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Über eine einfache Methode zur Untersuchung der Merkfähigkeit resp. des Gedächtnisses bei Geisteskranken

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{"created":"2022-01-31T16:36:24.719843+00:00","id":"lit32930","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Bernstein, Alexander","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 32: 259-263","fulltext":[{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"259\n\u00dcber eine einfache Methode zur Untersuchung der Merkf\u00e4higkeit resp. des Ged\u00e4chtnisses\nbei Geisteskranken,\nVon\nDr. Alexander Bernstein,\nPriv.-Doz. f. Psychiatrie in Moskau.\nIn der letzten Zeit tritt immer mehr in der klinischen Psychiatrie das Bed\u00fcrfnis \u2014 und auch die Bestrebung \u2014 zu Tage, die subjektive erkl\u00e4rende Analyse des psychischen Status der Geisteskranken durch eine objektiv konstatierende, wom\u00f6glich messende Untersuchung zu ersetzen. Die Sache w\u00e4re sehr einfach, wenn wir, um diesem Ziele nahe zu kommen, das genaue psychologische Experiment in vollem Umfange in die Klinik \u00fcbertragen k\u00f6nnten, was augenblicklich leider kaum m\u00f6glich ist. Einerseits ist die experimentelle Methodik bis jetzt zu sehr an komplizierte Apparate gebunden und bedarf das Experimentieren eines v\u00f6lligen Verst\u00e4ndnisses und Einverst\u00e4ndnisses der Versuchspersonen; andererseits aber eignen sich Laboratorienversuche, welche allgemeinpsychologische Zwecke verfolgen, nur wenig zur Aufkl\u00e4rung des individuellen psychischen Verhaltens in praxi. Ebenso wie das physiologische Experiment nicht ohne weiteres zur klinischen Untersuchung eines inneren Kranken verwertet werden kann, und die Untersuchung am Krankenbette ihre eigene Methodik ausgearbeitet hat, welche vielmehr symbolische als reelle Symptome auszul\u00f6sen vermag und nur auf Umwegen zur Deutung des tats\u00e4chlichen Barbestandes dienen kann, \u2014 so bedarf auch die psychiatrische Klinik solcher Untersuchungsmethoden, welche einerseits einfach, leicht durchf\u00fchrbar und praktisch sind, andererseits aber einzelne psychische Funktionen in vergleichbarer Weise dar-","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nAlexander Bernstem\nzustellen verm\u00f6gen. Dabei mufs immerhin Vorbehalten werden, dafs wir vielleicht unter solchen Umst\u00e4nden weniger in das Wesen der Krankheit selbst einzudringen versuchen, als vielmehr conventionelle, manchmal auch k\u00fcnstliche Symptome hervorzurufen, welche f\u00fcr die gegebene Krankheit eventuell charakteristisch sind.\nDerartige einfache Methoden gibt es nur wenige und dieser Umstand wird wohl die Beschreibung einer Untersuchungsmethode rechtfertigen, welche ich seit einigen Monaten sowohl am Krankenbette, wie auch im psychologischen Laboratorium benutze. Sie ist dazu bestimmt, die Merkf\u00e4higkeit zu pr\u00fcfen, kann aber auch zur Untersuchung des Ged\u00e4chtnisses \u00fcberhaupt benutzt werden.\nIch gebrauche f\u00fcr diesen Zweck ein h\u00f6lzernes Brett von rechteckiger Form; jede Seite des Quadrats betr\u00e4gt 28 cm. Das Brett hat, wie Fig. 1 zeigt, einen Handgriff, welcher es bequem in der Hand zu halten erlaubt, und ist in drei Zeilen geteilt, in deren jede je drei Karten von Kartonpapier eingeschoben werden k\u00f6nnen. Die Karten sind auch rechteckig und die L\u00e4nge jeder Seite betr\u00e4gt 8 cm; auf den Karten sind einfache Figuren gezeichnet, welche verschiedene Kombinationen von einfachen geometrischen Formen darstellen (Fig. 2). Die Zeichnungen sind so gew\u00e4hlt, dafs sie wom\u00f6glich keine bestimmte","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Methode zur Untersuchung der Merkf\u00e4higkeit bei Geisteskranken. 261\nGegenstandsVorstellung erwecken, resp. dafs sie nicht mit einem bestimmten Worte bezeichnet werden k\u00f6nnen. Das Brett wird nun mit nenn eingesetzten Karten der Versuchsperson w\u00e4hrend 30 Sek. vorgezeigt mit der Bitte, sich die Figuren gut zu merken. Gleich danach wird das Brett weggenommen und der Versuchsperson eine Kartontabelle (Fig. 3) vorgelegt, deren Seitenlange 40 cm betr\u00e4gt und welche 25 Zeichnungen von ein-\nFig. 3.\nfachen und kombinierten geometrischen Figuren enth\u00e4lt, worunter sich auch die zuerst vorgezeigten befinden. Die 25 Figuren sind so gew\u00e4hlt, dafs es darunter wenigstens je zwei solche gibt, welche mehr oder weniger zur Verwechslung miteinander Anlafs geben k\u00f6nnen. Nun wird die Versuchsperson ersucht, in dieser Tabelle die zuerst vorgezeigten Figuren herauszufinden und zu zeigen; dabei wird die Zahl der richtig und der falsch gezeigten\nY\naufgeschrieben und zwar gebrauche ich dazu die Formel \u2014\u2014f,\nYb\nin welcher r die Zahl der richtigen, f die Zahl der falschen Angaben und n die Gesamtzahl der zuerst vorgezeigten Figuren\nbezeichnet |z. B. T + 4\nEs ist selbstverst\u00e4ndlich, dafs die im Brett zusammengestellten Karten beliebig variiert werden k\u00f6nnen; bei klinischen Untersuchungen aber, \u2014 wo es doch am meisten gilt mit identischen psychischen Eingriffen zu operieren, um g\u00e4nzlich vergleichbare Resultate zu gewinnen \u2014, ist es ratsam, sich immer an dieselbe Kombination von Karten zu halten.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nAlexander Bernstein.\nWenn die Untersuchung auf das Ged\u00e4chtnis \u00fcberhaupt \u00fcbertragen werden soll, so kann sie, um die Dauerhaftigkeit und Festigkeit des Eingepr\u00e4gten zu pr\u00fcfen, etwa so angestellt werden, dafs nach verschiedenen Zeitr\u00e4umen (1 Stunde, 6 Stunden, 24 Stunden, 1 Woche u. s. w.) das Herausfinden der zuerst vorgezeigten Figuren angestellt wird und die Resultate erstens in Bezug auf die zuerst vorgezeigten und zweitens im Vergleich miteinander gesch\u00e4tzt werden. Um die Reproduktionsf\u00e4higkeit zu untersuchen, kann man die Versuchsperson ersuchen, anstatt die Figuren in der Tabelle herauszufinden, dieselben auf einem St\u00fcck Papier oder an der Tafel nachzuzeichnen, und zwar auch nach verschiedenen Zeitr\u00e4umen; dabei wird sowohl die Richtigkeit der Konturen, wie auch die Lokalisation der Figuren beachtet.\nAus meinen Versuchen geht bis jetzt soviel hervor, dafs erstens bei Geistesgesunden ein wesentlicher Unterschied zwischen den Angaben der m\u00e4nnlichen und weiblichen Individuen bemerkt wird, und zwar in dem Sinne, dafs bei letzteren gew\u00f6hnlich die Zahl der Angaben diejenige der vorgezeigten Figuren \u00fcberschreitet und dafs von ihnen \u00fcberhaupt mehr falsche Angaben gemacht werden, als von m\u00e4nnlichen Personen; und zweitens, dafs sich bei verschiedenen Geisteskrankheiten (nicht Krankheitsbildern!) verschiedene, und, wie mir scheint, f\u00fcr jede einzelne Krankeit charakteristische Typen der Angaben verzeichnen lassen. Eine ausf\u00fchrliche Zusammenstellung und Bearbeitung dieser an Gesunden und Kranken gemachten Versuche wird demn\u00e4chst von mir und einem meiner Assistenten Herrn Dr. T. Bog-danoff ver\u00f6ffentlicht werden.\nDie Vorteile meiner Methode vor denjenigen, bei welchen die vorgezeigten Gegenst\u00e4nde nur ganz kurze Zeit vor den Augen der Versuchsperson stehen bleiben, erblicke ich darin, dafs bei letzteren Methoden mehr die Geschwindigkeit der Auffassung, als die Merkf\u00e4higkeit im Spiele steht, da ja die Eindr\u00fccke zuerst aufgefafst werden m\u00fcssen, um im Ged\u00e4chtnisse behalten werden zu k\u00f6nnen und man bei diesen Methoden nie ganz sicher wissen kann, ob die Angaben die Auffassungs- oder aber die Merkf\u00e4higkeit oder beide zusammen charakterisieren ; bei meiner Methode ist das Nichtauffassen der Figuren so gut wie ganz ausg\u00e9schlossen, da dieselben w\u00e4hrend 30 Sek. der Betrachtung ausgestellt bleiben und somit die Funktions-","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Methode zur Untersuchung der Merkf\u00e4higkeit hei Geisteskranken. 263\nf\u00e4higkeit des Merkens von derjenigen des Auffassens unabh\u00e4ngig auftritt.\nEinen weiteren Vorteil dieser Methode m\u00f6chte ich in der Auswahl der vorgezeigten Figuren sehen; wenn man mit Buchstaben, Zahlen, Farben, Zeichnungen von Gegenst\u00e4nden, mit wohlbekannten geometrischen Figuren und \u00e4hnlichen optischen Objekten operiert, so ist man nie ganz sicher, ob wirklich die aufgefafsten optischen Eindr\u00fccke nach deren Konturen, oder aber nach ihrer hinzuassoziierten w\u00f6rtlichen Benennung, oder gar nach dem sprachlichen Ausdruck derselben aufbewahrt bleiben. Unter solchen Umst\u00e4nden k\u00f6nnen wir ja keineswegs die M\u00f6glichkeit ausschliefsen, dafs die gemachten Angaben sich vielleicht weniger auf die einfache optische Merkf\u00e4higkeit, als vielmehr auf assoziative, kombinatorische u. s. w. Prozesse beziehen. Bei der von mir benutzten Methode habe ich, wie gesagt, den Beistand dieser beihilflichen Momente dadurch aus-zuschliefsen versucht, dafs die vorgezeigten Figuren nur nach ihren Konturen gemerkt werden k\u00f6nnen, da dieselben keinen selbst\u00e4ndigen Sinn haben, und kaum assoziativ verwertet zu werden verm\u00f6gen.\nEndlich m\u00f6chte ich einen Vorteil dieser Methode darin erblicken, dafs bei meinen Merkversuchen die gemerkten Figuren nicht reproduziert, sondern nur wiedererkannt zu werden brauchen, wodurch wiederum die Merkf\u00e4higkeit isoliert und von der aktiven Reproduktionsf\u00e4higkeit unabh\u00e4ngig untersucht werden kann*\nBis jetzt hat sich diese Methode sehr gut bei Geisteskranken durchf\u00fchren lassen ; sie fordert keine Vorbereitungen, nimmt nur wenig Zeit in Anspruch und ihre Technik wird auch von verbl\u00f6deten und verwirrten Kranken leicht aufgefafst. Obwohl sie nur einen sehr geringen Bruchteil des psychischen Status der experimentellen Untersuchung zug\u00e4ngig macht, habe ich mir erlaubt diese Methode hier zu beschreiben, da ich \u00fcberzeugt bin, dafs bei der gegenw\u00e4rtigen psychologisch - klinischen Richtung in der Psychiatrie jede methodologische Einzelheit einiges Interesse verdient.\n(.Eingegangen am 27. Mai 1903.)","page":263}],"identifier":"lit32930","issued":"1903","language":"de","pages":"259-263","startpages":"259","title":"\u00dcber eine einfache Methode zur Untersuchung der Merkf\u00e4higkeit resp. des Ged\u00e4chtnisses bei Geisteskranken","type":"Journal Article","volume":"32"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:36:24.719848+00:00"}

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