u00e4ufsere Gr\u00f6fse des Kunstwerks seiner \u201einneren Gr\u00f6fse\u201c proportional sein m\u00fcsse in dem Sinne, wie eben etwas \u00e4ufseres einem inneren entsprechen kann. Wir haben, wie Fechner sagt, keinen eigentlichen Mafsstab, aber ein sehr sicheres durchschnittliches Gef\u00fchl daf\u00fcr, dafs bestimmte Vorg\u00e4nge, Tatsachen, Handlungen eine gr\u00f6fsere Gewichtigkeit und M\u00e4chtigkeit besitzen als andere. Und auf Grund davon erwarten wir bei Kunstwerken, die gewichtige Gegenst\u00e4nde behandeln, eine andere Raum- oder Zeitgr\u00f6fse als bei Werken, die mit minderwertigen und nebens\u00e4chlichen Gegenst\u00e4nden angef\u00fcllt sind.\nSo beurteilen wir es als angemessen, dafs der Maler f\u00fcr die Auferstehung oder f\u00fcr die Grablegung ein grofses, f\u00fcr eine Genreszene aber ein kleines Format w\u00e4hlt. Es ist, als ob wir eine notwendige Proportionalit\u00e4t empf\u00e4nden zwischen der sachlichen Bedeutung und der Erscheinungsform. Aus diesem instinktiven Takt erw\u00e4chst der religi\u00f6sen Malerei ein schweres Problem. Wie kann das Christuskind als Tr\u00e4ger des Heils dargestellt werden, eine kleine Figur den geistigen Mittelpunkt des Gem\u00e4ldes bilden? Viele Bilder ersten Ranges versagen hier. Ich finde, dafs z. B. die \u201eAnbetung der Hirten\u201c von Hugo van der Goes (Portinari-Altar in den Uffizien zu Florenz) jener Schwierigkeit unterlegen ist. Dagegen wird sie in der \u201eSixtinischen Madonna\u201c gl\u00e4nzend \u00fcberwunden. Der Aufbau des Bildes, die Kraftverteilung, Haltung und Blick des Kindes, das mit seinen wirren Haaren einem Propheten, mit seinem ruhigen Sitz einem F\u00fcrsten gleicht \u2014 das alles tr\u00e4gt dazu bei; entscheidend jedoch ist, dafs die Gr\u00f6fse des Kindes \u00fcber die Wirklichkeit hinaus ins Heldenhafte gesteigert ist. Raffael konnte eine unrealistische Vergr\u00f6fserung vornehmen, weil sie bei dem nat\u00fcrlichen Wunsch des Betrachters, den Erl\u00f6ser der Menschheit trotz der Kindesgestalt ad\u00e4quat verk\u00f6rpert zu sehen, durchaus nicht auff\u00e4llt.\n\u00dcberhaupt sollte kirchliche Kunst immer monumental sein. Vom einzelnen abgesehen: Kleines Format ziemt sich eben nicht f\u00fcr weltbewegende Ereignisse. Andererseits w\u00e4re es \u00fcber alle Mafsen geschmacklos, wollte jemand einem Stillleben den gleichen","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nMax Dessoir\nRaumverbrauch zubilligen. Eine Citrone in der Gr\u00f6fse eines m\u00e4fsigen Bierfasses ist absurd. Nicht deshalb, weil sie in Wirklichkeit kleiner ist, sondern weil ihre Bedeutungslosigkeit ein .solches Steigern nicht verstattet. Bei plastischen Bildwerken gr\u00f6fseren Formates sollte daher totes Nebenger\u00e4t sehr vorsichtig behandelt werden, namentlich wenn die Gefahr vorliegt, dafs die gesehene Gr\u00f6fse in der Auffassung noch \u00fcbertrieben werden k\u00f6nnte.\nDer Parallelismus von \u00e4ufserer und innerer Gr\u00f6fse ist durch Fechner weiterhin aber eingeschr\u00e4nkt worden. In der Tat mufs man ihm zugeben, dafs die \u00e4ufsere Gr\u00f6fse eines Kunstwerkes langsamer w\u00e4chst als die innere \u2014 insoweit beides in Bezug auf fortschreitende Ver\u00e4nderung zu vergleichen ist. Gemeint ist folgendes. Wenn man einen glaubensgeschichtlichen Vorgang gr\u00f6fster Wucht neben eine beliebige Schenkszene h\u00e4lt, so ist der Abstand ein unendlicher. Das Format der beiden Bilder aber ist nicht unendlich verschieden. Das eine mag um sehr vieles gr\u00f6fser sein als das andere; auf keinen Fall aber ist es in dem Mafse gr\u00f6fser, wie die innere Bedeutung des ersten Bildes die des zweiten \u00fcbertrifft, Einen Grund dieser Diskrepanz erblicke ich in der Zusammengesetztheit des \u00e4sthetischen Objektes, also in dem Umstand, dafs die Tragweite des dargestellten Vorwurfes ja nicht lediglich durch den Umfang ausgedr\u00fcckt wird. Da dem K\u00fcnstler noch andere Mittel zur Verf\u00fcgung stehen, durch die er die innere Gr\u00f6fse verdeutlicht, so braucht die Ver\u00e4nderung der Quantit\u00e4t mit der Ver\u00e4nderung des Gehaltes nicht gleichen Schritt zu halten. Einen zweiten Grund liefert das Prinzip des kleinsten Kraftmafses: innerhalb jedes Kunstwerkes soll nicht mehr Kraft aufgewendet werden, als zur Erreichung des gesetzten Ziels eben notwendig ist. Die geringsten Quanta, die gerade noch zureichen, sind die besten; sie liegen, gem\u00e4fs der ersten Erkl\u00e4rung, unter der Linie der inneren Gr\u00f6fse.\nVon hier aus hilft nun die Theorie der Einf\u00fchlung weiter. Wenn ich selbst eine Bewegung gern ausf\u00fchre und als erfreulich empfinde, die ihren Zweck mit dem geringsten Kraftaufwand erreicht, so beurteile ich auch assoziativ eine k\u00fcnstlerisch dargestellte Bewegung als sch\u00f6n, sofern sie der gleichen \u00f6konomischen Bedingung gen\u00fcgt. Damit ist schon ausgesprochen, dafs das Kunstwerk durch seine Mafse eine Nachbildung unsererseits nicht unm\u00f6glich machen darf. Gesetzt, ich versuche mich in","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetische Bedeutung des absoluten Quantums.\n59\neine Statue hineinzuf\u00fchlen. Dann lassen sich Figuren von so riesenhafter Ausdehnung denken, dafs ich mit ihnen mich innerlich zu verschmelzen nicht mehr im st\u00e4nde bin, und andererseits gibt es so kleine P\u00fcppchen, dafs ein Mitempfinden, demnach ein reiner k\u00fcnstlerischer Genufs ausgeschlossen ist. Die innere Nachahmung, wie man es genannt hat, kann bei zu grofsen und bei zu kleinen Mafsen nicht ins Spiel treten. Die vermenschlichende Auffassung ist kraft unserer Organisation an gewisse Grenzwerte gebunden. Obwohl diese Grenzwerte normativ nicht bestimmt werden k\u00f6nnen, so sind sie doch f\u00fcr die einzelnen V\u00f6lker und Zeiten mit leidlicher Genauigkeit festgelegt. Auch in Musik und Poesie, nat\u00fcrlich hier als Zeitgr\u00f6fsen. W\u00e4hrend Bachs Variationen uns oft zu lang erscheinen, vertragen wir Wagners Tonwortdramen und MAHLERsche Sinfonien; unsere V\u00e4ter lasen Gutzkows und Sues vielb\u00e4ndige Romane, wir besitzen jetzt eine Depeschenlyrik. Aus dem Zusammenflufs vieler Momente ergibt sich ein geschichtlich wechselndes Mafs, innerhalb dessen die Einf\u00fchlung am sichersten von statten geht. Die genauere Um-grenzungund Erkl\u00e4rung mufs die \u00c4sthetik also der Kunstgeschichte (im weitesten Sinn) \u00fcberlassen.\nWir blicken noch einmal zur\u00fcck. Es war zun\u00e4chst festgestellt worden, dafs extensives und intensives Quantum eine k\u00fcnstlerische Bedeutung besitzen. Als einen Grund daf\u00fcr fanden wir, dafs der \u00e4sthetisch Geniefsende ein immanentes Verh\u00e4ltnis von innerer und \u00e4ufserer Gr\u00f6fse verlangt. Die Grenzen sind tats\u00e4chlich (wenn auch nicht logisch) festgelegt durch die Beschr\u00e4nktheit der Einf\u00fchlung auf gewisse Mafse.\nNun ist aber hinzuzuf\u00fcgen, dafs auch die k\u00fcnstlerische Formengebung eine Beziehung zur Gr\u00f6fse enth\u00e4lt. Beispielsweise ist der vom Zeichner gew\u00e4hlte Grad der Linie nichts Zuf\u00e4lliges. Wenn wir Laien auf einem Oktavblatt einen Kopf zu zeichnen versuchen, so probieren wir verschiedene Strichst\u00e4rken, bis wir bei zwei oder drei stehen bleiben. Diese St\u00e4rken sind nat\u00fcrlich nicht unabh\u00e4ngig von dem Papier, von dem Material, mit dem wir zeichnen, von dem Winkel, den die Hand bildet u. s. w. Aber sie sind doch wesentlich bedingt vom Format und von der k\u00fcnstlerischen Aufgabe. Gr\u00f6fse Gegenst\u00e4nde und gr\u00f6fse Fl\u00e4chen erheischen eine eigene Technik. Und zwar ist die Beziehung eine so innige, dafs von jedem der drei Faktoren ausgegangen werden kann: es mag die Fl\u00e4che gegeben sein, etwa wenn es","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nMax Dessoir.\nsich um bildliche Ausf\u00fcllung von W\u00e4nden handelt, es mag der Gegenstand den K\u00fcnstler bestimmen oder es kann schliefslich ein technisches Problem zur Wahl des Sujets und des Formates f\u00fchren. Diese Gegenseitigkeit braucht sich indessen nicht auf die bisher vorausgesetzte einfachste Form zu beschr\u00e4nken. Es findet sich auch das wunderliche Verh\u00e4ltnis, dafs absichtliche Verkleinerung den Effekt einer Vergr\u00f6fserung erzielt. Ein Inserat, das in kleiner Schrift inmitten einer sonst ganz leeren Seite steht, wirkt auff\u00e4lliger als wenn die ganze Seite zur Anzeige verwendet wird. Man hat die Empfindung von etwas besonders Wichtigem und Kostbarem. Der gleiche Erfolg tritt ein, sobald eine kleine Zeichnung auf ein grofses weifses Blatt aufgeklebt oder durch einen \u00fcberm\u00e4fsig breiten Rand vom Rahmen getrennt ist. Der Gr\u00f6fseneindruck des Bildchens wird mit Absicht verringert und eben dadurch seine Bedeutung f\u00fcr unser Gef\u00fchl gesteigert. Offenbar deshalb, weil wir den Raumverbrauch des Ganzen als Mafsstab f\u00fcr den Wert des allein k\u00fcnstlerischen Mittelteils unwillk\u00fcrlich ansetzen. Eine Parallele zu diesem \u00e4sthetischen Verfahren bietet auf logischem Gebiet das sog. hypothetische (besser konsekutive) Urteil. Indem es die unentwickelte Aussage des Vordersatzes ins blofs M\u00f6gliche hinabdr\u00fcckt, erhebt es sich in der Verbindung von Vordersatz und Nachsatz zu einer Notwendigkeit strengster Art: der Verzicht auf die Realit\u00e4t der mit \u201ewenn\u201c eingeleiteten Unbestimmtheit wird durch den Gewinn einer notwendigen Folge belohnt.\nEndlich fragen wir, von welcher Art denn die Gef\u00fchle sind, die durch bestimmte Gr\u00f6fsen innerhalb einer \u00e4sthetischen Empf\u00e4nglichkeit hervorgerufen werden. Die Objekte k\u00f6nnen bekanntlich so grofs, so zeitlich ausgedehnt, so stark sein, oder auch in ihrer Quantit\u00e4t so geringf\u00fcgig sein, dafs ein \u00e4sthetischer Genufs nicht eintritt. Aus F\u00e4llen der ersten Art sch\u00f6pft die Theorie von den irrealen oder Scheingef\u00fchlen ihre Berechtigung, auf F\u00e4lle der zweiten Gruppe st\u00fctzt sich die Behauptung, dafs ein Reiz eine gewisse Schwelle \u00fcbersteigen m\u00fcsse, um aus der blofsen Merklichkeit in die \u00e4sthetische Wertigkeit zu gelangen. Aber Genaues l\u00e4fst sich nur bei Einzeluntersuchungen und nicht in der Form einer allgemeinen Regel sagen. Denn die Quantit\u00e4t jeder neu eintretenden Vorstellung h\u00e4ngt ja ganz wesentlich ab von der Disposition des Aufnehmenden und von der Vorbereitung, die ihr vorausgegangen ist. Diese beiden Momente","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetische Bedeutung des absoluten Quantums.\n61\nkommen auch f\u00fcr diejenigen Quantit\u00e4tsunterschiede in Betracht, die noch innerhalb des Feldes der \u00e4sthetischen Rezeptivit\u00e4t liegen und mit denen allein wir es hier zu tun haben. Vielleicht aber l\u00e4fst sich ermitteln, welchen besonderen Charakter ein erhebliches, welchen anderen Charakter ein unerhebliches Quantum dem \u00e4sthetischen Gef\u00fchl aufzupr\u00e4gen pflegt, wobei die Erheblichkeit von subjektiver Disposition und von der Vorbereitung im Kunstwerke mit abh\u00e4ngig gedacht wird.\nIV.\nIn Edmund Burkes Untersuchungen \u00fcber das Sch\u00f6ne und das Erhabene findet sich ein Kapitel mit der \u00dcberschrift: Beautiful objects small. Der Gedankengang darin ist folgender. Was uns zuerst an einem Gegenstand auff\u00e4llt, ist seine Ausdehnung; welche Ausdehnung bei sch\u00f6nen Objekten die Regel ist, kann man aus den f\u00fcr sie \u00fcblichen Ausdr\u00fccken entnehmen. Nun bezeichnen die meisten Sprachen geliebte Wesen mit Diminutiven, also auch die sch\u00f6nen Objekte. Denn zwischen Bewunderung und Liebe besteht ein Unterschied. \u201eThe Sublime, which is the cause of the former, always dwells on great objects, and terrible; the latter on small ones and pleasing; we submit to what we admire, but we love what submits to us ; in one case we are forced, in the other we are flattered, into compliance.\u201c Dieser Satz enth\u00fcllt uns den einen Grund f\u00fcr die auff\u00e4llige Kapitel\u00fcberschrift. Da Burke in der Hauptsache nur zwei \u00e4sthetische Kategorien, n\u00e4mlich das Sch\u00f6ne und das Erhabene, anerkennt, und da das Erhabene zweifellos an besondere Gr\u00f6fse gekn\u00fcpft ist, so gewinnt er durch den Gegensatz jene Bestimmung: beautiful objects small. Zweitens hatte er vorher nachzuweisen versucht, dafs der Sinn f\u00fcrs Sch\u00f6ne in einer Lust bestehe, die mit unseren sozialen Trieben, letztlich mit der Geschlechtsliebe zusammenh\u00e4ngt. Folglich kann die Verwendung der Diminutiva zum Ausdruck der Z\u00e4rtlichkeit einfach auf sch\u00f6ne Gegenst\u00e4nde \u00fcbertragen werden.\nUm zu erkennen, dafs der Sachverhalt zusammengesetzter ist, braucht man sich blofs daran zu erinnern, wie oft Diminutiva einem anderen Gef\u00fchle dienen, n\u00e4mlich dem Spott und der Verachtung. Kleines Format gef\u00e4llt einerseits durch seine Anspruchs-\n\u2022 \u2022\nlosigkeit und weil es dem Betrachter ein Wohlgef\u00fchl der \u00dcberlegenheit einfl\u00f6fst, es macht aber andererseits auch den Ein-","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nMax Dessoir.\ndruck, als ob es nicht ernst genommen zu werden brauchte. Es\nentstehen also aus der gleichen quantitativen Beschaffenheit des\n\u2022 \u2022\nObjekts zwei recht verschiedene Nuancen eines subjektiven Uber-legenheitsgef\u00fchls. Hieraus erkl\u00e4rt sich, dafs an die Kleinheit des Kunstwerkes sowohl das Pr\u00e4dikat des Zierlichen wie das des Komischen gekn\u00fcpft werden kann ; eine dazwischen stehende Kategorie scheint mir die des Niedlichen zu sein. Zierlich heifst etwas \u00e4sthetisch Wertvolles, das auf ein geringes Volumen beschr\u00e4nkt ist ; komisch wirkt etwas Kleines, nachdem wir an seiner Stelle Grofses erwarten mufsten. Selbst in der h\u00f6chsten Sph\u00e4re des Humors gibt sich Nichtiges f\u00fcr Wichtiges. Wer die Kleinheit des Grofsen schildert ohne die Gr\u00f6fse herabzusetzen, wer den unlogischen Charakter des Lebens darstellt ohne seine Vern\u00fcnftigkeit zu leugnen, wer ein begrifflich nicht aufzul\u00f6sendes Zusammen von Quantit\u00e4tsgef\u00fchlen weckt \u2014 eben dieser Zauberer ist ein humoristischer K\u00fcnstler.\nZwar nicht ausschliefslich, jedoch ganz wesentlich durch quantitierende Bestimmungen wandelt Humor sich in Tragik. Die k\u00fcnstlerisch aufgefafsten Disharmonien des Menschendaseins wirken bei geringer Intensit\u00e4t humoristisch, bei energischer Steigerung tragisch : mit dem Grad \u00e4ndert sich die Qualit\u00e4t. Man kann sich vorstellen, dafs die Vorg\u00e4nge in Hauptmanns \u201eEinsamen Menschen\u201c auch den Gegenstand eines humoristischen Romans bilden; erst f\u00fcr die gesteigerte Empfindlichkeit solcher \u201emodernen\u201c Menschen ist einiges, wor\u00fcber andere mit einem L\u00e4cheln hinwegkommen w\u00fcrden, ein lebengef\u00e4hrdendes Verh\u00e4ngnis. Zwischen Humor und Tragik liegt sozusagen eine Schwelle. Nur indem die Reize eine gewisse H\u00f6he \u00fcberschreiten, erzielen sie mit Sicherheit eine tragische Wirkung. Dazu dient auch, dafs sie nicht allm\u00e4hlich kommen, sondern pl\u00f6tzlich einbrechen. Mit gutem Grund hat die Theorie des Tragischen von alters her Katastrophen d. h. pl\u00f6tzlich und gewaltig auftretende Ereignisse verlangt. L\u00f6st man sie in kleinste Bestandteile und lange Zeitreihen auf, so \u00fcberschreiten sie nur selten die Schwelle des Tragischen.\nAm bekanntesten ist der Einflufs der Obj'ektgr\u00f6fse beim Erhabenheitsgef\u00fchl. Pyramiden und gotische Dome, Gewitterst\u00fcrme und wilder Massenaufruhr, Todesverachtung und heroische Leidenschaft erscheinen durch ihr extensives oder intensives Quantum als erhaben. K\u00f6rperliche sowie geistige Gr\u00f6fse, die im","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetische Bedeutung des absoluten Quantums.\n63\nLeben imponieren, bewirken in der Kunstform eine genufsvolle Erhebung des Auf nehmenden. Auch hier ist das absolute Mafs entscheidend. Es gen\u00fcgt nicht, um einen Gegenstand erhaben zu machen, dafs er viel gr\u00f6fser sei als seine Umgebung, sondern er mufs so grofs sein, dafs er an das Unendliche grenzt; und das ist nur von einer gewissen Quantit\u00e4t ab m\u00f6glich. Kein Dichter kann dem Leben eines dreij\u00e4hrigen Kindes Erhabenheit verleihen, obwohl es im Verh\u00e4ltnis zum Leben einer Fliege eine aufserordentliche Zeitgr\u00f6fse besitzt; ein hundertj\u00e4hriger Greis jedoch, dessen Alter in die Ewigkeit hin\u00fcberzureichen scheint* fl\u00f6fst bei geeigneter k\u00fcnstlerischer Darstellung unbedingte Ehrfurcht ein. Freilich gelten diese Gr\u00f6fsen nur f\u00fcr die menschliche Auffassung und sind insofern relativ. Indessen, der anthropozentrische Standpunkt war ja der hier von Anfang an eingenommene und festgehaltene. Ebenso gelten sie nur f\u00fcr die Anschauung, nicht f\u00fcr den Begriff. Logisch angesehen bedeuten sie eine Unf\u00e4higkeit des Subjektes, scharfe Grenzen zu ziehen, eine Niederlage des Gedankens, dem beim Erhabenen schwindelt. Wo dem Denken Ohnmacht droht, winkt aber der Anschauung ein eigenartiger Genufs.\nWir blicken zur\u00fcck. Es handelte sich um die Frage, welche besonderen Gef\u00fchle an die verschiedenen Quantit\u00e4ten gekn\u00fcpft sind. Die Antwort ist enthalten in den Beschreibungen der \u00e4sthetischen Kategorien : die Kategorien des Zierlichen und Komischen sind an kleine, die des Tragischen und Erhabenen an grofse Quanta gebunden, wozu nat\u00fcrlich noch mancherlei qualitative Bestimmungen hinzutreten m\u00fcssen.\nBeschr\u00e4nkt man die Betrachtung auf jene quantitativen Momente, so findet man innerhalb des Kunstgebietes eine Tatsache best\u00e4tigt, die seit dem Altertum das philosophische Denken besch\u00e4ftigt hat. Es ist die Tatsache, dafs durch blofse Vermehrung eine neue Qualit\u00e4t entstehen kann, dafs ein einziges Weizenkorn, zu f\u00fcnf anderen hinzugef\u00fcgt, diesen die Qualit\u00e4t eines \u201eHaufens\u201c verleiht, die sie vordem nicht besafsen. Zwar kommen auch hier andere Umst\u00e4nde in Betracht (die Dinge m\u00fcssen nahe und ohne Ordnung beieinander liegen), aber die Hauptsache bleibt doch die Anzahl, die in der Tat durch Hinzuf\u00fcgung eines einzigen Kornes zu einer nicht mehr unmittelbar aufzufassenden werden kann. Der eine Zentimeter, den ich zu neunundneunzig anderen hinzuf\u00fcge, ist nicht mehr wert als der,,","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nMax Dessoir.\nder zu zwanzig anderen hinzutritt, und dennoch schafft er den neuen Begriff des Meters. Aus \u00e4hnlichen Beispielen hat Hegel eine \u201eKnotenlinie von Mafsverh\u00e4ltnissen\u201c abstrahiert. Indem er von den drei Aggregatzust\u00e4nden des Wassers spricht, bemerkt er: \u201ediese verschiedenen Zust\u00e4nde treten nicht allm\u00e4hlich ein, sondern eben das blofs allm\u00e4hliche Fortgehen der Temperatur\u00e4nderung wird durch diese Punkte mit einem Male unterbrochen und gehemmt, und der Eintritt eines anderen Zustandes ist ein Sprung.\u201c (Wiss. der Logik I, 313.) In unseren Gedankengang w\u00fcrde besser passen die Vergleichung eines Wassertropfens mit dem Meere: jener dasselbe wie dieses und dennoch unf\u00e4hig einen Sturm zu zeigen. Oder wir k\u00f6nnten mit Hegel an das Moralische denken: \u201eEs ist ein Mehr oder Weniger, wodurch das Mafs des Leichtsinns \u00fcberschritten wird, und etwas ganz anderes, Verbrechen, hervortritt, wodurch Recht in Unrecht, Tugend in Laster \u00fcbergeht\u201c (314).\nMit einem Worte: gewisse Qualit\u00e4ten h\u00e4ngen ab von Verschiedenheiten der Quantit\u00e4t. Diese Beziehung findet sich auch im K\u00fcnstlerischen und verleiht daher dem Quantum als solchem seinen Wert. Ein neues Erkl\u00e4rungsprinzip haben wir hiermit freilich nicht gewonnen, sondern \u2014 genau betrachtet \u2014 nur den abstraktesten Ausdruck f\u00fcr die anf\u00e4nglich aufgez\u00e4hlten Tatsachen. Immerhin dient es zur Beruhigung, wenn jenes Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnis als vielfach auch aufserhalb der Kunst vorhanden er kannt ist.\nZum Schlufs sei eine erkenntnistheoretische Betrachtung angedeutet, die ich in meiner \u201e\u00c4sthetik\u201c auszuf\u00fchren beabsichtige. Die Kunst im ganzen erscheint auch mir als etwas qualitativ ganz Eigenartiges. Dennoch wage ich, sie von einer bestimmten Seite her als Intensit\u00e4tsph\u00e4nomen aufzufassen. Einerseits n\u00e4mlich bedeutet sie die Schaffung blofser M\u00f6glichkeiten, die hinter der gegebenen Erfahrungswirklichkeit Zur\u00fcckbleiben, andererseits enth\u00e4lt sie eine anschauliche Notwendigkeit die \u00fcber alle Realit\u00e4t hinausgeht. Sonach bietet sie M\u00f6glichkeit und Notwendigkeit in wundervollem Ausgleich. Bei einem Landschaftsgem\u00e4lde fragen wir nicht, ob es einem Naturvorbild treulich entspricht, ja wir lassen uns Formen und Farben gefallen, die in der Natur ganz sicher niemals Vorkommen. Daf\u00fcr verlangen wir aber, dafs in ihm eine Notwendigkeit sich ausspricht, die mit solcher Deutlichkeit in den zuf\u00e4lligen Erscheinungen der Er-","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetische Bedeutung des absoluten Quantums.\n65\nfahrungsweit nicht vorkommt. K\u00fcnstlerische Idealisierung besteht sowohl im Hinabtauchen ins M\u00f6gliche als auch im Hinaufsteigen zum Unbedingten. Nun ist jedes blofs M\u00f6gliche im Verh\u00e4ltnis zum Seienden eine Intensit\u00e4tsherabsetzung, jedes Notwendige eine Intensit\u00e4tssteigerung. Die M\u00f6glichkeit ist schw\u00e4cher, die Notwendigkeit st\u00e4rker als die Wirklichkeit. Indem die Kunst nach beiden Modalit\u00e4tsrichtungen hin sich vom schlechthin Seienden abhebt, kann sie als ein Intensit\u00e4tsph\u00e4nomen betrachtet werden.\n(Eingegangen am 3. M\u00e4rz 1903.)\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 32\n5","page":65}],"identifier":"lit32922","issued":"1903","language":"de","pages":"50-65","startpages":"50","title":"Die \u00e4sthetische Bedeutung des absoluten Quantums","type":"Journal Article","volume":"32"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:16:48.227632+00:00"}