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Gehirn und Seele

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{"created":"2022-01-31T16:37:25.084759+00:00","id":"lit32929","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schultz, Paul","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 32: 200-258","fulltext":[{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nGehirn und Seele.\nVon\nDr. med. Paijl Schultz,\nPrivatdozent und Assistent am physiologischen Institut\nder Universit\u00e4t Berlin.\n1\tYorwort.\nDas Folgende gibt in erweiterter Form die Einleitung wieder zu meiner \u00f6ffentlichen Vorlesung \u00fcber: Gehirn und Seele, die ich in den letzten Winterhalbjahren an der hiesigen Universit\u00e4t gehalten habe. Ich stelle mich darin ganz auf den Standpunkt des transzendentalen Idealismus, wie er sich mir ergeben hat aus meinem bisherigen Studium der KANTischen Philosophie und besonders zweier Werke dar\u00fcber: Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, und Stadler, Kants Theorie der Materie.1\nVon der eigentlichen Lehre Kants scheint leider unter den Naturforschern, jedenfalls unter den Biologen, wenig mehr als einige Schlagw\u00f6rter bekannt zu sein. Das ist bedauerlich, um so mehr, als grade in diesen Kreisen immer lebhafter das Bestreben sich kund gibt, gegen\u00fcber der allzusehr in die Breite gehenden Einzelforschung den Zusammenhang mit dem ganzen System der Wissenschaft nicht zu verlieren und die auf besonderen Gebieten gewonnenen Ergebnisse mit den allgemeinen Prinzipien in Zusammenhang zu bringen. Damit will ich nat\u00fcrlich nicht sagen, dafs jeder Naturforscher notwendig Kants Philosophie studieren m\u00fcsse. Das erfordert ernste und anhaltende Arbeit.2 Wer aber heut auf seinem eng begrenzten Gebiet Er-\n1\tH. Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. II. Aufl. Berlin 1885. \u2014 A. Stadler: Kants Theorie der Materie. Leipzig 1883. Einen abweichenden Standpunkt nimmt 0. Liebmann ein in seinem geistvollen und anregenden Buch: \u201eZur Analysis der Wirklichkeit.\u201c II. Aufl. Strafsburg 1880.\n2\tDer tiefe Gehalt der KANTischen Philosophie erschliefst sich nur \u201edem Ernst, den keine M\u00fche bleichet\u201c. Aber wer sich einmal ihr zugewandt,, den h\u00e4lt sie mit unwiderstehlicher Gewalt fest; freilich mufs man sich bereits zu einer gewissen Stufe geistiger Entwicklung emporgearbeitet haben. Daher erscheint Machs Gest\u00e4ndnis nicht verwunderlich : \u201eIch habe es stets","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n201\nspriefsliches leisten will, mufs dazu schon alle Kr\u00e4fte anspannen. Nur dahin geht die Meinung, dafs, wer \u00fcber naturphilosophische Fragen zu reden unternimmt, sich unbedingt vorher mit Kant abfinden mufs. F\u00fcr die Seite seines Systems nun, die f\u00fcr den Naturforscher zun\u00e4chst in Frage kommt, scheinen mir grade jene beiden Werke von Cohen und Stadler als F\u00fchrer und Berater von unsch\u00e4tzbarem Werte zu sein. Deswegen hatte ich sie schon in der allgemeinen Einleitung in meinem Kompendium der Physiologie angelegentlich zum Studium empfohlen. Ebenso hatte ich schon mehrfach beil\u00e4ufig in Rezensionen auf die Wichtigkeit der KANiischen Philosophie f\u00fcr den Biologen hingewiesen.\nHeut darf ich sagen : Ich trete die Kelter nicht mehr allein. Der Physiologe von Uexk\u00fcll hat j\u00fcngst einen Aufsatz ver\u00f6ffentlicht1, in dem er sich r\u00fcckhaltslos auf den Boden des transzendentalen Idealismus stellt. So freudig ich diese Tatsache begr\u00fcfse, so kann ich doch meine Bedenken gegen die Form seiner Darstellung nicht unterdr\u00fccken. Es scheint mir dadurch die weitere Verbreitung der KANTischen Lehre unter den Biologen eher gef\u00e4hrdet als gef\u00f6rdert zu werden. Das zu verhindern durch einige erg\u00e4nzende Aufkl\u00e4rungen war der Grund, der mich bewog, die Einleitung breiter auszuf\u00fchren und sie gesondert von\nals besonderes Gl\u00fcck empfunden, dafs mir sehr fr\u00fch (im Alter von 15 Jahren etwa) in der Bibliothek meines Vaters Kants \u201eProlegomena zn einer jeden k\u00fcnftigen Metaphysik\u201c in die Hand fielen. Diese Schrift hat damals einen gewaltigen unausl\u00f6schlichen Eindruck auf mich gemacht, den ich in gleicher Weise bei sp\u00e4terer philosophischer Lekt\u00fcre nicht mehr gef\u00fchlt habe. Etwa 2 oder 3 Jahre sp\u00e4ter empfand ich pl\u00f6tzlich die m\u00fcfsige Polle, welche das \u201eDing an sich\u201c spielt. (Analysis der Empfindungen u. s. w. II. Aufl. Jena 1900. S. 21.) Wie wenig man im Alter von 15 Jahren reif ist f\u00fcr Kant, zeigt, dafs Mach vornehmlich das \u201eDing an sich\u201c aus den Prolegomenen behalten hat, das f\u00fcr Kant selbst \u00fcbrigens auch eine recht m\u00fcfsige Rolle spielte. Wenn Mach sp\u00e4ter dahin gelangt, die Welt in Empfindungen aufzul\u00f6sen und K\u00f6rper oder Materie und Ich oder Seele nur als zwei verschiedene Empfindungskomplexe, nicht als wirkliche Entgegensetzungen aufzufassen, so d\u00fcrfte hier wahrscheinlich doch noch die fr\u00fchere Kant-lekt\u00fcre nachgewirkt haben. Wie sehr Machs erkenntnistheoretische Ansichten der Vertiefung, die sie gerade durch Kant gewinnen k\u00f6nnten, bed\u00fcrftig sind, habe ich an anderer Stelle hervorgehoben (Ceniralbl. f. Physiologie, 15 1, S. 27 ff.)\n1 J. von Uexk\u00fcll : Psychologie und Biologie in ihrer Stellung zur Tierseele. Ergebnisse der Physiologie 2. Wiesbaden 1902. Jetzt auch separat erschienen: Im Kampf um die Tierseele.","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nPaul Schultz.\nden \u00fcbrigen Vorlesungen jetzt schon zu ver\u00f6ffentlichen. Die Ausf\u00fchrungen hatten sich vornehmlich in zwei Richtungen zu bewegen.\nZun\u00e4chst mufste die einzige Bedeutung Kants f\u00fcr die Naturforschung dargelegt werden. Es ist sehr merkw\u00fcrdig zu sehen, dafs heut unter den Naturforschern die M\u00f6glichkeit einer Wissenschaft meist als etwas selbstverst\u00e4ndliches angesehen wird, dafs die Frage gar nicht oder nur sehr oberfl\u00e4chlich er\u00f6rtert wird, wras ist denn Wissenschaft und wodurch wird blofse Erfahrung dazu, welches sind die Bedingungen und welches die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis. Damit h\u00e4ngt das allgemeine Mifs-trauen gegen die Philosophie zusammen, die man noch immer als ein der Naturwissenschaft fremdes oder sogar sch\u00e4dliches Element betrachtet. Dem gegen\u00fcber mufste gezeigt werden, dafs Kants ganze Kritik der reinen Vernunft darauf aus geht, das, wras allgemein als Wissenschaft und als einzige gesicherte anerkannt wurde und anerkannt wird, die mathematische Naturwissenschaft Newtons , gesetz-m\u00e4fsig zu begr\u00fcnden und damit auf ein gesichertes Fundament zu stellen, und dafs er dabei die Aufgabe l\u00f6ste, an der die grofsen Naturforscher und Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts sich abm\u00fchten, den Anteil zu bestimmen, welchen neben der Mathematik die Philosophie an der mathematischen Naturwissenschaft hat. Zweitens bei der Behandlung unseres besonderen Themas durfte nicht einseitig, wie von Uenk\u00fcll tat, die theoretische Seite betont werden. Das hat Gegnerschaft erzeugt; und es steht zu bef\u00fcrchten, dafs man, was auf Kosten von von Uexk\u00fclls Darstellung kommt, auf die dargestellte Sache, auf die KANTische Philosophie, \u00fcbertr\u00e4gt. Hier mufste das empirische Bed\u00fcrfnis ber\u00fccksichtigt, seine zul\u00e4ssigen Forderungen anerkannt, und in diesem Sinne die Er\u00f6rterung durchgef\u00fchrt werden. Beides versucht der vorliegende Aufsatz zu leisten. Er hat seinen Zweck erreicht, wenn bei den Naturforschern das Interesse f\u00fcr die Lehre Kants gemehrt und die Einsicht in ihre Bedeutung grade f\u00fcr die Naturwissenschaft erweitert wird.\nDie Vertiefung in die KANTische Philosophie k\u00f6nnte heut noch einen weiteren bedeutsamen Gewinn mit sich bringen. Der\naufserordentliche Aufschwung der Naturwissenschaften und das\n\u00ab \u2022\t_\nzweifellose Uberwiegen der Technik hat zu einer bedauerlichen","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n203\n\u00bb \u2022\n\u00dcbersch\u00e4tzung der realen Bildung und zur Verdr\u00e4ngung des Humanismus gef\u00fchrt, wobei grade hervorragende Biologen eine beklagenswerte Kurzsichtigkeit an den Tag gelegt haben. Das ist nicht ohne Einflufs auf die allgemeine Bildung geblieben. Daraus entsprang die nur auf das N\u00fctzliche gestellte Lebensf\u00fchrung, die r\u00fccksichtslose Verfolgung materieller Interessen und die Abnahme des tiefernsten, durch keine R\u00fccksichten zu ersch\u00fctternden Pflichtbewufstseins. Auch die Wissenschaft ist von dem neuen Geist nicht frei geblieben. Mit Mangel an Kritik und Haschen nach \u00e4ufseren, augenblicklichen Erfolgen verbindet sich die \u00dcbersch\u00e4tzung der Befugnis und Bedeutung naturwissenschaftlicher Erkenntnis f\u00fcr das Gem\u00fctsleben des Menschen. So von allen Seiten bedroht scheint der Kultus des Ideals zu erliegen. Hier kann, wie einst, da sie erstand, Kants Philosophie wieder rettend eingreif en. \u201eEntzogen der Macht des philosophischen Gedankens stellt Mathematik und Erfahrung die Weltansicht fest, un\u00fcberwindbar aller Spekulation. Losgerissen von aller Philosophie geht die Naturforschung in der Ausbildung dieser Weltansicht ihren selbst\u00e4ndigen Weg f\u00fcr sich. Jetzt nach Erfindung der induktorischen Methoden, sind nicht mehr \u201e\u00e4sthetische Ideen\u201d, sondern \u201edie Analogien der Erfahrung\u201c der Leitfaden zur Erg\u00e4nzung der L\u00fccken in unserer Naturerkenntnis. Aber so wie in perspektivischer Ferne sich das Leben selbst dem toten Mechanismus f\u00fcgt, scheinen alle religi\u00f6sen Ideen bedroht, alle h\u00f6heren Ahndungen der Menschenbrust unwiderbringlich an einen kalten Naturalismus verloren, wenn nicht eine grofse unerwartete Entdeckung sie zu retten vermochte. Einer, einer auch aus unserer Mitte hat dem deutschen Volke das grofse philosophische Geheimnis enth\u00fcllt. Kant fand den \u201etranszendentalen Idealismus\u201c, eine neue, h\u00f6here nie geahndete Weltansicht, welche mit wissenschaftlicher Sicherheit die religi\u00f6sen Ideen den physikalischen Vorstellungsweisen verband und das R\u00e4tsel der Welt l\u00f6ste. Es wird sich zeigen, dafs unsere geometrischen Konstruktionen nicht verm\u00f6gen das ganze Zauberbild der Natur in seine einzelnen Z\u00fcge aufzul\u00f6sen, dafs allen unseren wissenschaftlichen Kombinationen entschl\u00fcpft die holde Anmut der Farben, die den blofsen Marmor der Natur umschwebt und die Sch\u00f6nheit der Gestalten.\u201c 1\n1 E. F. Apelt : Die Epochen der Geschichte der Menschheit. Jena 1845. I, S. 304.","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nPaul Schultz.\nJustus Scaliger, der geniale Philologe des 16. Jahrhunderts, erz\u00e4hlt, zwei Dinge haben besonders die spekulative Neugier seines Vaters, des wegen seiner Kenntnisse in der klassischen Literatur und in den Naturwissenschaften viel bewunderten Julius Caesar Scaliger, gereizt, n\u00e4mlich die Ursache der Schwere und die Ursache des Ged\u00e4chtnisses.\nDiese beiden Probleme, richtig verstanden, sind es bis auf den heutigen Tag gewesen, welche Naturforscher und Philosophen, beide in gleich hohem Grade, immer wieder zum Nachdenken angeregt und zu Erkl\u00e4rungsversuchen herausgefordert haben. Setzt man an Stelle der Schwere das fernwirkende Atom, oder das Verh\u00e4ltnis von Kraft und Stoff, an Stelle des Ged\u00e4chtnisses das Bewufstsein \u00fcberhaupt oder das Verh\u00e4ltnis von Gehirn und Seele, so erscheinen die beiden Probleme, an denen schon Scaligers Scharfsinn sich vergebens abm\u00fchte, in moderner Fassung. Aber noch immer Probleme, wird man fragen? Ist im Laufe der 400 Jahre bis auf die Gegenwart keine L\u00f6sung dieser P\u00e4tsel gefunden? L\u00f6sungen wohl, aber keine endg\u00fcltige, keine allgemein anerkannte, da doch sonst nicht immer wieder neue versucht worden w\u00e4ren. Wenn dem so ist, dr\u00e4ngt sich freilich der Verdacht auf, dafs die Fragen falsch gestellt sind, oder vielleicht dafs sie ganz \u00fcberfl\u00fcssigerweise gestellt sind, weil wir sie gar nicht zu beantworten im st\u00e4nde sind. Das Perpetuum mobile hat lange Zeit hindurch Mechaniker und Physiker, und oft gerade die f\u00e4higsten K\u00f6pfe darunter, auf das lebhafteste besch\u00e4ftigt und viele der Verzweiflung nahe gebracht, bis erst in unserer Zeit durch das mechanische W\u00e4rme\u00e4quivalent und das Gesetz von der Erhaltung der Energie der theoretische Beweis geliefert werden konnte, dafs es nicht zu konstruieren ist. Befinden wir uns nun mit jenen beiden Fragen etwa im gleichen Falle?\nIn der Tat hat vor dreifsig Jahren einer der bedeutendsten Naturforscher, hat E. du Bois-Reymond es ausgesprochen und in gl\u00e4nzender Darstellung den Beweis zu f\u00fchren unternommen, dafs wir unser Nachdenken vergebens an ihnen anstrengen, dafs unser Witz ihnen nicht gewachsen ist, ja dafs sie geradezu die Grenzen unseres Naturerkennens bezeichnen. Entsagungsvoll m\u00fcsse man hier ein Ignorabimus eingestehen. Es ist hinl\u00e4nglich bekannt, wie neben freudig zustimmendem Lobe ein Sturm der","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\nEntr\u00fcstung gegen dieses Eingest\u00e4ndnis, besonders von seiten der Naturforscher sich erhob, die dabei freilich meist nur dartaten, wie weit sie an Gedankenklarheit und acht philosophischer Denkweise hinter dem ber\u00fchmten Physiologen zur\u00fcckblieben. Befremdlich aber und bedenklich ist zu beobachten, dafs dieser Sturm sich bis heut noch nicht ganz gelegt hat. Immer noch findet man in naturwissenschaftlichen Abhandlungen, sobald die Bede darauf kommt, eine abf\u00e4llige, sogar erbitterte Polemik gegen jenen ber\u00fchmten Ausspruch, die sich dadurch am besten selbst kritisiert, dafs sie ein Ignoramus wohl verzeihen, ja selbst zugestehen w\u00fcrde, ein Ignorabimus nimmer.1 Mit anderen Worten, dafs unserem Naturerkennen Schranken zur Zeit gesetzt seien, k\u00f6nne man billigen, niemals aber, dafs es Grenzen habe. Ja, man ging noch weiter! Man gab auch die Schranke nicht zu, man leugnete, dafs jene beide Fragen \u00fcberhaupt noch Probleme seien, die der L\u00f6sung bed\u00fcrften. Insbesondere das Bewufstsein ist nach Hackel auf Grund unserer heutigen biologischen Kenntnisse und mit Hilfe des Darwinismus leicht zu erkl\u00e4ren, da denn die mit Bewufstsein ausgestattete Nervenseele des\n1 Ich greife nur das Neueste vom B\u00fcchermarkt heraus: Th. Beer: Die Weltanschauung eines modernen Naturforschers. Dresden-Leipzig 1903. \u201eSo arg wurde die atomistische Verwirrung, .... dafs nicht minder du Bois-Reymond schnell ber\u00fchmt werden konnte, als er in Innsbruck das grofse \u201eIgnorabimus\u201c sprach, insonderlich scheinbar tiefsinnig f\u00fcr ewig unm\u00f6glich erkl\u00e4rte, \u201eaus den Atombewegungen des Hirns die Empfindungen zu erkl\u00e4ren\u201c\u201c (S. 18). \u201eDie mit Seheraplomb vorgebrachte \u201eErkl\u00e4rung\u201c du Bois-Reymonds, dafs es nie gelingen werde, \u201eaus den Atombewegungen des Hirns die Empfindungen zu erkl\u00e4ren\u201c, reduziert sich auf einen simplen, wenngleich rhetorisch wirksamen Truismus\u201c. \u201eWir aber brauchen das Fehlen einer sinnreichen Antwort auf solche Fragen nicht pathetisch zu bedauern. Es liegt gar kein Problem vor\u201c (S. 35 u. 38). Diese Stellen finden sich in einem Schriftchen, das in dithyrambischen Phrasen eine Apotheose Machs darstellt. Wer diesen ernsten und n\u00fcchternen Forscher aus seinen Werken kennen und sch\u00e4tzen gelernt hat, der wird, gewifs mit ihm, von diesem Elaborat peinlich ber\u00fchrt sein. Ich h\u00e4tte es hier gar nicht erw\u00e4hnt, wenn es nicht ein krasses Beispiel daf\u00fcr w\u00e4re, wie bei einem Naturforscher in der Beurteilung philosophischer Denker Anmafsung mit Oberfl\u00e4chlichkeit sich verbindet. Ich werde in Bezug auf Kant noch einige Stellen beibringen. Auf dem Titelblatt steht zur Erl\u00e4uterung : Ein nichtkritisches Referat. Die Bemerkung war \u00fcberfl\u00fcssig. Dafs es dem Verfasser an ernsthafter Kritik gebricht, merkt der Leser allzubald.","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nPaul Schultz.\nMenschen nur eine im Laufe von etlichen Millionen Jahren erreichte, h\u00f6her ausgebildete Form der Seele der einzelligen Urtiere ist. Und diese erscheint, uns v\u00f6llig begreiflich, in der einfachsten Form chemischer und physikalischer Prozesse !1\nMit alledem ist denn freilich nur dokumentiert, dafs der innerste Nerv der ganzen Betrachtung nicht erfafst ist, und bezeichnend ist, dafs diejenigen, welche in diesem Streit am lautesten das Wort f\u00fchren, nicht ahnen, dafs es sich bei dieser Frage nach den Grenzen des Naturerkennens gar nicht um ein naturwissenschaftliches, sondern um ein philosophisches, um ein erkenntnistheoretisches Problem handelt. Die empirische Naturforschung wurde und wird von der Beantwortung dieser Fragen nicht im mindesten betroffen. Sie w\u00e4gt, sie analysiert, sie mifst, sie beobachtet und experimentiert unbek\u00fcmmert weiter. Aber entscheidend war die Untersuchung f\u00fcr die theoretische Naturwissenschaft, f\u00fcr die Philosophie der Natur. Freilich steht noch gegenw\u00e4rtig bei den Naturforschern die Philosophie vielfach in argem Mifskredit. Sie haben meist noch eine dunkle Vorstellung und verschwommene Erinnerung an jene Tage der falschen Naturphilosophie, die im Anfang des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland in schmachvoller Weise sich breit machte. Das war jene Zeit, wo auf dieser Hochschule, in diesen H\u00f6rs\u00e4len ein Helmholtz, ein du Bois-Reymond, ein Ernst Br\u00fccke naturwissenschaftliche Vorlesungen h\u00f6rten, \u201edie mit den Metallen anfingen und mit dem Abendmahl aufh\u00f6rten\u201c. Kein Wunder, dafs jene Forscher eine gr\u00fcndliche Abneigung gegen alle Philosophie fafsten und wiederholt \u00f6ffentlich aussprachen. Diese hat sich dann wie eine Krankheit bis auf den heutigen Tag bei den Naturforschern fortgeerbt. Beg\u00fcnstigt wurde das freilich durch den aufserordentlichen Aufschwung, den die Naturwissenschaften in fortschreitendem Mafse bis auf die Gegenwart nahmen. Dadurch wurden mit der Philosophie \u00fcberhaupt die Geisteswissenschaften in den Hintergrund gedr\u00e4ngt und schliefslich ein naturwissenschaftlicher Dogmatismus herbeigef\u00fchrt, der ebenso hochm\u00fctig, wie oberfl\u00e4chlich alle R\u00e4tsel des Daseins spielend in Chemie und Physik aufl\u00f6st.\n1 E. Haeckel: Die Weltr\u00e4tsel. IV. Anfl. Jena 1900. (S. 211, ferner 148, 163, 447 u. a.)","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n207\nAber welche Wandlungen hat seit jenen nun gl\u00fccklich vergessenen Tagen der Nat\u00fcrspekulation die Philosophie durchgemacht, insbesondere als sie unter Einflufs Schopenhauers auf ihre neuen Fahnen schrieb: R\u00fcckkehr zu Kant. Davon haben, wie es scheint, die Naturforscher nur wenig Notiz genommen. Was, aber schlimmer ist, man sieht bei ihnen die Neigung bedenklich im Wachsen begriffen, auf eigene Faust zu philosophieren und, wie Kant sich ausdr\u00fccken w\u00fcrde, \u201e\u00fcber unz\u00e4hlige Gegenst\u00e4nde auf mancherlei Weise zu schw\u00e4rmen\u201c. Hatten um die Mitte des verflossenen Jahrhunderts die Naturforscher ein gewisses Recht mit Mifsachtung auf die Philosophie herabzusehen und manche ihrer Spekulationen verdienter L\u00e4cherlichkeit Preis zu geben, so scheint es fast, als solle jetzt sich das Verh\u00e4ltnis umkehren. Der Philosoph von heute sieht sich in peinliche Verlegenheit gesetzt gegen\u00fcber gewissen philosophischen Erg\u00fcssen, die gerade von anerkannten und verdienstvollen F\u00fchrern der Naturwissenschaften ausgehen. Er kann sie nicht Ernst nehmen, wenn er sieht, wie darin neben historischer Unkenntnis Mangel an philosophischer Denkweise und ungen\u00fcgende erkenntnistheoretische Vorbildung in krasser Weise sich offenbaren. Ich erinnere hier nur an H\u00e4ckels Weltr\u00e4tsel. Das Bedauerlichste an dem Buche bleibt freilich, dafs es, um mit Paulsen zu reden, \u201e\u00fcberhaupt m\u00f6glich war, dafs es geschrieben, gedruckt, gekauft, gelesen, bewundert, geglaubt werden konnte bei einem Volk, das einen Kant, einen Goethe, einen Schopenhauer besitzt\u201c.1\nZwar gerade der Name Kant ist heut den Naturforschern nicht ungel\u00e4ufig ; man findet ihn nicht selten citiert und sogar als Autorit\u00e4t angerufen. Freilich zeigt sich dann meist, dafs man ihn falsch oder gar nicht verstanden hat. So geht es mit seiner Lehre \u00fcber die Anschauungsformen a priori von Raum und Zeit und vollends mit dem \u201eDing an sich\u201c, wor\u00fcber des ungl\u00fccklichen Geredes kein Ende ist.2 Dafs nun aber gerade dieserK\u00f6nigs-\n1\tF. Paulsen : Philosophia militans. II. Aufl. Berlin 1901. S. 187.\n2\tZum Beweise rekurriere ich nur wieder auf die neuesten Publikationen \u00fcber unseren Gegenstand. Th. Ziehen: \u00dcber die allgemeinen Beziehungen zwischen Gehirn und Seelenleben. Leipzig 1902. S. 29: \u201eSeine (Kants) Lehre, dafs auch den r\u00e4umlichen Eigenschaften der Materie eine Raumanschauung a priori in uns entspricht, zog gewissermafsen die Materie wieder wenigstens teilweise zum Psychischen hin\u00fcber.\u201c Eine vollst\u00e4ndige","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nPaul Schultz.\nberger Philosoph eine entscheidende Bedeutung f\u00fcr die Naturwissenschaft gehabt, dafs \u00e9r ihr zuerst ein gesichertes Fundament gegeben hat, gebaut aus dem Granit erkenntnistheoretischer Gesetze, davon ist den wenigsten etwas bekannt. W\u00e4re das anders, so m\u00fcfste man wissen, dafs auch jene beiden Fragen, die Scaligeb sich stellte, die das Ignorabimus als unl\u00f6sbar bezeichnete und Hackel zureichend zu beantworten vorgibt, eben durch Kant bereits in Angriff genommen und gr\u00fcndlich erledigt waren. Denn eben dadurch hat er Epoche in der neueren Philosophie gemacht, dafs er ihr die Aufgabe stellte, und als wichtigste in Angriff nahm, die schon in ihrem Beginne Descaetes klar ausgesprochen hatte: \u201eDas wichtigste aller Probleme ist die Einsicht in die Natur und Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Diese Frage mufs einmal\nEntstellung der KANTischen Lehre! S. 50: \u201eUm zu \u00bbDingen an sieh\u00ab zu gelangen, mufste Kant einem Hauptgrundsatz seiner eigenen grofsen Lehre ungetreu werden. Er hatte ausdr\u00fccklich und mit Hecht die Erkennung urs\u00e4chlicher Beziehungen auf die Erscheinungen eingeschr\u00e4nkt, jetzt fehlte er selbst gegen diesen Satz und glaubte als Ursachen der Erscheinungen etwas jenseits derselben Gelegenes, n\u00e4mlich Dinge an sich erkennen zu k\u00f6nnen.\u201c Bekanntlich ein h\u00e4ufiger Einwurf gegen Kant, der sich nur aus einem v\u00f6lligen Mifsverstehen seiner Lehre \u00fcber \u201edas Ding an sich\u201c herschreibt. A. Forel: Gehirn und Seele. II. Aufl. Bonn. S. 10: \u201eUm aber von vornherein allen Mifsdeutungen des Folgenden vorzugreifen, will ich Kants grundlegende erkenntnistheoretische Feststellungen vorausschicken.\u201c Es folgt das bekannte Cit\u00e2t aus der Kritik der reinen Vernunft (S. 324) s. unten Anm. S. 235. Dann interpretiert der Verfasser Kants Ansicht folgendermafsen: \u201eSo weit Kant. Das heilst mit einem Wort: alle Dinge des Weltalls sind f\u00fcr uns transzendent, d. h. aufserhalb unseres Erkenntnisverm\u00f6gens liegend; wir haben nur eine \u00bbsinnliche Erscheinung\u00ab davon.\u201c Und weiter: \u201eWir nehmen bestimmt an, dafs eine Welt aufser uns existiert, die uns durch unsere ebenfalls existierenden Sinne erscheint.\u201c Th. Beer (s. o. Anm. 1 S. 205) S. 80: \u201eDas Verdienst Kants, gefragt zu haben, wie ist notwendige Verkn\u00fcpfung, die vielleicht zeitliche Grundlage aller Wissenschaft m\u00f6glich? bleibt ungeschm\u00e4lert. Aber wo hier\u00fcber hinausgegangen wird, hat Kant, wie in der Lehre von Dingen an sich gegen Berkeley, so in der \u00fcbersch\u00e4tzenden Auffassung der Kausalit\u00e4t gegen Hume einen R\u00fcckschritt begangen\u201c, vgl. ferner S. 8 u. 9, S. 31 u. s. w. S. 13: \u201eIn seiner m\u00e4nnlichen Zeit hat er ja wirklich die alte, in der Wissenschaft deplazierte Mystik umgebracht, aber die Gespenster der Metaphysik, Theologik, Moraralistik konnte er selbst nie los werden, viel weniger konnte er die Welt von ihnen befreien.\u201c Was war doch der gute m\u00e4nnliche Kant f\u00fcr ein beschr\u00e4nkter Kopf gegen Herrn Beer!","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n209\nin seinem Leben jeder gepr\u00fcft haben, der nur die geringste Liebe zur Wahrheit hat, denn ihre Untersuchung begreift die ganze Methode und gleichsam das wahre Organon der Erkenntnisse in sich\u201c.1\nWenn wir uns nun mit Kant auf den Standpunkt des transzendentalen Idealismus stellen, dann erf\u00e4hrt die Untersuchung nach der Art und den Grenzen des Naturerkennens eine Vertiefung und Durchdringung, dafs das Ignorabimus uns nicht mehr gen\u00fcgen kann, so bewundernswert es auch seiner Ausf\u00fchrung und Begr\u00fcndung nach als Tat eines Naturforschers erscheint, der ohne eigentliche philosophische Studien vom gesicherten Boden seiner Spezialforschung aus zu diesen letzten Fragen seines Denkens sich durchgerungen hat. Auf die L\u00f6sung des Problems durch Kant mufs ich kurz eingehen, weil sie f\u00fcr unser Thema von entscheidender Bedeutung ist. Und da ich \u2022dasselbe als Physiologe behandle, also meine sp\u00e4teren Ausf\u00fchrungen naturwissenschaftlicher Art sind, so habe ich gleich im Anfang die Pflicht mich zu \u00e4ufsern, unter welchem erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt dies geschehen soll, mit anderen Worten, welche Vorstellung von dem allgemeinen Verh\u00e4ltnis zwischen Materie und Bewufstsein ich meinen besonderen naturwissenschaftlichen Betrachtungen zu Grunde legen werde. Dazu ist aber zuv\u00f6rderst n\u00f6tig, dafs wir uns klar werden, worin Naturwissenschaft besteht, und wie weit sie reicht. Wenden wir uns also an Kant.\nZu der Zeit, da er auftrat, stand die alte Metaphysik in h\u00f6chster Bl\u00fcte, jene Metaphysik, die, um mit Kant selbst zu reden, \u201edie Fl\u00fcgel auf spannte, um durch die blofse Macht der Spekulation \u00fcber die Sinnenwelt hinauszukommen, die aus blofsen Begriffen eine Realit\u00e4t herausklauben und aus blofsen Ideen ihre Einsicht erweitern wollte\u201c. Gegen\u00fcber diesen m\u00fcfsigen und unfruchtbaren Spekulationen, die auftauchten, umstritten wurden und wieder verschwanden, stand in sicherer Ruhe und unersch\u00fctterlicher Festigkeit jene Wissenschaft, die Newton in den Principia mathematica philosophiae naturalis niedergelegt hatte.2\n1\tOeuvres de Descartes, Paris 1824\u20141826, herausgegeben v. V. Cousin. R\u00e8gles pour la direction de l\u2019esprit. XI, S. 246. \u00dcbers, von K. Fischer.\n2\tVgl. hierzu in Liebmanns Analysis der Wirklichkeit (s. o.) das Kapitel: \u201e\u00dcber den philosophischen Wert der mathematischen Naturwissenschaften\u201c und die \u201eVorbetrachtungen\u201c.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 32.\n14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"Paul Schultz.\nIhre Strenge, ihre Folgerichtigkeit und vor allem ihre Fruchtbarkeit f\u00fcr den weiteren Fortschritt der Forschung waren so* erstaunlich, dafs davor sich alle beugten, und kein Zweifel sich zu erheben wagte. Sie begeisterte Pope zu den Versen:\nNature and Nature\u2019s laws lay hid in night;\nGod said: \u201eLet Newton be\u201c, and all was Light.\nUnd Voltaire, der feurige Apostel der NEWTONschen Lehre in Frankreich, verfafste f\u00fcr die \u00dcbersetzung der Principia mathe-matica, die auf seine Anregung hin seine begabte Freundin in Cirey, Madame du Ch\u00e2telet, vornahm, eine Inschrift die mit den Worten schlofs :\nLe compas du Newton, mesurant l\u2019univers,\nL\u00e8ve enfin ce grand voile, et les cieux sont ouverts.\nHier nun setzte der \u201eerstaunliche Kant\u201c ein, und das ist\nder entscheidende Zug in seiner Philosophie, den man im Auge\nbehalten mufs, wenn man ihn verstehen will. Wie ist, so fragte\ner sich, diese Wissenschaft Newtons m\u00f6glich? Worauf beruht\nihr Gewifsheitsgrund und ihr Erkenntniswert, und wodurch ist,\ndahin erweiterte sich ihm die Frage, Naturerkenntnis \u00fcberhaupt\nm\u00f6glich? Wohl gibt es noch eine andere Art der Erkenntnis,\ndie Bittenerkenntnis. Sie hat durchaus den Vorrang vor jener..\n* \u2022\nKant ist von der \u00dcberzeugung durchdrungen, dafs der Mathematiker gern seine ganze Wissenschaft, diesen \u201eStolz\u201c der menschlichen Vernunft\u201c, hingeben m\u00fcsse, wenn er dadurch \u00fcber die sittlichen Fragen Gewifsheit erlangen k\u00f6nnte. Indem Kant so den Primat der sittlichen Erkenntnis \u00fcber die naturwissenschaftliche anerkennt, trennt er beide, im Gegensatz zu allen bisherigen philosophischen Systemen, scharf voneinander. Und da als allseitig anerkannte Wissenschaft nur die naturwissenschaftliche Erkenntnis bisher aufgetreten ist, \u201eda es eine Wissenschaft \u00fcber die sittlichen Dinge vergleichbar der Tatsache der NEWTONschen Wissenschaft nicht gibt, so richtet er an diese zun\u00e4chst seine Frage. Ist hier die Untersuchung abgeschlossen, die Methode gewonnen und gepr\u00fcft, dann soll sie auch auf die sittliche Erkenntnis ausgedehnt werden. Jene Frage nun zu beantworten ist nur m\u00f6glich durch eine Kritik der Erkenntnisquellen, also der metaphysischen Grundlagen der NEWTONschen Wissenschaft. So entsteht Kants Metaphysik, die neue Metaphysik, die Kritik ist. Die Untersuchung wird durchgef\u00fchrt in der Kritik der","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n211\nreinen Vernunft. Ihr positives Ergebnis besteht darin, dafs sie die Bedingungen aufzeigt, unter denen objektive Erkenntnis, unter denen Wissenschaft m\u00f6glich ist.\nFangen wir, wie Descartes, mit dem Zweifel an allem an und fragen wir, was ist uns zun\u00e4chst und allein gegeben. Der unbefangene Verstand hat die Antwort sofort bereit: Gegeben sind uns die Dinge, die Welt um uns her, so wie sie da sind Aber gemach! Besinnen wir uns doch einmal. Dieser Tisch, wodurch ist er denn f\u00fcr uns da? Doch nur dadurch, dafs ich ihn sehe, das ich seine Festigkeit, seine Gl\u00e4tte, seine Ausdehnung f\u00fchle, dafs ich den Schall, wenn ich darauf schlage, h\u00f6re. Also durch die Sinne ist er uns gegeben, und nur durch die Sinne, durch die Empfindungen, die wir von ihm haben. Also meine Empfindungen, das ist das erste, das eigentliche, was gegeben ist, was zun\u00e4chst wirklich ist. Die ganze bunte Welt, die da vor uns steht, alle die Dinge, die da draufsen in fortw\u00e4hrendem Wechsel und in mannigfacher Verschiedenheit sich uns darbieten, sie sind nicht und sind nichts, wenn ich nicht bin. Ohne Subjekt kein Objekt. Sie sind nur da durch meine Empfindungen, sie sind nichts als meine Empfindungen. Sie sind nur ein Schein; nur am Scheine soll der Mensch sich weiden, sagt der Dichter. Die Welt ist meine Vorstellung und nichts als meine Vorstellung. Das ist der Anfang aller philosophischen Besinnung, den man sich einmal gr\u00fcndlich klar gemacht haben mufs.\nAber auch das mufs bei n\u00e4herer Lberlegung noch vertieft werden. Meine Vorstellungen, meine Empfindungen sind sie zun\u00e4chst auch noch nicht. Schon Lichtenberg hatte gegen Descartes bemerkt, dafs seine Behauptung, wenn man an allem zweifle, das Eine als gewifs \u00fcbrig bliebe, das \u201eIch denke\u201c, schon zu weitgehend sei. \u201eEs denkt, sollte man sagen, wie man sagt: es blitzt.\u201c Es sind \u00fcberhaupt nur Empfindungen da. Die rein zeitliche Folge irgendwelcher Empfindungen, ist das letzte Grundph\u00e4nomen. Wenn diese nun mehr sein wollen ais ein blofses Chaos, wenn daraus Vorstellung, Erfahrung und Erkenntnis werden soll, so m\u00fcssen sie sich ordnen, sich zusammenfassen lassen, und dazu wieder mufs ein Etwas da sein, worin dieses Ordnen, dieses Zusammenfassen vor sich gehen kann. Es mufs gleichsam ein Brennpunkt sein, in dem, wie die zerstreuten Lichtstrahlen, so die verschiedenen Empfindungen sich zu einer Ein-","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nPaul Schultz.\nheit sammeln. Diese Einheit bildet das erkennende Bewufst-sein, und wir bezeichnen es mit dem Vorwort Ich. Hier mufs aber ein Irrtum abgewehrt werden. Dieses Ich ist nicht die einzelne Person, nicht das individuelle Bewufstsein, es ist vielmehr ganz allgemein das erkennende Bewufstsein, das allgemeine Bewufstsein, das auf Erkenntnis gerichtet ist. Und ferner dieses Ich ist nicht ein f\u00fcr sich bestehendes Etwas, ein gesondertes Ding, oder auch nur ein Begriff. Dieses transzendentale Subjekt der Gedanken = X ist vielmehr, wie Kant sagt, nur ein Vehikel aller Begriffe \u00fcberhaupt, ein blofses Bewufstsein, das alle Begriffe begleitet. Seine Pr\u00e4dikate, die uns von ihm etwas aussagen k\u00f6nnten, sind eben die Gedanken; abgesondert davon k\u00f6nnen wir niemals den mindesten Begriff von ihm haben. \u201eWir drehen uns daher in einem best\u00e4ndigen Zirkel herum, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen m\u00fcssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen.U1 Es ist nur ein unentbehrliches Hilfsmittel f\u00fcr unseren Verstand. Mit diesen Einschr\u00e4nkungen k\u00f6nnen wir das Ich auch Seele nennen. Das \u00dcbersehen dieser Einschr\u00e4nkungen, die Hypostasierung der Seele zu einem besonderen Wesen, von dem nun, unabh\u00e4ngig von aller Erfahrung, Bestimmungen und Begriffe entwickelt werden, ist der Grundirrtum der rationalen Psychologie, die damit \u201ealle Kr\u00e4fte der menschlichen Vernunft\u201c \u00fcbersteigt.1 2\nDieses Ich, dieses Bewufstsein kann sich seiner selbst aber nur versichern, kann sich von sich selbst nur \u00fcberzeugen dadurch, dafs es sich einem anderen, einem Nicht-Ich, einem Objekt gegen\u00fcber stellt, von dem es sich selbst unterscheidet. Wie Licht ist nur im Gegensatz zur Finsternis, wie W\u00e4rme nur f\u00fchlt, wer vorher K\u00e4lte empfunden hat, so bedarf auch das Ich eines Gegensatzes, eines Nicht - Ichs, eines Objektes, um sich seiner selbst bewufst zu werden. Ohne Objekt kein Subjekt Zum Objekt nun komme ich durch die dem Bewufstsein in-h\u00e4rierende, ihm eigent\u00fcmliche Raumanschauung. Die blofsen Empfindungen werden zu meinen Vorstellungen erst dadurch, wie schon der Name sagt, dafs ich sie vor mich hinstelle als einem aufser mir befindlichen angeh\u00f6rig, einem Gegenstand,\n1\tKrit. d. r. Vern. S. 296. Die Kritik der reinen Vernunft citiere ich nach der Ausgabe von Kehrbach in der Reclambibliothek.\n2\tKrit. d. r. Vern. S. 322.","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n213\neiner Sache, einem Ding. Das sind nur verschiedene Bezeichnungen f\u00fcr das gedachte beharrliche Substrat im Raume, an dem als Ganzes meine Vorstellungen als Teile erscheinen. Unter den rein zeitlich aufeinanderfolgenden Empfindungen zeichne ich also bestimmte aus, indem ich sie als angeh\u00f6rig einem Etwas im Raum betrachte. Die zeitliche Empfindungsfolge wird dadurch nicht ge\u00e4ndert; nur die Empfindungen selbst werden als von zweierlei Art unterschieden: die einen erscheinen nur aufeinanderfolgend in der Zeit, die anderen erscheinen ebenfalls mit den ersteren in der Zeit folgend, zugleich aber als Nebeneinander im Raum als Teile eines Ganzen, das gegen\u00fcber dem wechselnden Ich beharrt. Gegenstand, Ding, Materie geh\u00f6ren also ebenso zum denkenden Subjekt, wie alle \u00fcbrigen Gedanken; \u201enur dafs sie dieses T\u00e4uschende an sich haben, dafs, da sie Gegenst\u00e4nde im Raum vorstellen, sie sich gleichsam von der Seele abl\u00f6sen und aufser ihr zu schweben scheinen, da doch selbst der Raum, darin sie angeschaut werden, nichts als eine Vorstellung ist, deren Gegenbild in derselben Qualit\u00e4t aufser der Seele gar nicht angetroffen werden kann.441 Das im Raum Angeschaute, die Substanz, das Objekt ist also nur eine Form des Denkens, als solche aber ebenso notwendig f\u00fcr die M\u00f6glichkeit der Erfahrung, wie mein eigenes Ich.\nHatten wir vorher f\u00fcr den naiven Verstand die Realit\u00e4t der Natur scheinbar zerst\u00f6rt, indem wir sie in Vorstellungen verfl\u00fcchtigten, so haben wir sie jetzt durch den Substanzbegriff in unserer \u00dcberzeugung wieder hergestellt. Wohl ist die Welt ein Schein, aber kein tr\u00fcgerischer Schein, oder, da dieser Nebengriff im gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch schon dem Wort Schein anh\u00e4ngt, wie das Sprichwort lehrt, der Schein tr\u00fcgt, die Welt ist nicht Schein, sondern Erscheinung. Wohl ist Ding, Substanz, Materie nur eine Vorstellung, aber eine notwendige und wirkliche Vorstellung. \u201e\u00c4ufsere Dinge existieren ebensowohl als ich selbst existiere und zwar beide auf das unmittelbare Zeugnis meines Selbstbewufstseins44. \u201eIch habe in Absicht auf die Wirklichkeit \u00e4ufserer Gegenst\u00e4nde ebensowenig n\u00f6tig zu schliefsen, als in Ansehung der Wirklichkeit des Gegenstandes meines inneren Sinnes (meiner Gedanken), denn sie sind beiderseitig nichts als Vorstellungen, deren unmittelbare Wahrnehmung\n1 Ebenda S. 325.","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nPaul Schultz.\n(Bewufstsein) zugleich ein gen\u00fcgender Beweis ihrer Wirklichkeit ist.\u201c 1\nDie richtige Auffassung des Substanzbegriffes ist ein Angelpunkt der KANTischen Philosophie, sie ist bestimmend f\u00fcr den Begriff der Natur und unumg\u00e4nglich \u2014 darum bin ich so ausf\u00fchrlich darauf eingegangen \u2014 f\u00fcr unser Thema. An ihm haben wir geradezu einen Mafsstab, mit dem wir die vielfachen neueren naturphilosophischen Er\u00f6rterungen auf ihren Gehalt pr\u00fcfen k\u00f6nnen. Man gehe nur auf diesen Begriff los und sehe zu, ob und wie der Verfasser dazu Stellung nimmt. Dann wird man auch beurteilen k\u00f6nnen, ob Kant, wie man wohl h\u00f6rt, wirklich schon \u00fcberwunden, oder ob seine tiefsinnigen Er\u00f6rterungen, die nachzudenken freilich M\u00fche macht, nicht noch immer eine wahrhafte Wohltat sind.\nVon dem Substanzbegriff springt auch Kants Verh\u00e4ltnis zu den fr\u00fcheren philosophischen Systemen in die Augen. Materie und Bewufstsein sind nicht zwei gesonderte und sich aus-schliefsende reale Substanzen, wie Descartes wollte; es gibt nur eine Realit\u00e4t, und die ist Vorstellung, insofern ist Kants Lehre Idealismus und Monismus. Es sind auch nicht zwei verschiedene Erscheinungsformen der einen realen Substanz, deus sive natura, wie Spinoza lehrte ; es sind nur zwei allerdings spezifisch verschiedene Vorstellungsweisen, und was ihnen zu Grunde liegt, wissen wir nicht und k\u00f6nnen es auch niemals wissen ; insofern kann man Kants Lehre Dualismus und Agnostizismus nennen. Zeit- und Raumanschauung und Substanz sind nicht zusammengesetzte, aus der sinnlichen Erfahrung erst abstrahierte Vorstellungen, wie Locke meinte, auch nicht willk\u00fcrliche Annahmen, subjektive Erdichtungen, Einf\u00e4lle unserer Vernunft, durch die Gewohnheit geregelt, wie Hume sich dachte. Sie geh\u00f6ren \u00fcberhaupt nicht zur sinnlichen Erfahrung, sie sind vielmehr erst die Bedingungen, welche Erfahrung m\u00f6glich machen; sie liegen jenseits der Erfahrung, sind metaphysisch; sie sind letzte Elemente unseres Bewufstseins, vor aller Erfahrung, a priori gegeben. Es sind aber nicht irgendwelche letzte Elemente, auch nicht letzte Elemente nur eines individuellen Bewufstseins, sondern solche, ohne welche Wissen-\u00bb Schaft nicht bestehen k\u00f6nnte, es sind die Grundlagen und\n1 Ebenda S. 314.","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n\"Voraussetzungen der Erfahrung Newtons, es sind letzte Eie* mente des wissenschaftlichen Bewusstseins. Diejenige Untersuchung, welche diese Wertbestimmung des a priori vornimmt, nennt Kant die transzendentale; indem darin die Erkenntnis a priori als eine f\u00fcr die M\u00f6glichkeit der Erfahrung notwendige Erkenntnis nachgewiesen wird, wird das metaphysische a priori zum transzendentalen vertieft1 2 und damit zugleich gegen den Einwurf des willk\u00fcrlichen Subjektivismus oder Solipsismus gesichert. Insofern ist Kants Lehre transzendentaler Idealismus oder, da er auf einer Kritik der Erkenntnisquellen beruht, kritischer Idealismus. Aber Zeit-und Kaumanschauung und Substanz (wie die \u00fcbrigen Kategorien) machen den Gegenstand noch nicht, sie sind nur Formen des Anschauens und Denkens, die erst Bedeutung gewinnen, die sieh erst bet\u00e4tigen in der sinnlichen Erfahrung. Die Erkenntnis durch Sinne und Erfahrung ist nicht, wie \u201ealle echten Idealisten von der eleatischen Schule bis zum Bischof Bebkeley\u201c 2 behaupten, ein tr\u00fcgerischer Schein, nicht irref\u00fchrend und verwirrend, sondern die Sinnlichkeit ist eine echte Quelle des Er-kennens, und nur in der Erfahrung ist Wahrheit. \u201eMein Platz ist das fruchtbare Bathos der Erfahrung\u201c sagt Kant ausdr\u00fcck-\n1\tDiese Bestimmung des a priori ist entscheidend f\u00fcr Kants Idealismus. Ich f\u00fcge deswegen noch eine bezeichnende Stelle aus der Krit. d. r. Vern. an (S. 80). \u201eUnd hier mache ich eine Anmerkung, die ihren Einfiufs auf alle nachfolgenden Betrachtungen erstreckt, und die man wohl vor Augen haben mufs, n\u00e4mlich: dafs nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, dafs und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder m\u00f6glich sein, transzendental (d. i. die M\u00f6glichkeit der Erkenntnis oder der \u25a0Gebrauch derselben a priori) heifsen m\u00fcsse. Daher ist weder Raum, noch irgend eine geometrische Bestimmung desselben a priori eine transzendentale Vorstellung, sondern nur die Erkenntnis, dafs diese Vorstellungen gar nicht empirischen Ursprungs sein, und die M\u00f6glichkeit, wie sie sich gleichwohl a priori auf Gegenst\u00e4nde der Erfahrung beziehen k\u00f6nne, kann transzendental heifsen.\u201c\nDagegen ist \u201etranszendent\u201c, was \u201edie Grenzen m\u00f6glicher Erfahrung \u00fcberfliegt\u201c; der Gegensatz dazu ist \u201eimmanent\u201c; das ist, was sich ganz und gar innerhalb der Schranken m\u00f6glicher Erfahrung h\u00e4lt. Vergl. Krit. -d. rein. Vern. S. 262.\nIch erw\u00e4hne das ausdr\u00fccklich, weil diese KANTischen Begriffe von den Naturforschern bisweilen ganz falsch angewandt werden.\n2\tKants Prolegomena, herausgegeben v. Kikchmann. Berlin 1869. S. 141.","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nPaul Schultz.\nlieh.1 Insofern ist seine Lehre empirischer Realismus,, der sehr wohl vereinbar, ja eins ist mit dem transzendentalen Idealismus. Denn die Bedingungen der M\u00f6glichkeit der Erfahrung, welche dieser festsetzt, sind zugleich die Bedingungen der M\u00f6glichkeit der Gegenst\u00e4nde der Erfahrung ; und die Gegenst\u00e4nde der Erfahrung umfafst jener.2\nWir hatten oben die Natur zur Vorstellung vergeistigt. Die Vorstellungen aber sind, wie wir zugleich eingesehen hatten, von zweierlei Art. Die einen sind nur in der Zeit geordnet, sind nur als unsere Empfindungen und Gedanken gegeben; die anderen-sind zugleich r\u00e4umlich geordnet, und stellen die umgebende K\u00f6rperwelt dar, wozu auch unser eigener Leib geh\u00f6rt. Also auch vom transzendentalen Standpunkt aus zergliedern wir die Natur in eine denkende und in eine ausgedehnte ; und wir unterscheiden danach eine zweifache Naturlehre, die K\u00f6rperlehre und die Seelenlehre. Nun fragen wir, wie kann eine Naturlehre Wissenschaft werden?\nDas kann sie werden, wenn sie den Charakter der NEWTONschen Wissenschaft annimmt. Denn diese und sogar sie allein ist als solche allgemein anerkannt, sie war ja die gesicherte Tatsache, von der die Untersuchung ausging. Worin besteht also, fragen wir weiter, dieser Charakter, was zeichnet die NEWTONsche vor anderen Wissenschaften aus und macht sie zur Wissenschaft xaP e\u00a3o%rjv? Es ist ihr Geltungswert und ihr Gewifsheitsgrund; und der beruht wieder ganz und gar auf dem Geltungswert und Gewifsheitsgrund ihrer letzten Prinzipien. Diese sind in der NEWTONschen Wissen-schaft von zweierlei Art, sie lassen sich in einen mathematischen und einen philosophischen, einen spekulativen Anteil sondern.\nSo richtet sich die Untersuchung zun\u00e4chst auf die Mathematik. Ihre unmittelbare Evidenz steht allgemein fest. Jeder ist von ihrer Wahrheit \u00fcberzeugt, der sich ihre Begriffe nur einmal klar gemacht hat. Die einzigartige Gewifsheit, die sie\n1\tEbenda S. 140 Anm.\n2\tKrit. d. rein. Yern. S. 313: \u201eDer transzendentale Idealist kann hingegen empirischer Kealist, mithin, wie man ihn nennt, ein Dualist sein,, d. i. die Existenz der Materie einr\u00e4umen, ohne aus dem blofsen Selbst-oewufstsein hinauszugehen, und etwas mehr, als die Gewifsheit der Vorstellungen in mir, mithin das cogito, ergo sum anzunehmen.\u201c","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n217\ngibt, veranlagte die grofsen Philosophen von jeher sich eingehend mit ihr zu besch\u00e4ftigen und ihr auszeichnende Anerkennung und Wertsch\u00e4tzung vor dem \u00fcbrigen menschlichen Wissen zuzugestehen. Plato, der Sch\u00fcler der mathematikkundigen Priester \u00c4gyptens, verbot dem ayecofieTQrjTog den Eintritt in seine Akademie. Die mathematischen S\u00e4tze geh\u00f6ren bei Descartes zu den angeborenen Ideen, welche allein uns Gewifs-heit der Erkenntnis verb\u00fcrgen; Leibniz nennt sie in gleicher Hinsicht v\u00e9rit\u00e9s de raison im Gegensatz zu den zuf\u00e4lligen v\u00e9rit\u00e9s de fait. Beide Philosophen haben sich aufserdem in der Mathematik sch\u00f6pferisch t\u00e4tig erwiesen; der eine hat die analytische Geometrie, der andere die Infinitesimalmethode entdeckt. Ge\u00fcbte Mathematiker waren Hobbes, Spinoza, Kant. Auf der anderen Seite ist bemerkenswert und bezeichnend, dafs Berkeley, der den LocivEschen Sensualismus zum Idealismus (Kant nennt ihn den mystischen oder schw\u00e4rmenden) fortbildete, die Infinitesimalrechnung Newtons bek\u00e4mpft, dafs Goethe zwar die Mathematik anstaunt, aber sie doch mit offenbarer Geringsch\u00e4tzung behandelt ; Hegel und Schelling reden mit Hohn und Verachtung von ihr, und Schopenhauer verspottet \u201edie allererhabenste Astronomie\u201c, \u201edenn wo das .Rechnen anf\u00e4ngt, h\u00f6rt das Verstehen auf\u201c. Obwohl nun die ganze Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts von jener auszeichnenden Bedeutung der Mathematik \u00fcberzeugt war, so hatte man sich doch noch nicht ernstlich die Frage vorgelegt, worin sie eigentlich begr\u00fcndet sei. Erst Kant vertieft die nie angezweifelte, aber bisher doch nur erfahrungs-m\u00e4fsige Sicherheit dieser \u00dcberzeugung zu einer gesetzm\u00e4\u00dfigen, indem er nachweist, dafs die mathematischen Axiome auf gewissen Einrichtungen unserer Vernunft beruhen, auf den Anschauungsformen a priori von Raum und Zeit, und dafs sie eben deswegen Gesetze von apodiktischer G\u00fcltigkeit sind, dafs ihnen eben deswegen Notwendigkeit und Allgemeinheit zukommt, eine Auszeichnung, die blofs aus der Erfahrung hergeleitete Gesetze niemals besitzen.\nUm klar zu machen, wie ein a priori Gegebenes apodiktisches Gesetz sein, wie die Form, eben weil sie nur Form ist, Notwendigkeit und Allgemeinheit beanspruchen kann, diene folgendes Gleichnis. Wenn Lichtstrahlen aus einer bestimmten Entfernung durch eine Linse treten, so erscheinen sie jenseits derselben als Lichtb\u00fcndel, dessen Form ein f\u00fcr allemal bestimmt","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nPaid Schultz.\nist durch die Beschaffenheit des Glases und die Kr\u00fcmmung der Linsenfl\u00e4chen. Nehmen wir nun an, dafs uns nur dieses gebrochene Lichtb\u00fcndel jenseits der Linse zu Gesicht k\u00e4me, dafs wir von der Linse und von der Lichtquelle nichts w\u00fcfsten und, da uns die n\u00f6tige physikalische Einsicht fehlen soll, nie etwas wissen k\u00f6nnten. Dann w\u00fcrden wir zun\u00e4chst beobachten, dafs das Lichtb\u00fcndel von sehr verschiedener, unter Umst\u00e4nden von stets wechselnder Beschaffenheit (wenn n\u00e4mlich die Lichtquelle es w\u00e4re) sein kann: es kann grofse, es kann geringe Intensit\u00e4t besitzen, es kann, je nach der Beteiligung der Strahlenarten, ein verschiedenes Aussehen darbieten. Dar\u00fcber l\u00e4fst sich vorher nichts aussagen, das mufs in jedem einzelnen Fall gepr\u00fcft, erst in der Erfahrung bestimmt werden. Aber dazu k\u00f6nnen wir durch fortgesetzte Beobachtung kommen, vorauszusagen, dafs jedes Licht, welcher Art es auch sei, zu jeder Zeit diesen bestimmten Gang nehmen wird. Die Form des Lichtb\u00fcndels erweist sich uns als notwendig; denn Lichtstrahlen, um f\u00fcr uns als Lichtb\u00fcndel sichtbar zu werden, m\u00fcssen (bei der gegebenen Anordnung) diesen Gang nehmen. Und diese Form ist allgemein, denn sie gilt nicht blofs f\u00fcr ein Licht, sondern f\u00fcr alles Licht, das je uns zu Gesicht kommt. Das sichtbare Licht selbst, oder wie wir im Gegensatz zur Form sagen k\u00f6nnen, der materielle Inhalt des Lichtb\u00fcndels ist zuf\u00e4llig und wechselnd. Ob er, wann und von welcher Art er erscheint, das l\u00e4fst sich nicht vorausbestimmen. Aber sicher ist, dafs, wenn er erscheint, es nur in dieser Form geschehen kann. Was ich also von dem sichtbaren Lichtb\u00fcndel aussagen kann, das ist seine Form und nur seine Form, das ist grade das, was den Lichtstrahlen gleichsam erst aufgezwungen, was erst in sie hineingetragen wird. Diese Form ist ein f\u00fcr allemal gegeben, sie ist da, bevor noch Licht durchf\u00e4llt, und besteht gleichg\u00fcltig, ob Licht durchf\u00e4llt oder nicht ; sie ist also vor aller Erfahrung und unabh\u00e4ngig von aller Erfahrung gegeben. Ich kann mir die Lichtstrahlen wegdenken, die Form bleibt; aber ich kann die Form nicht wegdenken, ohne die Lichtstrahlen aufzuheben, ohne das Lichtb\u00fcndel unm\u00f6glich zu machen. Ist nun auch die Form vor und unabh\u00e4ngig von aller Erfahrung gegeben, so erscheint sie doch nicht f\u00fcr sich und vor dem Licht. Im Gegenteil, erst mufs das Licht durchfallen, damit an ihm die Gangordnung sich vollziehen, die Form erscheinen kann. Das logische Prius f\u00e4llt nicht zusammen mit dem zeitlichen","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n219\nPrius, das Urspr\u00fcngliche braucht nicht zugleich das Anf\u00e4ngliche zu sein. Analysiere ich das Lichtb\u00fcndel, so unterscheide ich darin \u2014 nicht wirklich, sondern nur logisch in der Betrachtung \u2014 als letzte Bestandteile die Form und die Lichtstrahlen. Jene ist unabh\u00e4ngig von diesen, sie ist nicht selbst Lichtstrahl, l\u00e4fst sich nicht auch in Lichtstrahlen auf l\u00f6sen, sie tritt als etwas neues zu den Lichtstrahlen hinzu. Aber nicht als ein Schema oder Fachwerk, das in dem Lichtb\u00fcndel steckt, sondern diese Form ist gleichsam eine T\u00e4tigkeitsweise des Lichtb\u00fcndels, die erst im Augenblick des Lichtdurchtrittes wirksam und offenbar wird.\nDein Lichtb\u00fcndel in unserem Gleichnis entspricht das sinnliche Bewufstsein oder die Sinnlichkeit, als ein Verm\u00f6gen der menschlichen Vernunft unterschieden von den beiden anderen, Verstand und Vernunft. Weiter d\u00fcrfen wir die Vergleichung nicht zur\u00fcck verfolgen, ohne in grobe Irrt\u00fcmer zu geraten. Omne simile claudicat, das gilt hier ganz besonders. Das sinnliche Bewufstsein, wie das Lichtb\u00fcndel, ist eine gegebene Tatsache, ist das, was ist, was existiert und was allein existiert. Nach der Ursache davon zu fragen hat keinen Sinn, da unsere Fragen, unsere Gedanken ja eben dies Bewufstsein sind. Wie an dem Lichtb\u00fcndel, so k\u00f6nnen wir am sinnlichen Bewrufstsein \u2014 nicht in der Wirklichkeit, aber in der logischen Abstraktion \u2014 zwei Bestandteile unterscheiden, den materialen, die Empfindungen, und den formalen, die Anschauungsformen, in welche die Empfindungen \u00e9intreten, wenn sie uns bewufst werden. Der Inhalt unseres Bewufstseins, eben die Empfindungen, ist nun gleichfalls ein wechselnder, \u00fcberaus mannigfaltiger, nach den erregten Sinnesqualit\u00e4ten in den verschiedenen Momenten bei demselben Individuum und bei verschiedenen Individuen in dem gleichen Moment ein verschiedener. Dar\u00fcber l\u00e4fst sich nichts voraus bestimmen, dar\u00fcber mufs die Erfahrung belehren, sie eben sind ja das Material der Erfahrung. Aber alle diese Empfindungen ordnen sich, wenn und indem sie f\u00fcr uns Vorstellung werden, in Raum und Zeit, in diese reinen Formen der Sinnlichkeit, die vor den Empfindungen und damit vor aller Erfahrung gegeben sind. Ohne diese Formen k\u00f6nnen Empfindungen f\u00fcr uns nicht Vorstellung werden, k\u00f6nnen wir nicht dazu gelangen, Wahrnehmungen zu machen; darum sind diese Formen notwendig, und, da ihnen alle Empfindungen sich einordnen m\u00fcssen, die wir je haben k\u00f6nnen, so sind sie auch allgemein. Also der","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nPaul Schultz.\nInhalt der Vorstellungen wird in der Erfahrung gegeben, er ist das Zuf\u00e4llige und Unbestimmbare, aber die Formen, nach denen wir diesen Inhalt gestalten, nach denen er sich gleichsam richten mufs, sie sind dasjenige, was sich von den Vorstellungen mit apodiktischer Gewifsheit aussagen l\u00e4fst, was notwendig und allgemein ist. Das ist \u201edie Revolution der Denkart\u201c, die Kant in der Philosophie hervorgebracht hat. \u201eBisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis m\u00fcsse sich nach den Gegenst\u00e4nden richten\u201c, heilst es in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft ; \u201eaber alle Versuche \u00fcber sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert w\u00fcrde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dafs wir annehmen, die Gegenst\u00e4nde m\u00fcssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches schon besser mit der verlangten M\u00f6glichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die \u00fcber Gegenst\u00e4nde, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit eben so, als mit dem ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der nachdem es mit der Erkl\u00e4rung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte,, ob es nicht besser gelingen m\u00f6chte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe liefs.\u201c 1\nDie Anschauungen von Raum und Zeit setzen also \u00fcber Gegenst\u00e4nde, ehe sie uns gegeben sind, etwas fest. Sie sind in uns vor aller Erfahrung und unabh\u00e4ngig von aller Erfahrung* Ich kann mir aus dem Raum alle Gegenst\u00e4nde fortdenken, der Raum bleibt immer noch \u00fcbrig. Aber ich kann den Raum nicht wegdenken, ohne zugleich die M\u00f6glichkeit Gegenst\u00e4nde zu denken aufzuheben. Sind nun auch Zeit- und Raumanschauung vor und unabh\u00e4ngig von aller Erfahrung gegeben, so bet\u00e4tigen sie sich doch erst in der Erfahrung. Sie allein machen den Gegenstand nicht, sondern erst m\u00fcssen Empfindungen da sein, damit an ihnen die zeitliche und r\u00e4umliche Ordnung sich vollziehen, und dadurch erst der Gegenstand, das Objekt entstehen kann. Die Empfindungen gehen also in einer bestimmten Wahrnehmung zeitlich diesen Anschauungsformen voraus, darum besitzen sie aber nicht, wie man von psychologischer Seite behauptet hat,\n1 Kr. d. r. Vern. Vorrede zur zweiten Aufl, S. 18.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n221\neinen h\u00f6heren Grad von Urspr\u00fcnglichkeit als diese. Empfindungen sind letzte Elemente des sinnlichen Bewufstseins, sie bilden den Anfang der Wahrnehmung; aber letzte Elemente des sinnlichen Bewufstseins sind auch Baum- und Zeitanschauung, sie lassen sich nicht auch in Empfindungen aufl\u00f6sen, sie sind eben etwas anderes neben den Empfindungen.1 Der Nachweis, dafs eine Empfindungsqualit\u00e4t nicht gen\u00fcgt, damit die Raumanschauung sich verwirkliche, ist nicht der Nachweis, dafs die Raumanschauung aus verschiedenen Empfindungen entstehe. Diese sind vielmehr, wie Herb art es einmal treffend ausgedr\u00fcckt hat, ein Zusatz zur Empfindung. Aber Herbart und nach ihm viele andere begingen wieder den Fehler, dafs sie diese Anschauungsformen a priori, wozu ja der Name \u201eFormen\u201c verleitet, sich als ein bereit liegendes Schema, als ein zuger\u00fcstetes Gedankenfach-wrerk vorstellten, in das die Sinnesempfindungen hineingeprefst w\u00fcrden. Demgegen\u00fcber mufs betont werden, dafs diese Formen eine Funktion, eine Handlung des Bewufstseins sind; das Material der Empfindungen und die Formen der Anschauung wirken in einem synthetischen Prozefs zusammen, als dessen Produkt die Anschauung, der angeschaute Gegenstand hervorgeht.\nIch habe das hier so eingehend er\u00f6rtert, um f\u00fcr zwei Punkte das richtige Verst\u00e4ndnis zu er\u00f6ffnen, die grade von naturwissenschaftlicher Seite eifrig er\u00f6rtert worden sind. Ist die Raumanschauung a priori der Raum der EuKLiuischen Geometrie, der Raum in drei Dimensionen? Diese Frage kann man ernstlich an den Transzendentalphilosophen nicht mehr richten, wenn man seine Aufgabe richtig verstanden hat. Denn diese besteht darin, wie schon hervorgehoben, solche letzten Elemente des Bewufstseins anzugeben, welche die Bedingungen abgeben f\u00fcr die M\u00f6glichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis. Den Raum, den er als a priori gegeben behauptet, ist nur die M\u00f6glichkeit dieses dreidimensionalen Raumes ; er wird nicht durch die Axiome Euklids beschrieben,\n1 F\u00fcr Mach freilich ist der Baum eine Empfindung wie Farben und T\u00f6ne (cf. die Analyse der Empfindungen. II. Aufl. S. 74 ff.). Th. Beer 1. c. schreibt S. 28: \u201eNun legt aber die Physiologie der Sinne klar, dafs R\u00e4ume und Zeiten ebenso gut Empfindungen genannt werden k\u00f6nnen als Farben und T\u00f6ne.\u201c S. 13: \u201eSp\u00e4ter st\u00fctzte aber sogar von physiologischer Seite her der geniale Johannes M\u00fcller den kritischen Idealismus durch seine klar formulierte Lehre von der spezifischen Energie der Sinnesorgane.\u201c!!","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nPaul Schultz.\nsondern er ist selbst erst das Prinzip, auf dem die Axiome beruhen. Die M\u00f6glichkeit, andere R\u00e4ume zu denken, nach Riemann einen Raum von ^-Mannigfaltigkeiten oder den Lobatschewsky-BELTRAMischen Raum, beweist gar nichts gegen die Apriorit\u00e4t der Raumanschauung, denn diese R\u00e4ume sind, wie ]/'\u00fcc, rein logische Folgerungen aus den mathematischen Axiomen Euklids ; diese erfordern aber zu ihrer M\u00f6glichkeit die Raumanschauung, die Kant in diesem Betracht einmal sehr bezeichnend als \u201edie Vorstellung einer blofsen M\u00f6glichkeit des Beisammenseins\u201c genannt hat. Das ist der Grund, warum die HELMHOLTZsche Kritik der KANTischen Lehre und die der anderen \u201eMetageome-triker\u201c oder \u201eNicht-Euklidianer\u201c ihr Ziel verfehlt. Hieraus folgt ein Zweites. Auch die Frage, ob das a priori sich mit dem Angeborenen decke, kann vom transzendentalen Standpunkt aus nicht mehr aufgeworfen werden. Das Angeborene geht auf das Individuum oder auf die Spezies als den Inbegriff der Individuen. Diese sind Gegenstand erst der Erfahrung. Die Anschauungsformen a priori machen aber Erfahrung erst m\u00f6glich, sie sind die Bedingungen aller m\u00f6glichen Erfahrung. Wenn man also behauptet, dafs Raum- und Zeitanschauungen angeboren sind, sei es den Einzelnen, sei es der Spezies, die sie im Laufe der Zeit durch Selektion im DAuwiNschen Sinne erst erworben habe\n\u2014\tauf diese Weise glaubte z. B. du Bois-Reymond den alten Streit zwischen Nativismus und Empirismus geschlichtet und das A priori in die Elemente der Deszendenzlehre aufgel\u00f6st zu haben\n\u2014\twenn man dies behauptet, so macht man damit zu einem Produkt der Erfahrung, was doch erst ihre Bedingung ist. Man verf\u00e4hrt dann wie M\u00fcnchhausen, als er beim eignen Zopf sich mitsamt dem Pferde aus dem Sumpf ziehen wollte. Nun leuchtet auch ein, wie verkehrt es ist, wenn man, was nicht selten von Biologen geschieht, die spezifischen Sinnesenergien und die Raumund Zeitanschauung im gleichen Sinne als a priori betrachtet. Die Sinnesenergien sind Organe, daher bei verschiedenen Menschen verschieden ausgebildet ; sie sind erst Gegenstand der Erfahrung und deswegen vom transzendentalen Standpunkt grade a posteriori gegeben.1\n1 Das nicht eingesehen zu haben ist der Grundirrtum in v. Cyons Abhandlung: Die physiologischen Grundlagen der Geometrie von Euklid. Pfl\u00fcgers Archiv f. d gesamte Physiologie 85, S. 576. Bonn 1901. Die Behauptung Cyons, dafs wir zur Raum Wahrnehmung und Orientierung in den drei","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n223\nDie Raum- und Zeitanschauungen a priori hat nun die Mathematik zum Gegenst\u00e4nde. Ihre Axiome sind nichts anderes als Gesetze \u00fcber r\u00e4umliche und zeitliche Ver-kn\u00fcpfungen. Was sie von einem Dreieck aussagen, betrifft nur seine r\u00e4umliche Eigenschaften, alle anderen sind gleichg\u00fcltig. Ob ich das Dreieck mit dem Finger in die Luft zeichne, ob ich es mit\nDimensionen nur mit Hilfe der Bogeng\u00e4nge kommen, k\u00f6nnte selbst ganz richtig sein (man mufs dann allerdings die den Ohren\u00e4rzten l\u00e4ngst bekannte Tatsache aufser Acht lassen, dafs es Taubstumme mit verk\u00fcmmertem oder zum Teil fehlendem Bogengangapparat gibt, die doch vollkommen richtige dreidimensionale Raumwahrnehmung haben) \u2014 diese Behauptung v. Cyons, sag\u2019 ich, k\u00f6nnte ganz richtig sein, ohne dafs damit das mindeste gegen Kants Lehre von der Apriorit\u00e4t der Baumanschauung bewiesen w\u00fcrde. Das mufs man sich klar gemacht haben, wenn man Kant verstehen will. Dafs von Cyon in die Tiefe der KANTischen Lehre nicht eingedrungen ist (woraus ihm gewifs kein Vorwurf erw\u00e4chst), daf\u00fcr zeugt, dafs er von dem Verh\u00e4ltnis des metaphysischen Apriori zum Transzendental - Apriori gar nichts weifs. (Zur Sache vgl. bes. Cohen 1. c.) Damit ist aber auch die M\u00f6glichkeit genommen, den Kern des Raumproblems zu erfassen. Unverst\u00e4ndlich ist deswegen folgender Satz vonCyons: \u201eDas Kausalgesetz ist die erste Grundlage jeder menschlichen Erkenntnis. Dasselbe zwingt uns, die Existenz eines wirklichen realen Raumes anzuerkennen, ohne welchen weder Bewegungen fester K\u00f6rper, noch irgend welche Empfindungen m\u00f6glich w\u00e4re\u201c (S. 625). Nicht recht ersichtlich ist mir ferner, warum von Cyon wiederholt darauf hin weist, dafs Kant fr\u00fcher die Realit\u00e4t und Objektivit\u00e4t des Raumes verfochten habe, in sp\u00e4teren Jahren aber zur entgegengesetzten Ansicht gekommen sei. (Vgl. S. 593, ferner in: Beitr\u00e4ge zur Physiologie des Raumsinns, III. Teil, Pfl\u00fcgers Arch. 94, S. 247). Kants philosophischer Entwicklungsgang ist, wTie Kuno Fischer dartut, ein stetes unverr\u00fccktes Fortschreiten zu immer tieferer Einsicht ohne einen Schritt zur\u00fcck, ohne einen Schritt nebenbei. Man pflegt ihn in die vorkritische und kritische Periode einzuteilen. F\u00fcr die erstere bildet die Schrift: \u201eGedanken von der wahren Sch\u00e4tzung der lebendigen Kr\u00e4fte\u201c (1746) den Anfangspunkt, den Endpunkt die Schrift: \u201eVom ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume\u201c (1768). In beiden ist der Raum noch objektiv real, aber in der ersten Produkt, in der zweiten \u2014 darin liegt schon ein Fortschritt und eine Vorbereitung f\u00fcr die sp\u00e4tere Ansicht \u2014 Voraussetzung der K\u00f6rper. Die Inauguraldissertation \u201eDe mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis\u201c (1770) stellt den Wendepunkt dar; hier ist der kritische Standpunkt erreicht. Der Raum ist die Voraussetzung der K\u00f6rper und eine Grundform unserer Anschauung, damit ideal, (cf. K. Fischer: I. Kant und seine Lehre. III. Aufl. 1882. Bd. I, S. 115 ff.) \u2014 \u00dcbrigens mangelt auch von Cyon die Einsicht, dafs, wie schon Conturat treffend gegen ihn bemerkt hat, das Raumproblem gar nicht zur Kompetenz der Naturforscher geh\u00f6rt, gar nicht ein naturwissenschaftliches, sondern ein erkenntnis-theoretisches Problem ist.","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nPaul Schultz.\ngroben Kreidestrichen an die Tafel male, oder ob ich es mit den feinsten Instrumenten auf Papier entwerfe, kommt gar nicht in Betracht. Das Wesentliche daran, das, was es lehren soll, ist das Schema, ist die besondere Funktion der r\u00e4umlichen Anschauung. Woran sie sich vollzieht, ist unwesentlich ; nur darauf kommt es an, dafs es in eben der Weise, wie der Lehrsatz aussagt, geschieht an allen m\u00f6glichen Gegenst\u00e4nden. Darum sind die Axiome allgemein. Von einem blofsen Erfahrungssatz gilt das niemals. Wenn ich behaupte, das Wasser gefriert bei 0\u00b0, oder innerhalb 24 Stunden wechselt Tag und Nacht, so gilt das erstere nur unter besonderen Umst\u00e4nden (denn der Physiker zeigt uns unterk\u00fchltes Wasser), das zweite nur f\u00fcr die Erde, schon nicht mehr f\u00fcr den Mond oder den Merkur, geschweige f\u00fcr den Sirius. Die Axiome gelten aber unter allen Umst\u00e4nden und f\u00fcr den Mond-und Siriusbewohner, wenn er existierte und eine menschliche Vernunft h\u00e4tte, ebenso wie f\u00fcr uns. Sie sind aber auch notwendig, weil, wenn ich sie aufhebe (das trifft ebenfalls f\u00fcr keinen Erfahrungssatz zu) ich damit auch unsere r\u00e4umliche und zeitliche Anschauung unm\u00f6glich mache. Ein Raum, f\u00fcr welchen der Satz, dafs zwei Parallele ins Unendliche verl\u00e4ngert, sich nicht schneiden, ung\u00fcltig ist, ist denkbar. Beltrami hat ihn gedacht. Aber anschauen kann ich ihn nicht. Und zu seiner Denkbarkeit komme ich auch nur, indem ich ausgehe von dem EuKLiDischen Raum, von dem mein Intellekt, wenn er irgendwie r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse anschauen will, nun einmal nicht lassen kann. Von dem Satz 2x2 = 4 ist auch eine Ausnahme nicht einmal denkbar. Wer ihn bestreiten wollte, bestreitet damit die M\u00f6glichkeit, noch irgend eine g\u00fcltige wissenschaftliche Aussage zu machen. Ihn aufheben heifst, unsere Vernunft auf heben.\nDie Axiome der Mathematik sind aber nicht blofs auf gedachte Gebilde beschr\u00e4nkt, nicht blofs f\u00fcr subjektive Phantasien g\u00fcltig, sondern sie haben auch objektive Bedeutung. Wir haben oben gesehen, dafs wir zum Objekt, zur Materie durch die Raumvorstellung gelangen. Derselbe Denkprozefs, welcher uns das Objekt, den Naturgegenstand verschafft, ist auch wirksam bei der Erzeugung der mathematischen Gebilde. Die Anschauung, welche uns die Mathematik beschreibt, ist zugleich diejenige, in welcher uns die Natur gegeben ist. In ihr erfahren wir die Natur, in ihr allein machen wir Erfahrung; darum haben die Axiome zugleich objektive G\u00fcltigkeit, sind","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n225\nzugleich Naturgesetze. Sie sind nach einem Gleichnis Galileis die Buchstaben, mit denen \u201edas Buch der Natur\u201c geschrieben ist. Hieraus folgt unmittelbar, und das verdient hervorgehoben zu werden, dafs diese objektive G\u00fcltigkeit sich nur soweit erstreckt, als sich die mathematischen S\u00e4tze innerhalb jener Anschauung halten. \u00dcberschreiten sie diese, so lehren sie uns nicht mehr Erkenntnis von Gegenst\u00e4nden. %~z kann, ebenso wie ein Raum von \u00ab-Dimensionen, logisch durchaus korrekt gedacht sein, aber beide haben keine G\u00fcltigkeit f\u00fcr die Erfahrung, sagen nichts \u00fcber Naturgegenst\u00e4nde aus.\nNun also wissen wir, dafs und warum die S\u00e4tze der Mathematik apodiktische Gewifsheit besitzen, welche blofsen Erfahrungs\u00e4tzen niemals zukommt. Wir werden daher unsere obige Frage, wie eine Lehre Wissenschaft werden kann, statt zu sagen, dafs sie der Wissenschaft Newtons nachahmen m\u00fcsse, pr\u00e4ziser dahin beantworten, dafs sie ihre Erkenntnisse auf mathematische S\u00e4tze zur\u00fcckf\u00fchren m\u00fcsse. Jetzt verstehen wir auch, wie Recht Kant hat, wenn er in den metaphysischen Anfangsgr\u00fcnden der Naturwissenschaft sagt, dafs \u201ein jeder Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft enthalten ist, als Mathematik in ihr angewandt werden kann\u201c.1 Falls in einer Naturlehre rein zeitliche und rein r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse nicht bestimmt werden k\u00f6nnen, so kann sie nicht den Anspruch -erheben, Wissenschaft zu sein. In dieser Lage befindet sich nach Kant die Psychologie. Ihre Objekte erscheinen allein in der Zeit, die nur eine Ausdehnung hat. Die Erweiterung der Erkenntnis, die uns die Psychologie zu verschaffen vermag, verh\u00e4lt sich demnach zu derjenigen, welche die Mathematik der K\u00f6rperlehre gibt, \u201eungef\u00e4hr so, wie die Lehre von den Eigenschaften der geraden Linie zur ganzen Geometrie\u201c. Damit mufs die Seelenlehre \u201evon dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt bleiben\u201c.2 Eine solche kann nur die K\u00f6rperlehre sein.\nUm aber Mathematik auf die K\u00f6rperlehre anwenden zu k\u00f6nnen, m\u00fcssen wir f\u00fcr den erkenntnistheoretisch gewonnenen Substanzbegriff gewisse Grunderfahrungen aufnehmen.\n1\tKant : Metaphysische Anfangsgr\u00fcnde der Naturwissenschaft. Neu herausgegeben von A. H\u00f6eler in: Ver\u00f6ffentl. d. Philosoph. Ges. a. d. TJniversit. Wien. Ilia, S. 6. Leipzig 1900.\n2\tEbenda S. 7.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 32.\n15","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nPaul Schultz.\nDie Natur, wie sie sich den \u00e4ufseren Sinnen darstellt, ist in best\u00e4ndiger Ver\u00e4nderung begriffen, und diese Ver\u00e4nderung ist Bewegung. Die Substanz als Gegenstand unserer Sinne, die Substanz, die ich sehe, h\u00f6re, f\u00fchle, ist bewegte Materie. So wird denn die Bewegung zur Grundbestimmung der Materie, auf sie werden alle ihre anderen Pr\u00e4dikate letztlich zur\u00fcckgef\u00fchrt. Der Gegenstand der Naturwissenschaft ist demnach die Materie als das Bewegliche im Raum. Aber noch eine Grundbestimmung m\u00fcssen wir treffen. Das Bewegliche, wie es uns in der Erfahrung, gegeben ist, erscheint als K\u00f6rper. Die K\u00f6rper erf\u00fcllen den Raum. Damit die Materie den Raum erf\u00fclle, m\u00fcssen wir sie mit Grundkr\u00e4ften ausstatten, sie mufs Anziehungs- und Ab-stofsungskraft haben; und so stofsen wir hier auf den Begriff der Kraft.\nVon allen popul\u00e4ren Vorstellungen gereinigt sagt der Kraftbegriff aus, dafs eine bestimmte Ver\u00e4nderung einer Substanz notwendig verbunden ist mit einer bestimmten Ver\u00e4nderung einer anderen Substanz. Kraft ist nicht ein \u00fcbersinnliches Wesen, ein mystisches Ungeheuer, das hinter den Erscheinungen lauert, um wie ein Proteus bald in dieser, in jener Form sich darstellend, pl\u00f6tzlich hervorzubrechen, sie ist vielmehr an und in den Erscheinungen selbst, sie stellt sie dar als die notwendige Verkn\u00fcpfung zweier Zeit Verh\u00e4ltnisse. Auch das Gesetz dr\u00fcckt die Kausalit\u00e4t einer Bewegungs\u00e4nderung aus. W\u00e4hrend aber das Gesetz die gegenseitige notwendige Beziehung als solche beschreibt, lege ich in der Kraft der Substanz eine\nEigenschaft bei, welche als Ursache dieser Beziehung gedacht\n\u2022 \u2022\nwird. Wenn ich sage, das Licht wird bei dem \u00dcbertritt von Luft in Glas dem Einfallslote zugebrochen, so ist das ein Gesetz, das Brechungsgesetz; sag ich, das Glas hat die Eigenschaft, das aus der Luft kommende Licht nach dem Einfallslote zu abzulenken, so schreibe ich dem Glas eine Kraft zu, die Brechkraft. Mit Recht nennt darum Helmholtz einmal die Kraft das objektivierte Gesetz der Wirkung. Da ich mir also die Kr\u00e4fte als Ursachen des Geschehens denke, so sind sie nicht, sowenig wie das Gesetz, sinnlich wahrnehmbar, aber sie sind mefsbar, indem eben das durch sie bewirkte Geschehen als Ver\u00e4nderung im Raume gemessen wird. K\u00f6nnen diese Kr\u00e4fte aber Fernkr\u00e4fte sein? Ist es nicht uns unm\u00f6glich zu denken, dafs eine Materie unmittelbar da wirken soll, wo sie nicht ist? Dies ist so wenig","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n227\nunm\u00f6glich, dafs wir uns eine andere Wirkungsart \u00fcberhaupt nicht vorstellen k\u00f6nnen. \u201eEin jedes Ding wirkt im Raume auf ein anderes nur an einem Orte, wo das Wirkende nicht ist.\u201c 1 Das folgt aus dem Gesetz der Tr\u00e4gheit.\nUnd damit gehen wir auf den zweiten Teil der letzten\nPrinzipien der NEWTOxschen Wissenschaft ein, auf\nden philosophischen. Dieser enth\u00e4lt letzte S\u00e4tze, wie das\neben genannte Gesetz der Tr\u00e4gheit, ferner das Gesetz der Erhaltung\nder Substanz, das Gesetz der Wechselwirkung, das Gesetz der\nStetigkeit, die im Fortschritt der Wissenschaft allm\u00e4hlich auf-\n\u2022 \u2022\ngestellt und pr\u00e4zisiert wurden. Uber ihre Zahl, ihre Bedeutung und \u00fcber ihren Geltungsbereich herrschte Ungewifsheit. Aus der Erfahrung allein konnten sie ihrer apodiktischen Form wegen nicht stammen, blofs logische S\u00e4tze konnten sie ihres physikalischen Inhaltes wegen auch nicht sein. Man pflegte sie als physikalische Axiome, ohne weitere Begr\u00fcndung voranzuschicken. Hier hat erst Kant in seinen \u201eMetaphysischen Anfangsgr\u00fcnden der Naturwissenschaft\u201c Klarheit gebracht. Er zeigte, dafs jene Gesetze erkenntnistheoretischen Ursprungs sind. Wie die mathematischen Axiome auf den Anschauungsformen a priori, den Urformen unserer Sinnlichkeit, so beruhen sie auf den Denkformen a priori, den Kategorien, den Urformen unseres Verstandes, und darum besitzen sie ebenfalls Notwendigkeit und Allgemeinheit.\nVon hier aus \u00fcberschauen wir nun, inwiefern sich unsere Einsicht gegen\u00fcber den Ausf\u00fchrungen du Bois-Reymonds in seiner Ignorabimusrede vertieft hat. Auch f\u00fcr ihn erstreckt sich zwar das Naturerkennen nur auf die K\u00f6rperwelt; aber warum dies der Fall ist, warum die Seelenlehre davon ausgeschlossen ist, daf\u00fcr wird eine Begr\u00fcndung nicht beigebracht. Das Naturerkennen besteht nach ihm ebenfalls in einer mathematischen Mechanik der Atome, in einer astronomischen Kenntnis der materiellen Bewegung. Als Grund hierf\u00fcr wird aber nur \u201edie psychologische Erfahrungstatsache\u201c angegeben, \u201edafs, wo solche Aufl\u00f6sung gelingt, unser Kausalit\u00e4tsbed\u00fcrfnis vorl\u00e4ufig sich befriedigt f\u00fchlt\u201c. Vorl\u00e4ufig, denn bei tieferem Eindringen stofsen wir auf das fernwirkende Atom, das mit unl\u00f6sbaren Widerspr\u00fcchen behaftet, auf die Begriffe von Kraft und Stoff, die f\u00fcr\n1 Ebenda S. 51.","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nPaul Schultz.\nuns ein transzendentes Problem sind. \u201eMan mag den Begriff der Materie und ihrer Kr\u00e4fte wenden, wie man will, immer st\u00f6fst man auf ein letztes Unbegreifliches, wo nicht schlechthin Widersinniges, wie bei der Annahme von Kr\u00e4ften, die durch den leeren Kaum wirken\u201c. F\u00fcr uns, f\u00fcr den transzendentalen Standpunkt, hingegen war der Ausgangspunkt der Betrachtung die NEw^roNsche Wissenschaft. Das allseitig anerkannte Faktum dieser Wissenschaft \u2014 keine andere gibt es in gleichem Sinne \u2014 sollte nicht blofs als solches geglaubt, sondern sollte ge set z-m\u00e4fsig begr\u00fcndet werden. Sie beruht auf letzten S\u00e4tzen, die ihre G\u00fcltigkeit von einer ganz anderen Seite her beziehen, von der Erkenntnistheorie. Der Transzendentalphilosoph geht also auf die metaphysischen Grundlagen der Naturwissenschaft zur\u00fcck, indem er eine Kritik der Erkenntnisquellen vornimmt. Das Ergebnis ist, dafs er die Voraussetzungen derWissen-schaften als Urformen, als eigent\u00fcmliche Funktionen des erkennenden Bewufstseins nachweist, und dafs sie eben darum, sie allein, apodiktische Gewifs-heit besitzen. Solche Urformen des wissenschaftlichen Bewufstseins sind die Anschauungen von Raum und Zeit; auf ihnen beruht die Mathematik, daher ihre Apodiktizit\u00e4t. Als solche Urform hatte sich ferner der- Begriff der Substanz enth\u00fcllt. Das notwendige Gegenst\u00fcck zum Ich ist die Materie. Auch sie ist nur eine Vorstellung, aber eine notwendige Vorstellung. Von hier aus lautet nun das Problem nicht, wie die Materie zum Denken komme, sondern \u2014 und dies Problem ist transzendent \u2014 wie das Denken zur Materie und damit zur r\u00e4umlichen Anschauung komme. Denn zur Materie gelangen wir nur durch die Raumanschauung. Das ist dieselbe Raumanschauung, welche sich in der Mathematik bet\u00e4tigt. Darum sind die S\u00e4tze der Mathematik zugleich Gesetze f\u00fcr die Materie, sind zugleich Naturgesetze. Die Substanz, um f\u00fcr die Naturwissenschaft ein g\u00fcltiger, ein grundlegender Begriff zu sein, hatten wir bestimmt als bewegte Materie im Raum, wir hatten sie weiter mit Kr\u00e4ften als mit Grundeigenschaften ausgestellt, und diese Kr\u00e4fte, so hatte uns das Tr\u00e4gheitsgesetz belehrt, m\u00fcssen fernwirkende sein. Nicht also unbegreiflich, noch weniger widersinnig, sondern im Gegenteil notwendig erscheinen uns die Daten, die wir als Eigent\u00fcmlichkeiten unseres Selbst wiederfinden, die wir erkennen als die uns inh\u00e4rierenden Bedingungen, ohne","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n229\nwelche wir Erfahrung nicht machen, wir Wissenschaft nicht treiben k\u00f6nnen. Nun ist uns auch verst\u00e4ndlich, was der Vernunftkritiker sagen wollte mit seinem so oft mifsdeuteten Wort, dafs \u201eder menschliche Verstand die Gesetze nicht aus der Natur sch\u00f6pfe, sondern sie ihr allererst vorschreibe\u201c. Oder wie Schiller, der dichterische Interpret Kants, es ausgedr\u00fcckt hat:\nWeil Du liesest in ihr, was Du selber in sie geschrieben, Weil Du in Gruppen f\u00fcrs Auge ihre Erscheinungen reihst,\nDeine Schn\u00fcre gezogen auf ihrem unendlichen Felde,\nW\u00e4hnst Du, es fasse Dein Geist ahnend die grofse Natur.\nDas also ist der gesicherte Boden, auf dem Newtons Wissenschaft sich auf baut, und auf dem auch wir allein Naturwissenschaft treiben und zur Naturerkenntnis gelangen k\u00f6nnen. Eine Bewegungslehre der Natur, eine mathematisch-mechanische Theorie alles Geschehens zu geben, wie es die Astronomie f\u00fcr die kosmischen Bewegungen tut, das ist die Aufgabe, die wir uns stellen. Und wenn wir dies Ziel auch \u2014 gestehen wir das gleich zu \u2014 nie v\u00f6llig erreichen werden, so n\u00e4hern wir uns ihm doch im unendlichen Progrefs.\nSo haben wir f\u00fcr die K\u00f6rperwelt Wesen und Aufgabe der Wissenschaft bestimmt. F\u00fcr die seelischen Erscheinungen ist das nicht m\u00f6glich, sie bleiben vom Range einer Wissenschaft ausgeschlossen. Aber damit ist ihr Dasein nicht geleugnet. Neben der k\u00f6rperlichen Natur sollen wir eine denkende anerkennen. Es fragt sich nun \u2014 und damit kommen wir zu unserem eigentlichen Thema \u2014 in welchem Verh\u00e4ltnis die beiden zueinander stehen.\nDas Geistige erscheint uns n\u00e4chst unserem Ich an anderen Menschen und an h\u00f6heren Tieren. Es tritt uns in den Handlungen entgegen, die wir als Wirkungen des Willens, als Bewegungen aus inneren Ursachen auftassen. Ja, begehren und danach sich bewegen scheint allen Tieren eigent\u00fcmlich, scheint sogar das Charakteristikum aller belebten Materie zu sein. \u201eLeben\u201c, sagt Kant, \u201eheilst das Verm\u00f6gen einer Substanz, sich aus einem inneren Prinzip zum Handeln, einer endlichen Substanz sich zur Ver\u00e4nderung und einer materiellen Substanz sich zur Bewegung oder Ruhe, als Ver\u00e4nderung ihres Zustandes zu bestimmen. Nun kennen wir kein anderes inneres Prinzip einer Substanz, ihren Zustand zu ver\u00e4ndern, als das Begehren, und \u00fcberhaupt keine andere innere T\u00e4tigkeit, als Denken, mit","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nPaul Schultz.\ndem was davon abh\u00e4ngt, Gef\u00fchl der Lust oder Unlust und -Begierde oder Willen.\u201c1 Wir hatten oben gesehen, dafs wir zur Substanz nur durch die Raumanschauung gelangen. Die Substanz als Gegenstand der Naturwissenschaft hatten wir als bewegliche Materie im Raum bestimmt. Nur soweit wir r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse an ihr bestimmen, soweit wir Mathematik anwenden k\u00f6nnen, ist sie ein f\u00fcr die Wissenschaft g\u00fcltiger Begriff. \u201eDie inneren Bestimmungsgr\u00fcnde aber und Handlungen\u201c erscheinen nicht im Raum, \u201esomit geh\u00f6ren sie auch nicht zu den Bestimmungen der Materie als Materie\u201c 2, d. h. als Gegenstand der erkl\u00e4renden naturwissenschaftlichen Betrachtungen. Daraus folgt, dafs alle Ver\u00e4nderung eine \u00e4ufsere Ursache hat. Das ist aber positiv gefafst das Gesetz der Tr\u00e4gheit. Dieses richtig aufgestellt und von allen Unklarheiten gereinigtzuhaben, ist wiederum erst Kants Verdienst. Alle Materie ist also nach dem Tr\u00e4gheitsgesetz f\u00fcr die Naturforschung leblos. Hieran f\u00fcgt Kant die Bemerkung \u2014 und das zeigt wieder die ganze Behutsamkeit und Reinlichkeit seines Verfahrens \u2014 dafs, wenn wir doch die Ursache einer Ver\u00e4nderung im Leben suchen, wir es \u201ein einer von der Materie verschiedenen, obzwar mit ihr verbundenen Substanz tun m\u00fcssen\u201c. Wir nennen sie S e e 1 e oder Be wuf st sein. Eine solche gen\u00fcgt aber nicht den Anforderungen, welche die Naturerkl\u00e4rung an sie als an ihren Gegenstand richtet. Denn die Gr\u00f6fse, die ihr zukommt, ist die intensive. Die seelischen Erregungen k\u00f6nnen st\u00e4rker oder schw\u00e4cher, die Vorstellungen k\u00f6nnen deutlicher oder undeutlicher sein, sie k\u00f6nnen alle m\u00f6glichen Grade der Intensit\u00e4t durchlaufen, sie k\u00f6nnen auch bis Null verschwinden, dann ist nichts mehr da, woran sie erscheinen, denn sie eben selbst sind ja ihre Tr\u00e4ger. Die Substanz hingegen als extensive Gr\u00f6fse, die Materie, erscheint im Raum. Sie ist, wie dieser, ins Unendliche teilbar, aber alle Zerteilung bringt sie nicht zum Verschwinden. Die Substanz beharrt, und der Raum ist ihr notwendiges Kriterium. Darauf beruht ja die M\u00f6glichkeit, sie zu vergleichen, zu messen, Gesetze aufzustellen. Der Begriff einer Seelensubstanz ist demnach ein ung\u00fcltiger Begriff. Die Substanz kann nur eine k\u00f6rperliche sein. \u201eAuf dem Gesetz der Tr\u00e4gheit (neben dem der Beharrlichkeit der Substanz)\u201c, sagt\n1 Metaph. Anf. d. Naturw. S. 83. 3 Ebenda.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n231\ndaher Kant, \u201eberuht die M\u00f6glichkeit einer eigentlichen Naturwissenschaft ganz und gar. Das Gegenteil des ersteren und daher auch der Tod aller Naturphilosophie w\u00e4re der Hylozoismus.\u201c 3 Damit ist der zwingende Nachweis gef\u00fchrt, dafs wir geistige Momente als Bewegungsursachen nicht annehmen d\u00fcrfen.\nDie Tiere, die Gattung homo eingeschlossen, und \u00fcberhaupt die Organismen sind demnach nicht ein Reich besonderer Wesen, weil mit besonderen Kr\u00e4ften begabt. Es gibt keine anderen Kr\u00e4fte als physikalische und chemische. Auch eine Lebenskraft sui generis existiert nicht. Hervorgegangen aus der anima vegetativa in der bekannten aristotelisch-scholastischen Dreiteilung stellt sie nur, wie sehr man es auch zu leugnen versucht, eine abgeblafste Erinnerung an jene alte Lehre dar, ist gleichsam noch ein Bodensatz der Vorstellung, von der die Organisation bedingenden und beherrschenden Seele. Dabei bewegen sich die heutigen Vitalisten, die \u201eNeo-Vitalisten\u201c, nat\u00fcrlich nicht mehr in den Anschauungen Joh. M\u00fcllebs; seine Irrt\u00fcmer sind jetzt zu handgreiflich geworden. Der neueren naturwissenschaftlichen Denkweise k\u00f6nnen sie sich nicht entziehen. Was sie aufserhalb des Bereiches exakter Forschung stellt, ist auch nicht die Behauptung, dafs wir mit unseren gegenw\u00e4rtigen Kenntnissen noch nicht im st\u00e4nde sind, die Lebenserscheinungen, auch nur zu einem Teil, vollst\u00e4ndig befriedigend zu erkl\u00e4ren. Das gibt jeder Einsichtige gern zu. Auch nicht, dafs wir vielleicht noch manche bisher verborgene Stoffe und Kr\u00e4fte auffinden werden. Die Entdeckung der R\u00f6ntgenstrahlen und der neuen Gase in der so oft und sorgf\u00e4ltig durchforschten atmosph\u00e4rischen Luft warnen eindringlich vor jedem Dogmatismus in dieser Beziehung. Das ist es vielmehr, dafs sie nicht anerkennen, dafs die Vorg\u00e4nge des Lebens prinzipiell nicht anders zu erkl\u00e4ren sind als die der unbelebten Natur, dafs sie allein der mechanischen Kausalit\u00e4t unterliegen, mit anderen Worten, dafs Leben gar kein physiologischer Begriff ist, sondern ein psychologischer.\nDabei wird gew\u00f6hnlich noch eines \u00fcbersehen. Man hat auch von neovitalistischer Seite dem Ignorabimus vorgeworfen, dafs es der empirischen Forschung Grenzen zu ziehen\n1 Ebenda.","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nPaul Schultz.\nsich erk\u00fchne, w\u00e4hrend es doch in Wirklichkeit dieselbe ins Ungemessene erweitert. Vielmehr sind es eben die Neo-Vitalisten, welche jeden weiteren Fortschritt zn hemmen drohen, indem sie die ignava ratio \u201eauf dem bequemen Polster dunkler Qualit\u00e4ten zur Ruhe bringen\u201c. Denn was hat es weiter noch f\u00fcr einen Sinn, Untersuchungen anzustellen, wenn man jeden Augenblick gew\u00e4rtig sein mufs, auf eine den Forschungsmitteln f\u00fcr die Analyse unzug\u00e4ngliche und das Erkenntnisverm\u00f6gen \u00fcberschreitende Kraft zu stofsen und in das wissenschaftliche Handeln eingreifen zu sehen. Dem gegen\u00fcber mufs daran festgehalten werden, dafs das, was wir oben als Grundlage und Aufgabe der Naturwissenschaft hingestellt haben, f\u00fcr alle k\u00f6rperliche Natur gilt, auch f\u00fcr die belebte. Das Organische ist nicht wesensverschieden von dem Unorganischen. Physiologie als Wissenschaft ist organische Physik. Vorstellungen oder Gef\u00fchle als Bewegungsursachen sind davon ausgeschlossen.\nSo wenig nun Vorstellung Ursache sein kann, so wenig kann sie auch Wirkung sein, d. h. so wenig kann materielle Bewegung Empfindung hervorbringen. Die eben angestellten Erw\u00e4gungen machen das in gleicher Weise unm\u00f6glich. Damit f\u00e4llt zugleich die etwa noch denkbare dritte M\u00f6glichkeit dahin, beide in ein Kausalverh\u00e4ltnis zu setzen, dafs n\u00e4mlich Bewegung sich in Vorstellung umsetzt. Bewegung kann ihre Form \u00e4ndern: Massenbewegung verschwindet scheinbar und geht in W\u00e4rme, d. h. in Molekurbewegung \u00fcber. Bewegung des \u00c4thers, die uns als Elektrizit\u00e4t erscheint, verwandelt sich in Bewegung des \u00c4thers, die als W\u00e4rme oder Licht auftritt. Bewegungsenergie kann auch ihren Zustand \u00e4ndern. Energie der Bewegung, sei es der Massen, der Molek\u00fcle oder des \u00c4thers, geht in Energie der Lage \u00fcber. Dann kann sie jederzeit in \u00e4quivalente Bewegung zur\u00fcckgef\u00fchrt werden. Ein anderer Sinn kann mit dem Worte umsetzen nicht verbunden werden. Wollte man aber sagen, und es ist von Biologen und Psychologen behauptet worden, dafs Vorstellung eben eine eigenartige und einzigartige Energie neben den bekannten physikalischen sei, so mufs sie, wenn anders diese Bezeichnung nicht blofs nebul\u00f6se Unklarheit verdecken, sondern eine naturwissenschaftliche, eine physikalische Bedeutung haben soll, entweder selbst Bewegung sein oder sich jederzeit nach bestimmtem mefsbaren Verh\u00e4ltnis in Bewegung \u00fcberf\u00fchren","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n233\nlassen, was, weil sie nicht im Raum erscheint, unm\u00f6glich ist. Das Gesetz der Erhaltung der Energie gilt ausnahmslos f\u00fcr alles physikalische Geschehen.\nDas alles hatte klar und scharfsinnig auch schon du Bois-Reymond erkannt und mit Nachdruck hervorgehoben. \u201eBewegung kann nur Bewegung erzeugen oder in potentielle Energie zur\u00fcck sich verwandeln. Potentielle Energie kann nur Bewegung erzeugen, statisches Gleichgewicht erhalten, Druck oder Zug aus\u00fcben. Die Summe der Energie bleibt dabei stets dieselbe. Mehr als dies Gesetz bestimmt, kann in der K\u00f6rperwelt nicht geschehen, auch nicht weniger. Die mechanische Ursache geht rein auf in der mechanischen Wirkung. Die neben den materiellen Vorg\u00e4ngen im Gehirn einhergehenden geistigen Vorg\u00e4nge entbehren also f\u00fcr unseren Verstand des zureichenden Grundes. Sie stehen aufserhalb des Kausalgesetzes und schon darum sind sie nicht zu verstehen, so wenig wie ein Mobile per-petuum es w\u00e4re.\u201c1 Aber auch hier fassen wir wieder das Problem tiefer auf. Nicht an und f\u00fcr sich besteht die Unm\u00f6glichkeit , dafs in der Natur Bewegung und Empfindung als Ursache und Wirkung auftreten, und dafs wir uns beide durch das Kausalgesetz verbunden denken. Aber f\u00fcr die Naturwissenschaft besteht die Unm\u00f6glichkeit, weil das eine Element kein tcogov, nur ein jioiov ist, nur eine intensive Gr\u00f6fse. Wir k\u00f6nnen die beiden Glieder mathematisch nicht in einen Ansatz bringen, wir k\u00f6nnen sie miteinander nicht messen, sie sind inkommensurabel. Damit ist ausgeschlossen, dafs wir Gesetze zwischen ihnen finden k\u00f6nnen, damit ausgeschlossen, dafs sie wissenschaftlicher Betrachtung und Untersuchung zug\u00e4nglich sind.\nObgleich hier eigentlich nicht mehr der Erw\u00e4hnung wert, sei doch noch einer Anschauung \u00fcber das Verh\u00e4ltnis von Gehirn und Seele gedacht, weil sie gerade bei Biologen sich nicht selten findet und vielleicht auch sonst weitere Verbreitung gewonnen hat. Darnach ist Gehirn- und BewufstseinsVorgang, Nervent\u00e4tigkeit und Seele dasselbe reelle Ding. Aber was ist das, das zugleich K\u00f6rper und Vorstellung, zugleich Ausgedehntes und Nichtausgedehntes ist? Ein gl\u00f6sqo^vIov, ein h\u00f6lzernes Eisen,\n1 Du Bois-Reymond : \u00dcber die Grenzen des Naturerkennens. In: Reden Leipzig 1886, I, S. 122.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nPaul Schultz.\nein Unding. Diese Anschauung l\u00e4fst sich nicht widerlegen, es l\u00e4fst sich \u00fcberhaupt nicht dar\u00fcber reden:\nDenn ein vollkommener Widerspruch\nBleibt gleich geheimnisvoll f\u00fcr Kluge wie f\u00fcr Toren.\nNicht selten wird mit diesem platten Materialismus die Lehre Spinozas in unklarer Weise vermischt. Nach dieser gibt es nur eine unendliche Substanz, deus sive natura. Ihr kommen zwei Attribute zu als Bestimmungen, in welchen sie der endlichen Erkenntnis des menschlichen Verstandes sich darstellen, Denken und Ausdehnung, Geist und Materie. Die Substanz ist damit nicht ersch\u00f6pft, sie hat unendlich viel Attribute; es ist ihr auch gleichg\u00fcltig, unter welchen sie angeschaut wird. Die Attribute sind nur das, was unser Verstand an ihr wahrnimmt, weil sie f\u00fcr ihn die einzigen Begriffe sind, die positiv und reell sind. Diese beiden Attribute sind jedes selbst\u00e4ndig f\u00fcr sich und streng voneinander zu scheiden. Eine gegenseitige Einwirkung aufeinander findet nicht statt ; K\u00f6rper kann nur auf K\u00f6rper, Geist nur auf Geist wirken. Aber, da sie Erscheinungsformen derselben einen Substanz sind, so findet ein durchg\u00e4ngiger Parallelismus zwischen der k\u00f6rperlichen und geistigen Welt statt: Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum.1 Indem man diese in sich wenigstens verst\u00e4ndliche und klar gedachte Lehre mit der Behauptung der Identit\u00e4t von Hirnt\u00e4tigkeit und psychischer Erscheinung vermengt, glaubt man den Parallelismus \u00fcberwunden und daf\u00fcr einen ontologischen Monismus gewonnen zu haben. \u201eEin Ding kann nicht mit sich selbst parallel sein.\u201c ,.Dualistisch ist nur die Erscheinung, monistisch dagegen das Ding.\u201c 2 \u201eJede Seelenerscheinung hat ihre materielle Erscheinungskehrseite, jede materielle Erscheinung d\u00fcrfte somit in weiterem Sinn ihre seelische, wenn auch meistens viel elementarere Erscheinungskehrseite haben.\u201c3 Der Bewufstseins-vorgang ist von innen gesehen, was der Molekularvorgang in der Hirnrinde von aufsen gesehen ist. Diese Anf\u00fchrungen zeigen, dafs auch in den philosophischen Er\u00f6rterungen Kompromisse nur Halbheiten und Unklarheiten zuwege bringen. F\u00fcr den kritischen\n1 cf. \u00dcbeeweg-Heinze : Grundrifs der Geschichte der Philosophie. III. 7. Aufl. Berlin 1888.\na A. Foeel: Die psychischen F\u00e4higkeiten der Ameisen und einiger anderer Insekten. II. Aufl. M\u00fcnchen 1902, S. 9.\n3 A. Foeel: Gehirn und Seele. Y. u. VI. Aufl. Bonn 1899. S. 15.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n235\nPhilosophen haben sich solche Anschauungen, wie auch die Auffassung Spinozas als ein blofses \u201eBlendwerk\u201c enth\u00fcllt, das durch die richtige Aufstellung des Substanzbegriffes beseitigt wird. Es gibt aufser uns keine Substanz an sich; nur Vorstellungen in uns sind gegeben und reell. Diese sind von zweierlei Art; die eine hat das eigent\u00fcmliche an sich, dafs sie als Substanz, als Ding aufser uns erscheint. Und die Frage ist nun, in welchem Verh\u00e4ltnis diese Vorstellungen von K\u00f6rpern oder, wie wir kurz sagen, die K\u00f6rper zu der anderen Art Vorstellung stehen, die wir im Gegensatz dazu kurz psychische Erscheinungen nennen, obgleich doch beides nur psychische Erscheinungen sind.1\nDa wir oben die Unm\u00f6glichkeit eines Kausalzusammenhanges nachgewiesen haben, so wirft sich die weitere Frage auf, die du Bois-Reymond unbeantwortet gelassen, unter welchem Begriff wir die beiden Erscheinungsreihen vereinigen k\u00f6nnen. Die Erfahrung lehrt uns, dafs in Verbindung mit k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4ngen geistige gegeben sind, dafs im besonderen mit Ver\u00e4nderungen im Gehirn Ver\u00e4nderungen des Bewufstseins Zusammengehen. So wird es darauf ankommen, das Wort \u201eVerbindung\u201c oder \u201eZusammengehen\u201c und in unserem Thema das W\u00f6rtchen \u201eund\u201c n\u00e4her zu bestimmen. Diese Bestimmung kann sich offenbar nur auf diejenige Art des Daseins beziehen, welche beiden Erscheinungsreihen gemeinsam ist. Das ist die Zeit. Die psychischen Vorg\u00e4nge erscheinen in der Zeit, die k\u00f6rperlichen in der Zeit und zugleich im Raum. So mufs sich denn die Gemeinsamkeit beider auf die Zeit beziehen. Die Gemeinsamkeit in der Zeit kann sich aber nicht als Folge darstellen,\n1 Krit. d. rein. Vern. S. 324: \u201eIch behaupte nun: dafs alle Schwierigkeiten, die man bei diesen Fragen vorzufinden glaubet und mit denen, als dogmatischen Einw\u00fcrfen, man sich das Ansehen einer tieferen Einsicht in die Natur der Dinge, als der gemeine Verstand wohl haben kann, zu geben sucht, auf einem blofsen Blendwerke beruhe, nach welchem man das, was blofs in Gedanken existiert, hypostasiert, und in derselben Qualit\u00e4t, als einen wirklichen Gegenstand aufserhalb der denkenden Subjekte annimmt, n\u00e4mlich Ausdehnung, die nichts als Erscheinung ist, f\u00fcr eine, auch ohne unsere Sinnlichkeit, subsistierende Eigenschaft \u00e4ufserer Dinge, und Bewegung f\u00fcr deren Wirkung, welche auch aufser unseren Sinnen an sich wirklich vorgeht, zu halten. Denn die Materie, deren Gemeinschaft mit der Seele so grofses Bedenken erregt, ist nichts anderes als eine blofse Form, oder eine gewisse Vorstellungsart eines unbekannten Gegenstandes, durch diejenige Anschauung, welche man den \u00e4ufseren Sinn nennt.\u201c","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nPaul Schultz.\ndenn sonst w\u00e4re ja der zeitliche Zusammenhang der materiellen Verkn\u00fcpfung und damit die M\u00f6glichkeit einer durchgehenden materiellen Kausalit\u00e4t durchbrochen. So bleibt nur \u00fcbrig, dafs wir das Verh\u00e4ltnis bestimmen als ein Beisammensein in der Zeit, als Gleichzeitigkeit. Irgend eine weitere Aussage l\u00e4fst sich dar\u00fcber nicht abgeben. Insbesondere mufs davor gewarnt werden, nun etwa nach dem Ort dieses zeitlichen Beisammenseins zu fragen. Es mufs das an dieser Stelle umsomehr betont werden, als gerade unter den Medizinern die Ansicht verbreitet ist und als selbstverst\u00e4ndlich gilt, dafs dies zeitliche Beisammensein auch das lokale Zusammenfallen bedinge. Daher denn noch immer in physiologischen Lehrb\u00fcchern das Gehirn als Sitz der Seele oder des Bewufstseins bezeichnet wird, und in gehirnphysiologischen Untersuchungen der Teil, dessen Erkrankung oder Zerst\u00f6rung einen Ausfall bestimmter geistiger Erscheinungen im Gefolge hat, ebenso als Sitz dieser letzteren betrachtet wird. Das ist also, was wir vom Standpunkt der Kritik aus zugeben k\u00f6nnen, dafs bestimmten Zust\u00e4nden des Nervensystems der Zeit nach parallel gehen bestimmte Zust\u00e4nde des Bewufstseins. Als zeitlichen psycho-physischen Parallelismus bezeichnen wir das Verh\u00e4ltnis von Gehirn und Seele. Indem wir davon ausgehen, suchen wir regelm\u00e4fsige Beziehungen zwischen beiden aufzufinden; dann erscheinen uns die Bewufst-seinszust\u00e4nde in Abh\u00e4ngigkeit von den k\u00f6rperlichen, von den Gegenst\u00e4nden der Erfahrung und wiederholen deren Zusammenhang und Ordnung. So geben sie einen Wiederschein der Gesetz-m\u00e4fsigkeit der \u00e4ufseren Natur und zeigen sich dadurch selbst in sich zusammenh\u00e4ngend und gesetzm\u00e4fsig geordnet. Dann werden sie selbst Erfahrungsobjekte, wenn auch nur mittelbare, und insoweit (dahin k\u00f6nnen wir unsere fr\u00fchere Negation einschr\u00e4nken) kann die Seelenlehre Wissenschaft werden. Freilich nur \u201euneigentliche\u201c im Sinne Kants, die ihren Gegenstand g\u00e4nzlich nach Erfahrungsgesetzen, und nicht nach Prinzipien a priori behandelt. Aber, k\u00f6nnte man hier anf\u00fchren, das sei v\u00f6llig ausreichend. Denn wie weit es dabei die Seelenlehre bringen, zu welch gl\u00e4nzenden Ergebnissen sie m\u00f6glicherweise f\u00fchren k\u00f6nne, daf\u00fcr gebe die Chemie das Beispiel.\nAuch die Chemie mufste Kant von dem Rang einer eigentlichen Wissenschaft ausschliefsen. Solange sie der Anwendung der Mathematik unf\u00e4hig ist, solange sich n\u00e4mlich \u201ekein Gesetz der Ann\u00e4he-","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn and Seele.\n237\nrung oder Entfernung der Teile angeben l\u00e4fst, nach welchem etwa in Proportion ihrer Dichtigkeiten u. dgl. ihre Bewegungen samt ihren Folgen sich im Baume a priori anschaulich machen und darstellen lassen, so kann Chemie nichts mehr als systematische Kunst oder Experimentallehre, niemals aber eigentliche Wissenschaft werden.\u201c1 Hier darf aber ein wesentlicher Unterschied zwischen der Chemie und der Psychologie nicht \u00fcbersehen werden. Was Kant von der Chemie sagt, gilt f\u00fcr seine Zeit und gilt, \u201eso lange\u201c sie sich so verh\u00e4lt. Wenn er auch dann hinzuf\u00fcgt, dafs diese Forderung schwerlich jemals erf\u00fcllt werden wird, so ist doch damit nicht an sich die M\u00f6glichkeit geleugnet, ihr gen\u00fcgen zu k\u00f6nnen. Schon 5 Jahre nach dem Erscheinen der \u201eMetaphysischen Anfangsgr\u00fcnde der Naturwissenschaft\u201c (1791), deren Einleitung jene angef\u00fchrten S\u00e4tze entnommen sind, wurde in der N\u00e4he von London der Mann geboren, der in dieser Richtung den ersten Schritt tat. Michael Faraday zuerst suchte die chemischen Vorg\u00e4nge in das Bereich physikalischer Gesetze zu ziehen, indem er beide Wissenschaften, Chemie und Physik, in der Elektrizit\u00e4tslehre miteinander verband. In der mechanischen Gastheorie, in der Theorie der L\u00f6sungen und der Osmose sehen wir weitere bedeutungsvolle Fortschritte auf diesem Wege. Ja, man kann geradezu den Bestrebungen der modernen Naturwissenschaft die Signatur geben, dafs sie darauf ausgehen, die Chemie durch Aufl\u00f6sung der stofflichen Besonderheiten in allgemeine Kr\u00e4ftebeziehungen aus einer systematischen Kunst zu einer \u201eeigentlichen Wissenschaft\u201c zu erheben und damit jene KANTische Forderung zu verwirklichen. F\u00fcr die Seeienlehre dagegen gilt an sich die Unm\u00f6glichkeit, dafs sie \u201eeigentliche Wissenschaft\u201c werden k\u00f6nne; davon war sie nicht blofs zu Kants Zeiten, sondern ist sie auch f\u00fcr alle Zukunft ausgeschlossen. Ja, da sich \u201edas Mannigfaltige in ihr nur durch blofse Gedankenteilung voneinander absondern, nicht aber abgesondert aufbehalten und beliebig wiederum verkn\u00fcpfen l\u00e4fst, so kann sie auch nicht einmal als systematische Zergliederungskunst oder Experimentallehre der Chemie jemals nahe kommen.\u201c 2\nDas ist also die h\u00f6chste zul\u00e4ssige Stufe, auf die wir uns erheben k\u00f6nnen, dafs wir bei unseren Untersuchungen so ver-\n1\tKant: Metaphys. Anf. d. Natur. S. 6.\n2\tEbenda S. 7.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nPaul Schultz.\nfahren, als ob in der Natur wirklich jener Parallelismus best\u00e4nde, dafs wir demnach zu den Ver\u00e4nderungen im K\u00f6rper die gleichzeitigen Ver\u00e4nderungen des Bewufstseins aufsuchen und umgekehrt. Dabei m\u00fcssen wir uns aber immer be-wufst bleiben, dafs die Gleichzeitigkeit wohl richtig gedacht, niemals aber angeschaut und damit niemals Gegenstand wissenschaftlicher Bestimmung werden kann. Denn zwei Dinge gleichzeitig anschauen k\u00f6nnen wir nur mit Hilfe des Raumes; die Vorstellungen erscheinen aber nicht im Raum. Auch der LAPLACEsche Geist, der im Besitze der Weltformel eine astronomische Einsicht in den Bau des Gehirnes h\u00e4tte, w\u00fcrde, wenn er zugleich der denkbar feinste Psychologe w\u00e4re, doch nicht mehr aussagen k\u00f6nnen, als dafs mit bestimmten Verschr\u00e4nkungen der Hirnmolekel ein bestimmter geistiger Vorgang zeitlich Zusammenfalle. Und diese Aussage w\u00fcrde immer nur hypothetische Geltung haben, w\u00fcrde niemals tats\u00e4chlich sich erweisen lassen. Hier liegen in Wahrheit Grenzen unserer Erkenntnis.\nBei dieser Lage der Sache k\u00f6nnte es manchen bed\u00fcnken, dafs es sich nicht der M\u00fche verlohnt, ja dafs es \u00fcberhaupt keinen Sinn hat, sich wissenschaftlich mit den psychischen Erscheinungen zu besch\u00e4ftigen. Da die Aussagen dar\u00fcber doch nur einen so beschr\u00e4nkten Geltungswert haben, erscheint es da nicht dem Geist exakter Forschung angemessener, sich ihrer zu ent-schlagen und sich nur auf das k\u00f6rperliche Geschehen zu beschr\u00e4nken ? Insbesondere bei der Erkl\u00e4rung des tierischen Organismus mufs da nicht die Ber\u00fccksichtigung des Seelenlebens, das Hineinziehen psychischer Faktoren streng zur\u00fcckgewiesen werden, und sind es da nicht einzig und allein die leiblichen Vorg\u00e4nge, welche Gegenstand naturwissenschaftlicher Untersuchung und Er\u00f6rterung sein d\u00fcrfen ? Diese Fragen sind gegenw\u00e4rtig in der Tat unter den Biologen lebhaft er\u00f6rtert worden. Es handelt sich hierbei um nichts geringeres als um die Entscheidung, ob es k\u00fcnftig noch eine vergleichende Tierpsychologie, ja \u00fcberhaupt noch eine Psychologie als Wissenschaft geben kann. Gerade von physiologischer Beite ist das entschieden verneint worden. Bethe im Anschlufs an seine Untersuchungen bei wirbellosen Tieren, besonders \u00fcber die Ameisen und Bienen, von Uexk\u00fcll mehr aus philosophischen Erw\u00e4gungen heraus, die sich auf Kants transzendentalen Idealismus berufen, und mit","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n239\nihnen Beeb,1 haben sich dahin ausgesprochen, dafs \u201edie Frage nach der Psyche der Tiere gar nicht in das Gebiet der exakten Wissenschaft geh\u00f6rt, weil man dar\u00fcber nur etwas glauben, aber nicht wissen kann.\u201c2 Eine exakte Psychologie des Menschen ist \u201eetwas ebenso unm\u00f6gliches wie die vergleichende Psychologie, denn Psychologie kann immer nur spekulativ sein. Wenn es eine Wissenschaft gibt, die exakte Psychologie oder Psychophysiologie genannt wird, so ist das ein Mifsbrauch des Wortes Psyche.\u201c3 \u201eF\u00fcr den Naturforscher gibt es gar keine Psychologie.\u201c 4 Hiergegen ist von den verschiedensten Seiten, von Zoologen, Sinnesphysiologen und Psychiatern Einspruch erhoben werden. In dem Streit, der sich hieran gekn\u00fcpft, ist meines Erachtens auf beiden Seiten gefehlt und der Punkt, auf den es ankommt, gar nicht getroffen oder doch nur nebenher ber\u00fchrt worden. Ich will darauf an dieser Stelle eingehen, weil wir aus den entgegenstehenden Ansichten zugleich am besten die eigene Orientierung gewinnen.\nZun\u00e4chst mufs anerkannt werden, dafs von Uexkull Ziel und Weg der naturwissenschaftlichen Betrachtung der Lebenserscheinungen durchaus richtig und klar formuliert hat. Es stimmt das ganz mit dem \u00fcberein, was oben er\u00f6rtert wurde. \u201eWenn ein Tier eine Bewegung ausf\u00fchrt, so war sie hervorgerufen durch Muskelkontraktionen. Die Muskelkontraktionen waren veranlafst wTorden durch das Eintreffen der elektrischen Schwankungswelle in den Nervenendigungen.5 Die Schwankungswelle war nicht im motorischen Nerven spontan entstanden, sondern wrar in ihm erzeugt worden durch \u00e4hnliche physikalische Bewegungsph\u00e4nomene in bestimmten Zentren des Zentralnervensystems. Diese hatten aber ihrerseits mehr oder weniger direkt Bewegungsimpulse erhalten, die aus gewissen zentripetalen Nerven\n1\tBeer darf man wohl nach seiner neuesten Publikation, in welcher ja Kant \u00fcberwunden ist, nicht mehr mit von Uesk\u00fcll zusammen nennen.\n2\tA. Bethe : Koch einmal \u00fcber die psychischen F\u00e4higkeiten der Ameisen. Pfl\u00fcgers Arch, f\u00fcr d. gesamte Physiologie 79, S. 45. Bonn 1900.\n3\tA. Bethe: Die Heimkehrf\u00e4higkeit der Ameisen und Bienen. Biolog. Centralblatt 22, S. 195. 1902.\n4\tvon Uexk\u00fcll : \u00dcber die Stellung der vergleichenden Physiologie zur Hypothese der Tierseele. Biolog. Centralbl. 21, S. 498. 1900.\n5\tDie physiologische Berechtigung dieses Ausdruckes will ich hier uner\u00f6rtert lassen.","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nPaul Schultz.\nstammten. Die Schwankungswellen, die im zentripetalen Nerven abliefen, stammten aus dem Sinnesorgan des Nerven, nachdem dies durch einen Bewregungsvorgang in der Aufsenwelt gereizt wrorden war. Wir haben immer weiter von der Wirkung auf die Ursache geschlossen und sind auf diesem Wege wieder aus dem Tier herausgekommen, ohne irgendwo auf ein psychisches Element zu stofsen. Das ist auch vollkommen unm\u00f6glich, weil die Ursache einer Bewegung immer nur eine Bewegung sein kann.\u201c1 \u201eDie Bewegung kann nicht nebenbei zur Ursache einer psychischen Qualit\u00e4t werden.\u201c \u201eZwischen der Bewegung materieller Punkte im Raum und meiner Empfindung gibt es keinen kausalen Zusammenhang.\u201c 2 Darum irrt der Jesuitenpater Wass-maj\u00fctn, ein liebevoller Beobachter des Insekten- und besonders des Ameisenlebens und gegenw\u00e4rtig wohl einer der besten Kenner dieser Tiere, er irrt, sag ich, in der Ansicht, dafs die Lichtempfindung die physiologische Ursache (im eigentlichen Sinne) f\u00fcr die Ann\u00e4herung der Motte an das Licht sei. Er mifsversteht Art und Grenzen der Naturerkenntnis, wenn er behauptet, dafs \u201etats\u00e4chlich ein gesetzm\u00e4fsiger Kausalnexus zwischen physiologischen und psychischen Erscheinungen besteht.\u201c 3 Und seine Frage, ob das Energiegesetz die einzig m\u00f6gliche Form des Kausalgesetzes in der Natur ist, werden wir nicht, wie er, entschieden verneinen ; wir werden \u00fcberhaupt nicht darauf antworten. Denn wer vermag die Natur zu umfassen, sie in Paragraphen zu bringen? Aber f\u00fcr die Naturwissenschaft gilt das Energiegesetz ausnahmslos; und nicht die Natur, aber die Naturwissenschaft beruht auf dem Gesetze der Tr\u00e4gheit (neben dem der Beharrlichkeit der Substanz) ganz und gar. Darum, so hatten wir oben gesehen, kann ein Kausalzusammenhang zwischen k\u00f6rperlichen und geistigen Vorg\u00e4ngen nicht bestehen, darum kann es Psychologie als \u201eeigentliche Wissenschaft\u201c nicht geben, diese ist ganz auf die K\u00f6rperwelt beschr\u00e4nkt.\nAber die k\u00f6rperliche Natur ist nur ein Teil, ist nicht die ganze Natur. Auch vom transzendentalen Standpunkt, auf den\n1\tvon Uexkull, ebenda.\n2\tvon Uexk\u00fcll, ebenda.\n* E. Wassmann: Nervenphysiologie und Tierpsychologie. Biolog. Cen-tralbl. 21, S. 23. 1901.","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn and Seele.\n241\nyon Uexk\u00fcll sich beruft, sollen wir die geistige Natur anerkennen. Sie ist uns als Gegenstand des inneren Sinnes in der Erfahrung gegeben und verdient, ja verlangt daher, auch wenn sie vom Range einer eigentlichen Wissenschaft ausgeschlossen ist, dafs wir uns mit ihr besch\u00e4ftigen. Denn der vergleichende Biologe, wie Wassmann treffend bemerkt, ist nicht blofs Nerven-physiologe, sondern auch denkender Naturforscher. Es ist daher nicht blofs nicht \u201em\u00fcfsig\u201c, sondern sogar unerl\u00e4fsliche Pflicht, sich klar zu machen, in welchem Verh\u00e4ltnis die beiden Erscheinungsreihen zueinander stehen. Indem wir das taten, hatte sich uns die Einsicht in die M\u00f6glichkeit er\u00f6ffnet, die geistigen Vorg\u00e4nge mittelbar zum Gegenstand der \u00e4ufseren Beobachtung und des Experimentes zu machen und in ihnen einen gesetzm\u00e4fsigen Zusammenhang zu finden. Die Psychologie kann also etwas mehr als \u201eblofs spekulativ\u201c sein, sie kann sich \u00fcber ein blofses \u201eGlauben\u201c zu einem, wenn auch nur empirischen, Wissen erheben. Freilich gewinnen wir, theoretisch betrachtet, f\u00fcr die wissenschaftliche Erkl\u00e4rung der k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4nge damit nichts. Und darum k\u00f6nnten von Uexk\u00fcll und die anderen mit ihm sich noch immer ablehnend gegen diese Seite der Naturbetrachtung verhalten. Wenn sie auch die M\u00f6glichkeit und die Berechtigung exakter psychologischer Forschung, sofern sie ihrer prinzipiellen Beschr\u00e4nkung sich bewufst bleibt, nicht mehr bestreiten k\u00f6nnen, so sind sie doch gewillt, darauf zu verzichten und sich lediglich an die Untersuchung der k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderung zu halten. Auf den Einwurf, dafs sie damit einer v\u00f6llig einseitigen Naturbetrachtung huldigen, w\u00fcrden sie antworten, dafs sie daf\u00fcr den Vorteil gewinnen, den Boden strenger Wissenschaftlichkeit niemals verlassen zu brauchen.\nFolgen wir ihnen nun einmal auf diesen Boden. Da sehen wir bald, dafs wir nach allen Richtungen hin nur wenige Schritte vorw\u00e4rts tun k\u00f6nnen; \u00fcberall stofsen wir auf Schranken. Die ganze so ger\u00fchmte Exaktheit \u2014 und das ist der springende Punkt, von dem ich oben sprach \u2014 ist, insbesondere soweit es sich um die Vorg\u00e4nge im Centralnervensystem handelt, ihrer Verwirklichung nach vorl\u00e4ufig und voraussichtlich f\u00fcr lange, lange Zeit eine reine Utopie. Es geht \u201eden Exakten\u201c wie in der Sage Roland als Rofskamm. Die Stute, die er feilbot, war ausnehmend sch\u00f6n, die vortrefflichste, die es gab, der Kaiser besafs keine bessere ; sie hatte nur das Ungl\u00fcck, dafs sie tot war.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 32.\t16","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nPaul Schultz.\nSo ist die mechanische Erkl\u00e4rung der Lebensvorg\u00e4nge die einzig m\u00f6gliche im Sinne einer eigentlichen Wissenschaft, aber sie l\u00e4fst sich vorl\u00e4ufig grade da nicht durchf\u00fchren, wo dies, um psychologische Ausdr\u00fccke zu beseitigen, am notwendigsten w\u00e4re. Denn es ist nicht wahr, was von Uexk\u00fcll uns glauben machen m\u00f6chte, dafs \u201edie eiserne Kette objektiver Ver\u00e4nderungen, die mit der Erregung des Sinnesorganes anhob und mit der Muskelbewegung\nabschlofs, auch in der Mitte zusammengeschmiedet wurde.\u201d1\n\u2022 \u2022\nUber die Anatomie des Centralnervensystems, besonders des Gehirns der h\u00f6heren Tiere und des Menschen fangen wir eben erst an, eine bessere Einsicht zu erlangen; \u00fcber die feineren physiologischen Funktionen der Teile wissen wir dagegen so gut wie nichts. Je mehr wie in der Tierreihe hinabsteigen, um so einfacher werden zwar die anatomischen Verh\u00e4ltnisse und damit w\u00e4chst unsere Kenntnis davon; von den feineren Vorg\u00e4ngen darin wissen wir aber deswegen um nichts mehr. Grade die Untersuchungen Bethes an den Ameisen und Bienen haben hierf\u00fcr den schlagenden Beweis erbracht. Von dem, was physiologisch erkl\u00e4rt werden sollte, von der Mechanik der Nerven Vorg\u00e4nge erfahren wir nichts. Von dem Weg, auf den von Uexk\u00fcll, f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Lebensvorg\u00e4nge verweist, betritt Bethe nur den Anfang und das Ende. Kein Wunder, dafs er im Gegensatz zu seinen exakten Grunds\u00e4tzen doch wieder in die psychologischen Verirrungen zur\u00fcckf\u00e4llt. Wer nur die k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4nge als Gegenstand der Forschung anerkennt, nur ihnen seine Aufmerksamkeit schenken will, der darf nicht davon reden, dafs die Ameisen \u201estutzen\u201c, dafs sie \u201eunruhig hin und her laufen\u201c, der darf nicht mehr im Zweifel sein, ob ihnen auf Grund ihrer Lebens\u00e4ufserungen psychische Qualit\u00e4ten zuzuschreiben sind.2 Darum hat Bethe auch sp\u00e4ter seine \u00dcberzeugung ge\u00e4ndert und sich den sch\u00e4rfer und klarer formulierten Anschauungen von Uexk\u00fclls angeschlossen. Aber eine eingehendere mechanische Analyse irgend eines der fr\u00fcher beobachteten Lebensvorg\u00e4nge hat er darum nicht gegeben. Auch die Aneinanderf\u00fcgung griechischer oder lateinischer Silben zu\n1\tvon Uexk\u00fcll: Psychologie und Biologie in ihrer Stellung zur Tierseele. Ergebnisse der Physiologie 2. Wiesbaden 1902.\n2\tA. Bethe: D\u00fcrfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualit\u00e4ten zuschreiben? Pfl\u00fcgers Arch. 70, S. 15. 1898.","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n243\nneuen Worten1 (die Etymologie hat immer zu den erfindungsreichsten K\u00fcnsten geh\u00f6rt) wird dazu nicht verhelfen.\nNun waltet aber hier ein eigent\u00fcmliches Verh\u00e4ltnis ob. Grade da, wo uns die exakte Methode am meisten im Stich l\u00e4fst, sind uns die psychischen Erscheinungen unmittelbar gegeben und am besten bekannt: beim Menschen, genauer gesagt am eigenen Ich. Denn, was schon Beneke hervorgehoben hat, und was seitdem oft wiederholt worden ist, verdanken wir unser ganzes Wissen um den inneren Zustand anderer Wesen doch nur einer Deutung ihrer \u00e4ufseren Erscheinung, die sich lediglich begr\u00fcndet auf das Bewufstsein dessen, was bei \u00e4hnlichen Erscheinungen in uns selbst vorgeht.'2 3 Diese Deutung hat aber unter den Menschen, wo durch Schrift und Sprache eine best\u00e4ndige Kontrolle f\u00fcr die Vergleichung m\u00f6glich ist, eine gewisse Zuverl\u00e4ssigkeit erlangt. Ja, so erfolgreich machen wir von ihr Gebrauch bei unserem praktischen Tun, dafs wir ganz vergessen, dafs es sich noch um eine Deutung handelt. Die geistigen Vorg\u00e4nge an anderen nehmen wir als wirklich gegeben, sogar als wirkende Ursache der Handlungen an. In Platons Ph\u00e4don verwahrt sich Sokrates dagegen, dafs er sich deswegen im Gef\u00e4ngnis befinde, weil sein Leib aus Knochen, Sehnen und Muskeln bestehe. Nicht, wTeil die Knochen in ihren Gelenken schweben, und die Sehnen, wenn sie nachgelassen und angezogen werden, die Glieder bewegen, nicht deswegen sitze er jetzt mit gebogenen Knieen dort; sondern weil den Athenern gefallen hat, ihn zu verdammen, und ihm besser geschienen, die Strafe auf sich zu nehmen. So urteilen wir alle zun\u00e4chst, so auch im gew\u00f6hnlichen Leben die \u201eexaktesten\u201c Naturforscher. Weil der Verstand es gut heilst, weil der Wille befiehlt, handeln wir so. Grade so ist es bei den anderen Menschen. Wir rechnen mit ihrem Bewufstsein wie mit einer bekannten Gr\u00f6fse. Auch von Uexkull tut dies. Denn warum h\u00e4tte er sonst seine Abhandlung geschrieben, f\u00fcr die er Aufmerksamkeit, Verst\u00e4ndnis, Zustimmung, Beifall bei anderen erwartet. Diese praktische \u00dcberzeugung schleicht sich nun immer wieder in unsere theoretischen Betrachtungen ein und verf\u00e4lscht sie. Erst die philosophische Besinnung befreit\n1 Th. Beer, Bethe und von Uexk\u00fcll: Vorschl\u00e4ge zu einer objekti-\nvierenden Nomenklatur in der Physiologie des Nervensystems. Centralblatt f\u00fcr Physiol. 13, S. 137. 1899.\n3 Vgl. F. \u00dcberweg: System der Logik. Bonn 1882. S. 108.\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nPaul Schultz.\nuns davon und enth\u00fcllt den wahren Sachverhalt. Wenn wir diesen nur unverr\u00fcckt im Auge behalten, dann d\u00fcrfen wir auch jener Deutung, da sie in gewissem Grade sicher und uns so gel\u00e4ufig ist, auch Konzessionen machen. Diese: wir werden auch als Physiologen die psych ischen Vorg\u00e4nge da ber\u00fccksichtigen m\u00fcssen, wo uns die exakte Methode im Stich l\u00e4fst. Das Ziel unserer wissenschaftlichen Bestrebungen wird dadurch um nichts ver\u00e4ndert. Es bleibt dabei, dafs wir in letzter Linie eine mechanisch kausale Erkl\u00e4rung der Lebensvorg\u00e4nge erstreben. Da aber dieses Ziel auf gradem Wege vorl\u00e4ufig nicht zu erreichen ist, so schlagen wir einen Umweg ein, der, wir geben das zu, leicht, wo die n\u00f6tige kritische Besonnenheit fehlt, auf Abwege f\u00fchrt. Aber wir wollen, wir m\u00fcssen vorw\u00e4rts. Derjenige ist der beste Schuhmacher, sagt Aristoteles einmal, der aus dem vorhandenen Leder die besten Schuhe macht.\nWelche aufserordentliche Bedeutung die Ber\u00fccksichtigung \u201eder psychischen Qualit\u00e4ten\u201c nun auch tats\u00e4chlich gehabt hat und noch hat, das bedarf hier kaum der Erw\u00e4hnung. Es gen\u00fcge, nur an die menschliche Sinnesphysiologie zu erinnern, die von vielen als der gesichertste und am besten bebaute Besitzstand der gesamten Physiologie betrachtet wird. Und dies trifft nicht blofs auf Auge und Ohr als \u00e4ufsere Sinnesorgane zu, die schon ganz wie physikalische Apparate erkl\u00e4rt werden, sondern auch auf die eigentlich \u201epsychischen\u201c Prozesse, wie in der Lehre von den Gesichtswahrnehmungen, vom einfachen, vom k\u00f6rperlichen Sehen, von den Farbenwahrnehmungen, von den optischen T\u00e4uschungen, von den Klangfarben, von der Harmonie und Disharmonie. Hier hat die sorgf\u00e4ltige Beobachtung und Vergleichung der psychischen Begleiterscheinungen r\u00fcckwirkend hingef\u00fchrt zur Auffindung und genaueren Analyse der physischen Vorg\u00e4nge, hat also ganz erhebliches \u201ePositives\u201c geleistet. Und vollends gilt das von der Physiologie des Centralnervensystems! Was w\u00fcfsten wir denn von der Bedeutung und Verrichtung des Gehirnes und seiner Teile nicht blofs beim Menschen, sondern auch bei den h\u00f6heren Tieren, wenn man nicht bei den durch zuf\u00e4llige Krankheit oder durch absichtliche Verletzung gesetzten leiblichen Ver\u00e4nderungen die geistigen Parallelvorg\u00e4nge eingehend studiert h\u00e4tte. Und das hat sich auch hier wieder von erheblichem heuristischem Wert erwiesen. Von dem vielen Interessanten und","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n245\nBekannten greife ich hier nur die Aphasie und die Erscheinungen der Binden- und Seelenblindheit und der Rinden- und Seelentaubheit heraus.1\nSo ist denn das Ergebnis dieses : Mit von Uexk\u00fcll teileii wir durchaus den Standpunkt des transzendentalen Idealismus. Von diesem aus kann kein Zweifel mehr sein, worin eigentliche Wissenschaft besteht, und was, um solche zu werden, allein die Aufgabe der biologischen Forschung sein kann. Darin aber weichen wir von ihm ab, dafs wir diese Aufgabe nicht auch schon als die L\u00f6sung ansehen, dafs wir das ideale M\u00fcssen nicht verwechseln mit dem wirklichen K\u00f6nnen. Vorl\u00e4ufig, so behaupten wir, ist es noch ein unabweisliches empirisches Bed\u00fcrfnis, die psychischen Erscheinungen in den Kreis naturwissenschaftlicher Betrachtung zu ziehen, grade um eine mechanischkausale Erkl\u00e4rung der Lebenserscheinungen zu erm\u00f6glichen. Dabei werden wir freilich immer die Einschr\u00e4nkungen, die wir \u00fcber den Bereich und den Geltungswert solcher Aussagen als notwendig festgesetzt haben, im Auge behalten m\u00fcssen. Gesetzt aber auch die Aufgabe w\u00e4re gel\u00f6st, es w\u00e4re uns der Organismus als Maschine v\u00f6llig begreiflich, auch dann h\u00e4tten die Bewufstseinserseheinungen nicht ihr Interesse verloren, auch dann w\u00e4re es eine f\u00fcr den Naturforscher w\u00fcrdige und wichtige Aufgabe, ihnen nachzugehen und den Parallelismus zwischen ihnen und den k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4ngen in dem oben definierten Sinne zu verfolgen.\nEine Frage aber bleibt hierbei noch offen. Wie weit erstrecken sich die psychischen Erscheinungen ? Das Bewufstsein, das hatten wir schon hervorgehoben, erscheint uns zun\u00e4chst nur am eigenen Ich; wir erschliefsen es daraus bei unseren Mitmenschen. D\u00fcrfen wir es nun auch den Tieren zuschreiben? Und wie wTeit sollen wir es auf den Tierkreis, von den h\u00f6chsten zu den niedersten Gliedern fortschreitend, ausdehnen? Nur auf die Wirbeltiere? Und warum nur auf diese? Wo ist das leitende und entscheidende Prinzip? Verdienen nicht auch die Wirbellosen hierbei unsere Beachtung? Und wenn diese, wie tief d\u00fcrfen wir dabei herabsteigen auf der organischen Stufen-\n1 Hier sei auch erinnert an S. Exnebs: \u201eEntwurf zu einer physiologischen Erkl\u00e4rung der psychischen Erscheinungen.\u201c I. Wien u. Leipzig 1894.","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nPaul Schultz.\nleiter? Diese Frage erscheint um so schwieriger, je mehr wir uns mit den neuesten Ergebnissen der Naturforschung auf diesem Gebiet bekannt machen. Auf der niedrigsten Stufe des Lebens \u00fcberhaupt stehen Organismen, die, nur aus einem Kl\u00fcmpchen Protoplasma bestehend, nicht mehr mit blofsem Auge, sondern nur mit dem Mikroskop wahrnehmbar sind, und von denen eine sichere Entscheidung nicht getroffen werden kann, ob sie dem Tier- oder dem Pflanzenreich angeh\u00f6ren, da sie weder echte Tiere, noch echte Pflanzen sind. An ihnen hat man in neuester Zeit h\u00f6chst mannigfache und merkw\u00fcrdige Lebens\u00e4ufserungen kennen gelernt, und da dr\u00e4ngt sich die Frage auf, ob damit nicht schon Empfindungen, Vorstellungen, Ged\u00e4chtnis und Bewufstsein verkn\u00fcpft sind. Besonders die spontanen Bewegungen, die hier beobachtet sind, das Vorstrecken und Einziehen von Forts\u00e4tzen, das Hineilen und das Zur\u00fcckfliehen, bekundet sich darin nicht ein Tasten, Suchen, Aus w\u00e4hlen, sind das nicht Zeichen von Absichtlichkeit und Willk\u00fcr? In der Tat gibt es Physiologen, welche dieser Ansicht huldigen. Ja, noch mehr, sie meinen, wenn man das Seelenleben dieser niedersten Organismen nur hinreichend erforschte, so w\u00e4re damit der Schl\u00fcssel gegeben, mit dem allm\u00e4hlich das komplizierte Seelenleben der h\u00f6heren Tiere und der Menschen dem Verst\u00e4ndnis erschlossen wird. Zur Aufkl\u00e4rung jener Erscheinungen bei den Protisten d\u00fcrfe man daher die Erscheinungen aus dem Seelenleben des Menschen nicht verwerten sollen, da ihr Verst\u00e4ndnis ja selbst erst das Ziel aller psychologischen Forschung sei. Damit ist das wirkliche Verh\u00e4ltnis grade auf den Kopf gestellt.1\nGewifs ist es ein richtiger Grundsatz, dafs das Zusammengesetzte aus dem Einfachen erkl\u00e4rt werden mufs. Und es ist im h\u00f6chsten Grade wahrscheinlich, dafs das Seelenleben bei den niederen Tieren einfacher sich gestalten wird als bei den h\u00f6heren Tieren, insbesondere beim Menschen. Auf der anderen Seite\n1 M. Verworn: Protisten - Studien. Jena 1889. S. 3: \u201e. . . . so mufs in der Tat die Erforschung des Seelenlebens niederer Tiere Licht \u00fcber die Physiologie der h\u00f6heren Tiere und des Menschen verbreiten.\u201c \u00c4hnlich Forel : Die psych. F\u00e4higkeiten d. Ameisen u. s. w. S. 42 : [Heute noch mufs ich meine These aufrecht erhalten . . .] \u201eS\u00e4mtliche Eigenschaften der menschlichen Seele k\u00f6nnen aus Eigenschaften der Seele h\u00f6herer Tiere abgeleitet werden. Ich f\u00fcge nur noch hinzu : Und s\u00e4mtliche Seeleneigen-.schaften h\u00f6herer Tiere lassen sich aus denjenigen niederer Tiere ableiten.\u201c","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n247\naber ist ebenso richtig, ans dem Bekannten, dem unmittelbar Gegebenen das Unbekannte, das mittelbar Gegebene zu erkl\u00e4ren. Was ist aber hier das Bekannte, das unmittelbar Gegebene? Mein Bewufstsein ist es, mein Seelenleben, und das allein. Schon die psychischen Vorg\u00e4nge an meinen Nebenmenschen sind mir nur durch einen Analogieschlufs gegeben. So viel Wahrscheinlichkeit er f\u00fcr sich hat, es ist und bleibt doch immer ein Schlufs. Und wie der trotz aller \u00dcbung und Erfahrung doch bisweilen t\u00e4uscht, das weifs jeder. Wenn das schon f\u00fcr das menschliche' Seelenleben gilt, das wir doch am n\u00e4chsten und am h\u00e4ufigsten vor uns haben, das wir wegen der Gleichheit der zu Grunde liegenden k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4nge am besten pr\u00fcfen und kontrollieren k\u00f6nnen, das wir demnach am besten kennen sollten, wie mufs es da erst beschaffen sein mit dem Schliefsen bei anderen Wesen, deren Lebensgewohnheiten und \u00c4eufserungen, so \u00fcberaus verschieden von den unsrigen, wir noch erst m\u00fchsam zu studieren haben? Wenn auch bei den niedersten AVesen die seelischen AVrg\u00e4nge sich am einfachsten abspielen d\u00fcrften, die Kluft zwischen meinem Bewufstsein, von dem ich allein weifs, wird ja immer tiefer und tiefer und un\u00fcberbr\u00fcckbarer, je mehr ich mich davon entferne. Wie sehr ist da erst der T\u00e4uschung T\u00fcr und Tor ge\u00f6ffnet. Dies vielmehr kann allein der f\u00fcr uns gangbare Weg sein: Der Ausgangspunkt ist das eigene Bewufstsein. AVir schliefsen daraus auf ein gleiches bei Wesen, die uns gleich sind; und weiter auf ein \u00e4hnliches bei Wesen, die (in ihrer anatomischen Leibestruktur und in ihrem physiologischem A7erhalten) uns \u00e4hnlich sind, bei den \u201eh\u00f6heren Tieren\u201c ; von diesen wieder auf ein \u00e4hnliches bei den n\u00e4chst h\u00f6heren Tieren und so fort.\nDabei m\u00fcssen wir zweierlei stets im Auge behalten. Erstens, dafs es sich hierbei nur um einen Analogieschlufs handelt, der immer unsicherer wird, je weiter wir ihn fortf\u00fchren, und je mehr wir ihn auf Einzelnes und Besonderes ausdehnen.1 Denn dann wird die Gleichheit, auf die jeder Analogie-\n1 cf. \u00dcberweg : Logik. S. 434. Der Analogieschlufs lautet in unserem Fall :\nDer Mensch hat ein Gehirn.\nDer Mensch hat psychische Qualit\u00e4ten.\nDer Hund (Affe, Katze) hat ein Gehirn.\nFolglich hat der Hund psychische Qualit\u00e4ten.\nDie Gewifsheit oder Wahrscheinlichkeit des Analogieschlusses kn\u00fcpft","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nPaul Schultz.\nschlufs sich aufbaut, immer geringer, in diesem Falle Gehirn und Nervensystem immer un\u00e4hnlicher. Zweitens dafs wir zu einer \u00e4hnlichen Seele nur kommen, wenn wir Form und Inhalt der eigenen erniedrigen. Daraus entspringt wieder ein neuer Quell gef\u00e4hrlicher T\u00e4uschungen. Die Annahme einer solchen \u00e4hnlichen Seele h\u00e4lt von Uexk\u00fcll freilich f\u00fcr unm\u00f6glich, er behauptet, dafs \u201euns Empfindungen, die den unseren blofs \u00e4hneln, gar nicht vorstellbar sind.\u201c \u201eWie es aber Leute gibt, die da glauben, bereits eine fremde Sprache zu reden, wenn sie in der eigenen zu stottern anfangen, so vermeinen die vergleichenden Psychologen der Tierseele n\u00e4her zu kommen, wenn sie von ihrer Seele irgendwelche Abz\u00fcge machen.\u201c \u201eSowohl Inhalt wie Organisation der fremden Psyche bleiben meiner Erfahrung f\u00fcr immer entzogen.\u201c * 1 Ich glaube, auch hierin geht von Uexk\u00fcll wieder zu weit. Ist denn die Empfindung in mir immer nur ein und dieselbe? Habe ich nicht Empfindungen von sehr verschiedener Art und von sehr verschiedener Intensit\u00e4t? Ist, was ich heute f\u00fchle oder denke, dem, was ich gestern unter gleichen Umst\u00e4nden f\u00fchlte und dachte, immer v\u00f6llig gleich, \u00e4hnelt es ihm nicht oft blofs nur? Erscheint mir mein vom Affekt fortgerissenes Bewufstsein nicht nachher bei ruhiger \u00dcberlegung wie ein fremdes ? Ist die Lust, der Schmerz, das Entz\u00fccken, ist das Erinnerungsbild, die Allgemeinvorstellung nicht in jedem Falle verschieden und, dem was ich ein andres Mal empfand, nur \u00e4hnlich. Eben weil die Vorstellungen nicht im Raum erscheinen, kann ich sie nicht abgesondert aufbehalten und beliebig vergleichen, sondern nur sch\u00e4tzungsweise ihre \u00c4hnlichkeit bestimmen. Wie wir nun ferner bei unseren Mitmenschen von einem feineren oder gr\u00f6beren Empfindungsverm\u00f6gen reden, wie wir von einem reichen Seelenleben ein armes unterscheiden, wie wir eine grofse Begabung einer geringen entgegensetzen, wie wir jenem Feinsinnigkeit und diesem Stumpfsinn zuschreiben, wie wir also in Bezug auf Intensit\u00e4t und Umfang Abstufungen\nsich an die Berechtigung der Voraussetzung eines gesetzm\u00e4fsigen Real-zusammenhanges zwischen Gehirn und psychischen Qualit\u00e4ten. Ein solcher besteht aber nicht. Wir k\u00f6nnen hypothetisch nur die Gleichzeitigkeit aus-sagen. Damit ist der Analogiesehlufs schon von vornherein nur von problematischer G\u00fcltigkeit. Dazu kommt, dafs das Gehirn des Hundes nicht dem des Menschen v\u00f6llig gleicht.\n1 von Uexk\u00fcll : Psychologie und Biologie u. s. w.","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n249\nmachen, so \u00fcbertragen wir das auch auf die Tiere und schaffen, indem wir \u2014 hier hat von Uexkull ganz Recht \u2014 von unserer eigenen Seele Abz\u00fcge machen, indem wir sie verst\u00fcmmeln, ein Stufenreich seelisch immer minder vollkommener Wesen. Dabei neigen wir dazu \u2014 und daraus entspringen die T\u00e4uschungen, von denen ich sprach \u2014 das Niedrige allzusehr an uns heranzuziehen und uns gleichzustellen. Der Mensch, sagt Tbendelen-bubg einmal, leiht den Bezug seines eigenen Wesens der Natur und wirft die Vorstellung menschlicher Verh\u00e4ltnisse in die Welt der Dinge. Dieser tief in uns liegende Hang zum Anthropomorphismus macht sich grade in unserem Falle, in der \u00dcbertragung der psychischen Qualit\u00e4ten auf das Tierreich, besonders stark geltend und scheint auch bei sonst naturwissenschaftlich geschulten Biologen fast unausrottbar. Dagegen die warnende Stimme zu erheben, wie es von Uexkull und Bethe tun, ist immer verdienstlich und mufs mit Dank anerkannt wTerden.\nAber noch harrt die Kardinalfrage der Beantwortung; wie weit d\u00fcrfen wir mit dieser Deutung gehen? Nun, ich glaube, auch das ist nicht blofser Willk\u00fcr \u00fcberlassen, auch daf\u00fcr k\u00f6nnen wir ein empirisches Kriterium auf stellen. Die wissenschaftliche Erfahrung lehrt, dafs die seelischen Erscheinungen des Menschen gebunden sind an sein Gehirn. Daher unser Thema lautet: Gehirn und Seele. Das ist die physiologische Fassung ; die philosophische w\u00e4re : K\u00f6rper und Seele oder Materie und Bewufstsein. Das Gehirn besteht aus Nervengewebe. So werden wir in der Natur an geistige Vorg\u00e4nge nur da glauben k\u00f6nnen, wo wir Nervengewebe sehen, und das Geistige f\u00e4ngt in der Tierwelt da f\u00fcr uns an, wo das Nervengewebe anf\u00e4ngt. Darum ist vom naturwissenschaftlichen Standpunkt durchaus korrekt die oft besp\u00f6ttelte Forderung nu Bois-Reymonds, dafs bevor er in die Annahme einer Weltseele willige, ihm irgendwo in der Welt, in Neuroglia gebettet, mit arteriellem Blut unter richtigem Druck gespeist und mit angemessenen Sinnesnerven und Organen versehen ein dem geistigen Verm\u00f6gen solcher Seele an Umfang entsprechendes Konvolut von Ganglienzellen und Nervenfasern gezeigt werde. Freilich m\u00fcssen wir hier ein Zugest\u00e4ndnis machen. Sollte jemand dies f\u00fcr uns entscheidende, aber nur in der Erfahrung begr\u00fcndete Prinzip nicht anerkennen wollen, so k\u00f6nnen wir ernstlich nichts dagegen einwenden; denn diese unsere besondere Auffassung l\u00e4fst sich, wie","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nPaul Schultz,\nja \u00fcberhaupt der Parallelismus zwischen K\u00f6rper und Seele, nicht tats\u00e4chlich erweisen, hat nur hypothetische Geltung. Wer also noch weiter gehen, wer der belebten Materie \u00fcberhaupt Empfindung oder Ged\u00e4chtnis zuschreiben will in der Meinung, den Zusammenhang und den Aufbau der Seelenerscheinungen uns dadurch begreiflicher zu machen, der mag es tun. Nur darf er diese Annahme nicht mit dem Begriff der Wechselwirkung vermengen ; sonst ger\u00e4t er in die phantastische Philosophie des Unbewufsten. Das ist Dichtung, aber nicht Wissenschaft.\nIch kann aber diese Betrachtungen nicht schliefsen, ohne einen weiteren Ausblick zu er\u00f6ffnen. Wir haben im Vorstehenden die Natur als Gegenstand der theoretischen Naturwissenschaft betrachtet. Diese geht darauf aus, die Erscheinungen zu erkl\u00e4ren als Wirkungen von Ursachen und diese Ursachen letztlich zur\u00fcckzuf\u00fchren auf Bewegungsgesetze der Materie. Wo sie uns eine astronomische Einsicht in das Geschehen gew\u00e4hrt, ist ihr Gesch\u00e4ft vollendet, und unser Wissensdrang sollte befriedigt sein. Er ist es auch, solange wir in der anorganischen Natur verweilen; aber er ist es nicht mehr, sobald wir an die belebte Natur herantreten. Denn ihre Produkte sind nicht blofs Systeme bewegter materieller Punkte, sie sind mehr, sie sind geformte Stoffe.1 Sie sind nicht darzustellen nur als Kr\u00e4fteanordnungen, befindlich in statischem Gleichgewicht, stabilen, labilen oder indifferenten, sie unterliegen noch einem besonderen Gleichgewicht, dem stofflichen, das unterhalten wird durch den Stoffwechsel. Sie lassen sich nicht beschreiben blofs als physikalische Komplexe, Uhrwerke oder Automaten, sie sind noch etwas anderes* sie sind organische Einheiten, Individuen. Als solche erfordern sie neben ihrer Aufl\u00f6sung in Bewegungsgr\u00f6fsen eine gesonderte Betrachtung, die uns das, was uns Neues an ihnen entgegentritt, enth\u00fcllt. Das geschieht in der beschreibenden Naturwissenschaft. In der Theorie der Natur erfassen wir Bewegungsaggregate, Mechanismen; in der Naturbeschreibung Naturformen, Organismen. F\u00fcr diese reicht die kausale Erkl\u00e4rung nicht aus. Man ist nicht \u201eim st\u00e4nde zu sagen : Gib mir Materie, ich will euch zeigen, wie\n1 Diese Einsicht ist der berechtigte Kern der neovitalistischen Bestrebungen. Ich hoffe an anderer Stelle ausf\u00fchrlicher auf die \u201eTeleologie\u201c zur\u00fcckzukommen.","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n251\neine Raupe erzeugt wird\u201c ; \u201eder Newton eines Grashalms\u201c1 wird nimmer erstehen. Hier setzt die finale Betrachtung, die Teleologie ein.\nWas den Organismus von den astronomischen Systemen unterscheidet, das ist, dafs in ihm zu den bewegenden Kr\u00e4ften eine neue Ursache hinzutritt, der Zweck. Dieser Zweck liegt aber nicht innerhalb der organischen Materie, es ist keine innere t\u00e4tige Kraft; wir .d\u00fcrfen ja, so hatten wir oben gesehen, der Materie keine inneren Kr\u00e4fte zuschreiben, sonst verfallen wildem Hylozoismus, dem Tod aller Naturphilosophie. Dieser Zweck liegt auch nicht aufserhalb der organischen Materie ; denn was einen aufser ihm liegenden Zweck zur Ursache hat, ist ein Kunstprodukt eines intelligenten Urhebers, so w\u00fcrden wir in den Theismus geraten und damit nicht minder die Grenzen wissenschaftlicher Erfahrung \u00fcberschreiten. Dieser Zweck \u2014 das ist die einzige M\u00f6glichkeit diesem Dilemma zu entgehen \u2014 liegt vielmehr in uns, in unserer Betrachtungsweise. Wir beurteilen die organischen Produkte, als ob ein Zweck ihre Ursache w\u00e4re, als sich selbst organisierende Wesen, in welchen jeder Teil gemeinschaftlich mit den anderen das Ganze und dadurch sich selbst hervorbringt. Ein organisches Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist,2 Nur durch solche Definition wird das Charakteristische des Organischen im Gegensatz zum Unorganischen bestimmt; nur unter diesem Gesichtspunkt k\u00f6nnen wir das Organische in seiner Eigenheit erfassen. Das Zweckprinzip ist also nicht ein Prinzip des Seienden, sondern ein Prinzip, eine Eigent\u00fcmlichkeit unseres Bewufstseins, gerade wie die Anschauungsformen von Raum und Zeit und die Kategorien des Verstandes. Es ist, wie diese und neben diesen, a priori gegeben und, insofern es Voraussetzung und Bedingung der Wissenschaft ist, der beschreibenden Naturwissenschaft, transzendental.\n1\tKants Kritik der Urteilskraft. \u00a7 75. Herausgegeben von Kirchmann. II. Aufl. 1872. S. 278.\n2\tEbenda \u00a7 66, S. 250. cf. \u00a7 65, S. 248. \u201eEin organisiertes Wesen ist also nicht blofs Maschine, denn die hat lediglich bewegende Kraft, sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert), also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsverm\u00f6gen allein (den Mechanismus) nicht erkl\u00e4rt werden kann.\u201c","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nPaul Schultz.\nEine Richtung unseres wissenschaftlichen Bewufstseins geht auf die mathematisch-mechanische Erkl\u00e4rung der Natur aus. Sie f\u00fchrt die Einzelerscheinungen auf allgemeinere zur\u00fcck und fafst diese in Gesetze zusammen. Mathematisch-mechanische Gesetze zu finden ist ihre h\u00f6chste Aufgabe, sie sind ihr der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht. Nur soweit das Einzelne dazu verhilft, ist es ihr von Bedeutung; nur als besonderer Fall, als zuf\u00e4lliges Beispiel des Allgemeinen. Daneben her, gesondert und gleichberechtigt, geht eine zweite Richtung unseres wissenschaftlichen Bewufstseins. Sie nimmt \u2014 darin ist sie der Kunst verwandt \u2014 gerade das Einzelne, das Individuum zum Vorwurf und Problem. Wenn sie die Individuen auch zusammenfafst und unterordnet unter Gattung und Art, so tut sie es doch nur, um dadurch das Einzelne darzustellen und zu bestimmen. Nur soweit das Allgemeine das leistet, hat es f\u00fcr sie Interesse. Dem Individuum, dem Organismus als solchen vermag die Mechanik nicht beizukommen, ihn mit ihren Formeln nicht zu umspannen; sie besch\u00e4ftigt sich \u00fcberhaupt nicht mit ihm. Das allein tut die finale Betrachtung. Sie macht die Formen der Natur zu ihrem Gegenstand, nicht die Umrisse, die K\u00f6rpergr\u00f6fsen beschreiben, sondern die Gestalten, die als besondere Stoffgebilde, als Tr\u00e4ger stofflicher Besonderheiten sich darstellen. So ist die Theorie der Natur, oder die kausale Erkl\u00e4rung der Erscheinungen nicht eingeschr\u00e4nkt, auch nicht in irgend einem Betracht ersetzt ; sie ist vielmehr notwendig erg\u00e4nzt. F\u00fcr die Erkenntnis der Natur, einschliefs-lich des Organismus, ist der Mechanismus unerl\u00e4fslich. Die Teleologie leistet hierf\u00fcr nichts, sie ist kein Erkenntnisprinzip. Selbst die Entstehung der Naturprodukte ist nur nach mechanischen Gesetzen m\u00f6glich. Aber f\u00fcr die Beurteilung der organischen Naturprodukte reichen die mechanischen Gesetze nicht aus, hier tritt die Teleologie als regulatives Prinzip, als Maxime unserer Betrachtung ein.\nSo haben wir denn alles, was als Gegenstand der Sinne zur Erfahrung geh\u00f6rt in der theoretischen und beschreibenden Naturwissenschaft umfafst. Vermittelst ihrer Gesetze \u201ebuchstabieren\n71\n>vir die Erscheinungen, um sie als Erfahrung lesen zu k\u00f6nnen\u201c. Doch nur W\u00f6rter und einzelne S\u00e4tze verm\u00f6gen wir auf diese Weise m\u00fchsam zu stammeln. Wir wrollen aber mehr, wir wollen im Reiche der Natur Zusammenhang und Sinn finden. Uns treibt ein Drang des Gem\u00fctes, \u00fcber die zerstreuten Einzelheiten,","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n253\ndie die Sinne uns darbieten, uns zu erheben zu einer Einheit, mit den Fl\u00fcgeln des Geistes die k\u00f6rperliche Welt zu \u00fcberfliegen.\nDoch ist es Jedem eingeboren,\nDafs sein Gef\u00fchl hinauf und vorw\u00e4rts dringt,\nWenn \u00fcber uns, im blauen Eaum verloren,\nIhr schmetternd Lied die Lerche singt,\nWenn \u00fcber schroffen Fichtenh\u00f6hen Der Adler ausgebreitet schwebt,\nUnd \u00fcber Fl\u00e4chen, \u00fcber Seen\nDer Kranich nach der Heimat strebt.\nSo wollen wir auch in der Wissenschaft die einzelnen Erkenntnisse, die alle Einsicht doch nur gew\u00e4hrt, vereinigen zu einem System und sie darin zusammenschliefsen als ein abgeschlossenes, absolutes Ganzes.1 Denn erst als Glied eines solchen erh\u00e4lt das Einzelne Geltung und Bedeutung, erst dadurch Stellung und Verh\u00e4ltnis zu den \u00fcbrigen. Ein Ganzes, ein Absolutes ist aber nur m\u00f6glich als Unbedingtes. Erfahrung gibt uns nur Bedingtes ; zu welchen letzten Bedingungen wir auch hinaufsteigen, sie sind doch immer wieder Bedingtes von h\u00f6heren Bedingungen; der Regressus ist unendlich. So kann das Unbedingte nimmermehr in der Erfahrung gegeben sein, und es kann kein Begriff des Verstandes sein. Erst an der Grenze der Erfahrung richten wir es auf als einen Begriff der Vernunft, als Idee. Die Idee bezeichnet und bestimmt keinen Gegenstand der Erfahrung, sie ist auch nicht von solchen als ein Allgemeines abstrahiert. Sie geht \u00fcberhaupt nicht auf etwas, was ist, sondern auf etwas, was sein soll. Indem sie die Beschr\u00e4nktheit unseres Verstandes dartut, legt sie doch Zeugnis ab f\u00fcr die Gr\u00f6fse unserer Vernunft, die sich in ihr ein Ziel, eine Aufgabe setzt, dem sie zustreben will und soll, das sie aber doch niemals erreichen kann.2\nDrei Arten des bedingten Daseins gibt es. F\u00fcr jede fordert sich die Vernunft ein letztes unbedingtes Glied, damit darin sich die unendliche Reihe zu einer Totalit\u00e4t vollende, sich als Einheit von uns\n1\tKrit. d. rein. Vern. S. 605: \u201eDie Vernunft wird durch, einen Hang ihrer Natur getrieben, \u00fcber den Erfahrungsgebrauch hinauszugehen, sich in einem reinen Gebrauche und vermittelst blofser Ideen zu den \u00e4ufsersten Grenzen aller Erkenntnis hinauszuwagen und nur allererst in der Vollendung ihres Kreises in einem f\u00fcr sich bestehenden systematischen Ganzen, Ruhe zu finden.\u201c\n2\tKant: Krit. d. rein. Vern. S. 502: Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft, cf. S. 263.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nPaul Schultz.\nerfassen lasse. Somit gibt es drei Ideen : die Idee der denkenden Natur in uns, die Seele; die Idee der k\u00f6rperlichen Natur aufser uns, die Welt, oder sofern wir das aufser uns als ein Bewirken, als Handlungen auftassen, die Freiheit; die Idee alles m\u00f6glichen Daseins \u00fcberhaupt, der Urgrund, das Urwesen Gott. Diesen Ideen haftet wegen ihrer eigent\u00fcmlichen Stellung \u201eeine unvermeidliche Illusion\u201c an, die eine best\u00e4ndige Quelle gef\u00e4hrlicher Irrt\u00fcmer wird. Nicht mehr Grenzbegriffe, Grenzobjekte zu sein t\u00e4uschen sie vor ; an der Grenze der Erfahrung stehend erwecken sie den Schein noch zu ihrem Gebiet zu geh\u00f6ren. Aber Gott, Freiheit, Seele sind nicht reale Objekte, nicht Gegenst\u00e4nde der Erfahrung, sie sind nicht der Untersuchung, Beobachtung und Experiment, zug\u00e4nglich. Sie sind nicht Objekte wissenschaftlicher Erkenntnis. Dafs sie das Gegenteil behauptete, damit betrog sich die falsche, die dogmatische Metaphysik. Hiervon kann uns die kritische Besinnung zwar nicht g\u00e4nzlich befreien, aber sie kann uns doch dar\u00fcber aufkl\u00e4ren. Sie belehrt uns, dafs die Ideen nur Sch\u00f6pfungen unseres Gem\u00fctes sind, dafs sie sich aber notwendig in uns bilden und darum ihren unverg\u00e4nglichen Wert f\u00fcr uns haben. Sie belehrt uns, dafs sie nicht realisierbar sind, dafs sie an der Grenze und aufserhalb der Erfahrung stehen, \u00fcber Zeit und Raum erhoben, und dafs sie daher f\u00fcr uns niemals Erscheinung, niemals Ph\u00e4nomenon, damit auch nicht Gegenstand wissenschaftlichen Beweisens werden k\u00f6nnen. Sie sind nicht anschaubar, sondern nur denkbar, in-telligibel, No um en a der theoretischen Vernunft.\nDrei Verm\u00f6gen, so hatten wir oben gesagt, besitzt die menschliche Vernunft, sofern sie auf Erkenntnis gerichtet ist, die theoretische Vernunft: Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft. Jedes derselben beruht auf gewissen Bedingungen, unter denen es wirksam ist, besitzt eigent\u00fcmliche Urformen, vermittelst deren es das ihr gebotene Material ordnet und zusammenfafst. Das Material der Sinnlichkeit sind die Empfindungen, Raum und Zeit sind ihre Urformen. Die Einheiten, zu welche jene durch diese verkn\u00fcpft werden, das synthetische Produkt beider sind Erscheinungen. Die Erscheinungen sind wieder Gegenstand und Aufgabe des Verstandes; vermittelst seiner Urformen, der Kategorien, gestaltet und vereinigt er sie zu Erfahrung. Diese wieder wird Aufgabe f\u00fcr die Vernunft. Ihre Urformen sind die Ideen. In ihnen stellt sich alle m\u00f6gliche Erfahrung als ein Ganzes dar,","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n255\nbaut sich auf zu einem wissenschaftlichen System, das sich unaufh\u00f6rlich fortbildet und doch niemals vollendet.\nHier schliefst sich der Bogen unserer Untersuchung. An der Hand der KvNTischen Lehre waren wir ausgegangen von dem Faktum der NEWTONsehen Wissenschaft. Das wollten wir erkl\u00e4ren, seine Gegebenheit gesetzm\u00e4fsig begr\u00fcnden. Wir wollten zu dem Zweck ganz allgemein die Frage beantworten, wie ist Naturerkenntnis m\u00f6glich. Die Antwort konnte nur gegeben werden durch eine Kritik der Erkenntnisquellen, der theoretischen Vernunft. Diese Kritik hat jetzt ihr Gesch\u00e4ft vollendet. Sie hat die einzelnen Verm\u00f6gen der Vernunft aufgedeckt, sie hat gezeigt, dafs jedes dieser Verm\u00f6gen gewisse Urformen, eigent\u00fcmliche Prinzipien besitzt, nach denen es verf\u00e4hrt. Sie hat Bedeutung und Umfang dieser Prinzipien nach gewiesen und damit zugleich die Grenzen der Vernunft bestimmt. Mit der sinnlichen Empfindung hebt die erkennende Vernunft, indem sie sich ausbildet, ihre T\u00e4tigkeit an, mit dem wissenschaftlichen System als ihrer h\u00f6chsten Leistung schliefst sie ab. Diesen Entwicklungsgang haben wir jetzt auch in der Kritik durchmessen. Dem\u00fctigend ist es, \u201edafs der gr\u00f6fste und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft also wohl nur negativ ist; da sie n\u00e4mlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrt\u00fcmer zu verh\u00fcten.\u201c \u201eAllein andrerseits erhebt sie es wiederum und gibt ihr ein Zutrauen zu sich selbst, dafs sie diese Disziplin selbst aus\u00fcben kann und rnufs, ohne eine andere Zensur \u00fcber sich zu gestatten.\u201c 1\nAber der Mensch ist nicht nur ein erkennendes, sondern vor Allem ein wollendes Wesen. Neben den materiellen Ver\u00e4nderungen, die Aufgabe der theoretischen Vernunft sind, enth\u00e4lt die Natur noch die menschlichen Handlungen, die als Bet\u00e4tigungen des Willens der praktischen Vernunft unterliegen.2 Die Naturerscheinungen sind mechanisch zu erkl\u00e4ren, die Willenshandlungen moralisch zu bestimmen ; an Stelle der Naturgesetze tritt hier das Sittengesetz, an Stelle des\n1\tKant: Krit. d. rein. Vern. S. 603 u. 604.\n2\tVgl. zum folgenden auch Cohen: Kants Begr\u00fcndung der \u00c4sthetik, Berlin, D\u00fcmmler, 1889.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nPaul Schultz.\nNotwendigseins das Sollen. Das ist kein M\u00fcssen, das uns zwingt, keine durch \u00e4ufsere Autorit\u00e4t, weltliche oder g\u00f6ttliche, aufgedrungene Forderung, auch keine notwendige Folge unserer psycho-physischen Organisation. Es ist ein M\u00fcssen ohne Zwang, eine N\u00f6tigung, die uns verpflichtet, ein Gesetz, das wir uns selbst geben, und das wir erf\u00fcllen blofs aus Achtung vor dem Gesetz. Es ist die eigenste Sch\u00f6pfung unseres Geistes:\nEs ist nicht draufsen, da sucht es der Tor ;\nEs ist in dir, du bringst es ewig hervor.\nWie das Bewufstsein Erfahrung und Wissenschaft erzeugt, so erzeugt es nach einer anderen Dichtung hin das Pflichtgebot, das uns befiehlt, so sollst du handeln. Der Inhalt des Gebotes ist das Subjekt selbst. Indem es sein Dasein als Endzweck setzt, wird das sittliche Wesen zugleich zum Objekt. So erscheint das Sittengesetz als die Ordnung moralischer Individuen, die Urheber zugleich und Glieder dieser Ordnung sind, als die Gemeinschaft von Personen, worin jede die andere jederzeit als Zweck achtet und niemals blofs als Mittel behandelt, worin die Person nur durch sich selbst, durch ihre Menschenw\u00fcrde gilt.1 \u201eDer Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person mufs ihm heilig sein.\u201c 2 3 * * * * Dies ist auch das Forum, von dem Religion und Recht ihre Legitimation empfangen. Darin stimmt Schiller mit Kant \u00fcberein; die Sittlichkeit mufs gegen\u00fcber der Religion ihre Selbst\u00e4ndigkeit wahren, die Glaubenslehre h\u00e4ngt ab von der Sittenlehre, nicht umgekehrt.8\nAuch hierin hat sich unsere Auffassung vertieft gegen\u00fcber dem \u201eIgnorabimus\u201c und den \u201esieben Weltr\u00e4tseln\u201c. Der Mensch als Naturerscheinung unterliegt den Naturgesetzen ; soweit durch-\n1\tKant: Kritik der praktischen Vernunft. Ed. Kehbbach (Reelam), S. 158.\n2\tEbenda S. 106.\n3\tVgl. Schilleb: \u00dcber den moralischen Nutzen \u00e4sthetischer Sitten. Der Schlufs lautet: \u201eObgleich derjenige im Bange der Geister unstreitig\neine h\u00f6here Stelle bekleiden w\u00fcrde, der weder die Beize der Sch\u00f6nheit noch die Aussichten auf eine Unsterblichkeit n\u00f6tig h\u00e4tte, um sich bei allen Vorf\u00e4llen der Vernunft gem\u00e4fs zu betragen, so n\u00f6tigen doch die bekannten\nSchranken der Menschheit selbst den rigidesten Ethiker von der Strenge\nseines Systems in der Anwendung etwas nachzulassen, ob er demselben gleich in der Theorie nichts vergeben darf, und das Wohl des Menschen-\ngeschlechts, das durch unsere zuf\u00e4llige Tugend gar \u00fcbel besorgt sein w\u00fcrde, noch zur Sicherheit an den beiden starken Ankern der Beligion und des\nGeschmackes zu befestigen.\u201c","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Gehirn und Seele.\n257\nschaut ihn der LAPLACEsche Geist und l\u00f6st ihn auf in Bewegungsgleichungen. Aber wie schon der Organismus nicht rein darin aufging, wie an ihm schon die Unzul\u00e4nglichkeit des Mechanismus kund ward, so offenbart das noch in viel st\u00e4rkerem Mafse der Mensch als sittliches Wesen. Von diesem sagt die subtilste astronomische Einsicht in die Hirnmechanik nichts aus, ihn beschreiben nicht die umfassendsten statistischen Angaben, und alle historische Forschung weist nicht sein Fundament nach. Er erfordert eine gesonderte Betrachtung, wie der Organismus. Aber w\u00e4hrend dieser doch noch sinnliche Erscheinung blieb, Naturwesen, ist der sittliche Mensch der sinnlichen Anschauung und der Binnenerkenntnis g\u00e4nzlich entzogen, er ist ein rein geistiges, intelligibles Wesen. Und die Wurzel dieses Wesens ist Freiheit. Dafs das Sollen gilt, dafs das Gesetz, das in uns spricht, verbindlich und doch kein Naturgesetz ist, hat zur Voraussetzung, dafs der Mensch in seinem Handeln frei ist. Bei der Beurteilung des Organismus war der Zweck das leitende Prinzip,, bei Beurteilung des sittlichen Individuums ist es die Freiheit. Die Denkbarkeit der Freiheit hatte die theoretische Vernunft gezeigt. Dort war sie eine Weltidee, hier ist sie ein menschliches Verm\u00f6gen. Dort war sie ein Grenzbegriff, eine Behauptung, die sich nicht beweisen und nicht widerlegen liefs. Hier ist sie die Grundlage der Tatsache des in uns sich regenden Gewissens, der Tatsache des Sittengesetzes, damit ist ihre G\u00fcltigkeit gesichert, und sie erlangt f\u00fcr uns als sittliche Wesen objektive Realit\u00e4t.\nKausalit\u00e4t und Freiheit sind also keine Gegens\u00e4tze, die sich befehden. Wir befinden uns nicht in dem Dilemma, \u201eauf dessen H\u00f6rner gespiefst unser Verstand gleich der Beute des Neunt\u00f6ters .schmachtet\u201c,1 dem Dilemma des Determinismus und Indeterminismus. Wir entschliefsen uns nicht, \u201edie Willensfreiheit zu leugnen und das subjektive Freiheitsgef\u00fchl f\u00fcr T\u00e4uschung zu erkl\u00e4ren\u201c,2 um das Weltr\u00e4tsel der pers\u00f6nlichen Freiheit zu l\u00f6sen. Freiheit ist kein leerer, t\u00e4uschender Wahn; sie ist eine Tatsache, wie die befehlende Stimme in uns, die jeder moralisch Gebildete vernimmt. Kausalit\u00e4t und Freiheit sind vielmehr disparate Begriffe, die, anstatt sich auszuschliefsen oder aufzuheben, sich einander fordern und erg\u00e4nzen. Wir sagen nicht, \u201edie\n1\tdu Bois - Reymond : Die sieben Weltr\u00e4tsel. In: Reden, I. Bd., S. 404.\n2\tEbenda S. 410.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 32.\n17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nPaul Schultz.\nanalytische Mechanik reicht bis znm Problem der pers\u00f6nlichen Freiheit\u201c, sondern die Mechanik geht dies Problem nichts an. Einer anderen Betrachtung unterliegt der Mensch als Naturobjekt, einer anderen als ethisches Individuum. Wir sagen auch nicht, dafs \u201edie Erledigung des Freiheitsproblems Sache der Abstraktionsgabe jedes einzelnen bleiben mufs,\u201c 1 sondern das Bewufst-sein der Freiheit ist eine Eigent\u00fcmlichkeit des menschlichen Geistes und als Grundlage des Sittengesetzes zugleich Grundlage menschlicher Gemeinschaft. Das Freiheitsbewufstsein erweitert das Naturindividuum zur moralischen Person, auf dieser aber beruht die W\u00fcrde und Gr\u00f6fse der Menschheit.\nAls Gegenstand der Sinnenwelt als lebendiges Gesch\u00f6pf ist der Mensch ein Spezialfall der allgemeinen Gesetze, einer unter den vielen Millionen, unendlich klein. Als moralisches Wesen schreitet er fort zu einer intelligibelen Welt, in der er selbst Gesetzgeber und Gegenstand des Gesetzes ist, und in der sich \u201edie Erhabenheit seiner Natur vor Augen stellt\u201c.2 \u201eZwei Dinge erf\u00fcllen das Gem\u00fct mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je \u00f6fter und anhaltender sich das Nachdenken damit besch\u00e4ftigt : Der bestirnte Himmel \u00fcber mir und das moralische Gesetz in mir.\u201c \u201eDer erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Gesch\u00f6pfes, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem blofsen Punkt im Weltall) wieder zur\u00fcckgeben mufs, nachdem es eine kurze Zeit (man weifs nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Pers\u00f6nlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabh\u00e4ngiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckm\u00e4fsigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf die Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschr\u00e4nkt ist, sondern ins Unendliche geht* abnehmen l\u00e4fst.\u201c 3\n1\tEbenda S. 400.\n2\tKrit. d. prakt. Vern. S. 106.\n8 Krit. d. prakt. Vern. Beschhifs. S. 193.\n(Eingegangen am 20. Mai 1903.)","page":258}],"identifier":"lit32929","issued":"1903","language":"de","pages":"200-258","startpages":"200","title":"Gehirn und Seele","type":"Journal Article","volume":"32"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:37:25.084765+00:00"}

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