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{"created":"2022-01-31T16:23:42.838217+00:00","id":"lit32935","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Rieger, Conrad","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 31: 1-46","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"1\n\u2022 \u2022\nUber Muskelzust\u00e4nde.1\nVon\nProfessor Conrad Bjegeb, in W\u00fcrzburg.\n(Mit zwei Tafeln.)\nEinleitung.\nObgleich dieser Gegenstand rein physiologischer Natur zu sein scheint in dem Sinne, dafs er weder zu entsprechen scheint dem Titel dieser Zeitschrift : \u201ef\u00fcr Psychologie\u201c ; noch dem : \u201ef\u00fcr Physiologie der Sinnesorgane\u201c ; \u2014 soistinWirklichkeit\n1 Ich will hier gleich einige sprachliche Bemerkungen machen \u00fcber den ungl\u00fccklichen Namen: Muskel, der, wie ja leider so sehr viele W\u00f6rter und besonders solche, die aus der Medizin stammen, mehr verwirrt als aufkl\u00e4rt. Das Wort scheint jedenfalls vorzugsweise eine Bewegungsvorstellung zu enthalten. Soviel ich aus etymologischen W\u00f6rterb\u00fcchern habe mir klar machen k\u00f6nnen, scheint es unabweisbar, dafs Muskel M\u00e4uschen heilst ; und fraglich ist nur: was als tertium comparationis angenommen werden soll zwischen dem Nagetier und dem Ding aus der Anatomie? Nach Grimms W\u00f6rterbuch war der deutsche Ausdruck f\u00fcr Muskel fr\u00fcher einfach Maus undM\u00e4uslein; das Fremdwort : Muskel ist erst im achtzehnten Jahrhundert in die deutsche Sprache eingef\u00fchrt worden. \u2014\u2022 Beockes sagt: Wenn man das herrliche Geb\u00e4u des K\u00f6rpers kennet, wie Nerv und M\u00e4uselein so zart gewebet sind; und: Soviel wir vom Bewegungswerk bisher begreifen und verstehen, Geschieht sie durch der M\u00e4uslein H\u00fclf, die man sonst Muskeln pflegt zu nennen.\nDaf\u00fcr nun, dafs in der Bewegung, und nicht etwa in der anatomischen Gestalt, das tertium comparationis zwischen Maus und Muskel liegt, spricht auch folgende Stelle in Geimms W\u00f6rterbuch: \u201eM\u00e4use f\u00fcr Skrupel, die man sich \u00fcber etwas macht; das Bild lehnt wohl zun\u00e4chst an an die im Kopf gleich M\u00e4usen hin und herschiefsenden Gedanken\u201c. \u2014\nAuch Keauss (kritisch-etymologisches medizinisches Lexikon. Dritte Auflage. G\u00f6ttingen 1844) ist dieser Ansicht: \u201eDiminutivum von Maus, weil mehrere Muskeln sich unter der Haut so bewegen, dafs es das Ansehen hat, als liefe eine Maus darunter weg. Nachher glaubte man, die Griechen h\u00e4tten als Anatomen die Muskeln mit M\u00e4usen verglichen. Aber zu einer Zeitschrift f\u00fcr Psychologie 31.\t1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nConrad Rieger.\nso tot gelehrten Vergleichung, die wohl nach dem anatomischen Pr\u00e4parierbrett riecht aber der lebendigen Phantasie der Griechen wenig Ehre machen w\u00fcrde (weil n\u00e4mlich pr\u00e4parierte Muskeln M\u00e4usen wenig \u00e4hneln !), hatten die Alten, als sie das M\u00e4uslein benannten, sicher sich nicht hinabgelassen oder erhoben.\u201c \u2014 Dafs schon zu des Plinius Zeiten das Wort: musculus ein ganz gel\u00e4ufiges war, beweist die, in Schellers Lexikon citierte, Stelle aus den Briefen des Plinius : orationem ossa, musculi, nervi decent, in welcher also diese anatomischen Begriffe etwa so nebeneinander gestellt und zu einem Gleichnifs verwendet sind, wie wir auch im Deutschen sprechen k\u00f6nnen von einem \u201eNerv\u201c der Bede, des Gedankens; und wie wir, gleich den alten B\u00f6mern, auch den anatomischen Begriff: articulus, Gelenk, tagt\u00e4glich anwenden auf das Wesentliche an unserer Sprache, n\u00e4mlich auf ihren articu-lierten Charakter. Ebenso heilst es auch im Griechischen einfach gvs, also sogar ohne Diminutiv-Form; und griechische W\u00f6rter wie gvc\u00f6Sgs, gvcov, die eigentlich mausig und dergl. bedeuten sollten, sind v\u00f6llig gleichbedeutend mit dem, was wir jetzt : \u201emuskul\u00f6s\u201c heifsen. \u2014\nTrotz dieser \u00dcbereinstimmung der beiden klassischen Sprachen, in Bezug auf etwas M\u00e4useartiges an den Muskeln, k\u00f6nnte aber vielleicht doch an die M\u00f6glichkeit gedacht werden, dafs auch hier, wie in so vielen anderen F\u00e4llen, nur eine, vulg\u00e4r etymologische, Vermischung von urspr\u00fcnglich Getrenntem stattgefunden h\u00e4tte. Dazu, dafs ich dieser Frage n\u00e4her trete, reichen jedoch meine etymologischen Kenntnisse und Hilfsmittel nicht aus; und ich m\u00f6chte diese Frage nur aufwerfen in der Hoffnung, dafs sie vielleicht einmal von einem Fachmann in Angriff genommen w\u00fcrde, wobei ich noch daran erinnern will, dafs das griechische Verbum \u201euw\u201c zu-schliefsen, welches in der medizinischen Terminologie durch das Wort: Myosis vertreten ist, vielleicht den Schl\u00fcssel abgeben k\u00f6nnte, zumal da auch das Wort: Muschel, bei welchem man wohl in erster Linie an das rasche Sich-Schliefsen zu denken hat, gleichfalls nichts anderes ist als das lateinische musculus. (S. Kluoe, etymologisches W\u00f6rterbuch der deutschen Sprache.) Dabei wird dann aber wohl erst recht die Vorstellung der raschen Bewegung, wobei vielleicht auch das lateinische moveo herangezogen werden k\u00f6nnte, als die gemeinsame und fundamentale sich ergeben.\nEs ist hier auch daran zu erinnern, dafs jedem Deutschen der Ausdruck bekannt sein d\u00fcrfte: \u201edas M\u00e4uschen ist mir vorgefahren\u201c und was damit gemeint ist, n\u00e4mlich die, exzentrisch projizierte, Sensation nach Stofs auf den Nervus ulnaris am Ellenbogen. Es ist mir nicht bekannt, ob auch andere V\u00f6lker f\u00fcr diese Sensation einen bildlichen Ausdruck besitzen, welcher etwas von der \u201eMaus\u201c enth\u00e4lt. Merkw\u00fcrdig ist aber, dafs die Franzosen, welche ihren Namen f\u00fcr Maus (souris) nicht von dem lateinischen mus sondern von dem lateinischen Wort f\u00fcr Spitzmaus (sorex) hergenommen haben, auch ihr souris in die \u201eMyologie\u201c eingef\u00fchrt haben, indem bei Littr\u00e9 als eine Bedeutung von souris aufgef\u00fchrt ist: Muscle charnu qui tient \u00e0 l\u2019os du manche d\u2019un gigot pr\u00e8s de la jointure. In der wissenschaftlichen Anatomie der Franzosen bin ich diesem Ausdruck nie begegnet. Und es wird deshalb wohl angenommen werden d\u00fcrfen, dafs er mehr in die Metzger- und K\u00fcchen-Anatomie geh\u00f6rt, die ja auch im Deutschen","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Muskelzust\u00e4nde.\n3\nihre eigene reichhaltige Nomenklatur hat. Aber gerade dieses ist merkw\u00fcrdig: dafs die Vorstellung der Maus hier auch unter dem Namen souris, der nichts mit mus zu tun hat, bei einem Muskel wieder auftritt. \u2014 Auch in der deutschen K\u00fcchen - Anatomie habe ich das Wort: Maus genau in dem Sinne gefunden, wie Littr\u00e9 souris definiert (vgl. K\u00fcbler, das Haus wesen. Vierzehnte Auflage. Stuttgart 1899. S. 258.) \u2014\nIm Deutschen hat man ja bekanntlich auch noch Gelenkm\u00e4use, die mit den Muskeln gar nichts zu tun haben. Ob auch andere Sprachen diese M\u00e4use haben, ist mir nicht bekannt. Da das Wesentliche der Gelenkmaus der frei bewegliche K\u00f6rper ist, so liegt es auch hier nahe, das tertium comparationis in der freien Beweglichkeit zu suchen.\nIndem nun diese Vorstellung der \u201efreien Beweglichkeit\u201c jedenfalls am meisten die Betrachtung und Bezeichnung der Muskeln beeinflufst hat; so ist, schon durch das, so \u00fcberaus einflufsreiche, Mittel der Sprache, in unsere Auffassung der Muskeln ein \u00dcberwiegen der Bewegungsvorstellung ein-gedrungen, welches einer zu einseitigen Betrachtung Vorschub leisten mufste. Das ber\u00fchmte Wort Bacos, das bei allen wissenschaftlichen Betrachtungen stets auf das Sorgf\u00e4ltigste zu beachten ist: Verborum praestigia et incantationes plurimis modis seducunt et vim quandam intellectui faciunt et impetum suum more Tartarorum sagittationis retro, in intellectum, unde profecta sunt, r\u00e9torquent (De augmentis scientiarum, lib. V. cap. IV) findet auch hier seine Anwendung.\nHinter der Be weg ungs Vorstellung ist dasjenige zu sehr in den Hintergrund getreten, was im Grunde doch das Wichtigere an den Muskeln ist, n\u00e4mlich ihre Bedeutung f\u00fcr die Haltung und, was damit auf das Engste zusammenh\u00e4ngt, f\u00fcr die Heizung des K\u00f6rpers. Dafs die beweglichen \u201eM\u00e4uslein\u201c nicht blofs, und nicht einmal in erster Linie, dazu da sind, die Knochenhebel, oder auch Weichteile, gegen einander zu verschieben, sondern dafs in allen Muskeln (auch abgesehen von dem muscu-l\u00f6sen Pumpwerk des Herzens und dem Blasebalg der Brust) selbst dann, wenn sie sich \u00e4ufserlich gar nicht bewegen, der Lebensprozefs ganz vorwiegend von Statten geht; dies ist noch viel zu wenig in unser wissenschaftliches Bewufstsein eingedrungen. F\u00fcr diese haltungsvollen Heizk\u00f6rper pafst aber auch die \u201eM\u00e4uslein\u201c-Vorstellung sehr schlecht. Und wenn auch der Name: \u201eMuskel\u201c etwas abstrakter geworden ist, so dafs man bei ihm eher absehen kann von der ausschliefslichen Bewegungs vorstellung ; so st\u00f6rt z. B. mich, bei meinem Nachdenken \u00fcber die Zust\u00e4nde und die Bedeutung der Heizk\u00f6rper, auch der abstrakter gewordene Name: Muskel immer noch bedeutend. \u00c4ndern l\u00e4fst sich dies aber vorl\u00e4ufig nicht. Denn wir k\u00f6nnen keine neuen Namen improvisieren. Sondern wir m\u00fcssen es der allm\u00e4hlichen Entwicklung der Wissenschaft \u00fcberlassen, dafs sie die alten Namen allm\u00e4hlich mit neuem Inhalt erf\u00fclle und so die Begriffe umpr\u00e4ge. In unser wissenschaftliches Bewufstsein m\u00fcssen wir aber jetzt schon mit Bestimmtheit aufnehmen: dafs vieles, was in den Muskeln geschieht, mit Bewegungs-Zwecken gar nichts sondern nur mit Haltungsund Heizungs-Zwecken zu tun hat, wovon im Laufe meiner sp\u00e4teren Auseinandersetzungen noch vielfach die Kede sein wird.\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nConrad Rieger.\ndoch alles, was die Muskelzust\u00e4nde ber\u00fchrt, sowohl von Wichtigkeit f\u00fcr die Psychologie (denn alles Psychische mufs, wenn es beobachtet werden soll, in irgend welcher Weise irgend welche Muskeln passiert haben); als von Wichtigkeit f\u00fcr die Physiologie der Sinnesorgane. (Denn die Muskeln sind nicht nur von motorischer Bedeutung sondern zugleich auch die wichtigsten und unentbehrlichsten Organe des Sinnes, durch welchen wir Kunde erhalten von dem, was in der Physik abgehandelt wird unter Statik und Dynamik. Davon k\u00f6nnten wir kaum reden, falls wir nur angewiesen w\u00e4ren darauf, was man gew\u00f6hnlich \u201edie f\u00fcnf Sinne\u201c heifst, wenn man n\u00e4mlich bei dem f\u00fcnften Sinne nur d\u00e4chte an das, was auf die Haut wirkt.) Der Gegenstand liegt darum nicht aufserhalb der Interessensph\u00e4re dieser Zeitschrift, so wie es etwa der Fall w\u00e4re bei einer Abhandlung \u00fcber die Physiologie der Verdauung und dergleichen. \u2014\nOhne Ber\u00fccksichtigung dessen, was ich im nachstehenden zu er\u00f6rtern versuche, ist es auch ganz unm\u00f6glich Klarheit zu gewinnen \u00fcber eine Frage, von der ich meine, dafs sie f\u00fcr die\nDie Erkenntnis dessen : dafs die Muskeln das in erster Linie Lebende im K\u00f6rper sind, findet sich am besten ausgedr\u00fcckt in dem Sprachgebrauch der griechischen Philosophie, der in dem Neuen Testament eine so grofse Bedeutung erlangt hat, und demzufolge o\u00e4g\u00a3, Fleisch, also dasjenige, was, anatomisch ausgedr\u00fcckt, Muskel heifst, stets gleichbedeutend mit dem ganzen Leib gebraucht wird. Mit dieser Gleichsetzung ist auf das Treffendste ausgedr\u00fcckt : dafs das eigentlich Lebende die Muskeln sind. Knochen, Knorpel, B\u00e4nder sind verh\u00e4ltnism\u00e4fsig tot; und die vielen Dr\u00fcsen, die im K\u00f6rper an der Unterhaltung des Lebensprozesses mitarbeiten, arbeiten haupts\u00e4chlich daran, die Stoffe zu kochen, welche in den Muskeln verbrennen.\nUnd auch aus dem Blut heraus hat sich \u201edas Leben\u201c, f\u00fcr die wissenschaftliche Auffassung, viel mehr in die Muskeln gezogen. Vor f\u00fcnfzig Jahren hat man geglaubt: fast alle Verbrennungsprozesse geschehen im Blut; heutzutage widerspricht niemand mehr dem Satze, den der Physiologe Fick z. B. folgendermaafsen formuliert hat: Das Muskelgewebe ist mit einem Worte der Hauptherd der Verbrennung im tierischen K\u00f6rper. (S. Fick, Mechanische Arbeit und W\u00e4rme-Entwicklung bei der Muskel - T\u00e4tigkeit S. 233).\nDiese, f\u00fcr den organischen Haushalt also auch als Heizk\u00f6rper hochwichtigen, Muskeln darf man sich nun aber auch nicht mehr so einseitig, wie es noch vielfach geschieht, blofs als bewegliche \u201eM\u00e4uslein\u201c vorstellen. Dabei meint man dann immer: das Zusammenfahren, Zusammenziehen, Kontrahieren sei die Hauptsache. Und diese einseitige Denkweise erh\u00e4lt, aus dem mystischen Urgrund der Sprache, durch den \u201eM\u00e4uslein \u201c-namen immer wieder eine, der vollen Erkenntnis sch\u00e4dliche, Unterst\u00fctzung.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde.\n5\nPsychologie von immer gr\u00f6fserer Wichtigkeit werden rnufs; n\u00e4mlich \u00fcber diejenige, welche sich kn\u00fcpft an das Problem: wie weit man vergleichende Messungen anstellen kann zwischen Muskelarbeit und \u201egeistiger\u201c Arbeit? \u2014 Gerade \u00fcber diese Frage konnten, meines Erachtens, bisher, schon aus dem Grunde, nur ganz schablonenhafte und von der Wirklichkeit entfernte Meinungen ge\u00e4ufsert werden, weil das Einfachste : n\u00e4mlich das, was in Wirklichkeit bei einer nat\u00fcrlichen Bewegung des lebenden Menschen geschieht, noch niemals systematisch und mit Ausdauer untersucht worden ist. Ich habe mich seit zwei Jahrzehnten mit dem Studium dieser letzteren Frage unabl\u00e4ssig besch\u00e4ftigt; und ich habe mich in diesem langen Zeitraum stets sorgf\u00e4ltig davor geh\u00fctet etwas vorzeitig zu ver\u00f6ffentlichen.1 Ich glaube deshalb wohl behaupten zu d\u00fcrfen, dafs alles, was ich \u00fcber den Gegenstand vorbringe, einerseits auf einer breiten empirischen Basis ruht ; und dafs es andererseits gereinigt ist von vorgefafsten Meinungen. Denn in den langen Jahren hat die Wirklichkeit meine falschen Meinungen, die ich, selbstverst\u00e4ndlicherweise so gut wie jeder Mensch, anfangs auch an jede Untersuchung herangebracht habe, immer gr\u00fcndlich berichtigt. Nachdem ich mich so lange Jahre habe von der Wirklichkeit meistern lassen, und weil ich behaupten darf : dafs alles, wovon ich berichte, der Niederschlag in meinem Bewufstsein ist von vielen Tausenden von Beobachtungen und Versuchen; so darf ich mir jetzt wohl erlauben, damit ich weder den Leser noch mich unn\u00f6tig erm\u00fcde, meine S\u00e4tze in einer bestimmteren und mehr dogmatischen\n1 Vor zehn Jahren, im Jahr 1892, habe ich in den Verhandlungen der physikalisch-medizinischen Gesellschaft zu W\u00fcrzburg (Band 26) eine Abhandlung ver\u00f6ffentlicht, betitelt: Haltung, Heizung und Bewegung der Muskeln, welche den Keim enthielt zu demjenigen, was ich im nachstehenden mitteile. In den verflossenen zehn Jahren habe ich aber nur untersucht und beobachtet und gar nichts ver\u00f6ffentlicht. Derjenige Leser, der sich f\u00fcr die Sache interessiert, braucht jene Abhandlung nicht zu beachten und zwar deshalb nicht, weil alles, was von ihrem Inhalt die Probe der Wirklichkeit in den letzten zehn Jahren bestanden hat, im Nachstehenden enthalten ist. Nur derjenige, der sich f\u00fcr die pers\u00f6nliche Frage interessieren sollte: wie ganz allm\u00e4hlich ich zu den einfachen Vorstellungen gelangt bin, welche ich im nachstehenden auseinandersetzen werde? \u2014 dieser Leser k\u00f6nnte aus jener Abhandlung ersehen, dafs ich vor zehn Jahren noch mit grofsen Unklarheiten deshalb k\u00e4mpfen mufste, weil ich noch zu sehr beeinflufst war von herrschenden Meinungen.","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nConrad Rieger.\nFassung vorzutragen, als ich es d\u00fcrfte, wenn ich ihre Reinigung durch die Kritik der langen Zeit nicht abgewartet h\u00e4tte. Ich habe mich auch bem\u00fcht, das technische Beiwerk im Laufe der Jahre immer einfacher zu gestalten, damit auch jeder Leser, der sich, ernsthafterweise, f\u00fcr die Muskelprobleme interessiert, ohne zu grofse M\u00fche und Zeit, meine Behauptungen kontrolieren kann. Es war \u00fcberhaupt, in methodologischer Hinsicht, mein Hauptbestreben in diesen langen Jahren, alles so einfach einzurichten, dafs die \u201eTechnomanie\u201c dabei immer mehr beseitigt wurde. Die \u201etechnomanische\u201c Geistesrichtung ist deshalb so sehr verderblich, weil sie immer dazu f\u00fchrt, dafs Nebensachen als Hauptsachen erscheinen. Ich mufs auch von mir bekennen, dafs bei mir immer alles mit \u201eTechnomanie\u201c anf\u00e4ngt. Zuerst mache ich immer t\u00f6richte und unn\u00f6tige Apparate; und es dauert bei mir leider in der Regel geraume Zeit, bis ich zu der Erkenntnis gelange, dafs alles viel einfacher gemacht werden kann. Die, f\u00fcr Zwecke der Erkenntnis so \u00fcberaus mangelhaft eingerichtete, menschliche Geistesbeschafienheit bringt dies aber wohl, in unvermeidlicher Weise, mit sich. Der Spieltrieb wirkt jedenfalls auch stark mit. Wenn ein wissenschaftliches Spielzeug auch lediglich dazu gef\u00fchrt hat, die Wirklichkeit zu f\u00e4lschen, so hat es einen, eine Zeitlang, doch gefreut, bis man es weggeworfen hat wie Kinder ihr Spielzeug. Und diese kindliche Freude f\u00fchrt immer zu Zeitverlust. Bei dem vielen, was ich so, im Lauf der Jahrzehnte, weggeworfen habe, war immer mein einziger Trost dieser : dafs wenigstens die Spielzeugfabrikanten, die Mechaniker, Besch\u00e4ftigung und Verdienst hatten.\nIch kann, begreiflicherweise, nicht daf\u00fcr garantieren, dafs ich nicht auch noch manches Technische, was ich im nachstehenden beschreibe, als emeritiertes Spielzeug seinerzeit wegwerfen werde. Ich kann nur versichern, dafs dasjenige, was ich jetzt noch von Technischem beschreiben mufs, mir, bei dem jetzigen Stand meiner Einsicht, noch unentbehrlich ist. Je mehr aber davon in Zukunft noch des weiteren entbehrlich sein wird, desto lieber wird es mir sein. Denn mein Ideal der Erkenntnis ist das, m\u00f6glichst unmittelbare, Erschauen der Wirklichkeit. \u2014\nIch habe auch, einige Ausnahmen abgerechnet, davon ab-\nsehen m\u00fcssen, Bezug zu nehmen auf dasjenige, was andere haben\ndrucken lassen \u00fcber das von mir, im nachstehenden, Behandelte\nund Er\u00f6rterte. Denn, wenn ich es getan h\u00e4tte, so h\u00e4tte dies\n*","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde.\n7\nzu endlosen Auseinandersetzungen gef\u00fchrt. Nur solches habe ich angef\u00fchrt von dem, was ich gelesen habe, was einesteils meinem Verst\u00e4ndnis n\u00fctzlich gewesen ist und was anderenteils auf einem Gebiete liegt, auf dem ich mir selbst keine Erfahrungen sammeln kann. In diesem Falle kann ich mich dann eben nur referierend verhalten und mufs den Angaben anderer Glauben schenken. \u2014 Wenn ich aber \u00fcber dasjenige berichte, was ich selbst untersucht habe, kann ich nicht fortw\u00e4hrend Bezug nehmen auf das, was schon von anderen gedruckt vorliegt. Denn dadurch w\u00fcrde zweifellos meine Absicht v\u00f6llig vereitelt, die darauf gerichtet ist, in dem Leser eine zusammenh\u00e4ngende und einfache Vorstellung von dem zu erwecken, was ich selbst mir im Laufe der Jahrzehnte klar gemacht habe. Ich w\u00fcrde mich dabei auch in endlose Kontroversen verwickeln; und dazu f\u00fchle ich mich um so weniger verpflichtet, als ich mich durchaus frei weifs von dem Bestreben, in Dinge darein zureden, die mich nichts an-gehen. Ich habe mich immer ausschliefslich leiten lassen von dem Bestreben, diejenige Wirklichkeit zu erkennen, die mich umgibt. Ich habe versucht zu ergr\u00fcnden: worauf es ankommt bei den mannigfachen Haltungen und Bewegungen der Menschen, die ich berufsm\u00e4fsig zu untersuchen habe? Und weil das, was ich in B\u00fcchern und Zeitschriften gefunden habe, mir nicht gen\u00fcgte, habe ich m\u00fcssen selbst insoweit die Zust\u00e4nde von Grund aus untersuchen, als es f\u00fcr mein Verst\u00e4ndnis notwendig war. Ich glaube, vieles jetzt besser verstehen zu k\u00f6nnen als vorher; und wenn anderen es auch so geht, so werden sie ja vielleicht sich durch meine Auffassung beeinflussen lassen. Ich bin mir aber auch v\u00f6llig klar dar\u00fcber, dafs, wenn ich das, was andere haben drucken lassen, so wenig beachte, ich auch vorl\u00e4ufig nicht erwarten darf, dafs meine S\u00e4tze beachtet werden. Ich hoffe jedoch dieses: Wenn es mir gelingt, auf Grund der einfachen Vorstellungen, die ich mir gebildet habe, allm\u00e4hlich immer mehr Erscheinungen der Wirklichkeit zu begreifen; so werden allm\u00e4hlich meine einfachen Vorstellungen dadurch auch an Kredit gewinnen. Und auf diese Probe an der Wirklichkeit kommt es ja allein an. \u2022\u2014\nDas Vorstehende gilt haupts\u00e4chlich von meiner fundamentalen Vorstellung: dafs die Vermehrung der elastischen Zugkraft des Muskels, soweit sie geschieht durch Wirkungen, die aus den Nerven kommen, lediglich Funktion ist von Erh\u00f6hung der","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nConrad Rieger.\nMuskeltemperatur. Ich bin zu dieser Auffassung, lediglich und ausschliefslich, gelangt infolge meiner eigenen langj\u00e4hrigen Besch\u00e4ftigung mit den Muskeln einerseits, mit Gummib\u00e4ndern andererseits; und ich darf wohl behaupten, dafs, auf Grund dieser meiner breiten empirischen Basis, ich dazu gelangt bin, ohne dafs irgend etwas mich beeinflufst hat, was ich in diesem Sinne gelesen habe. Und deshalb habe ich auch jede Bezugnahme auf die Angaben anderer unterlassen und speziell jede Ber\u00fchrung der Frage: ob und was dieser Punkt zu schaffen hat mit der mechanischen W\u00e4rmetheorie? Ich begn\u00fcge mich, daran zu erinnern, dafs der Entdecker des mechanischen \u00c4quivalents der W\u00e4rme, Robert Mayer, selbst am meisten gewarnt hat: man solle den Vorstellungen, die sich an das Kraftmafs der W\u00e4rme kn\u00fcpfen, nicht eine Ausdehnung geben, welche nicht mehr sachgem\u00e4fs w\u00e4re.1 Im \u00fcbrigen verweise ich, zum Beweis des v\u00f6llig ungekl\u00e4rten Zustandes dieser Frage, darauf: dafs zwei so ausgezeichnete Physiologen wie Engelmann und Fick einen diametral entgegengesetzten Standpunkt noch in den letzten Jahren eingenommen haben.2\nAngesichts dieser Sachlage habe ich es mir zum festen Grundsatz gemacht, mich vorl\u00e4ufig um gar keine fremde Theorie zu k\u00fcmmern sondern die Vorstellungen, die in mir entstehen, lediglich aus meinen unmittelbaren Beobachtungen zu sch\u00f6pfen. Und so ist alles entstanden, wor\u00fcber ich im nachstehenden berichte. Eigene \u201eTheorien\u201c habe ich mir freilich dabei auch bilden m\u00fcssen. Sonst w\u00e4re ich \u00fcberhaupt keinen Schritt weiter gekommen. Soweit sie falsch sind, werden sie schon von selbst zusammenfallen. Aber den Vorteil habe ich jedenfalls von ihnen gehabt, dafs sie mir die Aufmerksamkeit gesch\u00e4rft haben f\u00fcr wirkliche Vorg\u00e4nge, die ich, ohne sie, entweder gar nicht beachtet oder wenigstens v\u00f6llig verst\u00e4ndnislos angesehen h\u00e4tte. Im \u00fcbrigen kann ich von den Theorien das gleiche sagen, was ich vorhin von den Apparaten gesagt habe: Auf das unmittelbare Erschauen der Wirklichkeit kommt es an. Soweit die \u201eid'scoQia\u201c diesem Erschauen entspricht, wird sie bestehen bleiben. Im \u00fcbrigen hat sie sich entweder \u00fcberhaupt in einer falschen\n1\tVgl. Robert Mayer, Die Mechanik der W\u00e4rme in Gesammelten Schriften (3. Aufl., Stuttgart 1893) S. 440 ff.\n2\tVgl. Engelmann. \u00dcber den Ursprung der Muskelkraft. 2. Aufl. Leipzig 1893.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Muskelzust\u00e4nde.\n9\nRichtung bewegt, und dann hat sie allerdings nur geschadet; oder aber hat sie wenigstens gen\u00fctzt in einer vor\u00fcbergehenden Weise, so wie ein Ger\u00fcstwerk f\u00fcr einen Bau. \u2014\nIch mufste dies vorausschicken, weil ich im nachstehenden meine Beobachtungen vielfach an theoretischen Ger\u00fcsten aneinander gereiht habe, jedoch, wie ich nochmals ausdr\u00fccklich betonen will, nicht nach vorgefafsten Theorien, die mir aus anderen Quellen gekommen w\u00e4ren, sondern lediglich nach solchen, die in mir selbst, unmittelbar und Schritt f\u00fcr Schritt, aus meinen Beobachtungen herausgewachsen sind.1\nAuf Grund meiner langj\u00e4hrigen Besch\u00e4ftigung einerseits mit den Muskelzust\u00e4nden von Menschen, andererseits mit Gummi-\n1 Folgenden Satz des Physikers Kiecke in G\u00f6ttingen halte ich mich f\u00fcr verpflichtet hier noch anzuf\u00fchren: \u201eZur L\u00f6sung der Frage nach den Bewegungs- und W\u00e4rmeerscheinungen des Muskels bei gegebenen Kr\u00e4ften w\u00fcrden die Prinzipien der Mechanik und Thermodynamik hinreichen, wenn die chemische Natur der Muskelsubstanz eine unver\u00e4nderliche w\u00e4re. Da dies nicht der Fall ist, so bleibt eine physikalische Theorie der Muskelkontraktion von vornherein unvollst\u00e4ndig, (s. Eduard Eiecke : Thermodynamik des Turmalins und mechanische Theorie der Muskelkontraktion. Nachrichten von der K\u00f6nigl. Gesellschaft der Wissenschaften zu G\u00f6ttingen vom Jahr 1893 Nr. 1, S. 2). \u2014 Ich glaube: wenn dies ein physikalischer Fachmann ausspricht, so werde ich um so mehr Berechtigung dazu haben, meine Betrachtungen nicht zu komplizieren durch Bezugnahme auf Gedanken, die vermutlich nur sehr wenig Aufkl\u00e4rung geben k\u00f6nnten \u00fcber die einfachen Thatsachen, die man an der elastischen Zugkraft der Muskeln und der Gummib\u00e4nder beobachten kann. \u2014 Ich verweise schliefslich noch auf folgende Abhandlung vom Jahre 1893: \u00dcber die Summation der Wirkung von Entlastung und Eeiz im Muskel, nebst einigen Bemerkungen zur Kontraktionstheorie von F. Schenk. (Archiv f\u00fcr die gesamte Physiologie 53, S. 394 ff.), in welcher, in Bezug auf meine Abhandlung vom Jahr 1892, die ich oben (S. 5 Anm.) angef\u00fchrt habe, gesagt ist: ich gebe das Gesetz der Erhaltung der Energie preis, \u201eohne dafs ich mir dieses Preisgebens recht bewufst werde.\u201c \u2014 Hiegegen habe ich nur zu sagen: ich denke, mit vollem \u00dfewufstsein, seit langen Jahren so, dafs, weil es sich in der Physiologie immer und \u00fcberall um Kraftbet\u00e4tigungen an Stoffen handelt, die dabei sich zersetzen und nicht, wie der Wasserdampf, einen Kreisprozefs durchmachen, an dessen Ende wieder das gleiche Wasser vorhanden ist wie zu Anfang; \u2014 dafs aus diesem Grunde die Physiologie keinen Nutzen davon hat, wenn sie sich von der mechanischen W\u00e4rmetheorie besonders stark beeinflussen l\u00e4fst. Sie zwingt dann nur die Tatsachen in eine fremde Schablone; und wenn man es so macht, wird man das Wesentliche und Charakteristische nicht sehen. Denn dieses ist in der Physiologie immer dasjenige, was \u00fcber die bisherige Physik hinausgeht.","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nConrad Rieger.\nb\u00e4ndern, betrachte ich die Muskeln lediglich als elastische B\u00e4nder, deren Zugkraft ausschliefslich bestimmt ist:\nErstens durch ihre L\u00e4nge.\nZweitens durch ihre Temperatur.\nDie Bedingungen, welche durch die L\u00e4nge gegeben sind, kann man auch am lebenden Menschen direkt herstellen. Man kann messen: welche elastische Zugkraft ein Muskel hat, je nachdem er k\u00fcrzer oder l\u00e4nger ist ? \u2014 Die durch die Temperatur gegebenen Bedingungen kann man dagegen in direkter Weise nur studieren an Gummib\u00e4ndern, und auf Grund der Erfahrungen, die man an diesen gewannen hat, kann man dann weiter versuchen in das Verst\u00e4ndnis dessen einzudringen, was man an den Muskeln des Menschen beobachtet, wrenn nicht ihre L\u00e4nge ge\u00e4ndert wird sondern das, was aus den Nerven in sie fliefst. \u2014\nErstes Kapitel.\nDie elastische Zugkraft der Muskeln betrachtet als\nFunktion ihrer L\u00e4nge.\nIn Bezug auf den Einflufs, welchen die L\u00e4nge eines Muskels auf seine elastische Zugkraft hat, mufs jedem Beobachter, der seine Aufmerksamkeit richtet auf das, was ein Muskel halten kann, sofort auffallen : dafs er, ceteris paribus, eine viel gr\u00f6fsere Kraft besitzt, wenn er lang, als wenn er kurz ist. Um dies z. B. f\u00fcr den Unterschenkel genauer zu bestimmen, legt man einen Menschen auf eine horizontale Unterlage bis zum Kniegelenk, in der Weise, dafs der Unterschenkel, ohne Unterlage, sich frei in der Luft befindet. Wenn man den Unterschenkel zum Oberschenkel in den gestreckten Winkel von 180\u00b0 bringt, so sind die Muskeln, welche diese Haltung bewirken, m\u00f6glichst kurz. Mittels des Apparats, von dessen Einzelheiten nachher die Rede sein wird, kann ich mit gen\u00fcgender Genauigkeit angeben (das eigene Gewicht des Gliedes, das, selbstverst\u00e4ndlicherweise, unbestimmbar ist, wird dabei durch \u00c4quilibrierung aufgehoben und scheidet somit aus der Berechnung aus) : welche elastische Zugkraft, relativ zu den verschiedenen L\u00e4ngen, in einer Muskelgruppe vorhanden ist? Es gibt zwei Methoden, mittels deren man sich eine numerische Bestimmung verschaffen kann \u00fcber","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Muskelzust\u00e4nde.\n11\ndiese elastische Zugkraft. Voraussetzung f\u00fcr beide ist diese: dafs die Versuchsperson in zuverl\u00e4ssiger Weise tut, was man ihr sagt. Bei der einen Methode sagt man ihr: sie solle sich maximal anstrengen, um den Unterschenkel m\u00f6glichst lange in der Lage zu halten, in die man ihn gebracht hat. Bei der anderen Methode sagt man dagegen der Versuchsperson : sie solle gar nichts von sich aus dazu tun sondern sich rein passiv verhalten. \u2014\nWas sich bei der ersten Methode zeigt, hat schon vor langen Jahren meine Aufmerksamkeit erregt. Es ist dasjenige gewesen, was mich, schon in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, am St\u00e4rksten darauf hingewiesen hat : in wie hohem Grade die elastische Zugkraft einer Muskelgruppe abh\u00e4ngig ist von ihrer L\u00e4nge. Wenn die Muskelgruppe kurz ist, so kann die Versuchsperson mit ihr nur unter gr\u00f6fster Anstrengung und nur kurze Zeit hindurch das gleiche Gewicht halten, welches sie ohne Schwierigkeit und lange Zeit hindurch halten kann, wenn die Muskelgruppe l\u00e4nger ist. Wenn man eine Vorrichtung anbringt, mittels deren die Haltung des Glieds auf einen berufsten Zylinder fortdauernd graphisch aufgezeichnet wird, so zeigt sich immer folgendes : Der Unterschenkel wird z. B. durch ein Gegengewicht von 4000 g in horizontaler Lage \u00e4quilibriert, w\u00e4hrend die Versuchsperson aus eigener Kraft gar nichts zu seiner Haltung beitr\u00e4gt. Nimmt man nun diese \u00e4quilibrierenden 4000 g auf der anderen Seite des Apparats weg, so kann die Versuchsperson, indem sie immer noch den Unterschenkel horizontal h\u00e4lt, die weggenommenen 4000 g aus eigener Kraft ersetzen. Bei dieser geraden Ausstreckung des Unterschenkels der liegenden Person ist dann die Muskelgruppe, durch deren elastische Zugkraft das Glied gehalten wird, so kurz, als sie \u00fcberhaupt sein kann. Und dementsprechend h\u00e4lt sich die Linie der Haltung auf dem berufsten Zylinder nur ganz kurze Zeit auf der anf\u00e4nglichen H\u00f6he, auch wenn sich die Versuchsperson noch so sehr anstrengt, den Unterschenkel nicht sinken zu lassen. \u2014 Wenn die Linie dann aber etwas gesunken, die Muskelgruppe also etwas l\u00e4nger geworden ist ; dann bleibt die Linie, auch bei m\u00e4fsiger Anstrengung der Versuchsperson, l\u00e4ngere Zeit hindurch horizontal.\nEhe ich dieses weiter betrachte, mufs ich zuvor einen Punkt erledigen, der zusammenh\u00e4ngt mit der \u00e4ufseren Versuchsanordnung, und der ber\u00fccksichtigt werden mufs. Wenn der Unterschenkel zu Anfang des Versuchs","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nConrad Rieger.\nhorizontal ausgestreckt ist, so greift die Schwerkraft, die ihn nach abw\u00e4rts zu drehen strebt, zuerst rechtwinklig an. Wenn das Gewicht, das den Unterschenkel vorher \u00e4quilibriert hatte und welches dann auf der anderen Seite weggenommen wurde, 4000 g betrug; so kann* dieses also zuerst mit seinem vollen Betrag als Drehungsmoment in Rechnung gestellt werden. Sobald aber der Unterschenkel einen Winkel mit dem Horizont bildet, so ergibt die Multiplikation jenes Gewichts mit dem Kosinus dieses Winkels das nunmehrige Drehungsmoment, welches alsdann kleiner wird, weil der Multiplikator ein echter Bruch ist.\nDamit ich \u00fcber dieses Verh\u00e4ltnis immer sofort Klarheit besitze, habe ich, ein f\u00fcr allemal, mir f\u00fcr das Gewicht : 4000 g die Produkte : P cos a herausgeschrieben. Und ebenso habe ich, indem ich den graphischen Apparat immer genau in die gleichen r\u00e4umlichen Beziehungen zum Unterschenkel setze, ein f\u00fcr allemal genau auf einer Skala aufgezeichnet, welcher Neigung des Unterschenkels zum Horizont jeder Punkt des be-rufsten Zylinders entspricht. Ich lese jetzt immer sofort auf dem Diagramm ab: erstens den Winkel, in welchem sich der Unterschenkel zum Horizont befindet; zweitens das jeweilige Drehungsmoment der Last, indem die Last, ein f\u00fcr allemal, 4000 g betr\u00e4gt. Hiebei zeigt sich folgendes: Wenn die Last von 4000 g in ihrem vollen Betrag als Drehungsmoment wirkt, also bei horizontaler Haltung des Unterschenkels ; so kann die Versuchsperson diese Haltung nur kurze Zeit beibehalten, auch wenn sie sich noch so sehr anstrengt. Wenn dann der Unterschenkel z. B. nur um 15\u00b0 gesunken ist, so bleibt die Linie l\u00e4ngere Zeit hindurch horizontal, auch ohne sonderliche Anstrengung. Der Unterschied in dem Drehungsmoment der Last ist aber dabei ein ganz geringer : wenn es zuerst 4000 g betragen hatte, so betr\u00e4gt es jetzt 3860; also nur ein Unterschied von 4% in Bezug auf den Widerstand, den die Muskelgruppe \u00fcberwinden mufs ; w\u00e4hrend die Leistungsf\u00e4higkeit der Muskelgruppe eine erheblich gr\u00f6fsere ist, wenn sie in dieser Weise etwas gedehnt, als wenn sie kurz ist. Wenn man dann den Unterschenkel so halten l\u00e4fst, dafs er in einem Winkel von 30\u00b0 zum Horizont steht, so betr\u00e4gt das Drehungsmoment der Last immer noch 3460 g; es hat also auch dabei erst abgenommen um 14%. In dieser Lage ist es aber f\u00fcr die Versuchsperson schon ganz bedeutend leichter den Unterschenkel zu halten; und was bei kurzen Muskeln grofse Anstrengung gemacht hatte, das kann, wenn die Muskelgruppe soweit verl\u00e4ngert ist, mit sehr geringer Anstrengung geleistet werden. Dieser Unterschied r\u00fchrt deshalb sicher nicht blofs her von dem verringerten Drehungsmoment. Sondern die Hauptsache ist die st\u00e4rkere elastische Zugkraft, welche die Muskelgruppe entfalten kann, wenn sie l\u00e4nger ist, und welche deshalb Anstrengung (durch Vermittlung der Nerven) erspart.\nMan kann diese elastische Zugkraft der Muskelgruppe, welche auf den Unterschenkel wirkt, h\u00e4ufig auch ohne weiteres an sich und anderen beobachten, wenn der Unterschenkel frei herabh\u00e4ngt. Er stellt sich dann in der Regel nicht senkrecht sondern etwas nach vorn gestreckt, weil bei dieser starken Ver-","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde.\n13\nl\u00e4ngerung die elastische Zugkraft der Muskelgmppe gr\u00f6fser geworden ist als der Rest des Drehungsmomentes, den die Last des Unterschenkels in dieser Lage besitzt. Es bedarf in der Regel einer eigenen Anstrengung mittels der Muskeln an der hinteren Seite des Oberschenkels, um den Unterschenkel in v\u00f6llig senkrechte Lage zu bringen. \u2014 An R\u00fcckenmarks- und Hirnkranken, bei welchen die elastische Zugkraft der Muskelgruppe an der vorderen Seite des Oberschenkels oft ganz gewaltig vermehrt ist, kann man die Erscheinung h\u00e4ufig in der st\u00e4rksten Weise beobachten: dafs der Unterschenkel gar nicht vertikal nach unten h\u00e4ngen kann, sondern dafs er immer nach kurzer Zeit stark nach vorn geht, wenn man ihn jedes mal wieder in die senkrechte Lage zu bringen versucht hatte. Hier stellt sich also die elastische Kraft auch schon des wenig gedehnten Muskels in das Gleichgewicht mit einem erheblich st\u00e4rkeren Drehungsmomente der Last des Unterschenkels, als es unter normalen Verh\u00e4ltnissen der Fall ist. Und so leistet bei diesen Kranken, obgleich sie in vieler Hinsicht als gel\u00e4hmt bezeichnet werden k\u00f6nnen, doch ihre Muskel - Elastizit\u00e4t mehr, als sonst bei gr\u00f6fster Willensanstrengung geleistet werden kann. Sehr bemerkenswert ist bei diesen Menschen auch dieses: Die Haltung, welche sie lange Zeit hindurch beibehalten k\u00f6nnen ohne jedes willk\u00fcrliche Dazutun, ist dann auch eine ganz ruhige : sie schreibt eine gerade Linie auf den berufsten Zylinder; es ist einfach Gleichgewicht vorhanden zwischen der elastischen Zugkraft der Muskelgruppe und dem Drehungsmoment der Last des Unterschenkels. Wenn dagegen eine Muskelgruppe mit gew\u00f6hnlicher elastischer Zugkraft durch Einfl\u00fcsse, die aus den Nerven kommen, einen solchen Zuwachs an Kraft erh\u00e4lt, dafs sie mittels dieses Zuwachses das Drehungsmoment der Last zu \u00e4quilibrieren strebt; so ist dies, in v\u00f6llig ruhigerWeise, nur dann m\u00f6glich, wenn dieses Drehungsmoment sehr gering ist. Sobald dagegen ein etwas gr\u00f6fseres Drehungsmoment wirkt, so kann es von einer normalen Muskelgruppe nur so \u00e4quilibrirt werden, dafs fortw\u00e4hrend stofsweise Vermehrungen der elastischen Zugkraft stattfinden. Es wird deshalb in diesem Fall keine gerade Linie auf den berufsten Zylinder gezeichnet sondern eine Wellen-linie. \u2014\nIch hoffe, dafs es mir gelungen ist, schon durch das Vorstehende in dem Leser eine deutlichere Vorstellung zu erwecken,","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nConrad Rieger.\nals er sie bisher hatte, von dem, was diejenige elastische Zugkraft im Muskel wirkt, welche, wie die eines Gummibandes bei gleicher Temperatur, in ihrer St\u00e4rke nur durch die L\u00e4nge des Muskels bestimmt ist. So selbstverst\u00e4ndlich diese Vorstellungen erscheinen m\u00fcssen, sobald man sie klar erfafst hat; so mufs ich doch sagen, dafs ich fr\u00fcher nirgends etwas Klares dar\u00fcber gelesen habe. Deshalb ist mir auch alles erst dann verst\u00e4ndlich geworden, als ich durch fortw\u00e4hrende Parallelbeobachtungen an Gummib\u00e4ndern mir alle diese Verh\u00e4ltnisse immer wieder anschaulich klar machte. An diesen kann man die Wirkungen der verschiedenen Belastungen rein beobachten, welche beim lebenden Menschen nur durch eine abstrahierende und trennende Denkoperation herauserkannt werden k\u00f6nnen. Denn wenn ich dem Menschen befehle : er solle seinen Unterschenkel bei verschiedenen L\u00e4ngen der beteiligten Muskeln halten, so ist nat\u00fcrlich dasjenige, was aus den Nerven in die Muskeln kommt, nicht gerade notwendigerweise konstant. Der Mensch kann auch einmal zu der elastischen Zugkraft des k\u00fcrzeren Muskels mehr hinzutun als zu der des l\u00e4ngeren und so den Einflufs, den die L\u00e4nge des Muskels an und f\u00fcr sich hat, verwischen. Jedoch, wenn man nur recht h\u00e4ufig beobachtet, dann stellt sich trotzdem, durch alle Tr\u00fcbungen des Sachverhalts hindurch, immer wieder das Grundgesetz heraus, welches, wenn man die elastischen Kr\u00e4fte der Gummib\u00e4nder genau in sein Be-wufstsein aufgenommen hat, geradezu a priori klar ist : dafs n\u00e4mlich der gedehnte Muskel, an und f\u00fcr sich und ganz abgesehen von dem, was aus den Nerven kommt, eine bedeutend gr\u00f6fsere elastische Zugkraft haben mufs als der kurze. \u2014 Dafs dem so ist, dies ist aber auch ferner klar aus einer Menge von Beobachtungen, die sich einem \u00fcberall am K\u00f6rper auf dr\u00e4ngen. Wenn man z. B. abwechselnd die dorsalflektierte und die volarflektierte Hand zur Faust ballt, so kann man im letzteren Falle bekanntlich nur sehr wenig Kraft entwickeln. Denn dabei sind die Muskeln, die man zum Faustmachen braucht, von Anfang an viel zu sehr verk\u00fcrzt, als dafs sie noch eine erhebliche elastische Zugkraft entwickeln k\u00f6nnten. Es macht deshalb auch niemand eine Faust mit gebeugter Hand. \u2014\nF\u00fcr alle Gelenkmechanismen im K\u00f6rper ist es das wesentliche mechanische Prinzip ihrer Einrichtung: dafs eine solche Verk\u00fcrzung des Muskels vermieden wird, bei welcher er nur","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde.\n15\nnoch mit gr\u00f6fster Anstrengung elastische Zugkraft entwickeln k\u00f6nnte. Als eines der deutlichsten Beispiele hief\u00fcr ist mir immer die Bewegung des Oberarms erschienen, welche zu stand kommt durch die kombinierte Wirkung des Musculus deltoides, der den Arm dreht, und des Musculus serratus anticus major, der das Schulterblatt dreht. Wenn das Schulterblatt nicht mitgedreht w\u00fcrde, so w\u00fcrde, bei der blofsen Bewegung des Armes, das distale Ende des Musculus deltoides bald dem proximalen, welches alsdann stillst\u00fcnde, sich so sehr n\u00e4hern, dafs der kurze Muskel viel zu viel an elastischer Zugkraft verl\u00f6re. Weil aber das Schulterblatt, gleichzeitig und von Anfang der Bewegung an, mitgedreht wird ; so wird dadurch auch das proximale Ende des Musculus deltoides in gleichem Sinne bewegt wie das distale ; infolgedessen wird der Muskel nicht so kurz und verliert deshalb nicht so viel an elastischer Zugkraft, als er im anderen Falle verl\u00f6re.1\nIch halte dieses mechanische Prinzip f\u00fcr eines der wichtigsten bei der Betrachtung des ganzen organischen Bewegungsapparats. Ich finde es \u00fcberall im K\u00f6rper realisiert. Es ist mir aber nicht gelungen, in dem vielen, was schon \u00fcber Muskelzust\u00e4nde ge-\n1 Ich habe die L\u00e4nge des Musculus deltoides h\u00e4ufig an verschiedenen Personen mit dem Bandmafs gemessen, einerseits bei herabh\u00e4ngendem, andererseits bei horizontal ausgestrecktem Arm. Nach dem anatomischen Atlas von Toldt, an dessen Muskelbildern man auch Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse ablesen kann, weil das Verh\u00e4ltnis zu der nat\u00fcrlichen Gr\u00f6fse angegeben ist, betr\u00e4gt die lineare Entfernung des proximalen und distalen Endes des dort abgebildeten Musculus deltoides, bei herabh\u00e4ngendem Arm, 15 cm. Ich finde in der Regel, wenn ich an kr\u00e4ftigen M\u00e4nnern von normaler Gr\u00f6fse im Bogen mit dem Bandmafs messe, zirka 18 cm, was den 15 linearen Zentimetern beil\u00e4ufig entsprechen d\u00fcrfte. Diese Entfernung von 18 cm bei herabh\u00e4ngendem Arm, welche man als die gr\u00f6fste L\u00e4nge des Muskels betrachten darf, wird dann nur reduziert auf 15 cm (also nur um zirka 16\u00b0/0), wenn der Arm horizontal ausgestreckt ist. \u2014 Da der Musculus deltoides im wesentlichen in seiner ganzen L\u00e4nge aus elastischen Muskelfasern und nicht, wie viele andere Muskeln, gr\u00f6fstenteils aus blofsen festen sehnigen Transmissionen besteht, so m\u00fcssen diese 16% Verk\u00fcrzung um so unbedeutender erscheinen. Wenn das proximale Ende des Muskels stillst\u00fcnde, so m\u00fcfste er offenbar k\u00fcrzer werden. Dafs er, bei seiner tats\u00e4chlichen geringen Verk\u00fcrzung, noch wenig an elastischer Zugkraft verliert, leuchtet unmittelbar ein; und so hat der Muskel gerade f\u00fcr die horizontale Haltung des Arms, in welcher das Drehungsmoment am St\u00e4rksten ist, doch noch gen\u00fcgende Kraft.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nConrad Rieger.\ndruckt worden ist, etwas zu finden, worin dieses wichtige Prinzip so bestimmt ausgesprochen und hervorgehoben w\u00e4re, als es notwendig ist. Umsomehr f\u00fchle ich mich verpflichtet, auch an dieser Stelle den Satz zu betonen, der so formuliert werden mufs :\n\u00dcberall im K\u00f6rper bestehen Einrichtungen, welche bewirken, dafs die Muskeln, bei den Drehungen in den Gelenken, nicht zu kurz werden und nicht zu viel verlieren von der elastischen Zugkraft, welche sie in st\u00e4rkerem Mafse besitzen, wenn sie lang, als wenn sie kurz sind. \u2014\nUnd aus diesem Grunde h\u00e4lt auch, bei gleicher Anstrengung der Versuchsperson, ein Muskel dem gleichen Drehungsmoment besser und l\u00e4ngere Zeit das Gleichgewicht, wenn er l\u00e4nger, als wenn er k\u00fcrzer ist. \u2014\nIch betrachte nun ferner dasjenige, was sich zeigt, wenn man der Versuchsperson sagt: sie solle von sich aus gar nichts dazu tun, sondern sie solle ihren Unterschenkel ganz passiv den wechselnden Drehungsmomenten \u00fcberlassen. Hiebei zeigt sich dann: in welcher Weise die Muskel-Elastizit\u00e4t in die Drehbewegung im Gelenk als eine Bremsvorrichtung eingreift? Zur unmittelbaren Veranschaulichung dieses Verhaltens setzt man abwechselnd den Unterschenkel eines Menschen in den Apparat ein, und eine Stange aus Holz und Eisen und zwar so, dafs sich diese beiden unter den gleichen Bedingungen befinden in Bezug auf die Drehungsmomente. Der wesentliche Unterschied ist dann nur dieser, dafs in dem Unterschenkel des Menschen elastische Kr\u00e4fte wirksam sind, welche bei der toten Stange v\u00f6llig fehlen. Die grofsen Verschiedenheiten, die sich zeigen, je nachdem die Elastizit\u00e4t sich in dem Apparat befindet oder nicht; \u2014 werden durch die Figuren 1 und 2 veranschaulicht, zu deren Erl\u00e4uterung ich folgendes anf\u00fchre :\nAn der Decke des Zimmers ist ein fein gearbeitetes Rad mit geringer Reibung. \u00dcber dieses ist eine Schnur geleitet. An dem einen Ende der Schnur wird entweder der tote Hebel oder das menschliche Glied, das untersucht werden soll, angeh\u00e4ngt; an dem anderen Ende das \u00e4quilibrierende Gewicht. Bei dem toten Hebel betr\u00e4gt die Entfernung, von der Drehungsebene zu dem Angriffspunkt der Schnur, ein f\u00fcr allemal, 38 cm. Bei dem lebenden Glied wird die Ledermanschette, an welcher die Schnur (gabel-","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde.\n17\nFigur l stellt dar die verschiedenen Lagen bei der Winkel- Bewegung des k\u00fcnstlichen Glieds (in welche keine elastische Bremskraft eingreift), unter demEinflufs der verschiedenen Gegengewichte von 4000 Gramm (bei 0) bis 2600 Gramm (bei 14).\nFigur2 stellt dar die verschiedenen Lagen bei der Winkel- Bewegung des nat\u00fcrlichen Glieds, hier eines menschlichen Unterschenkels (in welche die Muskel-Bremse eingreift), unter genau den gleichen statischen Verh\u00e4ltnissen wie in Figur 1.\nFigur 3 stellt dar die verschiedenen Lagen bei der linearen Dehnung eines Gummi-Bandes unter dem Einflufs der sukzessiven Belastungen von 0, 200, 400, 600, u. s. f. bis 1400 Gramm.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 31.\n2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nConrad Rieger.\nf\u00f6rmig, wie auch an dem toten Hebel) angreift, immer so angeschnallt, dafs die Entfernung der Angriffspunkte der Schnur von der Drehungsebene im Gelenk gleichfalls 38 cm betr\u00e4gt. \u2014 Die 38 cm habe ich deshalb gew\u00e4hlt, weil ich einerseits, aus unmittelbar einleuchtenden Gr\u00fcnden der besseren Deutlichmachung der Erscheinungen, einen m\u00f6glichst langen Hebelarm haben, andererseits aber ber\u00fccksichtigen mufs, dafs, wenn ich \u00fcber 38 cm hinausginge, an kurzen Unterschenkeln die Manschette nicht mehr anbringbar w\u00e4re. Mit 38 cm kommt man aber, auch beim Unterschenkel, bei allen ausgewachsenen Menschen fast immer aus. Aufs er dem Unterschenkel kann man blofs noch den Arm (vom Schultergelenk ab) \u00fcberhaupt dieser Untersuchung unterwerfen. An allen \u00fcbrigen Gliedabschnitten ist eine Untersuchung unm\u00f6glich. An dem Arm gehen die 38 cm immer beil\u00e4ufig bis zur Mitte des Vorderarms, je nach der L\u00e4nge des Arms etwas mehr oder weniger weit. Hier, an dem Arm, k\u00f6nnen also die 38 cm niemals zu lang sein, so dafs man die Manschette nicht mehr anbringen k\u00f6nnte. Bei dem Arm wird das Ellbogengelenk durch eine einfache Schiene, die in k\u00fcrzester Zeit angeschnallt ist, festgestellt ; und so hat man, auch am Arm, den gleichen festen Hebelarm wie am Unterschenkel. Beim Arm ragen, am distalen Ende des 38 cm langen Hebelarms, ein St\u00fcck des Vorderarms und die Hand gerade so \u00fcber den Hebelarm hinaus wie am Unterschenkel der Fufs. \u2014\nFerner mache ich beide: tote Stange und lebendes Glied, durch Ausgleich mittels angeh\u00e4ngter Gewichte, immer gerade so schwer, dafs sie durch ein Gegengewicht von 4000 g, wenn dieses am anderen Ende der Schnur zieht, in der horizontalen Lage erhalten werden. \u2014 Diese 4000 g habe ich f\u00fcr das \u00c4quilibrium deshalb gew\u00e4hlt, weil ich einerseits nicht, mit einem zu schweren Gewicht, die Reibung unn\u00f6tigerweise vermehren wollte ; andererseits aber auch das Gegengewicht so schwer nehmen mufste, dafs es, sowohl f\u00fcr den Unterschenkel als f\u00fcr den Arm, bei allen Menschen gen\u00fcgt. Auch mufste es eine runde Zahl sein, von der ab bequem und klar subtrahiert werden kann. Von den 4000 g sind ferner 2600 g unver\u00e4nderliche Last des Apparats, die ich von dem \u00c4quilibrium nicht hinwegnehmen kann, bestehend aus dem Einsatz, der n\u00f6tig ist f\u00fcr die Aufnahme der \u201eGewichts-T\u00fcrme\u201c (s. unten!), und aus den Eisenstangen, welche n\u00f6tig sind, um das Ende der Schnur, an welchem die Last h\u00e4ngt, zu verbinden mit der selbstregistrierenden Vorrichtung (s. unten). Ich k\u00f6nnte also, auch aus diesem Grunde, kein niedereres Gegengewicht w\u00e4hlen als 4000 g. Denn, wenn ich weniger gew\u00e4hlt h\u00e4tte, so h\u00e4tte ich nicht den gen\u00fcgenden Spielraum gehabt f\u00fcr die Gewichte, welche ab- und zugesetzt werden m\u00fcssen. \u2014\nZu diesem Gegengewicht von 4000 g, das an dem anderen Ende der Schnur zieht, bedarf ein menschlicher Arm immer noch einer bedeutenden Anh\u00e4ngung von Gewichten an die Manschette, damit er, in horizontaler Lage, durch die 4000 g \u00e4quilibriert wird. Und auch an den meisten Unterschenkeln mufs man noch Gewichte anh\u00e4ngen. Doch k\u00f6nnen lange und schwere Unterschenkel (mit entsprechenden F\u00fcfsen), auch schon .ohne weiteren Zusatz, mit einem Gewicht bis zu 4000 g in dem Apparat","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde.\n19\nliegen. Gew\u00f6hnliche Unterschenkel bed\u00fcrfen aber immer, znm Ausgleich mit dem Gegengewicht von 4000 g, gleichfalls (wie die Arme) noch der Anh\u00e4ngung eines halben bis ganzen Kilogramms. Diese Ausgleichsgewichte sind ganz unwesentlich ; und es ist, selbstverst\u00e4ndlicherweise, v\u00f6llig gleichg\u00fcltig, ob sie z. B. durch einen Stiefel oder ob sie durch ein Gewichts-St\u00fcck dargestellt sind. Weil der Stiefel entfernter von der Drehungsebene wirkt, so f\u00e4llt er mehr in das Gewicht, als wenn man, blofs 38 cm vom Kniegelenk, sein Gewicht anhinge. Um alles dieses braucht man sich aber gar nicht zu k\u00fcmmern. Es handelt sich blofs darum, dafs alles, was links (von dem Rad an der Decke) sich befindet, in der horizontalen Lage mit dem Gewicht von 4000 g an der Schnur zieht; oder mit anderen Worten: dafs das (nat\u00fcrliche oder k\u00fcnstliche) Glied links in der horizontalen Lage sich dann im Gleichgewicht befindet, wenn rechts, an dem anderen Ende der Schnur, 4000 g ziehen. Durch welche Massen? und durch welche statischen Momente? es bedingt ist, dafs auf der linken Seite diese 4000 g an der Schnur ziehen? \u2014 dies ist v\u00f6llig gleichg\u00fcltig. Denn es handelt sich ja durchaus nicht um die W\u00e4gung der Masse, welche links an der Schnur h\u00e4ngt; sondern nur um die vergleichende Messung der elastischen Kraft in den verschiedenen Lagen des Gliedes. In der horizontalen Lage hat, ceteris paribus, die Muskelgruppe ihr Minimum von elastischer Zugkraft, im Vergleich zu allen anderen Lagen, welche \u00fcberhaupt der Untersuchung unterwarfen wTerden k\u00f6nnen. Denn in der horizontalen Lage des Unterschenkels oder des Arms sind die betreffenden Muskelgruppen am k\u00fcrzesten. Und mit diesem Minimum von elastischer Zugkraft werden dann die Betr\u00e4ge der Kraft in den l\u00e4ngeren Zust\u00e4nden der Muskelgruppe, mittels dieser Kraftwage, vergleichend bestimmt. Wie ich schon oben mitgeteilt habe, sind von den 4000 g, welche auf der rechten Seite des Rades an der Schnur ziehen, 2600 g dargestellt durch das Gewicht des Apparats ; und man kann deshalb das Gegengewicht nicht kleiner machen als 2600 g. Der tiefste Stand, den das (nat\u00fcrliche oder k\u00fcnstliche) Glied einnimmt, ist also derjenige, welcher bewirkt wfird durch das \u00c4quilibrium von 2600 g. Der Rest von 1400 g (zwischen 2600 g und 4000 g) wird auf einer Fl\u00e4che, welche in die Schnur eingeschaltet ist, jeweils zugesetzt und weggenommen. Ich gebe diese 1400 g einerseits ab und zu in einem einzigen Bleigewicht, das 1400 g wfiegt und einen bequemen Griff hat, mittels dessen man es, ohne Ruck und Stofs, ab- und zusetzen kann ; andererseits baue ich die 1400 g auf und ab mittels zylindrischer Te il gewichts- St\u00fccke von je 200 g. Ich gebe sie dabei also in sieben Teilen ab und zu. Zur Vermeidung von jedem Ruck und Stofs werden sie leicht aufeinander gesetzt, auf die eingeschaltete Fl\u00e4che, in Gestalt von zwei oder drei kleinen \u201eGewichts-T\u00fcrmen'2 Die Lage, welche das Glied einnimmt, wenn es horizontal steht, und die zugeh\u00f6rige Belastung bezeichne ich als Kuli. Das Glied ist dann in horizontaler Lage durch 4000 g \u00e4quilibriert. Wenn diese Lage hergestellt ist dadurch, dafs auf der anderen Seite die sieben Teilgewichte von je 200 g aufgesetzt sind ; dann k\u00f6nnen also immer 200 g von den 4000 g weg-genommen werden, bis herab zu 2600 g. Immer wenn ich 200 g auf der einen Seite weggenommen habe, bezeichne ich die neuen Lagen, welche\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nConrad Rieger.\nich dadurch dem Glied auf der anderen Seite erteilt habe, fortlaufend mit 2, 4, 6 und so fort. Und diese Bezeichnung ist durchgef\u00fchrt in den Figuren 1 und 2 (S. 17), in welchen beiden Figuren Winkelbewegungen dargestellt sind; und zwar in Figur 1 die sukzessiven Lagen des k\u00fcnstlichen Glieds, in Figur 2 die des nat\u00fcrlichen, hier eines menschlichen Unterschenkels. Ein menschlicher Arm liefert die gleiche Figur mit den gleichen charakteristischen Eigenschaften und Gegens\u00e4tzen gegen\u00fcber von der Figur 1. Ich habe deshalb, damit ich den Leser nicht durch unn\u00f6tige Figuren verwirre, mich beschr\u00e4nkt auf die Wiedergabe der Figur, welche der Unterschenkel gezeichnet hat. \u2014 (In der Figur 3, von welcher erst nachher die Bede sein wird, sind nicht Winkel-Bewegungen dargestellt sondern lineare Dehnungen eines Gummibandes unter dem Ein-flufs der gleichen Gewichte, durch welche die verschiedenen Winkel-bewegungen in den Figuren 1 und 2 bewirkt worden sind.) Die selbstregistrierende Aufzeichnung der sukzessiven Lagen in den Figuren 1 und 2 ist folgendermafsen zu st\u00e4nde gekommen: Von dem freien Ende der Schnur, also demjenigen, an welchem das Glied nicht h\u00e4ngt, geht die Verbindung so zu dem berufsten Zylinder, dafs: 1. durch nochmalige Umdrehung, mittels Wagebalken, die Zeichnung auf dem Zylinder gleichsinnig gemacht wird mit der Bewegung des Gliedes; 2. wegen entsprechender Ungleichheit der Wagebalken, die Registrierung erfolgt ungef\u00e4hr in der H\u00e4lfte der nat\u00fcrlichen Gr\u00f6fse der vertikalen Kathete des Drehungswinkels des Gliedes, in welcher Linie die Bewegung des Angriffspunkts der Schnur an dem l\u00e4ngeren Wagebalken stattfindet. Mittels dieser Verkleinerung ist es m\u00f6glich, auch die Drehungen des Gliedes von 38 cm L\u00e4nge durch einen vollen Quadranten hindurch, auf einem rotierenden Zylinder von gew\u00f6hnlicher H\u00f6he (zirka 20 cm), zu registrieren, wenn man dies tun will.\nAuf den Figuren 1 und 2 (S. 17) sind also die gleichen Verh\u00e4ltnisse, in Bezug auf die Drehungsmomente und auf die Lage im Raum, dargestellt f\u00fcr die tote Stange ohne und f\u00fcr das lebende Glied mit elastischer Kraft. Und die Zahlen, welche auf den beiden Figuren angeschrieben sind, bedeuten, wie ich schon vorhin mitgeteilt habe, dafs von dem \u00c4quilibrium, welches in der horizontalen Lage (bei 0) 4000 g betr\u00e4gt, immer sukzessive 200 g weggenommen worden sind. Bei 2 wird also (in Figur 1 das k\u00fcnstliche, in Figur 2 das nat\u00fcrliche Glied) noch \u00e4quilibriert durch 3800 g ; bei 4 durch 3600 g u. s. f. ; bei 14 nur noch durch 2600 g. \u2014 Und ein vergleichender Blick auf die beiden Figuren 1 und 2 zeigt nun sofort den grofsen Unterschied zwischen der Wirkung dieser Drehungsmomente, je nachdem elastische Kraft wirksam ist, wie bei dem nat\u00fcrlichen Glied (in Figur 2), oder nicht, wie bei dem k\u00fcnstlichen (in Figur 1).\nWelche sukzessiven Lagen das k\u00fcnstliche Glied im allgemeinen einnehmen mufs, dies ist, auf Grund elementarer statischer Gesetze, a priori","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Muskelzust\u00e4nde.\n21\nklar. Genau k\u00f6nnen aber die Grade der Neigungswinkel zum Horizont nicht entsprechen denjenigen Graden, welche sich ergeben auf Grund der reinen Formel : P cos \u00ab. Denn erstens ist es nicht m\u00f6glich, und auch durchaus nicht n\u00f6tig, dafs das k\u00fcnstliche Glied genau in einem Kreisbogen l\u00e4uft. Zweitens ist der Angriffswinkel der Schnur, die, von dem Rad an der Zimmerdecke herab, an das Glied geht, f\u00fcr die verschiedenen Lagen des Glieds ein sehr verschiedener. Und nur wenn dieser Winkel (zwischen dem Glied und der Schnur) in allen Lagen des Glieds immer ein rechter Winkel w\u00e4re, k\u00f6nnte die Formel: P cos <x genau zutreffen. Aber auch ein Arm und ein Unterschenkel dreht sich niemals in einer reinen Kreislinie ; seine Drehungsebene steht niemals fest, sondern macht (s. auch oben S. 15) immer die unberechenbarsten Bewegungen ; und die Angriffswinkel der Schnur \u00e4ndern sich, bei dem k\u00fcnstlichen und bei dem nat\u00fcrlichen Glied, in der gleichen Weise. Besonders deshalb, weil die Angriffswinkel der Schnur in den unteren Lagen immer mehr sich von einem rechten Winkel entfernen, wirkt das \u00c4quilibrium hier wreniger auf das Glied, als es der Fall w\u00e4re nach der Formel P cos \u00ab ; und die Lagen, welche das k\u00fcnstliche Glied in Wirklichkeit einnimmt, gehen, haupts\u00e4chlich aus diesem Grunde, in den unteren Lagen tiefer, als es nach der Formel der Fall sein mtifste.\nGrofs sind die Unterschiede aber nicht ; und jedenfalls zeigt sich, auf der Figur 1 (S. 17), welche die wirklichen Lagen darstellt, die das k\u00fcnstliche Glied sukzessive einnimmt, auch noch deutlich der Charakter, der durch die Formel P cos a ausgedr\u00fcckt ist, mit nur leichten und unerheblichen Abweichungen. Und diese Abweichungen k\u00f6nnen v\u00f6llig vernachl\u00e4ssigt werden gegen\u00fcber von den grofsen, durchgreifenden und prinzipiellen, Unterschieden, welche bestehen zwischen der Figur 1 und der Figur 2, auf welch letzterer die elastische Bremsvorrichtung so stark eingreift, dafs dadurch dasjenige v\u00f6llig verwdscht wird, was durch die rein statischen Momente bedingt w\u00e4re.\nZum Vergleich dient also immer die Figur 1, in welcher, unter genau den gleichen statischen Bedingungen, unter denen auch die Figur 2 steht (auch mit den gleichen Abweichungen von den Voraussetzungen der Formel P cos \u00ab), die Lagen eines Hebelarms graphisch dargestellt sind, wenn keine Elastizit\u00e4t in die Bewegung eingreift.\nIch wende mich nun zu einer vergleichenden Betrachtung der Figuren 1 und 2, in Bezug auf alle Einzelheiten, die an ihnen von prinzipieller Wichtigkeit sind, und vergleiche dann auch Figur 2 und 3, welch letztere nicht entstanden ist aus einer Winkelbewegung sondern aus linearer Dehnung.\nIn Figur 1 kommen also, wie ich schon wiederholt gesagt habe, elastische Kr\u00e4fte gar nicht zur Wirkung; und darin liegt der grofse Unterschied zwischen ihr und der Figur 2. Dagegen","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nConrad Rieger.\ndarf, selbstverst\u00e4ndlicherweise, auch in der Figur 1, aufser ihren rein statischen Momenten, die, unvermeidliche, tote Reibung des Apparats nicht v\u00f6llig aufser acht gelassen werden, wenn sie auch nicht gerade besonders erheblich ist.\nZu einem geringen Teile erkl\u00e4rt auch diese blofse tote Reibung die Unterschiede, die ich vorhin betont habe, zwischen den wirklichen und den berechneten Lagen; indem n\u00e4mlich der Apparat vorher h\u00e4ngen bleiben kann, ehe er diejenige Lage erreicht hat, welche durch die reine Statik bedingt w\u00e4re. Doch kommen in dieser Hinsicht die. vorhin angef\u00fchrten, Abweichungen in den statischen Bedingungen so \u00fcberwiegend in Betracht, dafs dagegen die Reibung als Ursache verschwindet.\nWeil die tote Reibung des Apparats (welchem die Figur 2 ebenso ausgesetzt ist wie die Figur 1) doch nur eine geringe ist ; so wird in der Figur 1 die \u00fcbersch\u00fcssige Bewegung des k\u00fcnstlichen Glieds nicht vernichtet, so wie sie in Figur 2 durch die elastische Kraft, welche dort eingreift, vernichtet wird. Daher kommt der erste grofse Unterschied zwischen der Figur 1 und der Figur 2, der unmittelbar in die Augen f\u00e4llt, n\u00e4mlich dieser : dafs in der Figur 1 das, ungebremste, k\u00fcnstliche Glied immer zuerst betr\u00e4chtlich hinausgeht \u00fcber die Ruhelagen, die bedingt sind durch die, rein statischen, Verh\u00e4ltnisse. Hievon ist in der Figur 2, an dem gebremsten nat\u00fcrlichen Glied, durchaus nichts zu bemerken. Nur wenn man sehr grofse Gewichtsdifferenzen wirken l\u00e4fst, also z. B. von 0 direkt auf 14 geht (zu welchem Zwecke ich ein Bleigewicht von 1400 g besitze mit einem bequemen Griff, mittels dessen es ebenso leicht und ruhig ab- und zugesetzt werden kann wie ein kleines 200 g - Gewicht) ; nur dann hat auch das gebremste Glied so viele \u00fcbersch\u00fcssige Geschwindigkeit, dafs es gleichfalls, wenigstens einigermafsen, \u00fcber die Ruhelage hinausgeht. Aber sehr merklich ist immer noch der Einflufs der Muskelbremse auch bei der Wirkung solcher grofser Unterschiede im \u00c4quilibrium. Wenn man auf das ungebremste k\u00fcnstliche Glied den gleichen grofsen Gewichtsunterschied wirken l\u00e4fst, so kann dieser Vorgang \u00fcberhaupt niemals graphisch aufgezeichnet werden. Denn das k\u00fcnstliche Glied f\u00e4hrt dann in wilden Spr\u00fcngen zuerst weit \u00fcber den berufsten Zylinder hinaus. Der menschliche Unterschenkel geht dagegen, auch in diesem Fall, in der Regel nur soweit \u00fcber die Ruhelage nach abw\u00e4rts, dafs eine graphische Aufzeichnung auf dem Blatt von dieser H\u00f6he noch m\u00f6glich ist. Wenn man aber blofs die geringen Gewichtsunterschiede von 200 g anwendet,","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber Muskelzust\u00e4nde.\n23\ndann wird in der Figur 2 alle \u00fcbersch\u00fcssige Geschwindigkeit immer durch die Bremsung vernichtet; und in der Figur 2 ist deshalb nirgends von einer \u00fcbersch\u00fcssigen Geschwindigkeit etwas zu sehen.\nDafs in der Figur 1 auf dem Wege nach abw\u00e4rts das Hinausgehen \u00fcber die Ruhelage viel st\u00e4rker ist als auf dem R\u00fcckweg nach aufw\u00e4rts; dies r\u00fchrt daher, dafs man die Gewichte rascher wegnehmen als aufsetzen kann. Wenn man ein Gewichts-St\u00fcck rasch in die H\u00f6he zieht, so erzielt man eine momentane Wirkung; das Gewicht h\u00f6rt in dem Zeitmoment, in dem es die Unterlage verl\u00e4fst, g\u00e4nzlich auf zu wirken, indem die Hand rasch in die H\u00f6he f\u00e4hrt. Wenn man dagegen mit einem Gewichts-St\u00fcck ebenso rasch auf die Unterlage niederfahren w\u00fcrde, wie man mit ihm in die H\u00f6he f\u00e4hrt, so w\u00fcrde der Stofs, der dabei ausge\u00fcbt w\u00fcrde, so stark, dafs er ein unzul\u00e4ssiges Plus von Wirkung bedingte. Man mufs deshalb etwas behutsamer aufsetzen als man abnehmen kann ; und dabei ist es dann unvermeidlich, dafs die Wirkung eines Gewichts-St\u00fccks andererseits auch wieder nicht eine so momentane wird, wie es sein sollte, damit die Verh\u00e4ltnisse bei der aufsteigenden Bewegung v\u00f6llig die gleichen w\u00e4ren wie bei der absteigenden. Weil somit bei der auf steigenden Bewegung die \u00fcbersch\u00fcssige Geschwindigkeit immer etwas geringer ist als bei der absteigenden; so wirkt bei der aufsteigenden auch die tote Reibung des Apparats etwTas mehr, das Glied bleibt immer etwas fr\u00fcher h\u00e4ngen, was in der Figur 1 unmittelbar daran ersichtlich ist, dafs die Zahlen rechts \u00fcberall etwTas niederer stehen als links.\nAlles dieses sind aber geringf\u00fcgige Kleinigkeiten, welche v\u00f6llig vernachl\u00e4ssigt werden k\u00f6nnen. Im ganzen ist, ungest\u00f6rt durch diese kleinen Abweichungen, die Figur 1 die graphische Darstellung der sukzessiven Lagen bei der Winkelbewegung eines ungebremsten Gliedes nach der Formel P cos \u00ab, sowohl in ihrem abw\u00e4rts-, wie in ihrem aufw\u00e4rtssteigenden Teil.\nUnd von diesem Charakter ist in der Figur 2 durchaus nichts mehr direkt zu sehen, obgleich sie unter genau den gleichen statischen Bedingungen entstanden ist wie die Figur 1. Die Muskelbremse verwischt hier alles.\nFiguren von dem Charakter, den die Figur 2 zeigt, habe ich im Laufe der Jahrzehnte viele Tausende gezeichnet. Es gibt Menschen, in deren Gliedern die Muskelbremse sich noch viel wirksamer zeigt, als es in der Figur 2 dargestellt ist; \u2014 bei welchen ein Unterschied von 1400 g im Gegengewicht nur eine sehr geringe Lagever\u00e4nderung bewirkt. An den Figuren, welche","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nConrad Rieger.\nvon solchen Unterschenkeln gezeichnet werden, k\u00f6nnen, schon weil sie zu nieder ausfallen, die Gesetze der organischen Elastizit\u00e4t nicht so gut nachgewiesen werden wie an solchen Unterschenkeln, wie derjenige ist, von dem die Figur 2 gezeichnet wTorden ist. Die letzteren sind aber die Regel; und von den meisten Menschen kann immer sofort eine Figur gezeichnet werden, welche genau den Charakter der Figur 2 zeigt. Die v\u00f6llige Verwischung desjenigen Charakters, welcher bedingt w\u00e4re durch die statischen Momente, wird bewirkt durch die elastischen Kr\u00e4fte, welche an dem lebenden Glied in die Bewegung ein-greifen. Dafs aber diese elastischen Kr\u00e4fte im wesentlichen solche der Muskeln sind, dies bedarf keiner weiteren Beweisf\u00fchrung. Denn es steht unwidersprochen fest : die Gelenke selbst haben eine minimale Reibung im gew\u00f6hnlichen Sinne; die gew\u00f6hnlichen Gelenkb\u00e4nder haben eine minimale Elastizit\u00e4t; und diejenige Elastizit\u00e4t, welche zweifellos die knorpeligen Gelenkbestandteile, in der Art von \u201ePuffern\u201c, besitzen, kommt erst in Betracht an den Grenzen der Bewegungs-Exkursionen und bei starkem Druck oder Stofs, welche beide Umst\u00e4nde in der Figur 2 v\u00f6llig ausgeschlossen sind. Was sich in Figur 2 wirksam zeigt, darf deshalb ausschliefslich als elastische Zugkraft von Muskeln betrachtet werden. Und somit zeigt also die Figur 2 die Wirkung der verschiedenen elastischen Zugkraft der Muskelgruppe an, je nach der L\u00e4nge der Muskeln, wenn sich die Versuchsperson v\u00f6llig passiv verh\u00e4lt und von sich aus nichts dazu tut.\nIch habe auf den Figuren 1 und 2, damit ich den Beschauer nicht durch eine H\u00e4ufung von Zahlen verwirre, die Zahlen der Winkelgrade nicht direkt in die Figuren hineingeschrieben, welche der jeweiligen Lage der Glieder entsprechen. Ich habe mir f\u00fcr die Bestimmung dieser Winkelgrade, ein f\u00fcr allemal, eine Skala auf einem St\u00fcck Karton angeschrieben, die ich dann nur an eine gezeichnete Figur anzulegen brauche; und zu jedem Winkel habe ich auch, ein f\u00fcr allemal, das Produkt P cos a auf geschrieben, bezogen auf P = 4000 g. Wenn ich also jetzt eine zahlenm\u00e4fsige Bestimmung haben will f\u00fcr den Unterschied zwischen der Figur 1 und 2, so habe ich sie jedesmal sofort in einigen Sekunden. \u2014 In Figur 2 steht die Zahl 14 bei 45 0 ; das heilst : als das Gegengewicht noch 2600 betrug, stand das g e -bremste nat\u00fcrliche Glied bei 450 ; 4000 Gramm multipliziert mit cos 45\u00b0 gibt 2830 Gramm. In Figur 1 steht das unge-","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Muskelzust\u00e4nde.\n25\nbremste k\u00fcnstliche Glied unter den gleichen statischen Verh\u00e4ltnissen bei 850 ; 4000 Gramm multipliziert mit cos 850 gibt nur noch 350 Gramm. Aus dieser grofsen Differenz ist der Schlufs zul\u00e4ssig, dafs, bei derjenigen Verl\u00e4ngerung der Muskelgruppe, welche der Drehung des Gliedes um 45 Winkelgrade entspricht, die elastische Zugkraft in der Muskelgruppe zirka 2500 Gramm mehr betr\u00e4gt als in dem kurzen Zustand der Muskelgruppe bei 0.\nDies stimmt auch \u00fcberein mit den Versuchen der ersten Art, \u00fcber welche ich im Eingang dieser Abhandlung berichtet habe und bei welchen ich zu bestimmen suchte : welcher Kraftzuwachs in dem l\u00e4ngeren Zustand der Muskelgruppe (im Vergleich zu dem kurzen) sich dann zeigt, wenn die Versuchsperson sich anstrengt, durch Vermittlung ihrer Nerven die elastische Zugkraft der Muskelgruppe m\u00f6glichst zu verst\u00e4rken. Auch dabei zeigt sich, dafs der Versuchsperson bei 45\u00b0 (verglichen mit 0) durch die blofse Dehnung der Muskelgruppe eine Kraft von 2 bis 3 kg geliefert wird; und dafs die Versuchsperson deshalb in dieser Lage entsprechend l\u00e4nger und entsprechend mehr gegen das Drehungsmoment leisten kann (verglichen mit der Lage bei 0). \u2014 Durch diesen Unterschied zwischen der Figur 1 und 2, bez\u00fcglich der Lage der Zahl 14, wird vorerst einmal die Wirkung der Muskelbremse, ganz im allgemeinen, v\u00f6llig anschaulich gemacht. Wenn man, statt der Teilgewichte, das einzige Gesamtgewicht von 1400 Gramm mittels des Bleiklotzes auf einmal vom Aquilibrium wegnimmt, dann stellt sich das gebremste nat\u00fcrliche Glied, nachdem die anf\u00e4nglichen Schwankungen aufgeh\u00f6rt haben, in einer Ruhelage ein, die ein wenig tiefer liegt als diejenige, in der es sich einstellt, wenn man mit den Teilgewichten operiert. Grofs ist der Unterschied aber nicht. Wir k\u00f6nnen ihn deshalb vorl\u00e4ufig vernachl\u00e4ssigen und, mit gleich-m\u00e4fsiger G\u00fcltigkeit f\u00fcr die Wirkung des ganzen Gewichts wie f\u00fcr die der Teilgewichte, folgendes sagen : Ein, durch die Zugelastizit\u00e4t der Muskelgruppe gebremster, Unterschenkel wird bei 45 0 durch eine Kraft gehalten, die auf 2 bis 3 kg veranschlagt werden darf. Und diese Kraft kostet gar keinen solchen Kraftaufwand, wie er durch die Nerven vermittelt wird ; was jederzeit dadurch bewiesen werden kann, dafs die Versuchsperson diese Lage lange beibeh\u00e4lt; \u2014 dafs auf dem berufsten Zylinder eine gerade Linie geschrieben wird, obgleich man der Versuchsperson","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nConrad Rieger.\naagt: sie solle sich durchaus nicht anstrengen. Denn dieses ist die Kraft, welche die Muskelgruppe, lediglich verm\u00f6ge ihrer gr\u00f6fseren L\u00e4nge, besitzt (im Vergleich zu ihrem kurzen Zustand); und zu diesem Kraftaufwand ist nicht notwendig eine Verst\u00e4rkung der elastischen Zugkraft durch solche Einfl\u00fcsse, welche aus den Nerven kommen. (In wieweit dasjenige, was man bezeichnen kann einesteils als \u201eelastische Nachwirkung\u201c, anderenteils als \u201eErm\u00fcdung\u201c, doch wieder zu einem Verlust auch dieser Kraft f\u00fchrt? \u2014 dieses werde ich sp\u00e4ter in einem eigenen Kapitel er\u00f6rtern.)\nEs kommt also niemals vor, dafs ein menschlicher Unterschenkel oder Arm durch das Vierzehnhundert-Gramm - Gewicht so ungebremst hinab- und hinaufgeschleudert w\u00fcrde, wie es, selbstverst\u00e4ndlicherweise, bei dem k\u00fcnstlichen Gliede immer der Fall ist. Dafs die Muskelbremse so stark funktioniert, dies bedarf aber auch, vern\u00fcnftigerweise, eigentlich keines empirischen Beweises. Denn die einfachste \u00dcberlegung mufs einem sagen, dafs dies ja gar nicht anders sein kann. Die Notwendigkeit davon mufs einem sofort einleuchten, einerseits sobald man nur einigermafsen das in Anschlag zu bringen versteht, was aus der elastischen Natur der Muskeln von vornherein gefolgert werden mufs ; andererseits sobald man erw\u00e4gt, dafs, ohne eine solche Bremsvorrichtung, alle Bewegungen im K\u00f6rper die einer Gliederpuppe, eines \u201eHampelmanns\u201c w\u00e4ren. Dafs also die Muskeln, immer und \u00fcberall, \u00fcberhaupt mehr oder minder stark bremsen, dies m\u00fcfste, im Grunde genommen, jedem denkenden Beobachter, auch ohne experimentellen Beweis, von vornherein klar sein. Dafs trotzdem diese unterste Grundlage alles Denkens und Wissens von den Muskeln noch so wenig in das Bewufstsein derjenigen eingedrungen ist, welche die Sache angeht; \u2014 dies kann ich mir, nach langem Nachdenken \u00fcber diesen Punkt, in erster Linie nur dadurch erkl\u00e4ren, dafs, bei der Schw\u00e4che des menschlichen Erkenntnisverm\u00f6gens, alle Erscheinungen in unserem Bewufstsein immer erst dann gen\u00fcgend haften, wenn sie lange Zeit hindurch unmittelbar auf unsere Sinne gewirkt haben. Mir selbst ist es auch immer so gegangen. Ich hatte schon Jahre lang \u00fcber die Grundprinzipien bei den Muskeln nachgedacht. So lange ich aber blofs gedacht habe, fehlte noch sehr die klare Erkenntnis, obgleich ich auch damals schon alles gekannt habe, woraus ich mir, bei besserer Denkkraft, alles h\u00e4tte klar machen k\u00f6nnen. Aber erst","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde.\n27\nals ich fortw\u00e4hrend, mittels der graphischen Methoden, mir die Erscheinungen immer wieder vor Augen brachte, habe ich die einfachen Tatsachen wirklich gesehen und dann auch erfafst und begriffen, von denen ich mir nachtr\u00e4glich freilich immer sagen mufste : es sei eigentlich unverst\u00e4ndlich und unbegreiflich, dafs ich die, so \u00fcberaus einfachen, Verh\u00e4ltnisse nicht von vornherein, auch ohne die optischen St\u00fctzen, richtig erfafst und verstanden habe.\nAlso : dafs die Muskelbremse \u00fcberhaupt in hohem Grade wirksam ist ; \u2014 dies h\u00e4tte schon a priori erkannt werden k\u00f6nnen und in gewissem Sinne auch sollen. Dazu h\u00e4tte es, streng genommen, keines experimentellen Nachweises durch graphische Darstellung bedurft. Und dafs ein gewaltiger Unterschied sich zeigen mufs in der Wirkung auf ein ungebremstes k\u00fcnstliches und auf ein gebremstes nat\u00fcrliches Glied, wenn man einen Vierzehnhund ert-Gramm-Klotz ab und zu setzt ; dies ist a priori klar. Dagegen sind die Wirkungen der Teilgewichte (bei siebenmaligem sukzessivem Auf setzen von je 200 g) etwas, was einen Einblick gew\u00e4hrt in die feineren Eigenschaften der organischen Elastizit\u00e4t, und was man niemals bemerken k\u00f6nnte ohne eine Methode, welche alles deutlich und dauernd sichtbar macht. Und diesen speziellen Charakter der Figur 2 betrachte ich nunmehr unter stetem Vergleich einerseits mit der Figur 1, andererseits mit der Figur 3. Mit der Figur 1 hat die Figur 2 gemeinsam, dafs in beiden eine Winkelbewegung dargestellt ist; der Unterschied besteht darin, dafs in Figur 1 keine elastische Bremse eingreift. Mit der Figur 3 hat die Figur 2 gemeinsam, dafs in beiden elastische Kraft wirksam ist; der Unterschied besteht darin, dafs Figur 2 eine Winkelbewegung darstellt, Figur 3 aber eine lineare.\nDie \u00c4ufserlichkeit : dafs die Figuren 1 und 2 zarte und ganz regel-m\u00e4fsige Linien haben, die Figur 3 aber dicke und unregelm\u00e4fsige, hat folgende unvermeidliche Ursache. In der Figur 1 und 2 schreibt eine feine Metallspitze an einem Wagebalken in einer genauen F\u00fchrung. In Figur 3 schreibt eine verh\u00e4ltnism\u00e4fsig plumpe Griffelspitze, welche direkt befestigt ist an einer Gewichts-Schale, die ihrerseits direkt an dem unteren Ende des Gummibands h\u00e4ngt, welches an einem Stativ befestigt ist. Die M\u00f6glichkeit einer genaueren F\u00fchrung ist hier ausgeschlossen. Das Gummiband dreht sich immer etwas, und eine feine Spitze w\u00e4re deshalb v\u00f6llig unbrauchbar. Nur ein dicker Griffel wird so an den berufsten Zylinder angedr\u00fcckt, dafs er daran bleibt. Dadurch sind aber sowohl dicke als ungerade Linien un-","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nConrad Rieger.\nvermeidlich bedingt. Dem Plus von Reibung, das sich hieraus ergeben mufs, steht aber in der Figur 3 wieder ein bedeutendes Minus an Reibung gegen\u00fcber (im Vergleich zu den Figuren 1 und 2), deshalb weil, bei dieser direkten Anschreibung der linearen Dehnung des Gummibands, alle die Ursachen von Reibung wegfallen, welche in den Figuren 1 und 2 gegeben sind in dem Rad, in dem Wagebalken u. s. f. \u2014 Figur 3 darf deshalb jedenfalls als der richtige Ausdruck betrachtet werden von den reinen Elastizit\u00e4tsverh\u00e4ltnissen im Inneren des Gummibandes, ohne St\u00f6rung durch blofse fremde \u00e4ufsere Reibung. \u2014 Ich habe es so eingerichtet, dafs die lineare Dehnung des Gummibandes in der Figur 3 sich darstellt ungef\u00e4hr in den gleichen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnissen wie in der Figur 2 die Winkelbewegung des menschlichen Glieds. Die Gummib\u00e4nder, die ich verwende, wiegen 15 g, sind, unbelastet (bei 0), 35 cm lang (22 mm breit und 2 mm dick). Diese Gummib\u00e4nder werden nun durch 1400 g ann\u00e4hernd so gedehnt, dafs die Figur 3, in welcher diese ihre Dehnung direkt dargestellt ist, gut vergleichbar ist mit der Figur 2, in welcher die Lagen dargestellt sind, die entstanden sind aus der elastisch gebremsten Winkeldrehung. Weil sich die Muskeln, welche in Betracht kommen, sowohl an den Armen als an den Unterschenkeln, nur wenig unterhalb der Drehungsebene ansetzen ; so sind, selbstverst\u00e4ndlicherweise, die Dehnungen der Muskelgruppe selbst erheblich geringer als die Abschnitte der gegen\u00fcber liegenden Kathete, welche in der Figur 2 angezeichnet sind (selbst bei der Reduktion auf die halbe Gr\u00f6fse in der Figur 2). Und ich habe ja schon oben (S. 15 Anmerkung) darauf hingewiesen, dafs die Grenzen, innerhalb welcher die dicken und kurzen Muskeln am l\u00e4ngsten und am k\u00fcrzesten sind, nahe bei einander liegen, dafs es sich dabei handelt um Spielr\u00e4ume von vielleicht h\u00f6chstens 20 \u00b0/0; w\u00e4hrend ich meine d\u00fcnnen und langen Gummib\u00e4nder schon gedehnt habe von 35 auf 150 cm, also um rund 400 \u00b0/0, ohne dafs sie gerissen sind. In dieser Beziehung, auf die Dehnung \u00fcberhaupt, w\u00e4re jeder Vergleich zwischen meinen Gummib\u00e4ndern und den Muskeln der Figur 2 wertlos; und Gebilde aus Gummi herzustellen, wrelche die gleichen Massen h\u00e4tten wie die Muskeln, um die es sich handelt bei meinen Versuchen, dazu bin ich, aus unmittelbar einleuchtenden Gr\u00fcnden, v\u00f6llig aufser st\u00e4nde. Es w\u00fcrde sich dabei nicht nur handeln um gewaltige Kosten f\u00fcr die Gummimassen selbst, sondern auch um die schwierigsten technischen Vorrichtungen f\u00fcr die Stative und schweren Belastungen, die erforderlich w\u00e4ren. Dies ist aber auch alles unn\u00f6tig. Denn das Wesentliche und Gesetzm\u00e4fsige der organischen Elastizit\u00e4t, wie es sich gleichermafsen zeigt im Gummi und im Muskel; \u2014 dies kann man gerade besonders deutlich dann erkennen, wenn man einerseits ein d\u00fcnnes Gummiband benutzt; andererseits von den Winkeln, um welche sich das nat\u00fcrliche Glied dreht, diejenige gegen\u00fcberliegende Kathete anschreibt (in der halben Gr\u00f6fse s. oben), welche 38 cm entfernt ist von der Drehungsebene. Bei der dadurch bewirkten Ver-gr\u00f6fserung der linearen Dehnung der Muskelgruppe, wobei doch im wesentlichen die St\u00fccke der aufgezeichneten Kathete in der richtigen Proportion stehen zu der linearen Dehnung der Muskeln (welche man selbstverst\u00e4ndlicherweise am lebenden Menschen nicht direkt aufschreiben kann) ; \u2014 hiebei bekommt man ein gen\u00fcgend deutliches Bild von den gesetz-","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Muskelzust\u00e4nde.\n29\nmassigen Verh\u00e4ltnissen der organischen Elastizit\u00e4t. Und in diesem Sinne kann man auch meine Figur 1 und meine Figur 2, obgleich sie Winkelbewegungen darstellen, doch vergleichen mit den linearen Bewegungen der Figur 3.\nSowohl in der Figur 3 wie in der Figur 2 zeigt sich niemals \u00fcbersch\u00fcssige Geschwindigkeit wie in der Figur 1, infolge deren das Glied dort immer zuerst \u00fcber die Ruhelage hinausgeht. Denn diese \u00fcbersch\u00fcssige Geschwindigkeit wird durch die Elastizit\u00e4t am Entstehen verhindert. Dagegen zeigt sich \u00fcberall eine langsame Fortsetzung der Bewegung je nach unten oder nach oben. Dies ist der Ausdruck der sogenannten elastischen Nachwirkung. Da ich \u00fcber diese und \u00fcber die wuchtigen Beziehungen, welche sich ergeben zwischen ihr und dem, wTas man Erm\u00fcdung\u201c heifst, sp\u00e4ter in einem eigenen Kapitel berichten wrerde, so gehe ich hier noch nicht darauf ein.\nW\u00e4hrend jeder Kenner es der Figur 1, welche genau unter den gleichen statischen Bedingungen wie die Figur 2 gezeichnet worden ist, sofort ansehen mufs, dafs deren verschiedene aufeinanderfolgende Lagen bedingt sind durch die trigonometrischen Verh\u00e4ltnisse, verm\u00f6ge deren in den oberen Teilen des Quadranten die gleiche Differenz des Gewichts eine viel gr\u00f6fsere Niveaudifferenz bewirken mufs als in den unteren Teilen ; so ist dieses Verh\u00e4ltnis verwischt und in das Gegenteil verkehrt worden durch die Einschaltung der elastischen Zugkraft der Muskelgruppe. Niemand kann der Figur 2 ansehen, obgleich sie unter genau den gleichen statischen Bedingungen steht wTie die Figur 1, dafs in ihr gleichfalls eine Winkelbewegung dargestellt ist. Denn der Charakter einer solchen ist in ihr v\u00f6llig verwischt; und sie sieht im wesentlichen aus wie die Figur 3, in welcher nur Lineares und durchaus nichts von einer Winkel bewegung dargestellt ist. Der Charakter der Figur 3 ist bestimmt durch die wesentliche Eigenschaft der organischen Elastizit\u00e4t, dafs die linearen St\u00fccke der Verl\u00e4ngerungen, bei sukzessivem Zusatz gleicher Gewichte, innerhalb m\u00e4fsiger Belastungen 1 sukzessive wachsen, und zwar zum mindesten so, dafs die geometrischen Proportionen konstant bleiben ; im\n1 Unten werde ich gelegentlich berichten, dafs in der N\u00e4he der Grenze, bei welcher das Band abgerissen wird, die St\u00fccke wieder k\u00fcrzer werden. Diese extremen Dehnungen kommen aber f\u00fcr den Vergleich mit den Muskeln durchaus nicht in Betracht.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nConrad Rieger.\nwesentlichen aber mehr, wie ich nachher zeigen werde. Der Zusatz von je 200 g dehnt das Band :\n1. Von 35 auf 36.5 cm, also um 4\u00b0/0 der vorigen L\u00e4nge,\n2. \u201e\t36.5\t\u201e 37.5\t55\t55\t55\tQ 0/ 3 Io\t55\t55\t55\n3.\t\u201e\t37.5\t\u201e 39.5\t55\t55\t55\t5%\t55\t55\t55\n4.\t\u201e\t39.5\t\u201e 41.5\t55\t5?\t\u2022 \u2022\t5%\t55\t55\t55\n5.\t\u201e\t41.5\t\u00bb 44\t55\t55\t55\t6%\t55\t55\t5*\n6. \u201e\t44\t\u201e 46\t55\t55\t55\t5 %\t55\t55\t55\n7-\t\u201e\t46\t\u201e 49\t55\t55\t55\t6%\t55\t55\t55\nMan\tsieht also, dafs auch dann,\t\t\t\t\twenn\tman\tdie sachgem\u00e4fse\t\nund notwendige Division in die jedesmalige Anfangsl\u00e4nge vorgenommen hat, diese prozentualen Zunahmen immer noch gr\u00f6fser werden. Und in zwei anderen Versuchen mit anderen Gummib\u00e4ndern habe ich gefunden, dafs die Zahlen der prozentualen Zunahmen entschieden nicht konstant sind sondern sogar bedeutend wachsen.\nFolgendes sind die Zahlen :\nI.\tII.\n1.\t6%\t1.\t4%\n2.\t6%\t2.\t6%\n3.\t6\u00b0/\u201e\t3.\t6%\n4.\t7%\t4.\t7%\n0.\t3 7c\tr' O.\t7%\n6.\t9%\t6.\t7 0/ \u2022 10\n7.\t12%\t7.\t\u00a9 \u00a9~\" GO\nDie beiden Gummib\u00e4nder hatten gleichfalls die Anfangsl\u00e4nge von 35 cm. Dasjenige, dessen prozentuale L\u00e4ngenzuw\u00e4chse unter\nI.\tstehen, wurde aber durch die gleiche Kraft viel st\u00e4rker gedehnt als dasjenige, dessen Dehnung in der Figur 3 (auf S. 17) dargestellt ist. Und in Bezug hierauf, steht das Band, dessen Zahlen unter\nII.\tstehen, in der Mitte. Aus den beiden Kolumnen I. und II. ersieht man aber auch, dafs die Prozentzahlen bedeutend wachsen. In den beiden Versuchen waren sie das doppelte, als von der Belastung : 1200 g \u00fcbergegangen wurde zu der Belastung : 1400 g, im Vergleich zu dem \u00dcbergang von 0 zu 200 g Belastung. Ich h\u00e4tte \u00fcber diese hochinteressante Eigenschaft der Gummib\u00e4nder noch vieles mitzuteilen. Indem ich aber nicht vergesse, dafs ich hier schreibe in die Zeitschrift f\u00fcr Psychologie, und","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde.\n31\nnicht in eine physikalische; so darf ich jetzt doch nicht auf weitere Einzelheiten eingehen. Ich behalte mir diese vor f\u00fcr einen anderen Ort und sage hier nur dieses : Obgleich in der Figur 2 (auf S. 17), unter dem Einflufs der rein statischen Momente, bei der absteigenden Bewegung die sukzessiven Abs\u00e4tze der Zahlen links und die Querstriche, die ich gezogen habe, so aus-sehen m\u00fcfsten wie in der Figur 1; \u2014 so werden, im Gegenteil, die Schritte immer gr\u00f6fser gerade wie in der linearen Bewegung der Figur 3. Das h\u00f6chst Auffallende und vorl\u00e4ufig schwer Begreifliche ist nun dieses : Die Zunahme in der Winkel bewegung der Figur 2 ist sogar noch gr\u00f6fser als die Zunahme in der\nlinearen Bewegung der Figur 3. In Figur 3 ist das Gummi-\n\u2022 \u2022\nband, beim \u00dcbergang von der Belastung 0 zu der Belastung 200 g, l\u00e4nger geworden um 4 % ; beim \u00dcbergang von der Belastung 1200 zu 1400 g um 7 %\u2022 Das Verh\u00e4ltnis darf also, wenigstens f\u00fcr dieses Gummiband, noch nicht einmal veranschlagt werden wie 1 : 2, obgleich es sich doch hier handelt um eine lineare Dehnung. \u2014 Uber die Figur 2 ist aber folgendes zu sagen: Wie lang die elastischen Muskelmassen bei 0 sind, die in der Figur 2 gedehnt werden? \u2014 dies kann ich allerdings nicht angeben. Denn ich kann sie nicht messen. Die Muskelgruppe, die gedehnt wird, setzt sich zusammen aus den verschiedensten Bestandteilen mit den verschiedensten L\u00e4ngen und Verlaufsrichtungen; eine mefsbare und eine einheitliche L\u00e4nge des elastischen Bestandteils gibt es deshalb hier nicht. Zum Teil liegen nur sehnige Transmissionsriemen (ohne Elastizit\u00e4t) dazwischen; und auch die elastischen Bestandteile verlaufen im Winkel zu der Zugrichtung der Patellarsehne, welche an dem Unterschenkel direkt angreift. \u2014 Und wenn ich die L\u00e4nge auch messen k\u00f6nnte, so h\u00e4tte das Mafs deshalb doch keinen Wert, weil ich dann doch nicht angeben k\u00f6nnte, welche lineare Dehnung den Winkelbewegungen der Figur 2 entsprechen. Ich beschr\u00e4nke mich deshalb hier auf folgende, rein anschauliche, Betrachtung: In der Figur 2 ist der Schritt von 12 bis 14 doppelt so grofs als der von 0 bis 2; in der Figur 1 dagegen f\u00fcnfmal so klein. In so starker Weise dreht die Muskelbremse dasjenige herum, was durch die, rein statischen, Momente bewirkt sein m\u00fcfste. Wenn man die Figuren 1 und 2 vergleicht, so wird man wohl sagen d\u00fcrfen, dafs die zweihundert Gramm, welche bei 12 hinzugesetzt werden, mindestens eine zehnfach so","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nConrad Rieger.\ngrofse lineare Dehnung der Muskelgruppe bewirken werden als die zweihundert Gramm, die bei 0 zugesetzt werden. Und als-dann mufs unmittelbar einleuchten, dafs mit diesem grofsen Unterschied die einfache Annahme nicht mehr vertr\u00e4glich ist: die geometrischen Proportionen bleiben konstant. Es ist allerdings v\u00f6llig unm\u00f6glich anzugeben: um wie viele Prozente die elastischen Muskelbestandteile gedehnt werden in den verschiedenen Lagen? Ich kann nur sagen: die Versuchsperson, deren Unterschenkel die Figur 2 gezeichnet hat, hat bei 00 47 cm Entfernung, von dem proximalsten Punkte am Becken zur Kniescheibe ; bei 450 51 cm. (Also Differenz 8 bis 9 \u00b0/0 auf die ganze Strecke bezogen.) Aber was davon f\u00fcr das wirklich Elastische in Anschlag gebracht werden kann? und wie sich diese 8 bis 9 Prozente auf die einzelnen Lagen, von 2 bis 14, verteilen ? \u2014 dies liegt aufserhalb der Mefsbarkeit. Doch ist es, Angesichts der Figur 2, eminent unwahrscheinlich, dafs die prozentualen Zunahmen konstant w\u00e4ren. Und man wird deshalb, mit gutem Gewissen, dasjenige, was ich Tausende von Malen so von menschlichen Unterschenkeln und Armen gezeichnet habe, wie es Figur 2 zeigt; \u2014 folgendermafsen formulieren d\u00fcrfen: Noch mehr als bei der linearen Dehnung eines Gummibands zeigt sich bei der Winkel bewegung eines menschlichen Glieds, mit sukzessiver Dehnung der grofsen Muskelmassen, die Eigenschaft der organischen Elastizit\u00e4t, dafs die elastische Zugkraft nicht in einfacher geometrischer Proportion w\u00e4chst mit der L\u00e4nge, sondern dafs die L\u00e4nge bedeutend st\u00e4rker w\u00e4chst als die Zugkraft. Vierzehnhundert Gramm sind das Siebenfache von zweihundert Gramm. Die Muskelgruppe mufs aber betr\u00e4chtlich mehr, als um das Siebenfache, gedehnt sein, wenn sie diese siebenfache Zug-Kraft aus\u00fcben soll.\nIch mufs jetzt noch auf einen sehr wesentlichen Unterschied hinweisen zwischen den Bedingungen der Figur 2 und denen der Figur 3. In der Figur 3 wird einfach die elastische Zugkraft eines einzigen Gummibandes in das Gleichgewicht gesetzt mit Gewichten, die daran h\u00e4ngen; dies geschieht in dem absteigenden Teil der Figur so, dafs dieses einzige Gummiband durch, sukzessive zugesetzte, Zweihundertgramm-Gewichts-St\u00fccke gedehnt; in dem auf steigenden Teil aber so, dafs durch, sukzessive weggenommene, Gewichte die Dehnung wieder aufgehoben wird. Wenn also hier, wie aus der Figur 3","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"liber Muskelzust\u00e4nde.\n33\nunmittelbar ersichtlich ist, in dem aufsteigenden Teil die Zahlen rechts anfangs bedeutend unter den Zahlen links bleiben ; so ist dies, da blofse tote Reibung so gut wie v\u00f6llig ausgeschlossen ist (s. oben S. 28), der unzweideutige Ausdruck davon, dafs das Gummiband einen Verlust an elastischer Zugkraft erlitten hat ; und eine andere Einwirkung kommt nicht in Betracht. Denn es sind nur die zwei Kr\u00e4fte wirksam : erstens die des Gewichts ; zweitens die elastische Zugkraft des einzigen Gummibandes. In der Figur 2 kommt aber eine dritte Kraft hinzu, n\u00e4mlich die der antagonistischen Muskelgruppe. Diese mufs auch schon ber\u00fccksichtigt werden bei der Betrachtung des absteigenden St\u00fcckes der Figur 2. Denn hier ziehen nicht nur die statischen Drehungsmomente das Glied nach abw\u00e4rts; sondern als Kraft, welche gleichfalls zur Dehnung ihres Antagonisten beitr\u00e4gt, kommt noch in Betracht die Muskelgruppe, welche k\u00fcrzer wird, wenn die andere l\u00e4nger wird.\nEs ist aber nun sehr schwierig, sich eine klare Vorstellung dar\u00fcber zu bilden: was durch diese dritte Kraft bewirkt wird? Doch l\u00e4fst sich etwa so viel sagen : In dem absteigenden Teil der Figur 2 ist, zwischen 0 und 2, diejenige Muskelkraft, welche gegen die Wirkung des rein statischen Drehungsmoments bremst, besonders grofs; diejenige Muskelkraft dagegen, \u25a0welche mit dem rein statischen Drehungsmomente in gleichem Sinne wirkt, besonders klein. Denn diese letztere Kraft befindet sich hier in dem Zustand, in welchem sich, in Figur 3, die Kraft des einzigen Gummibands bei 14 befindet. Aus doppeltem Grund wird also der Schritt zwischen 0 und 2 so sehr viel kleiner, als er sein m\u00fcfste unter dem blofsen Einflufs der statischen Verh\u00e4ltnisse im Sinne der Figur 1. \u2014 Umgekehrt ist, am anderen Ende des absteigenden Teils der Figur 2 (zwischen 12 und 14), diejenige Muskelkraft, welche, gegen die bremsende Muskelkraft, mit dem, rein statischen, Drehungsmoment in gleichem Sinne wirkt, grofs. Sie befindet sich hier in dem Zustand, in welchem sich in Figur 3 die elastische Zugkraft des Gummibands in dem aufsteigenden Teil der Figur befindet, wenn sie den R\u00fcckschritt von 2 auf 0 wieder gerade so grofs macht, wie beim Absteigen der Schritt von 0 auf 2 gewesen war, w\u00e4hrend unten der Schritt von 14 auf 12 so gering gewesen war. Es d\u00fcrfte aber vorl\u00e4ufig dem Leser und Beschauer v\u00f6llig unm\u00f6glich sein, sich zurecht zu finden in der Verwicklung, die dadurch entsteht, dafs in der Figur 2 die Wirkung von drei Kr\u00e4ften in die Erscheinung tritt. Und ich kann nur hoffen, dafs allm\u00e4hlich, so wie es auch mir gelungen ist, sich einige Menschen finden wrerden, welchen es gelingt, die Wirkung der drei Kr\u00e4fte in der Figur 2 zu sehen. Weil die Figur 2 auch noch durch die Winkelbewegung kompliziert ist, so wird das Verst\u00e4ndnis noch schwieriger. Wenn also, in dem auf steigenden Teil der Figur 2, die Schritte rechts von 14 zu 12, von 12 zu 10 und von 10 zu 8 so sehr klein sind, im Vergleich zu den entsprechen-Zeitsehrift f\u00fcr Psychologie 31.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nConrad Rieger.\nden absteigenden Schritten links; \u2014 so konkurrieren dabei vier Ursachen : erstens (zu einem -allerdings sehr geringen Teil): die blofse tote Reibung des Apparats, wie sie auch in der Figur 1 ersichtlich ist ; zweitens : wenn man den ganz kleinen Schritt von 14 zu 12 vergleicht z. B. mit dem grofsen Schritt (oben in der Figur 2) von 2 zu 0 (nat\u00fcrlich auf der rechten Seite!); so kann man ja wohl sagen, dafs hier auch noch die rein statischen Drehungsmomente in dem gleichen Sinne wirksam sein m\u00f6gen wie in Figur 1, wo der Zwischenraum zwischen 0 und 2 f\u00fcnfmal so grofs ist als der zwischen 12 und 14. Hiebei mufs man aber, selbstverst\u00e4ndlicherweise, sofort hinzusetzen, dafs der Zwischenraum zwischen 12 und 14 in der gebremsten Figur 2 da liegt, wo in der ungebremsten Figur 1 die Zwischenr\u00e4ume um 6 herum liegen. Und hier sind die, rein statisch bedingten, Zwischenr\u00e4ume schon wieder gr\u00f6fser. Es wird deshalb auch diese Ursache, die, wie die erste, gleichfalls nur gesch\u00f6pft w\u00e4re aus dem Vergleich mit der Figur 1, wenig in das Gewicht fallen, und im wesentlichen werden blofs in Betracht kommen, drittens und viertens : die elastischen Kr\u00e4fte jeder der beiden Muskelgruppen. Diejenige Muskelgruppe, die von 0 bis 14 gebremst hat, ist schw\u00e4cher geworden, als sie zu Anfang gewesen war, so wie in Figur 3 die einzige elastische Kraft bei 14. Und dies ist die dritte Ursache der kleinen Schritte von 14 an nach aufw\u00e4rts. \u2014 Viertens aber ist die andere Muskelkraft jetzt besonders stark; und dies ist die wichtigste Ursache der kleinen Schritte. Die gleiche Brems-Skala, die sich in dem absteigenden Teil der Figur 2 gezeigt hatte, zeigt sich jetzt in dem aufsteigenden.\nHiemit habe ich das Wichtigste gesagt, was \u00fcber die Figur 2 zu sagen ist. Ich bin mir klar bewufst, dafs ich damit in dem Leser und Beschauer immer noch kein richtiges Verst\u00e4ndnis habe erwecken k\u00f6nnen. Denn die Verh\u00e4ltnisse sind zu kompliziert. Dies k\u00f6nnte aber vorl\u00e4ufig auch durch weitere S\u00e4tze nicht ge\u00e4ndert werden. Ich selbst habe auch viele Jahre gebraucht, bis ich die Figur 2 verstanden habe, die ich, schon in der ersten H\u00e4lfte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, Tausende von Malen einen menschlichen Unterschenkel oder Arm hatte zeichnen lassen, ohne dafs ich sie verstanden habe. \u2014:\nEine unmittelbare Konsequenz aus dem, was ich in der Figur 3, der von dem Gummiband, dargestellt habe, ist folgende : Ein Gummiband bekommt, unter der Wirkung eines und desselben Gewichts, eine sehr verschiedene L\u00e4nge, je nachdem es vorher kurz oder lang war. Wenn ich das Band belaste mit dem Vierzehnhundert-Gramm-Gewicht auf einmal, so ist der Unterschied ein sehr betr\u00e4chtlicher, je nachdem ich von oben komme, aus einem vorherigen Zustand ohne jede Dehnung, oder von unten aus einem vorherigen Zustand starker Dehnung.","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskdzusf\u00e4nde.\n35\nIn dem ersteren Falle stellt sich das Gummiband ein auf die L\u00e4nge von 81 cm, in dem letzteren auf die von 87 cm. Der Unterschied der L\u00e4nge betr\u00e4gt somit 7 %.\nAlso : selbst wenn man vorl\u00e4ufig noch v\u00f6llig absieht von der Wirkung der Temperatur, die ja auch, wie ich in dem sp\u00e4teren Kapitel auseinandersetzen werde, eine sehr starke ist ; so ist die L\u00e4nge eines elastischen Bandes durch die Angabe des Gewichts, das an ihm zieht, noch nicht eindeutig bestimmt. Sondern es geh\u00f6rt, als wesentliche Bestimmung, noch dazu die Angabe : welcher Zustand vorher bestand ? : ob das Band aus einem kurzen? oder aus einem langen? Zustand kommt.\nAuch damit ist noch keine, v\u00f6llig eindeutige, Bestimmung gegeben. Sondern es kommt dann immer noch darauf an: wie lange Zeit hindurch das Band vorher lang oder kurz war? Diesen, gleichfalls sehr wichtigen, Punkt kann ich hier aber noch nicht er\u00f6rtern. Sondern ich mufs seine Er\u00f6rterung aufsparen auf das n\u00e4chste Kapitel, in welchem ich, im Anschlufs an die sogenannte elastische Nachwirkung, im wesentlichen zeitliche Verh\u00e4ltnisse zur Sprache bringen wrerde.\nAuch bei einem menschlichen Unterschenkel kann jederzeit das Gleiche demonstriert werden wie bei einem Gummiband. Auch ein solcher nimmt, in einer durchaus gesetzm\u00e4fsigen Weise, verschiedene Lagen ein, je nachdem er von oben oder von unten kommt.\nUm den Zustand der Muskelgruppe herzustellen, der, soweit als es \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist, dem Zustand des Gummibandes entspricht, wenn dieses v\u00f6llig schlaff und entlastet ist; \u2014 streckt man den Unterschenkel maximal gegen den Oberschenkel. Dann ist die Kniescheibe, so sehr als es \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist, proximalw\u00e4rts verschoben und die Muskelgruppe so kurz, als sie \u00fcberhaupt, bei unverletztem K\u00f6rper, werden kann. Wenn man nun, aus diesem Zustand heraus, das Drehungsmoment so wirken l\u00e4fst, dafs es der Zahl 14 der Figuren 1 und 2 entspricht; dann stellt sich der Unterschenkel ein in der Gegend um 45\u00b0. \u2014 Den umgekehrten Versuch, heraus aus m\u00f6glichst langem Zustand der Muskelgruppe, stellt man folgendermafsen an: Man bringt den Unterschenkel abw\u00e4rts in spitzwinklige Beugung zum Oberschenkel, soweit als es sich mit der Sicherheit und Genauigkeit des Versuchs vertr\u00e4gt. Wenn man ihn aus dieser Lage so losl\u00e4fst, dafs nun gleichfalls das Drehungsmoment auf ihn wirkt, welches der Zahl 14 entspricht; \u2014 so stellt er sich nunmehr (statt auf 45\u00b0, als er von oben kam) ein auf 65\u00b0. Nach der Formel P cos \u00ab entspricht dies einem Unterschied von rund 1100 g. Um so viel mehr elastische Zugkraft, als wenn sie vorher lang war, hat also die Muskelgruppe, welche gegen die Abw\u00e4rtsbewegung bremst, wenn sie vorher kurz war (und umgekehrt diejenige Muskelgruppe, welche gegen die Aul w\u00e4rt sbewegung bremst).\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nConrad Rieger.\nAlles, wor\u00fcber ich soeben berichtet habe, ist eine noch st\u00e4rkere Verdeutlichung dessen, was schon aus den Figuren 2 und 3 unmittelbar abgelesen und was alles so formuliert werden kann: Die L\u00e4nge eines Gummibandes und einer Muskelgruppe (NB! bei gleicher Temperatur!) ist nicht eindeutig bestimmt durch das ziehende Gewicht (resp. durch das Drehungsmoment), sondern sie ist in wesentlichem Grade mitbestimmt durch den Unterschied : ob das Band (resp. die Muskelgruppe) vorher lang ? oder kurz? war.\nHiebei wiederhole ich nochmals :\nDie Zeitstrecke, w\u00e4hrend deren das Langsein oder Kurzsein angedauert hat, ist gleichfalls von grofser Wichtigkeit. Wenn ich aber diese weitere Kausalit\u00e4t jetzt schon hereinz\u00f6ge, so w\u00fcrde ich die Sache vollends unertr\u00e4glich verwickelt machen.\nVorbeh\u00e4ltlich der Korrekturen also, welche ich sp\u00e4ter hinzuf\u00fcgen werde in Bezug auf die zeitlichen Verh\u00e4ltnisse, kann ich folgenden Satz formulieren :\nDie elastische Zugkraft ist um so gr\u00f6fser, je k\u00fcrzer das elastische Band vorher gewesen ist, ehe die elastische Kraft in .Wirksamkeit trat; und um so kleiner, je l\u00e4nger das Band gewesen ist. In dieser Formulierung ist nun aber auch die Erkl\u00e4rung enthalten f\u00fcr die zunehmenden Schritte im absteigenden und im aufsteigenden Teil der Figuren 2 und 3. Wenn das Gummiband und die Muskelgruppe bei 0 gestanden waren, dann waren sie am k\u00fcrzesten; folglich hatten sie am meisten elastische Zugkraft; und deshalb mufs der erste Schritt derjenige sein, am dem sich die meiste Bremskraft zeigt. Jeder folgende Schritt in dem absteigenden Teil geht schon aus von einem l\u00e4ngeren und deshalb auch schw\u00e4cheren Zustand ; und in dem aufsteigenden Teil umgekehrt.\nIndem nun die Natur elastische Zugkr\u00e4fte von dieser Eigenschaft in den Muskeln verwendet, so hat sie damit eine sehr zweckm\u00e4fsige Einrichtung getroffen in Hinsicht auf brauchbare Bremsung. Denn starke Bremsung ist um so notwendiger, je l\u00e4nger der Weg ist, den das Glied zur\u00fccklegt. Um so st\u00e4rker n\u00e4mlich wird die \u00fcbersch\u00fcssige Geschwindigkeit der Bewegung. Und diese mufs ja eben durch Bremsung vernichtet werden. Ferner sind im Beginn einer Bewegung in der Regel die Drehungsmomente am st\u00e4rksten, ferner die Muskelgruppen, gegen welche gebremst werden mufs, lang und ihre elastische Zugkraft","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde.\n37\ndeshalb, wie sp\u00e4ter er\u00f6rtert werden wird, am meisten verst\u00e4rkbar durch das, was aus den Nerven kommt. Als Gegenkraft gegen alles dieses greift nun, in eminent zweckm\u00e4fsiger Weise, die Bremskraft des Muskels ein, die gleichfalls da am st\u00e4rksten ist, wo diejenigen Kr\u00e4fte am st\u00e4rksten sind, gegen welche sie zu bremsen hat. Man vergegenw\u00e4rtige sich nur, dafs dies auch ganz anders sein k\u00f6nnte. Die organische Elastizit\u00e4t k\u00f6nnte auch diese Eigenschaft haben, dafs sie, aus dem kurzen Zustand heraus, zuerst eine geringere Zugkraft entwickelte, die sp\u00e4ter w\u00fcchse.\nEine solche Zunahme der elastischen Zugkraft l\u00e4fst sich in der Tat auch an einem Gummiband dann konstatieren, wenn es schon so stark gedehnt ist, dafs es dem Zustand nahe ist, bei dem es reifst. Ehe dieser Punkt erreicht ist, bewirken Zus\u00e4tze gleicher Gewichte auch wieder a b -nehmende Verl\u00e4ngerungen; die elastische Zugkraft ist also hier wieder im Zunehmen.\nIch habe dar\u00fcber z. B. folgende Skala aufgeschrieben:\nVon der Belastung: 2200 bis 3200 g wurde das Band l\u00e4nger um 44\u00b0/0\n55\t55\t55\t: 3200 \u201e\t4200 \u201e\t55\t55\t55\t55\t5,\t22 %\n55\t55\t55\t: 4200 \u201e\t5200 \u201e\t55\t55\t55\t55\t\u201e 16%\n55\t55\t55\t: 5200 \u201e\t6200 \u201e\t55\t55\t55\t55\t5,\t12%\nDann ist es gerissen. Dies ist also eine ganz andere Skala als die der Figuren 2 und 3, in denen die Schritte sukzessive gr\u00f6fser werden. Aber von solchen starken Dehnungen ist ja bei dem Muskel nicht im entferntesten die Rede, bei welchem, wie ich bei jeder Gelegenheit hervorgehoben habe, die Extreme (zwischen der gr\u00f6fsten L\u00e4nge und K\u00fcrze der elastischen Bestandteile), immer h\u00f6chstens um 20\u00b0/o auseinander liegen werden. Und innerhalb dieser Grenzen gilt die Skala der Figuren 2 und 3, mit ihrer grofsen Zweckm\u00e4fsigkeit f\u00fcr die Bremst\u00e4tigkeit.\nNach allem, was ich im bisherigen mitgeteilt habe, ist nun auch unmittelbar verst\u00e4ndlich, dafs, im Gegensatz zu dem k\u00fcnstlichen Glied, bei jeder Wendung, auch in den mittleren Lagen, die Bremskraft besonders stark in die Erscheinung tritt. Wrenn ich das k\u00fcnstliche Glied abwechselnd abw\u00e4rts und aufw\u00e4rts bewege dadurch, dafs ich vom Gegengewicht immer 200 g ab-und zusetze; so sind die Lagen, die es einnimmt, sehr wenig von einander verschieden, wie aus der Figur 4 (S. 39) unmittelbar ersichtlich ist. Es sind nur die kleinen Unterschiede sichtbar, welche durch die tote Reibung des Apparats bedingt sind. \u2014 In der Figur 5 dagegen, welche von einem menschlichen Unterschenkel, unter genau den gleichen statischen Bedingungen wie in der Figur 4, gezeichnet worden ist, hat jede Wendung (in der","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nConrad Rieger.\nRichtung der Bewegung) zur Folge, dafs das Glied bedeutend zur\u00fcckbleibt hinter der Lage, welche es, unter dem Einflufs des gleichen Drehungsmomentes, eingenommen hatte, als es sich in entgegengesetzter Richtung bewegt hatte. Und in der Figur 6, welche die lineare Dehnung eines Gummibandes, unter dem Einflufs der gleichen Zus\u00e4tze und Wegnahmen von Zweihundert-Gramm-Gewichten, darstellt, zeigt sich der gleiche prinzipielle Unterschied, nur in schw\u00e4cherem Grade, wie ja auch in der Figur 2 (an dem menschlihcen Unterschenkel) die Wirkung der Muskelbremse viel deutlicher in die Erscheinung tritt als in der Figur 3 (an dem Gummiband) die Wirkung der elastischen Zugkraft (schon aus dem Grunde, weil in der Figur 3 die doppelten elastischen Kr\u00e4fte der beiden Muskelgruppen wirksam sind, wie ich oben, S. 33, auseinandergesetzt habe).\nDiese Tatsache, die ich Tausende von Malen graphisch dargestellt habe, und die ich jederzeit sofort demonstrieren kann, ebenso am Gummiband wie am menschlichen Glied, z\u00e7igt gleichfalls wie alles Bisherige : dafs die St\u00e4rke der elastischen Zugkraft in hohem Mafse abh\u00e4ngig ist von dem, was vorangegangen war. Durch solche Wendungen kann der ganze Spielraum der Wirkungen, welche abh\u00e4ngig sind von den verschiedenen Belastungen, weiter nach oben oder nach unten verlegt werden. Und es zeigt sich somit auch hiebei, dafs, durch die besonderen Eigenschaften der elastischen Zugkraft, diejenige einfache Kausalit\u00e4t, welche best\u00fcnde zwischen den Lagen einerseits, den Gewichten und Drehungsmomenten andererseits, in hohem Grade modifiziert wird.\nIch halte es f\u00fcr wichtig und n\u00fctzlich, dafs ich noch nachdr\u00fccklich auf folgenden Punkt hinweise: Man k\u00f6nnte sich vorstellen, die grofsen Verschiedenheiten, welche die elastische Zugkraft des Muskels und des Gummibands zeigt, je nach dem Zustand, in welchem sich Muskel und Gummiband vorher befunden hatten, seien einfach dadurch\u2022 bedingt, dafs die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse innerhalb des Muskels und des Bandes sich ge\u00e4ndert h\u00e4tten: dafs es, in den verschiedenen F\u00e4llen, l\u00e4nger, breiter, schm\u00e4ler u. s. f. w\u00e4re. Ich halte aber diese r\u00e4umlichen Vorstellungen f\u00fcr wertlos und spreche immer nur von Ab\u00e4nderungen der Kraft. Dafs die r\u00e4umlichen Vorstellungen nichts erkl\u00e4ren k\u00f6nnten, dies kann einfach durch folgende Versuche bewiesen werden, welche ich gleichfalls Tausende von","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde.\n39\nFigur 4 stellt dar die verschiedenen Lagen bei derWinkel-Bewegung des k\u00fcnstlichen Glieds (in welche keine elastische Bremskraft eingreift), unter dem Einflufs verschiedener Gegengewichte, welche abwechselnd zu- und abgesetzt werden. Diese W en du ngen haben, bei dem Glied ohne Bremskraft, keinen Einflufs.\nFigur5 stellt dar die verschiedenen Lagen bei der Winkel- Bewegung des nat\u00fcrlichen Glieds, hier eines menschlichen Unterschenkels (in welche die Muskel-Bremse eingreift), unter genau den gleichen statischen Verh\u00e4ltnissen wie in Figur\u00e9. DieWendungen haben, bei dem Glied mit Bremskraft, einen g r of sen Einflufs.\nFigur 6 stellt dar die verschiedenen Lagen bei der linearen Dehnung eines Gummibands, unter dem Einflufs der gleichen Wendungen in den Belastungen wie in den Figuren 4 und 5. Die Wendungen habenEinflufs, jedoch viel weniger als in Figur 5.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nConrad Rieger.\nMalen angestellt habe, und welche ich jederzeit sofort wiederholen kann, immer mit dem gleichen Ergebnis. Wenn ich das Gummiband oder den Muskel zuerst m\u00f6glichst kurz gemacht, und wenn ich sie darauf, einige Zeit lang, m\u00f6glichst stark gedehnt habe, so m\u00fcssen, in diesem Zustand starker Dehnung, den ich immer bis zu einer und derselben, genau markierten, Grenze durchf\u00fchre, die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse die gleichen geworden sein wie in dem anderen Fall, in welchem vorher der, m\u00f6glichst kurze, Zustand nicht bestanden hatte. Wenn ich dann aber das \u00fcberdehnende Gewicht wegnehme, so zeigt sich in der\nelastischen Zugkraft ein ausnahmsloser und bedeutender Unter-\n__ \u2022 \u2022\nschied, je nachdem vor der Uberdehnung der kurze Zustand\nbestanden hatte oder nicht. Wenn der Muskel oder das Band, \u2022 \u2022\nvor der Uberdehnung, m\u00f6glichst kurz gewesen waren; so ist\nder Zuwachs an Kraft, den ihnen dieser kurze Zustand gegeben\nhatte, immer noch deutlich vorhanden, obgleich, nach dem\n\u2022 \u2022\nkurzen Zustand, noch einmal Uberdehnung, mit v\u00f6lliger Umkehrung der r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse, stattgefunden hatte.\nNur wenn die \u00dcberdehnung sehr lange dauert, oder wenn sie h\u00e4ufig wiederholt wird, ohne dafs dazwischen nochmals der kurze Zustand eingeschaltet wird ; \u2014 erst dann verschwindet allm\u00e4hlich jener Zuwachs an Kraft, der, aus dem vorigen kurzen Zustand, lange Zeit hindurch sich erhalten hatte.\nIch kann, angesichts der Erhaltung der Kraft durch ganz andere r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse hindurch, nicht finden, dafs wir durch Zuhilfenahme r\u00e4umlicher Vorstellungen in unserem Verst\u00e4ndnis gef\u00f6rdert w\u00fcrden. Und ich bediene mich deshalb ausschliefslich des einfachen Begriffs der Kraft, ohne ihn anzukn\u00fcpfen etwa an Vorstellungen \u00fcber die Lage elastischer Molek\u00fcle in dem Bande oder \u00fcber \u00c4hnliches. Ich glaube, dafs mit solchen Bem\u00fchungen lediglich Zeit vergeudet w\u00fcrde, und dafs sie die Aufmerksamkeit nur ablenkten von der Hauptsache, n\u00e4mlich von dem Studium der wirklichen und direkt erkennbaren Bedingungen der elastischen Kraft.\nEs wird niemand im st\u00e4nde sein, \u00fcber das Gummiband, welches ich in beiden F\u00e4llen vollkommen gleich lang gemacht habe, etwas zu behaupten in dem Sinne: dafs seine r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse in dem einen Fall, in welchem es vorher kurz gewesen war, andere seien als in dem anderen Fall, in welchem es vorher nicht kurz gewesen war. Und doch hat es in den beiden F\u00e4llen eine sehr verschiedene Kraft.\nUnd bei dem Muskel ist es genau ebenso. Wenn ich den Unterschenkel zum Oberschenkel maximal gestreckt habe, so habe","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Muskelzust\u00e4nde.\n41\nich bei jedem Versuch die obere und die untere Muskelgruppe in genau die gleichen r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse gebracht. Wenn ich dann aber den Unterschenkel loslasse, so zeigt sich ausnahmslos ein betr\u00e4chtlicher Unterschied in der Lage, die er einnimmt (folglich in der Verteilung der elastischen Zugkraft auf\ndie beiden Muskelgruppen), je nachdem, vor dem kurzen\n\u2022 \u2022\nZustand, Uberdehnung nach unten stattgefunden hatte oder nicht; \u2014 und in dem umgekehrten Falle umgekehrt. \u2014\nDamit habe ich eine weitere Kausalit\u00e4t nachgewiesen, welche ich so formuliere : die elastische Zugkraft steht nicht nur in kausaler Abh\u00e4ngigkeit davon, ob das Band unmittelbar vorher lang oder kurz gewesen war. Sondern ausnahmslos kann ich auch die elastische Zugkraft gr\u00f6fser oder kleiner machen, je nachdem ich, vor dem Zustand der L\u00e4nge oder K\u00fcrze, welcher unmittelbar vorher bestanden hat, den entgegengesetzten Zustand (der L\u00e4nge oder K\u00fcrze) hergestellt hatte, oder nicht.\nDiese kausale Abh\u00e4ngigkeit habe ich so sicher in der Hand, dafs ich sie jetzt jederzeit demonstrieren kann. Ich habe aber viele Jahre gebraucht, bis ich sie erfafst hatte. Und gerade, weil sie mir verborgen geblieben war, bin ich Jahre lang vor dem berufsten Zylinder gesessen, ohne dafs ich seine Figuren begriffen habe. Eine Ursache davon, dafs ich so viele Jahre gebraucht habe, bis ich diese versteckten Kausalit\u00e4ten herausgefunden habe, ist auch diese : weil immer die zwei Muskelgruppen wirksam sind, so kommt sehr viel darauf an : ob sich der Unterschenkel etwas mehr oder weniger schnell in die neue Lage begibt. Die obere Muskelgruppe sei z. B. stark gedehnt, der Unterschenkel stehe, schon etwas spitzwinklig zum Oberschenkel, nach hinten durch einen Z\u00fcgel festgehalten, w\u00e4hrend das Gegengewicht, wenn der Z\u00fcgel ihn losl\u00e4fst, ihn zirka auf 45\u00b0 stellt. Wenn man nun die \u00dcberdehnung das eine Mal etwas rascher, das andere Mal etwas langsamer aufh\u00f6be, so w\u00fcrde im ersteren Falle die \u00fcbersch\u00fcssige Geschwindigkeit das Glied zuerst etwas h\u00f6her bringen als in dem zweiten. Damit k\u00e4me er aber auch wieder mehr in die obere Gegend des Quadranten, in welchem die obere Muskelgruppe, weil sie kurz wird, wieder Kraft gewinnt. Dann w\u00fcrde, aus diesem Grunde, die Ruhelage eine etwas h\u00f6here als dann, wenn das Glied nicht bis in diese Gegend hinauf gekommen war. Man darf deshalb nur diejenigen Versuche mit einander vergleichen, in welchen das Glied, vor der Einstellung in die Ruhelage, gleich weit \u00fcber die Ruhelage hinausgegangen war. Mittels des berufsten Zylinders, auf welchem sich der ganze Vorgang abzeichnet, ist diese Kon-trole nicht schwer. Man mufs aber wissen, dafs es auch darauf sehr ankommt; und solange man dies nicht ber\u00fccksichtigt, wird man in Unklarheit bleiben.\nV\u00f6llige Verwirrung entsteht auch dann, wenn man die starke Wirkung der Zeit nicht ber\u00fccksichtigt. Wenn z. B. die obere Muskelgruppe nur","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nConrad Rieger.\nkurze Zeit kurz, und die untere lange Zeit lang gewesen war, so kann daraus am Schlufs eine geringere elastische Zugkraft resultieren, als wrenn sie gar nicht kurz, aber auch nur kurze Zeit lang gewesen war. Vergleichbar hinsichtlich ihrer Wirkung auf die elastische Zugkraft sind deshalb die Zust\u00e4nde, die vorher bestanden hatten, auch nur unter der Bedingung, dafs sie, je die gleiche Zeit hindurch, bestanden hatten. Auch diese Bedingung kann ja leicht verwirklicht werden. Aber man mufs sie eben kennen als eine wesentliche Bedingung; und solange man sie unbeachtet l\u00e4fst, ist Verwirrung gleichfalls unvermeidlich. Der grofse Einflufs der Zeit, als solcher, wird im n\u00e4chsten Kapitel auseinander gesetzt werden.\nAlle diese verwickelten Vorg\u00e4nge wird derjenige in seinem Denken richtig erfassen und znsammenfassen k\u00f6nnen, der auf sie alle die Grundformel anwendet: der kurze Zustand gibt, der lange nimmt Kraft. Und der Gewinn und der Verlust persistieren (einige Zeit), auch durch die entgegengesetzten Zust\u00e4nde hindurch.\nHiemit habe ich dasjenige mitgeteilt, was ich zu berichten hatte \u00fcber die Bedingungen der, organischen, elastischen Zugkraft, ohne R\u00fccksicht auf die Zeit und ohne R\u00fccksicht auf die Temperatur, nur mit R\u00fccksicht auf den kurzen und langen Zustand und die \u00dcberg\u00e4nge von dem einen in den anderen. Dem Einflufs der Zeit wird mein n\u00e4chstes, dem der Temperatur mein \u00fcbern\u00e4chstes Kapitel gewidmet sein. Bei dem Einflufs der Temperatur werde ich zu er\u00f6rtern haben: ob das, was aus den Nerven in die Muskeln kommt, im wesentlichen der Art ist, dafs es auf die Temperatur der Muskeln wirkt? oder nicht?\n\u2022 \u2022\nUber das, was ich in dem vorstehenden Aufsatze gesagt habe, bemerke ich noch dieses :\nObgleich ich nur mit den einfachsten Begriffen von elastischer Zugkraft operirt habe, so mufs doch schon aus den schlichten Tatsachen, die ich dabei an das Licht gebracht habe, auch jedem denkenden Psychologen klar werden: dafs, zwischen der Wirklichkeit der \u00e4ufseren Welt und dem, was wir \u00fcber diese Wirklichkeit sagen k\u00f6nnen, Kr\u00e4fte in unserem Muskelsystem eingeschaltet sind, deren Bedingungen wir zuerst genau kennen m\u00fcssen, ehe wir weiteres behaupten k\u00f6nnen \u00fcber die Beziehungen der \u00e4ufseren Wirklichkeit zu dem, wras der Mensch \u00fcber diese Wirklichkeit sagen kann.\nIch selbst bin, von einem rein psychologischen Ausgangspunkt, zu allen Beobachtungen gekommen, \u00fcber welche ich","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde.\n43\nim vorstehenden berichtet habe. Ich habe mir, vor zwanzig Jahren, gesagt: Wenn wir z. B. etwas behaupten wollen \u00fcber die subjektive Sch\u00e4tzung von Lasten, die objektiv auf unsere Glieder wirken ; so m\u00fcssen wir doch zuerst wissen : was diese Lasten in unseren Gliedern selbst wirken ? wir m\u00fcssen Zusehen : wie es ist, wenn wir das eigene Gewicht dieser Glieder durch Aquilibrirung ausschliefsen ? u. s. f.\nIch habe mir ferner gesagt: eine Formel, wie z. B. die FECHNERsche, kann doch nicht die Bedeutung haben, wie wenn der Mensch etwa konstruiert wT\u00e4re in der Art eines Mefsapparates, z. B. einer Tangenten - Boussole, die, nach einer bewufsten Anordnung und gem\u00e4fs einer bestimmten Formel, Verh\u00e4ltnisse innerhalb der \u00e4ufseren Wirklichkeit anzeigt. Denn der Mensch ist doch nicht von einem Mechaniker verfertigt worden.\nAls ich nun aber z. B. versuchte, das eigene Gewicht des Gliedes durch \u00c4quilibrierung auszuschliefsen ; da wurde ich immer wieder darauf gef\u00fchrt, dafs die elastische Kraft in sehr starker Weise und unter den Bedingungen einwirkte, die ich im vorstehenden er\u00f6rtert habe. Und nunmehr ergibt sich f\u00fcr die Frage: was wir von der \u00e4ufseren Wirklichkeit wahrnehmen? das ganz bestimmte Problem: wonach urteilen wir? nach den jeweiligen Zust\u00e4nden der elastischen Kraft innerhalb unserer Muskeln? oder nach dem, was aufserhalb des K\u00f6rpers wirkt?\nObgleich ich schon vieles dar\u00fcber sagen k\u00f6nnte, so enthalte ich mich doch hier, an diesem Orte, noch jeder Antwort auf diese Alternativ-Frage ; sondern ich begn\u00fcge mich mit der blofsen Fragestellung. \u2014\nHier ist noch der Ort dazu, dafs ich des sogenannten Schwaensehen Gesetzes Erw\u00e4hnung tue. Uber dieses habe ich in der Abhandlung, welche ich oben (S. 5) zitiert habe, auf S. 32if. nachstehendes mitgeteilt:\nRobert Mayer hatte gesagt (Mechanik der W\u00e4rme. 2. Auflage, S. 111):\n\u201eNach der in der Mechanik befolgten mathematischen Methode wird die physische Kraft als ein Produkt aus einem Druck oder Zug in den Wirkungsraum dargestellt. Es ist nun dieser Druck bei Gasen sowohl als bei den Muskeln dem Wirkungsraum umgekehrt proportional. Der von einem Gase ausge\u00fcbte Druck steht mit der Expansion des Gases in umgekehrtem Verh\u00e4ltnisse: BoYLEsches oder MARiOTTESches Gesetz. Die St\u00e4rke des Zuges nimmt proportional der Zunahme der Kontraktion des Muskels ab: ScHWANxsches Gesetz.\u201c \u2014 Hiezu","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nConrad Rieger.\nhabe ich folgendes bemerkt: Den Anmerkungen zu Du Bois - Reymonds Ged\u00e4chtnisrede auf Johannes M\u00fclleb entnehme ich folgende Stelle aus einem Briefe von Theodor Schwann: \u201eDas Erste, was ich in dieser Richtung publiziert habe, waren die Versuche \u00fcber die Gesetze, wonach die Tragkraft des Muskels mit dem Grade der Kontraktion abnimmt und wor\u00fcber ich bei der Naturforscher-Versammlung in Jena 1836 einen Vortrag gehalten habe (M\u00fcllers Physiologie II, S. 59). Dadurch wurde, soviel ich weifs, zum erstenmal eine evidente Lebenserscheinung mathematischen, in Zahlen ausgedr\u00fcckten Gesetzen unterworfen.\u201c \u2014 Dieses eigene Urteil Schwanns \u00fcber seine Untersuchung macht Du Bois-Reymond im Text jener Rede (a. a. O. S. 206) zu seinem eigenen, und diese Best\u00e4tigung, seitens eines so eminenten Kenners der Physiologie und ihrer Geschichte, l\u00e4fst die Untersuchungen Schwanns um so wichtiger erscheinen. In der angef\u00fchrten Stelle von M\u00fcllers Physiologie sind die Versuche genau geschildert und ihr Resultat dann folgendermafsen zusammengefafst (S. 61): \u201eDie Kraft des Muskels nahm im geraden Verh\u00e4ltnis mit seiner Kontraktion ab.\u201c \u2014 Und der Schlufs-Satz lautet: \u201eDieses Gesetz ist dasselbe, welches bei den elastischen K\u00f6rpern gilt.\u201c Mit diesem Satz bricht aber dieser Gedankengang ab, und die Darstellung geht zu anderen Folgerungen aus den Versuchen \u00fcber, die sich beziehen auf Theorien \u00fcber die inneren Vorg\u00e4nge bei der Muskelkontraktion, deren Vergleichung mit der jetzt von Elias M\u00fcller aufgestellten zwar sehr interessant w\u00e4re, aber wie schon wiederholt betont, aufserhalb meiner Interessensph\u00e4re liegt. Dagegen ist mir der, vorhin gesperrt abgedruckte, Schlufs-Satz hinsichtlich der Analogie mit den elastischen K\u00f6rpern sehr wichtig. Aus der Stelle in Johannes M\u00fcllers Lehrbuch geht nicht ganz unzweideutig hervor, dafs auch dieser Satz Schwann angeh\u00f6rt. Man k\u00f6nnte ihn auch f\u00fcr eine, an Schwanns Versuche gekn\u00fcpfte, Bemerkung Johannes M\u00fcllers halten. Hier\u00fcber gibt aber Aufkl\u00e4rung der Bericht \u00fcber die Naturforscher-Versammlung zu Jena vom Jahr 1836 in der Isis von Oken (1837 S. 523. 524), dessen Kenntnis ich der Anmerkung 94 auf S. 319 des zitierten Buches von Du Bois-Reymond verdanke. In diesem sehr kurzen Berichte heilst es: \u201eSchwann machte auf die vollkommene \u00dcbereinstimmung seines Gesetzes mit dem Gesetze aufmerksam, nach welchem sich ein ausgedehnter elastischer K\u00f6rper zusammenzieht. Er entwickelte die Ansicht, dafs man sich einen Muskel vorstellen k\u00f6nne als einen elastischen K\u00f6rper, bei dem die Kraft, die er im ausgedehnten Zustande \u00e4ufsert, verm\u00f6ge des Bestrebens sich zusammenzuziehen (durch den Nerveneinflufs) verst\u00e4rkt werden kann.\u201c \u2014\nDaraus geht deutlich hervor, dafs Schwann, und ni cht Johannes M\u00fcller, die erw\u00e4hnte Beziehung zum Begriff der Elastizit\u00e4t zuerst ausgesprochen hat. Dagegen scheint Schwann diese Versuche nicht weiter verfolgt zu haben. 1846 zitiert Eduard Weber in seinem Artikel: Muskelbewegung (Wagner, Handw\u00f6rterbuch der Physiologie. Dritter Band. Zweite Abhandlung. S. 84), die ScHWANNSche Entdeckung nur nach der oben abgedruckten Stelle aus Johannes M\u00fcllers Physiologie (und zwar mit der f\u00fcr den zweiten Band falschen Jahreszahl 1837, welche auch in ein Zitat in Hermanns Handbuch von 1879, S. 21, Anm. 2 \u00fcbergegangen ist). Von der, im Jahr 1845 auf Robert Mayers eigene Kosten erschienenen, Schrift: \u201eDie organi-","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde.\n45\nsehe Bewegung in ihrem Zusammenhang mit dem Stoffwechsel\u201c konnte Eduaed Webee im Jahr 1846 nichts wissen, da sie bekanntlich Jahrzehnte lang v\u00f6llig unbeachtet blieb. Andererseits ist sie aber auch vor Eduaed Webees Artikel erschienen, und Robeet Mayee hat den oben zitierten Satz direkt an Schwanns Satz angekn\u00fcpft. \u2014 Robeet Mayee selbst gibt kein Zitat, aus dem zu entscheiden w\u00e4re: woher er seine Kenntnifs gesch\u00f6pft hat? er spricht aber von dem \u201eScHWANNSchen Gesetz\u201c als von etwas ganz Bekanntem. Dies ist um so bemerkenswerter, als heutzutage Schwanns Name in der Muskelphysiologie manchmal gar nicht mehr genannt wird. In Rosenthals \u201eAllgemeiner Physiologie der Muskeln und Nerven\u201c (Internationale wissenschaftliche Bibliothek. 27. Band. Leipzig 1877) werden die Versuche Schwanns nur kurz und beil\u00e4ufig erw\u00e4hnt; in Ficks Buch (Mechanische Arbeit und W\u00e4rmeentwicklung bei der Muskelth\u00e4tigkeit. Internationale wissenschaftliche Bibliothek. 51. Band. Leipzig 1882) kommt sein Name \u00fcberhaupt nicht vor, w\u00e4hrend doch, nach dem oben von Du Bois-Reymond angef\u00fchrten Urteil, ihm eine Epoche machende Bedeutung zukommt hinsichtlich der Betrachtungen \u00fcber Muskel - Elastizit\u00e4t, welche gerade bei Fick eine so grofse Rolle spielen. Ich m\u00f6chte nun aber andererseits auch darauf hinweisen, dafs in den ScHWANNSchen S\u00e4tzen, die ich oben genau angef\u00fchrt habe, noch verh\u00e4ltnism\u00e4fsig wrenig Aufkl\u00e4rung enthalten war, und dafs erst Robeet Mayee weitere Perspektiven er\u00f6ffnet hat. Schwann hat (nach dem Gesagten, wie es scheint, als der Erste) darauf hingewiesen, dafs elastische Kr\u00e4fte im Muskel t\u00e4tig sind, welche einerseits ihrer eigenen physikalischen Natur folgen k\u00f6nnen, wenn n\u00e4mlich bei gleichem Erregungs-Zustand die L\u00e4nge der Muskeln variiert wird; welche aber andererseits auch fortw\u00e4hrend durch verschiedene Erregungszust\u00e4nde (vom Nervensystem aus) abge\u00e4ndert werden. Dies war damals zwar gewifs eine n\u00fctzliche Formulierung; und dafs im Jahr 1836 dabei die thermologi-schen Konsequenzen noch nicht gezogen werden konnten, versteht sich eigentlich von selbst, zumal da sie nicht einmal in den seither verflossenen sechsundf\u00fcnfzig Jahren gezogen worden sind. Aber andererseits ist auch selbstverst\u00e4ndlich, dafs sie dem Entdecker des mechanischen \u00c4quivalents der W\u00e4rme nicht verborgen bleiben konnten. Allerdings sind seine Bemerkungen hier\u00fcber nur \u00e4ufserst aphoristisch. Aber die zwei S\u00e4tze, die sich einige Zeilen nach dem oben Angef\u00fchrten in der Abhandlung von Robeet Mayee finden: \u201eWo nichts ist, da l\u00e4fst sich auch nichts umwandeln. Ohne W\u00e4rme ist keine Elastizit\u00e4t denkbar\u201c ; enthalten doch den Keim zu allem, was in dieser Hinsicht noch zu entdecken und zu folgern ist. Sie machen allein auch den Vergleich des Muskels mit elastischen K\u00f6rpern fruchtbar; und deshalb enthalten sie die richtige Weiterbildung von Schwanns S\u00e4tzen, woran sich nur leider, bis heute, keine weitere Tradition angeschlossen hat. \u2014\nWas von dem Vorstehenden in das thermologische Gebiet geh\u00f6rt, werde ich unten in dem sp\u00e4teren Kapitel er\u00f6rtern, welches behandeln wird: Die elastische Zugkraft der Muskeln betrachtet als Funktion ihrer Temperatur. Hier be-","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nConrad Rieger.\nmerke ich, ohne R\u00fccksicht auf die Wirkung der Temperatur, zu dem Vorstehenden nur dasjenige, was die Abh\u00e4ngigkeit der elastischen Zugkraft der Muskeln von ihrer L\u00e4nge angeht. \u2014\nWenn das ScHWANxsche Gesetz formuliert ist in den Worten: ..Die Kraft des Muskels nehme im geraden Verh\u00e4ltnis mit seiner Kontraktion ab\u201c; und: \u201eDieses Gesetz ist dasselbe, welches bei den elastischen K\u00f6rpern gilt\u201c; \u2014 so sind die Ausdr\u00fccke: \u201eim geraden Verh\u00e4ltnis\u201c und \u201eKontraktion\u201c noch durchaus unklar. \u201eGerades Verh\u00e4ltnis\u201c ist insofern richtig, wenn es heifsen soll: nicht umgekehrt proportional. Unter \u201egeradem Verh\u00e4ltnis\u201c k\u00f6nnte man aber auch verstehen ein Verh\u00e4ltnis, dessen arithmetischer Ausdruck einfach eine Gleichung ersten Grades w\u00e4re (y \u2014 x) ; das hiefse : Dafs zu den einfachen Multiplis der elastischen Zugkraft die entsprechenden Multipla der Verl\u00e4ngerung geh\u00f6rten, dafs z. B. 1000 Gramm getragen w\u00fcrden bei dem F\u00fcnffachen des Zuwachses der L\u00e4nge bezogen auf den Zuwachs der L\u00e4nge, der durch 200 Gramm bewirkt wird. \u2014 Diese Behauptung w\u00e4re, wie ich oben im Text gezeigt habe, durchaus falsch sowohl f\u00fcr den Gummi als f\u00fcr den Muskel. Und bei einer solchen Formulierung w\u00fcrde man gerade das Charakteristische und Interessante an der organischen Elastizit\u00e4t v\u00f6llig \u00fcbersehen und verkennen. \u2014\nFerner ist das Wort \u201eKontraktion\u201c sehr zu beanstanden. Ich brauche es nie, weil es, notwendigerweise, zu den st\u00e4rksten Konfusionen f\u00fchren mufs. In dem gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch w\u00fcrde jedermann, ohne weiteres, unter \u201eKontraktion\u201c dasjenige verstehen, was, unter dem Einflufs der Nerven, hinzugetan wird an elastischer Zugkraft. Und wenn man dies unter \u201eKontraktion\u201c versteht, so ist der Satz: \u201eDie Kraft des Muskels nimmt mit seiner Kontraktion ab\u201c sinnlos. Denn durch starken Nerven-Einflufs nimmt in der Regel, gerade bei der \u201eKontraktion\u201c, die Kraft des Muskels bedeutend zu. Auf eine verst\u00e4ndliche Formulierung kann man deshalb nur dann kommen, wenn man das, v\u00f6llig zweideutige, Wort \u201eKontraktion\u201c ganz vermeidet und nur sich dieser Ausdr\u00fccke bedient: Die elastische Zugkraft ist, (aber in einem, durchaus nicht einfachen, Verh\u00e4ltnis) um so geringer, je k\u00fcrzer der Muskel ist; jedoch nat\u00fcrlich nur bei gleichbleibenden Wirkungen aus den Nerven.\n(Eingegangen am 24. Juli 1902.) (Forts, folgt.)","page":46}],"identifier":"lit32935","issued":"1903","language":"de","pages":"1-46","startpages":"1","title":"\u00dcber Muskelzust\u00e4nde","type":"Journal Article","volume":"31"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:23:42.838223+00:00"}