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{"created":"2022-01-31T16:22:51.652213+00:00","id":"lit32936","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lipps, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 31: 47-78","fulltext":[{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"47\n\\\nFortsetzung der ^Psychologischen Streitpunkte\u201c.\nVon\nTheodor Lipps.\nIV. Zur Frage der geometrisch-optischen\nT\u00e4uschungen.\nSchon im 19. Bande dieser Zeitschrift hat Witasek vermeintlich gezeigt, dafs jede Erkl\u00e4rung der geometrisch - optischen T\u00e4uschungen, in welcher diese auf Urteilst\u00e4uschungen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, dafs demnach auch meine Theorie der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen prinzipiell unm\u00f6glich, ja gar nicht ausdenkbar sei. Aufserdem sei sie mit gewissen von ihm festgestellten Tatsachen schlechterdings unvertr\u00e4glich. Diese vermeintliche Widerlegung meiner Theorie hat dann Vittorio Benussi im 29. Bande dieser Zeitschrift durch Aufzeichnung weiterer Tatsachen vollendet. In Wahrheit habe ich beiden Forschern f\u00fcr die schlagende Best\u00e4tigung, die sie durch ihre sorgf\u00e4ltigen experimentellen Untersuchungen meiner Theorie haben angedeihen lassen, dankbar zu sein.\nWitasek beginnt mit allgemeinen erkenntnistheoretischen Erw\u00e4gungen. Sie ergeben das zweifellose Resultat, dafs meine Theorie nicht zu Witasek\u2019s Begriffen pafst. Dies bedaure ich aufrichtig. Ich gehe aber hier nur auf Dasjenige ein, worum es sich in diesem Zusammenh\u00e4nge eigentlich handelt.\nIn gewissen T\u00e4uschungen scheint eine gerade Linie gekr\u00fcmmt oder geknickt. Die fraglichen T\u00e4uschungen sind, allgemein gesagt, T\u00e4uschungen \u00fcber die Form. Andere T\u00e4uschungen betreffen die Richtung. Was nun ist Form? Was ist Richtung? Was ist Geradheit? Was ist vertikale oder horizontale Lage? Offenbar ist volle Klarheit \u00fcber diese und \u00e4hnliche Begriffe die erste Voraussetzung, wenn \u00fcber die Natur der geometrischoptischen T\u00e4uschungen ein Entscheid gef\u00e4llt werden soll.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nTheodor Lipps.\nNach Witasek w\u00e4re die Antwort auf die Frage, was Geradheit sei, einfach: Geradheit wird gesehen. Dies nun trifft bei mir nicht zn. Ich sehe die Geradheit nicht. Ich sehe nicht einmal die Linie. Sondern ich sehe \u2014 mein Sehfeld. In ihm ist die Linie mit enthalten. Sie wird implizite mitgesehen. Soll sie explizite, als dies bestimmte von seiner Umgebung verschiedene Objekt, f\u00fcr mich da sein, so mufs ich sie erst \u201eexplizieren\u201c oder f\u00fcr sich stellen. Ich mufs sie apperzeptiv isolieren.\nDies tue ich sukzessiv. Ich beginne etwa am einen Ende der Linie und durchlaufe sie bis zum anderen Ende; n\u00e4mlich apperzeptiv, oder mit der \u201eAufmerksamkeit\u201c. Ich hebe in stetigem Zuge Teil um Teil heraus; so zwar, dafs ich das mit jedem Schritt der Apperzeption Gewonnene in jedem folgenden Schritt festhalte. So gewinne ich schliefslich die Linie. Ohne dies w\u00fcrde ich von der Linie ebensowenig wissen, als ich in jenem Vexierbild mit der Unterschrift \u201eWo ist die Katze?\u201c von der Katze weifs, solange es mir nicht gelungen ist, die Katze apperzeptiv herauszul\u00f6sen.\nIch sehe, so sage ich, die Linie nicht. Dabei setze ich voraus, dafs unter dem \u201eSehen\u201c das optische Empfinden gemeint ist. Versteht man unter dem Sehen das Wahrnehmen, dann allerdings wird die Linie gesehen. Doch ist dabei wieder vorausgesetzt, dafs das \u201eWahrnehmen\u201c das apperzeptive Verarbeiten des Empfundenen, insbesondere die Schaffung gesonderter Objekte aus dem gegebenen Empfindungsmaterial, miteinschliefst. Dieser Unterschied geh\u00f6rt zum ABC der Psychologie.\nIn jenem sukzessiven Herausapperzipieren ist nun sofort dies mitgegeben: Die Linie entsteht f\u00fcr mich. Die Linie AB etwa entsteht f\u00fcr mich in der Richtung von A nach R, wenn ich die apperzeptive Heraushebung bei A beginne, oder, wie wir kurz zu sagen pflegen, wenn ich die Linie von A aus betrachte. Sie entsteht durch mein apperzeptives Tun; kurz durch mich. Ich lasse sie entstehen. Zugleich entsteht sie doch auch wiederum nicht durch mich. Mein Tun ist kein willk\u00fcrliches, sondern ein objektiv bedingtes oder begr\u00fcndetes. Die Bewegung, durch welche die Linie entsteht, ist an ihre Beschaffenheit gebunden. Die Linie weist mich, verm\u00f6ge derselben, von einem Ende zum anderen. Sie fordert die apperzeptive Bewegung. Das Entstehen liegt also in ihr. Es liegt in ihr dies r\u00e4umliche Werden. Es ist ihre Sache. Dies besagen die Jedermann gel\u00e4ufigen","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\n49\nWendungen: Die von A aus betrachtete Linie erstreckt sich, dehnt sich, verl\u00e4uft von A nach B. Dies tut sie in der Tat \u2014 nicht an sich, aber f\u00fcr meine Betrachtung, nicht als Gegenstand meiner Gesichtsempfindung, aber als Objekt meiner Auffassung. Sie tut dies, so gewifs sie bei umgekehrter Betrachtung von B nach A, und, falls ich sie von der Mitte aus betrachte, von der Mitte aus gleichzeitig nach A und nach B, sich erstreckt, sich ausdehnt, verl\u00e4uft. Die in jeder Linie f\u00fcr mich liegende Bewegung ist ihrem letzten Ursprung nach jederzeit meine durch die Linie gegebene oder an sie gebundene, also ihr zugeh\u00f6rige apperzeptive Bewegung. \u2014 Hier sind wir zugleich auf den fundamentalsten Akt der \u201eEinf\u00fchlung\u201c in r\u00e4umliche .Formen gestofsen.\nUnd nun zur Geradheit. Ich sagte, ich sehe auch nicht die Geradheit der Linie. Dies ist selbstverst\u00e4ndlich, wenn ich die Linie nicht sehe. Die Geradheit ist ja eine \u201eEigenschaft\u201c, die der Linie als solcher, oder f\u00fcr sich, nicht etwa dem Sehfeld zukommt.\nSondern die Geradheit der Linie ergibt sich ebenso wie die Linie in meiner Apperzeption. Sie ist ein Merkmal nicht der gesehenen Linie, sondern der apperzipierten, oder der Linie als apperzipierter.\nSagen wir dies etwas genauer. Von vornherein leuchtet ein, dafs der Begriff der geraden Linie ein Verh\u00e4ltnisbegriff ist. Er betrifft das Verh\u00e4ltnis der geraden Linie zu dem, was aufser ihr ist, zu ihrem Rechts und Links. Eine Linie f\u00fcr sich ist weder gerade noch krumm. Gesetzt, es g\u00e4be nur einen linearen Raum, so h\u00e4tten die Worte \u201eGerade\u201c und \u201eKrumm\u201c keinen Sinn. Die Linie kann gerade oder krumm sein nur in der Fl\u00e4che, die Fl\u00e4che nur im Raum von drei Dimensionen. Dieser wiederum w\u00e4re gerade oder krumm in einem Raum von vier Dimensionen.\nDie gerade Linie kann definiert werden als die durch ihre Form eindeutig bestimmte Verbindungslinie zweier Punkte, oder einfacher, als der durch seine Form eindeutig bestimmte r\u00e4umliche Fortschritt.\nAber es handelt sich hier nicht um die m\u00f6gliche begriffliche Definition, sondern um die Aufzeigung der Elemente, die f\u00fcr unser Bewufstsein die Geradheit konstituieren. Worin nun aber diese bestehen, kann nicht zweifelhaft sein. Ich vergegenw\u00e4rtige mir das Element der Linie, das einfache Aneinander zweier,\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 31.\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nTheodor Lipps.\nnat\u00fcrlich nicht mathematischer Punkte. Ich gehe von einem Punkte A zu einem Punkte B. Von da kann ich dann zu einem dritten Punkte C in verschiedenen \u201eRichtungen\u201c fortgehen. Jedesmal entsteht eine Linie ABC von bestimmter \u201eForm\u201c. Diese \u201eForm\u201c ist das r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnis von AB zu BC. Aber nicht das r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnis innerhalb der Linie ABC selbst, sondern durch den umgebenden Raum hindurch. AB und BC schliefsen einen \u201eWinkel\u201c ein. Indem ich sie durch den Winkel hindurch aufeinander beziehe, entsteht mir die Form.\nGesetzt nun, der Fortschritt ABC ist kein gerader. Dann gibt es neben diesem Fortschritt ABC einen Fortschritt ABC', der dieselbe \u201eForm\u201c hat, aber durch seine Lage von dem Fortschritt ABC sich unterscheidet. Der Fortschritt ABC geschieht nach einer anderen Richtung oder \u201eSeite\u201c. Und nun vergleiche ich diese \u201eSeite\u201c mit der gegen\u00fcberliegenden. Ich finde dann: ABC verh\u00e4lt sich nach beiden \u201eSeiten\u201c hin verschieden. Nach der einen Seite schliefst AB und BC einen bestimmten Winkel ein. Dagegen findet sich auf der anderen Seite einmal derselbe Winkel oder dieselbe Raumausbreitung und daneben noch ein Winkel.\nDamit nun ist zugleich der gerade Fortschritt \u00fcber B hinaus charakterisiert. Ist der Fortschritt ABC ein gerader, so gibt es aufser ihm keinen der Form nach gleichen Fortschritt \u00fcber AB hinaus, der eine andere Lage hat oder nach anderer \u201eSeite\u201c geht. Sondern ABC f\u00e4llt mit dem ihm gleichen oder zu ihm symmetrischen Fortschritt ABC zusammen. ABC hat also nach beiden Seiten dieselbe Form oder es verh\u00e4lt sich in ihm das BC zum AB nach beiden Seiten hin gleich. AB und BC verhalten sich zueinander gleich durch den beiderseitigen Raum hindurch. Kurz, sie verhalten sich gleich hinsichtlich ihres Rechts und Links.\nDies m\u00fcssen wir nun, wenn die gerade Linie gr\u00f6fsere Ausdehnung besitzt, \u00fcbertragen auf die Linie in ihrer ganzen Ausdehnung. Jeder neue Fortschritt verh\u00e4lt sich zum Vorangehenden nach beiden Seiten oder durch den beiderseitigen Raum hindurch gleich. Die gerade Linie ist die Linie der Gleichheit dieses \u00fcberall gleichen Verh\u00e4ltnisses.\nUnd so beurteilen wir die Geradheit. Wir tun es \u2014 nicht, indem wir die gerade Linie lediglich f\u00fcr sich betrachten, sondern indem wir sie in Beziehung setzen zu ihrem Rechts und Links.","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung cler \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\n51\nDabei gewinnen wir das Bewufstsein, sie gehe zwischen den m\u00f6glichen, hinsichtlich ihrer Form einander gleichen, nach rechts und links abweichenden Fortschritten \u201egerade durch\u201c, d. h. sie verhalte sich nach beiden Seiten zu ihrer Umgebung und durch diese hindurch nach rechts und links gleich. Das Bewufstsein der Geradheit ist dies Bewufstsein dieser Gleichheit r\u00e4umlicher Verh\u00e4ltnisse. Es ist allgemeiner gesagt das Bewufstsein eines Verh\u00e4ltnisses zwischen r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen.\nDamit ist zugleich gesagt, dafs das Bewufstsein der Geradheit so wenig Sache der Empfindung ist, wie irgend welches Gleichheitsbewufstsein, etwa das Bewufstsein der Gleichheit der Farbe der Linie. Ich empfinde gewifs, wenn eine Linie gleich gef\u00e4rbt ist, in jedem Punkte derselben die gleiche Farbe. Aber es w\u00e4re \u00fcbel, wrenn jemand dies beides nicht zu unterscheiden w\u00fcfste: Empfindung der gleichen Farbe, und \u201eEmpfindung\u201c der Gleichheit der Farbe.\nWie zur Erkenntnifs der Gleichheit der Farbe, so bedarf es aber auch zur Erkenntnifs der Geradheit keines bewufsten Ver-gleichens. Das Vergleichen besteht zun\u00e4chst in gleichzeitigem Apperzipieren. Daraus ergibt sich von selbst und mit psychologischer Notwendigkeit ein Sichaneinandermessen des gleichzeitig Apperzipierten. Was einmal gleichzeitig apperzipiert ist, kann nicht umhin, Eines zum Anderen in Beziehung zu treten, und zu erproben, ob es als selbst\u00e4ndiges Objekt der Apperzeption sich behauptet, oder ob, mehr oder minder, Eines mit dem Anderen f\u00fcr die Auffassung oder Apperzeption Eines oder ein Einziges wird. Dies meine ich mit dem \u201eSichaneinandermessen\u201c. Das Ergebnis ist das Bewufstsein der Gleichheit oder Ungleichheit.\nUnd dabei nun ist es v\u00f6llig gleichg\u00fcltig, ob wir geflissentlich oder ungeflissentlich die gleichzeitige Apperzeption vollziehen, ob wir demnach mit bewufster Absicht das Aneinandermessen herbeif\u00fchren, oder ob es nur einfach geschieht. Im ersteren Falle wird man sagen, dafs man bewufst \u201evergleiche\u201c. Und man wird das Ergebnis als Gleichheits- oder Ungleichheitsurteil bezeichnen. Im anderen Falle meint man vielleicht, es finde kein Vergleichen statt. Und man weigert sich demgem\u00e4fs, das Ergebnis mit dem Namen eines Urteils zu belegen. Dies","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nTheodor Lipps.\n\u00e4ndert doch an der Sache nichts. Der Prozefs und das Ergebnis bleibt im wesentlichen der gleichen Art.\nDemgem\u00e4fs ist es auch eine nebens\u00e4chliche Frage, ob man das Bewufstsein der Geradheit als Gleichheitsnrteil und den psychischen Prozefs der Entstehung dieses Apperzeptionserlebnisses als ein Vergleichen bezeichnen will. Auch hier wird an der Sache dadurch nichts ge\u00e4ndert. Nur darauf m\u00fcssen wir bestehen : Jenes Bewufstsein ist ein Erkennen. Ich empfinde die Linie nicht, sondern ich erkenne sie als eine Gerade. Vielleicht entschliefst man sich auch zu sagen: Ich beurteile sie als eine solche.\nDie Geradheit der Linie ist eine Form dieser Linie. Formen nun sind jederzeit Beziehungen oder Relationen der Teile oder Elemente eines Objektes zueinander, oder sie sind Relationen des Objektes zu Anderem. Alle Relationen aber sind \u2014 nicht Sache der Empfindung, sondern Apperzeptionserlebnisse. Und objektive, d. h. in dem Empfundenen selbst gegebene Relationen sind Weisen, wie das Empfundene mich in meinem Apperzipieren, insbesondere in meinem apperzeptiven Zusammenfassen und Zusammenfesthalten, bestimmt. Dar\u00fcber bitte ich meine Schrift \u00fcber \u201eEinheiten und Relationen\u201c zu vergleichen.\nWie es nun aber damit sich verhalten mag: In jedem Falle ist mit der Einsicht, das Bewufstsein der Geradheit sei ein Gleichheitsbewufstsein, das Verst\u00e4ndnis der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen, welche die Form der geraden Linie betreffen, ohne weiteres gegeben. Ich kann mich st\u00e4rker ausdr\u00fccken und sagen : Es ist selbstverst\u00e4ndlich, dafs solche T\u00e4uschungen stattfinden m\u00fcssen.\nJedermann weifs, das Gleichheitsbewufstsein kann abgelenkt werden. Es ist dazu nur erforderlich, dafs an dem Gleichen f\u00fcr mich eine Bestimmung irgend welcher Art haftet, die Ungleichheit in sich schliefst.\nEine Stelle eines schwarzen Gegenstandes etwa sei hell, ein Teil eines weifsen Gegenstandes wenig beleuchtet. Die resultierende Helligkeit sei dieselbe. Dann erscheint mir doch das Schwarz dunkler. Ich weifs eben, es ist schwarz, und schwarz ist dunkler als weifs. Dies Wissen modifiziert das Vergleichsergebnis.\nOder ich sehe zwei vom Auge verschieden weit entfernte Linien gleich grofs. Ihre Gesichtsbilder haben gleiche Aus-","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\n53\ndehnung. Aber ich habe das Bewufstsein der verschiedenen Entfernung. Und Erfahrung sagt mir, dafs das weiter Entfernte bei gleicher Gr\u00f6fse des Gesichtsbildes tats\u00e4chlich gr\u00f6fser ist: Dem-gem\u00e4fs scheint mir, v\u00f6llig zwingend, die entferntere Linie gr\u00f6fser. Ich glaube sie gr\u00f6fser zu sehen.\nDies sind keine geometrisch-optischen T\u00e4uschungen. Aber die letzteren gehorchen genau dem gleichen Prinzip.\nIndessen T\u00e4uschungen \u00fcber die Form der geraden Linie sind hier nicht der eigentliche Gegenstand meines Interesses. Witasek und Benitssi beschr\u00e4nken sich bei ihren Betrachtungen \u00fcber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen auf die Richtungst\u00e4uschung, der wir angesichts der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur unterliegen. Dies ist nicht zweckm\u00e4fsig. Es kann allzu leicht geschehen, dafs die f\u00fcr einen einzelnen Fall zurecht gemachte Theorie durch die anderen F\u00e4lle widerlegt wird. Eine Theorie gibt doch immer ein allgemeines Gesetz. Sonst ist sie keine Theorie. Und ein Gesetz mufs sich als g\u00fcltig erweisen in allen F\u00e4llen, auf die es seiner Natur nach anwendbar ist. Sonst ist es kein Gesetz. Das sollten alle diejenigen bedenken, die f\u00fcr einzelne geometrisch-optische T\u00e4uschungen sich eine Theorie zurecht machen.\nBei der Z\u00f6llner\u2019sehen T\u00e4uschung handelt es sich wie gesagt, um die Richtung, jetzt fragt es sich: Was ist die Richtung? Was ist insbesondere Vertikalit\u00e4t, Horizontalit\u00e4t, Schr\u00e4gheit? Wenn ich nicht irre, so meint Witasek dies alles wiederum zu \u201esehen\u201c. Ich erwidere auch hier: Ich sehe, d. h. empfinde nichts dergleichen. Es ist aber hier die Unm\u00f6glichkeit der Berufung auf Empfindung wom\u00f6glich noch einleuchtender, als bei der Geradheit.\nIch sehe nicht die Vertikalit\u00e4t einer Linie, sondern ich beurteile die Linie als vertikal. Ich erkenne sie als solche, d. h. ich finde an die gesehene und apperzeptiv herausgehobene Linie solche von dem Gesehenen selbst verschiedene aber untrennbar daran gebundene Merkmale oder Bestimmungen, die f\u00fcr mich die gerade Linie charakterisieren.\nSolches Erkennen scheint W. allen Ernstes mit dem Benennen zu identifizieren. Das w\u00e4re ein \u00fcbles Versehen. Gewifs weifs ich, wenn ich die gerade Linie als solche erkenne, dafs sie den Namen einer geraden tr\u00e4gt oder beanspruchen darf. Aber woher weifs ich dies? Warum erkenne ich ihr den Namen zu.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nTheodor Lipps.\nNat\u00fcrlich darum, weil ich die Linie als denjenigen gleichartig erkenne, die ich sonst durch diesen Namen ausgezeichnet habe, kurz, weil ich sie damit identifiziere. Indem ich dies tue, erkenne ich der Linie auch denselben Namen zu. Ohne dies sachliche Identifizieren w\u00e4re die gleiche Benennung ein Akt der Willk\u00fcr.\nGesetzt dagegen, ich kann eine Linie mit den Linien, die ich als vertikale zu bezeichnen pflege, nicht identifizieren, so \u2014 unterscheide ich sie von ihnen. Die Linie ist f\u00fcr mich eine andere, eine nicht vertikale. Ich kann sie aber mit jenen nicht identifizieren, wenn ich an ihr Merkmale finde, die von den Merkmalen, die sonst f\u00fcr mich die gerade Linie charakterisieren, ab weichen. Und gesetzt, ich finde an der Linie Merkmale, die f\u00fcr mich die schr\u00e4ge Linie charakterisieren, so identifiziere ich sie mit den schr\u00e4gen Linien. Die Linie ist f\u00fcr mich jetzt eine schr\u00e4ge.\nDies wird man selbstverst\u00e4ndlich finden. Nun, ebenso selbstverst\u00e4ndlich sind die T\u00e4uschungen \u00fcber die Vertikalit\u00e4t einer Linie. Freilich, die Empfindung der Vertikalit\u00e4t kann durch keine zur Empfindung hinzutretenden Merkmale oder Kennzeichen in eine andere Empfindung umgewandelt werden. Aber eine solche Empfindung der Vertikalit\u00e4t gibt es eben nicht. Die Vertikalit\u00e4t besteht nun einmal einzig und allein in Merkmalen, die zur Empfindung hinzutreten. Besser gesagt, das Bewufstsein derselben besteht im Bewufstsein solcher.\nWas soll ich denn empfinden, wenn ich die Vertikalit\u00e4t empfinde? Was charakterisiert die Vertikalit\u00e4t f\u00fcr meine Empfindung? Die einfache Stellung dieser Frage h\u00e4tte Witasek\u2019s Polemik unm\u00f6glich gemacht. Die vertikale Linie bildet sich auf anderen Punkten der Netzhaut ab als die schr\u00e4ge. Aber doch nur unter der Voraussetzung, dafs ich sie bei einer bestimmten, n\u00e4mlich der aufrechten Kopfhaltung betrachte. H\u00e4nge ich den Kopf zur Seite, so bildet sie sich auf denselben Punkten der Netzhaut ab, auf denen vorher die schr\u00e4ge Linie sich abbildete. Es sind \u00fcberhaupt die peripherischen Vorg\u00e4nge jetzt in jeder Hinsicht genau diejenigen, die stattfinden, wenn ich die schr\u00e4ge Linie bei aufrechter Kopfhaltung betrachte. Und doch bleibt auch bei schr\u00e4ger Kopfhaltung die vertikale Linie f\u00fcr mich eine vertikale. Ich fahre fort, sie als vertikale zu beurteilen.\nIn der Tat ist die vertikale Linie zun\u00e4chst eine \u201egerade\"","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\t55\nLinie. Und zwar ist sie dies in einem ganz besonderen Sinne. Nicht nur in dem Sinne, dafs die Vertikalit\u00e4t die Geradheit in sich schliefst. Sondern die Vertikalit\u00e4t ist in sich selbst eine eigene Art der Geradheit. Sie verh\u00e4lt sich zur Geradheit \u00fcberhaupt, wie sich zum relativen Rechts und Links, d. h. zum Rechts und Links von der Linie aus, das absolute Rechts und Links, d. h. mein Rechts und Links verh\u00e4lt. Die vertikale Linie verh\u00e4lt sich zu diesem Rechts und Links gleich. Damit steht sie zugleich in einer spezifischen Beziehung zum absoluten, d. h. zu meinem Oben und Unten.\nDas \u201eabsolute\u201c Rechts und Links ist, genauer gesagt, das Rechts und Links meines aufgerichteten K\u00f6rpers, oder der Bewegungen desselben. Ebenso ist das absolute Oben und Unten das Oben und Unten meines aufgerichteten K\u00f6rpers. Jenes und dieses erlebe ich unmittelbar, d. h. ich erlebe unmittelbar die Eigenart der Bewegungen des K\u00f6rpers, der H\u00e4nde, des Kopfes, der Augen nach rechts, und die davon verschiedene Eigenart der Bewegungen nach links. Ich erlebe ebenso die Eigenart der Bewegung nach oben, des Sichaufrichtens des K\u00f6rpers und Kopfes, und die davon verschiedene Eigenart des Herabsinkens. Ich kenne auch das Gleichgewicht nach Rechts und Links, wenn ich in aufrechter Stellung mich befinde und verharre.\nUnd indem ich nun meinen K\u00f6rper in den umgebenden Raum einordne, oder das, was meinen K\u00f6rper umgibt, zu diesem in r\u00e4umliche Besiehung setze, kommt auch in diesen Raum der Gegensatz des Rechts und des Links, des Oben und des Unten. Rechts ist das, dem meine nach rechts, links dasjenige, dem meine nach links gestreckte Hand sich n\u00e4hert, oben ist dasjenige, was meinem Kopf n\u00e4her ist, oder zu dem ich aufgerichteten Kopfes emporblicke, unten dasjenige, das ich durch die Bewegung nach unten mir oder meinem Blicke nahe bringe.\nUnd die vertikale Linie nun ist diejenige, die von \u201eunten\u201c nach \u201eoben\u201c bezw. umgekehrt verl\u00e4uft und gegen das Rechts und Links neutral sich verh\u00e4lt. Ihre Vertikalit\u00e4t ist diese Beziehung zum absoluten Oben und Unten, Rechts und Links. Sie ist diese Beziehung zu meinem K\u00f6rper. In dieser Beziehung ist das erste Merkmal oder Kennzeichen der Vertikalit\u00e4t gegeben.\nAus diesem ersten Merkmal der vertikalen Linie ergibt sich","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nTheodor Lipps.\naber sofort ein zweites. Jenes Gleichgewicht zwischen Rechts und Links erlebe ich, indem ich mich aufrichte. Mein eigenes \u201egerades Durchgehen\u201c zwischen Rechts und Links ist ein Sich-aufrichten. Dementsprechend erscheint auch die Vertikalit\u00e4t der Linie als ein Sichaufrichten.\nDies mufs doch noch etwas genauer gesagt werden. Es ist in mir eine Tendenz des Gleichgewichtes oder des zum Gegensatz des Rechts und Links neutralen Verhaltens in allen meinen Bewegungen, des K\u00f6rpers, des Kopfes und der Augen. Dieser Tendenz nun widerstreitet die schr\u00e4ge Linie. Indem ich sie betrachte und ihr betrachtend folge, finde ich mich aufgefordert zu asymmetrischen Bewegungen der Augen, weiterhin des Kopfes und schliefslich des K\u00f6rpers. Ich f\u00fchle eine N\u00f6tigung, die Linie mutet mir f\u00fchlbar zu, wie mit der Aufmerksamkeit, so auch mit den Augen und weiterhin mit dem Kopfe und endlich mit dem K\u00f6rper ihrem Verlaufe zu folgen. Ich f\u00fchle mit einem Worte mich k\u00f6rperlich in die Bewegung der schr\u00e4gen Linie; etwa nach rechts oben, andererseits nach links unten oder nach links oben, andererseits nach rechts unten, jener nat\u00fcrlichen Tendenz entgegen, hineingezogen.\nDagegen liegt in der Betrachtung der vertikalen Linie keine solche Zumutung. Sie fordert mich auf, sie so wie es mir nat\u00fcrlich ist, also in v\u00f6lligem Gleichgewichte des Rechts und Links zu betrachten. Und darin liegt zugleich die Aufforderung zu Bewegungen von unten nach oben, zun\u00e4chst der Augen, dann weiterhin wiederum des Kopfes und K\u00f6rpers. Es liegt in ihrer Betrachtung f\u00fcr mich die Aufforderung zu der nur nat\u00fcrlichen Aufrichtung des Kopfes und damit zugleich zu einer Streckung des K\u00f6rpers in vertikaler Richtung. Ich f\u00fchle mich, indem ich betrachtend in ihr bin, von einer Tendenz des Sichaufrichtens erf\u00fcllt. Ich f\u00fchle in ihr, oder an sie, sofern sie eben von mir aufgefafst wird, gebunden, das Sichaufrichten. Ich sagte oben, jede Linie entsteht in meiner Betrachtung, sie erstreckt sich, verl\u00e4uft. Jetzt sehen wir, wie in der vertikalen Linie das Entstehen genauer als ein Sichaufrichten sich bestimmt. Darin liegt eine weitere \u201eEinf\u00fchlung\u201c.\nDiese Einf\u00fchlung verfolge ich nicht weiter. Wie es immer mit dem hier Gesagten sein mag. In jedem Falle ist die vertikale Linie die aufrechte, d. h. die sichaufrichtende. Sie ist f\u00fcr die umgekehrte Betrachtung die Linie des Herabsinkens oder","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\n57\ndes Nachgebens gegen die Schwere. Sie ist, kurz gesagt, die Linie des Steigens und des Fallens. Auch darin liegt ein an die vertikale Linie unabtrennbar gebundenes Merkmal. Dasselbe steht zugleich mit jenem ersten Merkmal im unmittelbarsten Zusammenhang.\nDazu kommt endlich noch ein drittes Merkmal, das f\u00fcr mich ebenso unweigerlich zur vertikalen Linie geh\u00f6rt. Sie schliefst mit der horizontalen nach beiden Seiten denselben, also einen rechten Winkel ein.\nAlle die bezeichneten Merkmale sind Merkmale im gleichen Sinne : Sie sind zu dem Gesichtsbild der Linie, das f\u00fcr sich betrachtet weder vertikal noch schr\u00e4ge, noch irgend etwas dergleichen ist, hinzutretende Bestimmungen, nach welchen ich dasselbe als vertikal beurteile. Die vertikale Linie ist f\u00fcr mich die zum absoluten Rechts und Links gleich sich verhaltende; sie ist ebenso die Linie des absoluten Steigens und Fallens ; sie ist endlich nicht minder die zur Horizontalen senkrechte.\nDies heifst nicht, dafs diese Merkmale sich gleich stehen. Das erste Merkmal ist das durch die Linie, so wie sie objektiv gegeben ist, zun\u00e4chst mitgegebene. Die in der Linie liegende Bewegung des Sichaufrichtens oder Herabsinkens ist ..eingef\u00fchlt\u201c, sie entstammt einer subjektiven oder psychologischen Notwendigkeit. Und es geh\u00f6rt endlich zur vertikalen Linie zwar dies, dafs sie zur horizontalen senkrecht steht, aber es geh\u00f6rt nicht zu ihrem Wesen, dafs eine horizontale Linie da ist, zu der sie senkrecht steht. Die beiden letzteren Merkmale sind, wenn man will, sekund\u00e4re.\nDies hindert nicht, dafs von allen diesen Merkmalen das oben Gesagte gilt. Finden sie sich nicht, sondern an ihrer Stelle andere Merkmale, die sie ausschliefsen und erfahrungs-gem\u00e4fs einer Linie von anderer Richtung angeh\u00f6ren, und diese f\u00fcr mich charakterisieren, so ist eben dadurch die Linie f\u00fcr mich keine vertikale mehr, sondern sie ist eine Linie dieser anderen Richtung.\nNun kann es aber geschehen, dafs ein Kennzeichen der vertikalen Linie da ist, ein anderes dagegen nicht, sondern an seiner Stelle das entsprechende Kennzeichen einer anderen Richtung. Dann ist die Linie f\u00fcr mich notwendig eine solche, die hinsichtlich ihrer Richtung zwischen beiden steht. Ich er-","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nTheodor Liprps.\nkenne in ihr eine solche oder identifiziere sie mit ihr. Dabei bleibt freilich immer das prim\u00e4re Merkmal das in erster Linie bestimmende.\nSo kann zun\u00e4chst das dritte Merkmal der vertikalen durch das entsprechende Merkmal der schr\u00e4gen Linie ersetzt sein. Ich fahre mit der Zahnradbahn den Rigi hinauf. W\u00e4hrend der Fahrt scheinen die Telegraphenstangen und die H\u00e4user, z. B. der Bahnhof von Rigi-Kaltbad, sehr stark geneigt. Ich frage : Sehe d. h. empfinde ich hier etwa die vertikale Linie anders als sonst? Ist der Empfindungsprozefs durch die Fahrt modifiziert? Jeder gibt sofort die richtige Antwort. Die Richtung, in welcher ich mich fortbewege, und demnach auch die damit identische Richtung der \u201ehorizontalen\u201c, d. h. bei horizontaler Fortbewegung des Eisenbahnzuges horizontal stehenden Linien des Eisenbahnwagens, in dem ich sitze, scheint mir nicht so schr\u00e4g, wie sie ist. Sie ist f\u00fcr mich der horizontalen angen\u00e4hert. Nun sind jene vertikalen Linien \u2014 der Telegraphenstangen und der H\u00e4user \u2014 zur Richtung der Fahrt und der horizontalen Linien des Eisenbahnwagens geneigt. Also sind sie schr\u00e4g.\nIch sagte, der Empfindungsprozefs sei hier derselbe wie sonst. Ich mufs hinzuf\u00fcgen: Auch das prim\u00e4re Merkmal der Vertikalit\u00e4t ist dabei intakt geblieben. Auch hier verhalten sich die vertikalen Linien zu meinem Rechts und Links gleich. Aber der soeben bezeichnete Umstand lenkt ihm zum Trotz meine Beurteilung ab. \u2014 Genau so mufs auch die Beurteilung abgelenkt werden, wenn das zweite Merkmal versagt und durch das entsprechende Merkmal der schr\u00e4gen Linie ersetzt wird.\nIm obigen ist schon vorausgesetzt, dafs es auch f\u00fcr die horizontale Linie verschiedene Kennzeichen gibt. Auch die horizontale Linie verh\u00e4lt sich zum absoluten Rechts und Links gleich. Sie ist die Gerade, die in gleicher Weise in das Rechts und Links sich hinein erstreckt, und eben damit gegen den Gegensatz des Oben und Unten neutral sich verh\u00e4lt. Sie ist zugleich die Linie der gegen den Gegensatz des Sich auf richten s und Herabsinkens, des Steigens und Fallens, neutralen Bewegung.\nIndessen uns interessiert hier vor allem die schr\u00e4ge Linie. Sie ist wiederum in erster Linie gekennzeichnet durch ihre Stellung zu jenem absoluten Rechts und Links und Unten und Oben. Sie ist weiter gekennzeichnet durch die Winkel, die sie","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte11.\n59\nmit der verticalen und horizontalen Linie einschliefst. Sie ist endlich f\u00fcr mich charakterisiert als die Linie, in welcher die Bewegung des Steigens und Fallens mit der zu diesem Gegensatz neutralen, also kurz zur horizontalen Bewegung sich verbindet. Sie ist die Resultante aus diesen beiden Bewegungen. Sie ist als eine steilere oder minder steile gekennzeichnet, je nachdem die eine oder die andere dieser Komponenten \u00fcberwiegt.\nWas nun diese schr\u00e4ge Linie betrifft, so zeigt schon die soeben mitgeteilte Tatsache, dafs ihre Beurteilung dadurch abge-lenkt werden kann, dafs das dritt e Merkmal versagt, d. h. dafs das Verh\u00e4ltnifs des Steigens bezw. Fallens zur horizontalen Bewegung sich verschiebt. Ich sagte : Ich meine bei der Rigifahrt, ich bewege mich ann\u00e4hernd horizontal. Und ich meine damit zugleich auch die an sich horizontalen, w\u00e4hrend der Fahrt aber schr\u00e4ggestellten Linien des Eisenbahnwagens ann\u00e4hernd horizontal zu sehen. Dabei bleibt nicht nur wie oben schon gesagt das prim\u00e4re Merkmal der vertikalen, sondern es bleibt ebenso auch das der schr\u00e4gen Linie unver\u00e4ndert, d. h. auch die schr\u00e4gen Linien verhalten sich zu meinem aufgerichteten K\u00f6rper wie sonst. Aber der Umstand, dafs ich an meinem K\u00f6rper das Ansteigen der Bewegung minder f\u00fchle, l\u00e4fst mich meine Vorw\u00e4rtsbewegung und demgem\u00e4fs auch jene schr\u00e4gen Linien, in deren Richtung ich mich bewege, jenem Merkmal zum Trotz, als ann\u00e4hernd horizontal beurteilen. Es kann also, allgemein gesagt, eine schr\u00e4ge Linie in ihrer Steilheit modifiziert erscheinen, wenn in meinem Gesamteindruck von der Linie das Verh\u00e4ltnis des Steigens zur horizontalen Bewegung modifiziert erscheint, oder noch allgemeiner, wenn in meinem Eindruck die eine oder die andere Komponente der in der Linie f\u00fcr mich liegenden Bewegung st\u00e4rker heraustritt.\nUnd nun zur Z\u00f6LLNE\u00df\u2019schen Figur. Ich nehme an, die Hauptlinien derselben sind im Winkel von 45\u00b0 geneigt, die Transversalen stehen abwechselnd horizontal und vertikal. Ich beschr\u00e4nke mich aber hier auf ein einziges Liniensystem und zwar w\u00e4hle ich ein solches, bei welchem die Transversalen horizontal verlaufen.\nIn der Hauptlinie halten sich dann die beiden Komponenten, das Steigen oder Sichaufrichten und die horizontale Bewegung, objektiv, d. h. soweit ihre Gr\u00f6fse abh\u00e4ngig ist von der tats\u00e4ch-","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nTheodor Lipps.\nlichen Richtung der Linie, das Gleichgewicht. Jetzt fragt es sich, in welchem Verh\u00e4ltnis stehen dieselben f\u00fcr mich.\nDarauf gewinnen wir die Antwort, wenn wir auf das achten, was die Z\u00f6llner\u2019sehe Figur zur Z\u00f6llner sehen Figur macht. Die schr\u00e4gen Linien kreuzen die horizontal stehenden Transversalen. Dies ist das f\u00fcr die Figur Charakteristische und in die Augen Fallende. Nun fragt es sich: Was ist bei diesem Kreuzen das Wesentliche, das Steigen oder die horizontale Bewegung ? Die Antwort lautet nat\u00fcrlich : Das Steigen. Soweit die schr\u00e4ge Linie horizontal verl\u00e4uft, l\u00e4uft sie ja in gleicher Richtung mit den Transversalen. Sie kreuzt dieselben lediglich verm\u00f6ge des Umstandes, dafs sie nicht blofs horizontal sich erstreckt, sondern steigt. Sie tut es anders gesagt verm\u00f6ge ihres Gegensatzes zu, oder ihres Heraustretens aus der horizontalen Bewegung.\nDas Steigen also ist das Entscheidende. Es ist unter den gegebenen Umst\u00e4nden das der Beachtungs ich auf dr\u00e4ngende Moment. Dafs die Hauptlinien zugleich den Transversalen gleichlaufen, dieser Gedanke tritt zur\u00fcck. Es wirkt also in mir das Moment des Steigens in h\u00f6herem Mafse. Dafs es in h\u00f6herem Grade beachtet\u201c wird, dies besagt ja eben, dafs es eine gr\u00f6fsere psychische Wirkung \u00fcbt. Es bestimmt also die Beurteilung der schr\u00e4gen Linien oder der Steilheit derselben in h\u00f6herem Grade. Diese mufs demgem\u00e4fs nach der vertikalen Richtung zu abgelenkt erscheinen, genau so und aus v\u00f6llig analogem Grunde, wie in dem obigen Beispiel die schr\u00e4gen Linien des in schr\u00e4ger Bewegung begriffenen Eisenbahnwagens nach der Horizontalen zu abgelenkt erschienen. Nun, hierin eben besteht die bekannte, in der psychologischen Literatur so viel behandelte und mifshandelte Z\u00f6llner\u2019sehe T\u00e4uschung.\n\u2022 \u2022\nDie fragliche T\u00e4uschung beruht kurz gesagt auf dem \u00dcbergewicht des Steigens in meinem Eindruck von der schr\u00e4gen Linie. Vielmehr sie besteht darin. Die Linie ist f\u00fcr mich eine st\u00e4rker ansteigende, n\u00e4mlich st\u00e4rker ansteigend als die im \u00fcbrigen gleichen, bei denen aber f\u00fcr einen verst\u00e4rkten Eindruck des Steigens kein Grund besteht. Ich beurteile sie so. Und soweit mein Bewufstsein von der Richtung der Linie eben in solcher Beurteilung besteht, hat die Linie jetzt f\u00fcr mich tats\u00e4chlich die entsprechende Richtung. Die Beurteilung ist eine T\u00e4uschung, eine falsche Beurteilung. Aber dies heifst nur, ich beurteile sie","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\n61\nanders, als ich sie beurteilen w\u00fcrde, wenn ich sie nur nach den \u201eobjektiven\u201c, d. h. durch die schr\u00e4ge Linie, abgesehen von der Kreuzung, gegebenen Merkmalen, insbesondere nach ihrem Verh\u00e4ltnis zu dem Rechts und Links meines aufgerichteten K\u00f6rpers, beurteilte. Indem ich die Linie vergleiche mit einer, deren Richtung genau zwischen der vertikalen und der horizontalen steht, finde ich sie davon, genau soweit meine Beurteilung durch das Moment des Steigens bedingt ist, verschieden. Ich finde sie, weil sie in h\u00f6herem Grade steigt, in h\u00f6herem Grade der vertikalen, die eben die steigende ist, angen\u00e4hert.\nDiese Beurteilung ist eine Beurteilung auf Grund des subjektiven \u00dcbergewichts des Steigens. Auch daran ist nichts Verwunderliches. Immer, wenn wir beurteilen, kommt es nicht nur darauf an, welches objektive Gewicht die in die Beurteilung eingehenden Momente haben, sondern auch wie stark sie in mir wirken. Es verh\u00e4lt sich in dem Punkte auch nicht anders bei der Beurteilung von Menschen. Vielleicht halten die Wohltaten und die \u00dcbeltaten, die mir ein Mensch erwiesen hat, objektiv sich das Gleichgewicht. Aber wenn er gestorben ist, so dr\u00e4ngen sich mir die Wohltaten st\u00e4rker auf. Der Verstorbene war also ein \u201eguter\u201c Mensch. De mortuis nil nisi bene. Analog dem Grunde f\u00fcr die Wahrheit dieses Sprichwortes ist der Grund f\u00fcr die Z\u00f6llner\u2019sehe T\u00e4uschung. Im \u00fcbrigen liegt ja auch schon bei jener T\u00e4uschung \u00fcber die Richtung der Bewegung eines Eisenbahnzuges der Grund in einem solchen subjektiven \u00dcbergewicht.\nDer Grund der Z\u00f6llner\u2019sehen T\u00e4uschung hat allgemeinere Bedeutung. Ich sehe etwa eine ausgedehnte und begrenzte Fl\u00e4che. Daneben aber sehe ich eine ausgedehntere, also minder begrenzte. Jetzt f\u00e4llt mir bei jener die relativ enge Begrenztheit in h\u00f6herem Grade auf. Dieselbe erscheint mir also enger begrenzt. Im \u00fcbrigen verweise ich auf die ins einzelne gehende Durchf\u00fchrung meiner Theorie in meinem Buch \u00fcber \u201eRaum\u00e4sthetik und geometrisch-optische T\u00e4uschungen\u201c. \u2014 Warum eigentlich h\u00e4lt sich auch Wxtasek an das Paradepferd der Z\u00f6llner-schen Figur, statt einmal eine der vielen T\u00e4uschungen, die ich zu den aller Welt bekannten hinzugef\u00fcgt habe, seiner Betrachtung zu unterziehen?\nGehen wir nun aber weiter zu Witasek\u2019s und Benussi\u2019s Versuchen. Ich gehe meines Weges auf einer leicht ansteigenden","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nTheodor Lipps.\nStrafse. Dies heifst, ich gehe mit gewisser Anstrengung. Aber die Anstrengung des Steigens ist zu gering, um mir aufzufallen. Ich beurteile also die Strafse nicht als ansteigend. Nun f\u00e4llt aber von einem bestimmten Punkte an die Strafse in gleichem Grade. Auch die Erleichterung, die jetzt mein Gehen erf\u00e4hrt, das Abw\u00e4rtsgezogenwerden w\u00fcrde ich nicht bemerken, wenn ich von vornherein auf einer in solchem Grade fallenden Strafse gegangen w\u00e4re. Aber den Wechsel bemerke ich. Der Kontrast zum vorangehenden Steigen macht mir das Abw\u00e4rtsgehen f\u00fchlbar. Und jetzt weifs ich auch, dafs die Strafse nicht im Ganzen horizontal weiter geht. Ich erkenne den Wechsel des relativen\nAuf und Ab.\n\u2022 \u2022\n\u00dcbertragen wdr dies auf die Z\u00f6llner\u2019sehe Figur : Ich nehme jetzt an, die Hauptlinie stehe vertikal. Zugleich sei die Wirkung der schr\u00e4gen Transversalen so schwach, dafs ich die Hauptlinie nicht als schr\u00e4g stehend beurteile. Auch hier gibt freilich der Umstand, dafs die Hauptlinie die schr\u00e4gen kreuzt, der einen Komponente in der Gesamtbewegung der Hauptlinie, n\u00e4mlich kurz gesagt, der kreuzenden, ein \u00dcbergewicht \u00fcber die andere, d. h. die mit den Transversalen gleichlaufende Komponente. Ich habe den Eindruck einer Bewegung gegen die Transversalen hin. Nur ist dieser Eindruck nicht so stark, dafs er mich die Linie mit Sicherheit als eine schr\u00e4ge beurteilen l\u00e4fst, sowie bei jener Bewegung auf schr\u00e4g ansteigender Strafse der Eindruck des Ansteigens nicht so stark war, dafs er mich die Strafse als ansteigend beurteilen liefs. Ich bin in gewissem Grade geneigt sie so zu beurteilen. Aber der Zwang, den das \u201eobjektive\u201c Merkmal der Vertikalit\u00e4t, d. h. seine Beziehung zu meinem K\u00f6rper, \u00fcbt, l\u00e4fst die Neigung nicht zur Tat werden.\nNun nehme ich einen Spiegel zu Hilfe. Ich setze die vertikale Linie vertikal auf die Spiegelebene. Dann sehe ich im Spiegel dieselbe Figur noch einmal, aber umgekehrt. Es gibt also jetzt die Kreuzung der entgegengesetzten Komponente der Bewegung der Hauptlinie das \u00dcbergewicht. Es entsteht in mir der Eindruck einer Gegenbewegung. Und nun versp\u00fcre ich den Gegensatz. Weder der Eindruck der ablenkenden Bewegung in der realen Hauptlinie, noch der Eindruck der Gegenbewegung in ihrem Spiegelbilde war f\u00fcr sich allein deutlich genug, um meine Beurteilung der Richtung der beiden Linien zu bestimmen. Aber der Wechsel des Eindrucks, der pl\u00f6tzliche \u00dcber-","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\n63\ngang, ist gen\u00fcgend deutlich, um mich die beiden Linien als verschieden gerichtet beurteilen zu lassen. Ich beurteile also die Gesamtlinie, die entsteht, indem die objektive Linie im Spiegel sich fortsetzt, als geknickt oder gebogen. Hier habe ich eine der Tatsachen mitgeteilt, durch welche Witasek meine Theorie widerlegt. Wie man sieht, folgt sie daraus, best\u00e4tigt sie also.\nZweitens. Die spezifische Bedingung der Z\u00f6llner\u2019sehen T\u00e4uschung besteht in dem lebendigen Eindruck des Sich-kreuzens. Die Hauptlinie einerseits, die Transversalen andererseits, d\u00fcrfen nicht als in sich selbst verlaufende Linien erscheinen.\nNun mache ich folgenden Versuch. Ich zeichne die Haupt-linien einer Z\u00f6llner\u2019sehen Figur f\u00fcr sich, ebenso die Transversalen f\u00fcr sich, lege jene Zeichnung links, diese rechts in ein Stereoskop, und vereinige beide binokular, derart, dafs die Transversalen sich \u00fcber die Hauptlinien schieben, und so ein der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur \u00e4hnliches Ganze sich ergibt.\nDann ergiebt sich doch nicht eigentlich das Bild der Z\u00f6llnee-schen Figur. Es entsteht insbesondere nicht der volle Eindruck der Kreuzung. Es macht sich ein Wettstreit der Sehfelder bemerkbar. Und dies heilst : Die Hauptlinien einerseits, die Transversalen andererseits erscheinen als gegeneinander relativ selbst\u00e4ndige Linien, jede f\u00fcr sich verlaufend. Jene l\u00f6sen sich von diesen, oder diese von jenen, bald da, bald dort los. Es verschwindet ein St\u00fcck der Hauptlinien, so dafs die schr\u00e4gen isoliert sind oder umgekehrt. Vor allem an den Stellen der Kreuzung vollzieht sich da und dort eine Isolierung. Damit ist der unmittelbare r\u00e4umliche Zusammenhang der sich kreuzenden Linien, das Hindurchgehen der Hauptlinien durch die schr\u00e4gen, das Dar\u00fcber-hinweglaufen f\u00fcr den unmittelbaren Eindruck, sei es auch nur f\u00fcr Augenblicke, gest\u00f6rt, und demgem\u00e4fs eine gewisse Neigung gegeben, die Hauptlinien einerseits, die Transversalen andererseits f\u00fcr sich, nicht ausschliefslich mit Bezug aufeinander, zu beurteilen. Die notwendige Folge ist die Verminderung der T\u00e4uschung.\nDafs nun eine solche thats\u00e4chlich eintritt, hat wiederum Witasek gezeigt. Witasek fand bei seinen Versuchen den Wettstreit \u201egeringf\u00fcgig\u201c. Dies ist ein relativer Begriff. In jedem Falle habe der Widerstreit die M\u00f6glichkeit, die Figur zu erkennen und zu beurtheilen, nicht aufgehoben. Dies gen\u00fcgt Witasek","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nTheodor Lipps.\nzum Beweis, dafs die Z\u00d6LLNER\u2019sche T\u00e4uschung keine Urteilst\u00e4uschung sein k\u00f6nne. Indessen auf das Erkennen und Beurteilen der Figur kommt es nicht an, sondern auf die U n -m\u00f6glichkeit, die Hauptlinien einerseits, und die Transversalen andererseits als f\u00fcr sich verlaufende Linien anzusehen oder zu beurteilen.\nDrittens. Die allererste Voraussetzung der Z\u00d6LLNER\u2019schen T\u00e4uschung, und nicht dieser allein, ist nach dem eingangs Gesagten dies, dafs wir die Linien und Liniensysteme f\u00fcr sich auffassen und verfolgen, dafs sie also vom Grunde mit Sicherheit sich losl\u00f6sen. Dies nun geschieht um so sicherer, jemehr die Linien ihrer Beschaffenheit nach, insbesondere verm\u00f6ge des Helligkeitsunterschiedes, vom Grunde sich abheben. Es mufs also mit der Gr\u00f6fse dieses Helligkeitsunterschiedes die T\u00e4uschung wachsen. Dafs es in der Tat so ist, hat Vittorio Benussi experimentell festgestellt, und damit auch seinerseits zur Best\u00e4tigung der \u201eUrteilshypothese\u201c einen Beitrag geliefert. Benussi freilich gedachte es b\u00f6se zu machen.\nEndlich: \u2014 In der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur kreuzen die Hauptlinien die Transversalen und umgekehrt. D. h. die Figur kann bald mehr im einen, bald mehr im anderen Lichte erscheinen. Da die Urteilsablenkung, in welcher dem Obigen zufolge die T\u00e4uschung besteht, nur die kreuzenden, nicht die gekreuzten Linien betrifft, so m\u00fcssen, je nachdem die Hauptlinien oder die Transversalen als die kreuzenden Linien erscheinen, die Hauptlinien oder die Transversalen aus ihrer Richtung verschoben erscheinen. Gesetzt also, es sollen die Hauptlinien m\u00f6glichst stark verschoben erscheinen, dann mufs daf\u00fcr Sorge getragen sein, dafs diese Hauptlinien in m\u00f6glichst hohem Grade als die kreuzenden erscheinen, die Transversalen als diejenigen, die von jenen gekreuzt werden.\nDaf\u00fcr nun gibt es verschiedene Mittel. Die Anwendung eines derselben wurde oben bereits vorausgesetzt. Es besteht darin, dafs die Transversalen horizontal und vertikal, also die Hauptlinien schr\u00e4g gestellt werden. Die horizontale und die vertikale Richtung sind die Grundrichtungen. Nach ihnen bemessen wir die schr\u00e4gen Linien, nicht etwa umgekehrt. Sie sind f\u00fcr die Beurteilung aller anderen Linien die Mafsst\u00e4be. Auf sie beziehen wir naturgem\u00e4fs die schr\u00e4gen, und beurteilen sie nach ihnen. Dies heifst in unserem Falle: Wir betrachten die","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\n65\nschr\u00e4gen Hanptlinien als auf die Transversalen zulaufend und sie kreuzend, nicht umgekehrt. Dies ist der Grund, warum bei der bezeichneten Anordnung der Z\u00f6LLNE\u00df\u2019schen Figur die T\u00e4uschung \u00fcber die Richtung der Hauptlinien die gr\u00f6fste ist.\nDie zweite M\u00f6glichkeit ist diese. Ich ziehe die Transversalen kr\u00e4ftiger aus. Sie sind dann das Feste, das in sich Beruhende und in sich Verlaufende. Die Hauptlinien dagegen sind das Beweglichere, das auf sie zu und durch sie hindurch Laufende. Wir beziehen naturgem\u00e4fs in jedem Zusammen von verschieden gerichteten st\u00e4rkeren und schw\u00e4cheren Linien, unter im \u00fcbrigen gleichen Umst\u00e4nden, die schw\u00e4cheren auf die st\u00e4rkeren. Diese sind die Ausgangspunkte, die Basis, woran jene gemessen werden. Sie sind die Voraussetzung f\u00fcr jene. Dies heifst in unserem Falle wiederum: Die Hauptlinien kreuzen die Transversalen, nicht umgekehrt. Es \u00fcberwiegt zum mindesten jene Betrachtung \u00fcber diese. Darin liegt der Grund, warum bei st\u00e4rker ausgezogenen Transversalen gleichfalls die scheinbare Ablenkung der Hauptlinien gr\u00f6fser ist.\nUnd endlich die dritte M\u00f6glichkeit: Ich sorge daf\u00fcr, dafs die Transversalen vom Grunde st\u00e4rker sich abheben, dafs der Helligkeitsunterschied zwischen Grund und Transversalen gr\u00f6fser ist, als zwischen Grund und Hauptlinien. Dann mufs wiederum die Ablenkung der Hauptlinien gr\u00f6fser erscheinen. Der Grund ist genau derselbe, wie im soeben bezeichneten zweiten Falle. Die Transversalen fallen zun\u00e4chst in die Augen, und werden so zum festen Ausgangspunkt der Betrachtung.\nF\u00fcr die experimentelle Best\u00e4tigung dieser letzteren Konsequenz meiner Theorie bin ich wiederum Vittorio Bentjssi zu Dank verflichtet. Dabei mindert mein Gef\u00fchl der Dankbarkeit weder der Umstand, dafs auch hierdurch wiederum Bentjssi die Urteilshypothese zu widerlegen meint, noch auch der Umstand, dafs mir die Tatsache nicht neu war.\nBei weiteren Entscheidungen \u00fcber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen wird man gut tun alle jene Grundfragen, worin denn eigentlich die Form, Richtung, Hori-zontalit\u00e4t, Vertikalit\u00e4t, Schr\u00e4gheit, auch die relative Gr\u00f6fse, kurz alle die Dinge, auf welche die T\u00e4uschungen sich beziehen, f\u00fcr unser Bewufstsein eigentlich bestehen, recht klar und bestimmt zu stellen.\nUnd bei weiteren Widerlegungen der \u201eUrteilshypothese\u201c wird\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 31.\t5","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nTheodor Lipps.\nman gut tun, den Sinn dieser Hypothese scharf sich zu vergegenw\u00e4rtigen und sicher durchzudenken; auch nicht jede beliebige Urteilshypothese mit jeder beliebigen anderen unterschiedslos zusammenzuwerfen.\nMan wird aufserdem, wie schon gesagt, bei jeder Betrachtung der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen gut tun, statt nur immer die bekannten Paradepferde zu reiten, alle Arten dieser T\u00e4uschungen sich gleichzeitig gegenw\u00e4rtig zu halten.\nNach Abschlufs dieses Aufsatzes gelangte der zweite Teil der BEN\u00fcssi\u2019schen Arbeit in meine H\u00e4nde. Ich freue mich konstatieren zu k\u00f6nnen, dafs in ihm der Urteilshypothese weitere Best\u00e4tigungen zu teil werden :\nWerden Objekte, die nicht nur in der Form, sondern auch hinsichtlich der Farbe verschieden sind binokular vereinigt, so steigert sich die Gefahr, die nach oben Gesagtem bei der binokularen Vereinigung verschiedener Objekte \u00fcberhaupt besteht, d. h. die Gefahr, dafs dieselben f\u00fcr den unmittelbaren Eindruck sich verselbst\u00e4ndigen. Demgem\u00e4fs fand Benussi, als er, nach Witasek\u2019s Vorgang, die Hauptlinien und die Transversalen der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur f\u00fcr sich zeichnete und sie binokular vereinigte, eine Minderung der Ablenkung der Hauptlinien, wenn Hauptlinien und Transversalen verschiedene Farbe hatten. Benussi selbst bezeichnet den Grund richtig: Die Hauptlinien und die Transversalen erscheinen weniger \u201ezusammengeh\u00f6rig\u201c.\nWeiter fand Benussi, als er Figuren mit verschiedener F\u00e4rbung der Transversalen und der Hauptlinien verglich, dafs bestimmte F\u00e4rbungen der Transversalen die T\u00e4uschung steigern. Wiederum bezeichnet Benussi den Grund dieser T\u00e4uschungssteigerung offenbar richtig damit, dafs er diesen Farben eine besondere Aufdringlichkeit zuschreibt. Die Aufdringlichkeit der Farbe der Transversalen kann dieselbe Wirkung \u00fcben, wie die \u201eAufdringlichkeit\u201c, welche die Transversalen dadurch gewinnen, dafs sie horizontal bezw. vertikal gestellt, oder dadurch, dafs sie st\u00e4rker ausgezogen sind, oder endlich dadurch, dafs sie vom Grunde sich besser abheben.","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkteil.\n67\nV.\nZur Psychologie der \u201eAnnahmen\u201c.\nDurch sein Buch \u00fcber die \u201eAnnahmen\u201c hat sich Meinong ein nicht geringes Verdienst um die Weiterentwicklung der Psychologie erworben. Ich bitte es als Zeichen meiner Wertsch\u00e4tzung des Buches zu betrachten wenn ich im folgenden zu den \u201eAnnahmen\u201c in wenigen S\u00e4tzen Stellung nehme.\n1. Die Annahme im eigentlichen und jedermann gel\u00e4ufigen Sinne des Wortes ist das freie Zurgeltungkommen einer (logischen) Forderung eines Vorgestellten, verm\u00f6ge der Abstraktion von Gegenforderungen. Oder : \u2014 Sie ist das durch Abstraktion von Gegenforderungen oder Gegenanspr\u00fcchen zuwege gebrachte unwidersprochene Dasein eines Geltungsanspruches einer Vorstellung oder einer Beziehung zwischen Vorstellungen f\u00fcr mein Bewufstsein.\nIch mache etwa die Annahme, Bacon sei der Verfasser der Dramen Shakespeare\u2019s. Dies heifst : Ich sehe ab von dem, was gegen diese Annahme spricht, mache also diese \u201eGegengr\u00fcnde\u201c in meinem Denken unwirksam, und erlebe es nun, dafs das in der Vorstellung der Beziehung zwischen Bacon und den Werken Shakespeare\u2019s, wie sie durch jene Worte bezeichnet ist, der M\u00f6glichkeit nach liegende, sonst aber durch jene Gegengr\u00fcnde negierte G\u00fcltigkeitsbewufstsein f\u00fcr mich unwidersprochen besteht und demnach auch zur entsprechenden logischen Wirkung gelangt. Die Annahme als unmittelbares Bewufstseinserlebnis ist hier wie sonst das G\u00fcltigkeitsbewufstsein oder Bewufstsein der Objektivit\u00e4t, an dem zugleich das Bewufstsein haftet, dafs es durch meine Abstraktion von Gegenforderungen oder Gegengr\u00fcnden zuwege gebracht sei. Sie ist das Bewufstsein dieser subjektiv bedingten Geltung oder Objektivit\u00e4t oder sie ist das Urteil mit dem Bewufstsein dieser subjektiven Bedingtheit.\nVorausgesetzt ist f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis dieser Bestimmung\nder Annahme einmal die Einsicht, dafs jede Vorstellung eines\nm\u00f6glichen oder denkbaren Gegenstandes, an sich betrachtet, die\nG\u00fcltigkeit in sich tr\u00e4gt, oder dafs jeder vorgestellte m\u00f6gliche\noder denkbare Gegenstand der Tendenz nach Gegenstand des\nObjektivit\u00e4tsbewufstseins ist. Ich k\u00f6nnte auch sagen, dafs jeder\nvorgestellte und denkbare Gegenstand an sich Gegenstand eines\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68\nTheodor Lijpps.\nExistenzialurteils, und jede vorgestellte und denkbare zeitr\u00e4umliche Beziehung zwischen Gegenst\u00e4nden an sich Gegenstand eines die Tats\u00e4chlichkeit dieser Beziehung bejahenden Urteils ist. Diese Tendenz kann sich verwirklichen und verwirklicht sich demgem\u00e4fs, wenn ich die negierenden Gegentendenzen, oder der Tendenz nach vorhandenen Gegenurteile, durch Abstraktion aufser Wirkung setze. So entsteht die Annahme. F\u00fcr das N\u00e4here \u00fcber jene Tendenz verweise ich auf meine Schrift \u201eVom F\u00fchlen, Wollen und Denken\u201c 1902 S. 61 ft.\nZweitens ist f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis jener Bestimmung des Wesens der Annahme vorausgesetzt die Einsicht in das Wesen der Abstraction. Davon hier nur dies : Dafs ich von den Gegengr\u00fcnden \u201eabstrahiere\u201c, dies sagt weder, dafs ich sie verneine, noch, dafs sie f\u00fcr mich gar nicht mehr bestehen. In jenem Falle tr\u00e4te an die Stelle der Annahme die Gewifsheit, dafs das Angenommene gelte, in diesem der blinde Glaube daran. Und auch dies, dafs die Gegengr\u00fcnde durch die Abstraktion \u201eaufser Wirkung gesetzt\u201c seien, gilt nur in bestimmtem Sinne : Dieselben sind aufser Wirkung gesetzt, sofern sie nicht mehr hindern, dafs das Geltungsbewufstsein zu st\u00e4nde komme. Aber sie hindern immerhin, dafs dasselbe zum Wissen oder Glauben wird. Die \u201eGegengr\u00fcnde\u201c, so k\u00f6nnen wir sagen, sind f\u00fcr mich da, aber als solche, von denen ich abstrahiere, und von denen ich abstrahieren mufs, wenn das G\u00fcltigkeitsbewufstsein entstehen soll.\nDies G\u00fcltigkeitsbewufstsein ist ebendamit eigener Art. Es ist ein G\u00fcltigkeitsbewufstsein und es ist auch wiederum keines. Das G\u00fcltigkeitsbewufstsein besteht nicht als objektiv begr\u00fcndetes. An die Stelle der subjektiven Begr\u00fcndung ist das objektive Tun, n\u00e4mlich eben das Abstrahieren getreten. Das Geltungsbewufstsein besteht nicht durch die Wirklichkeit oder die Gegenst\u00e4nde, sondern durch mich. Diesen Sachverhalt erkenne ich unmittelbar an, nicht nur durch das Wort \u201eAnnahme\u201c \u2014 Ich nehme an, dafs etc. \u2014 sondern auch durch andere\nWendungen. Ich sage nicht: Dafs A B ist, gilt, sondern: Es soll\n\u2022 \u2022\ngelten. Oder k\u00fcrzer: A sei B. \u2014 Uber die \u201eAbstraktion\u201c vergl. meine Abhandlung \u201e\u00dcber psychische Absorption\u201c in den Sitzungsberichten der M\u00fcnchener Akademie, philos. philolog. Klasse 1901, Heft IV.\n\u2022 \u2022\nMeinong sagt, die Annahme sei \u201eein Urteil ohne \u00dcberzeugung\u201c. So wird sich die Annahme in der Tat definieren","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\n69\nlassen. Unter \u201eUrteil\u201c versteht dann Meinong das Dasein des\n\u2022 \u2022\nG\u00fcltigkeitsbewufstseins \u00fcberhaupt. Unter der \u00dcberzeugung das Bewufstsein seines objektiven Begr\u00fcndetseins.\n2.\tDie Annahme, von welcher hier die Rede ist, so betont Meinong mit Recht, findet statt in jedem hypothetischen Urteil. \u201eWenn A noch lebte, so w\u00fcrde er gegen diesen Mifsbrauch seines Namens Einsprache erheben.\u201c Dies heilst: Ich nehme an, A lebe; und nun erlebe ich es, dafs die annahmsweise anerkannte oder auf dem Wege der Abstraktion f\u00fcr mich g\u00fcltig gewordene Vorstellungsverbindung, dafs A lebe, die erfahrungs-gem\u00e4fse Forderung des A in sich schliefst in dieser bestimmten Weise, n\u00e4mlich als Einspruch erhebend, determiniert zu werden. Meinong sagt schliefslich vom hypothetischen Urteil: Was man gew\u00f6hnlich so zu nennen pflege, sei seiner eigentlichen Natur nach gar kein Urteil, sondern ein Schlufs. Wie ich diese Einsicht vor Jahren auszudr\u00fccken pflegte, daf\u00fcr verweise ich auf meine \u201eGrundz\u00fcge der Logik\u201c, S. 66.\nDafs ich auch in der Abweisung der Theorie, die das hypothetische Urteil als ein Urteil \u00fcber eine Zusammenhangsrelation bezeichnet, mit Meinong \u00fcbereinstimme, zeigt S. 65 dieses Buches. Nebenbei bemerkt haben diese \u201eGrundz\u00fcge der Logik\u201c mit Meinong\u2019s Buch \u00fcber die Annahmen auch dies gemein, dafs in ihnen nicht mit w\u00fcnschenswerter Deutlichkeit das Logische von dem aufserlogisch Psychologischen geschieden ist. Auf Meinong\u2019s \u201ePsychologismus\u201c komme ich nachher noch mit einem Worte zur\u00fcck.\n3.\tEin spezieller Fall der Annahme liegt vor in der Antizipation des Erstrebten. Zun\u00e4chst beim Wirklichkeitsstreben, oder Streben, dafs ein vorgestellter Gegenstand wirklich sei. Diese Antizipation ist die gedankliche Vorausnahme der erstrebten Wirklichkeit oder das sich Hinein versetzen in den Gedanken, das Erstrebte sei wirklich. Auch sie kommt zu st\u00e4nde, indem ich von dem, was dem Urteil, das Erstrebte sei wirklich, entgegensteht, oder noch entgegensteht, also diese Wirklichkeit negiert, abstrahiere. Durch solche Abstraktion mache ich den Gegenstand, solange die Abstraktion dauert, f\u00fcr mich zu einem wirklichen.\nDiese Antizipation ist bei jedem Wirklichkeitstreben m\u00f6glich, Sie \u2018geh\u00f6rt aber sowenig zum Tatbestand des Wirklichkeits-strebens selbst, dafs vielmehr in ihr das Wirkliclykeitsstreben als","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nTheodor Lipps.\n\u2022 \u2022\naktuelles Streben nicht mehr besteht. \u2014 Uber diese Antizipation vergl. die Schrift \u201eVom F\u00fchlen, Wollen und Denken\u201c S. 411, und 851\nm \u2022\n4.\tUber den bisher angenommenen, wie mir scheint, allein Hern Sprachgebrauch entsprechenden Sinn des Wortes \u201eAnnahme\u201c geht nun Meinong- im weiteren Verlaufe seiner Betrachtungen hinaus. Wie dies motiviert werden kann, ergibt sich aus oben Gesagtem : Die Annahmen sind, allgemeiner gesagt, subjektiv bedingte und mit dem Bewufstsein der subjektiven Bedingtheit verbundene Urteile. Gesetzt, wir legen diese allgemeinere Definition zu Grunde, dann kommen weiterhin als Annahmen in Betracht alle .mit dem Bewufstsein der subjektiven M\u00f6glichkeit, Wahrscheinlichkeit, Gewifsheit verbundenen Urteile.\nDiese aber zerfallen wiederum in zwei Gattungen. Eine erste Gattung entsteht, wenn Gr\u00fcnde f\u00fcr und wider ein Urteil mir bekannt sind, ich aber vorzugsweise auf die Gr\u00fcnde f\u00fcr oder die Gr\u00fcnde wider das Urteil achte, die Gegengr\u00fcnde dagegen weniger zu Worte kommen lasse. Vorausgesetzt ist auch dabei, dafs ich von dieser subjektiven Bedingtheit meines Urteils ein Bewufstsein habe. Dies kann aber geschehen. Ich sage vielleicht ausdr\u00fccklich: Wenn ich die Sache von dieser Seite betrachte, so scheint sie mir m\u00f6glich, wahrscheinlich, zweifellos ; wenn ich sie von der anderen Seite betrachte, so f\u00fchle ich mich zu der entgegengesetzten \u201eAnnahme\u201c hingezogen. Diese Annahme ist doch nicht eine Annahme im obigen Sinne.\nEs braucht wohl nicht ausdr\u00fccklich betont zu werden, dafs dies Bewufstsein der subjektiv bedingten M\u00f6glichkeit, Wahrscheinlichkeit, Gewifsheit qualitativ verschieden ist von dem Bewufstsein der objektiven M\u00f6glichkeit, Wahrscheinlichkeit, Gewifsheit. Im \u00fcbrigen vergl. V. F. W. u. D. S. 72 f.\n5.\tDiesen subjektiv bedingten Urteilen sind verwandt, aber doch nicht gleich, die \u201eGeneigtheiten zu glauben\u201c, von denen ich in der soeben wiederum erw\u00e4hnten Schrift auf S. 70 ff. eingehender rede. Bei diesen \u201eGeneigtheiten\u201c gewinnt eine Forderung oder eine Urteilstendenz das \u00dcbergewicht \u00fcber eine ihr entgegenstehende verm\u00f6ge der besonderen Stellung, welche der Gegenstand des Urteils im gesamten psychischen Lebenszusammenhang einnimmt. Vier Faktoren unterscheide ich hier: 1. Die Vorstellung des Gegenstandes ist getragen von einem \u201epositiven Wertinteresse\u201c. 2. Sie ist getragen von einem nega-","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\n71\ntiven Wertinteresse. 3. Sie hat eine \u00fcberwiegende \u201edispositioneile Energie\u201c. 4. Sie ist die Vorstellung eines Neuen, Seltsamen, Aufserordentlichen, also eines mit den Gewohnheiten des Vorstellens oder Denkens, Kontrastierenden. Die \u201eAnnahmen\u201c sind je-nachdem ein Hoffen, oder ein F\u00fcrchten, oder sie sind gewohnheits-m\u00e4fsige Annahmen, oder sie sind Geneigtheiten an das Neue, Seltsame, Aufserordentliche zu glauben. Auch hier kann ich das Bewufstsein der Subjektivit\u00e4t meines Urteils haben: Ich f\u00fchle mich fzum Glauben hingezogen, obgleich ich weifs, dafs ein Grund daf\u00fcr eigentlich nicht besteht.\n6.\tWiederum hiermit verwandt und doch wiederum davon verschieden sind die Geneigtheiten zu glauben, wras Andere behaupten, das \u201eAnnehmen\u201c oder \u201eHinnehmen\u201c auf Autorit\u00e4t.\n\u2022 \u2022\nAuch diese Annahme kann den Charakter des Urteils ohne \u00dcberzeugung haben ; d. h. sie kann vom Bewufstsein der subjektiven Bedingtheit begleitet sein. Man suggeriert etwa einer suggestibeln Person, dafs sie irgend etwas Ehrenr\u00fchriges getan habe. Sie str\u00e4ubt sich dagegen, aber sie versp\u00fcrt die Macht der Suggestion. So kann auch der v\u00f6llig Normale eine N\u00f6tigung versp\u00fcren, einer Behauptung Glauben zu schenken, obgleich er im Grund das Gegenteil weifs. Auch er f\u00fchlt die Macht der \u201eSuggestion\u201c. Vergl. V. F. W. u. D. S. 90 f. und Suggestion und Hypnose.\n7.\tWertvoll ist die Anerkennung Meinong\u2019s, im negativen Urteil, A ist nicht B, sei A nicht blofs als B vorgestellt, sondern diese Vorstellung schliefse zugleich ein Weiteres ein. Aber dafs ich hei F\u00e4llung jenes negativen Urteils \u201eannehme\u201c, A sei I?, und dann diese Annahme verneine, kann nicht gesagt werden. Das .fragliche negative Urteil ist das von mir erlebte (objektive, logische) Verbot \u2014 nicht etwa A als B vorzustellen, sondern die Determination B als dem A objektiv zugeh\u00f6rig zu betrachten. Das Verbietende sind normalerweise die mir bekannten Tatsachen. Das Bewufstsein eines solchen Verbotes setzt aber voraus eine Tendenz des Zuwiderhandelns, d. h. eine Tendenz, dem A die fragliche Determination zuzuerkennen, kurz eine Tendenz, A als B zu beurteilen. Wir k\u00f6nnen auch sagen: Es setzt einen G\u00fcltigkeitsanspruch dieser Determination voraus. Aber dieser G\u00fcltigkeitsanspruch braucht mir nicht als solcher zum Bewufstsein zu kommen. Er liegt nur implizite, n\u00e4mlich als negierter, im Bewufstsein jenes Verbotes. Vergl. V. F. W. u. D. S. 64 f.","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nTheodor Lipps.\nDazu k\u00f6nnen wir hinzuf\u00fcgen : Ein analoger G\u00fcltigkeitsanspruch liegt auch in jedem Gewifsheitsurteil. Sage ich, A sei gewifs oder zweifellos B, so gebe ich zu verstehen, dafs in meinem affirmativen Urteil die Tendenz des entsprechenden negativen Urteils, oder der G\u00fcltigkeitsanspruch anderer mit B unvertr\u00e4glicher Determinationen des A negiert sei. Vergl. V. F. W. u. D. S. 68.\n8. In diesen Zusammenhang geh\u00f6ren auch die \u201enegativen Empfindungen\u201c und die \u201enegativen Erinnerungen\u201c. Die negative Empfindung ist der gegenw\u00e4rtige Gesamtempfindungstatbestand , sofern er die Tendenz eines vorgestellten Gegenstandes, als wirklicher Gegenstand sich zu geb\u00e4rden, oder die in ihm liegende \u201e Wirklichkeitstendenz\u201c, negiert. Ich \u201eempfinde\u201c .Stille oder Schmerzlosigkeit, dies heilst : Ich stelle mir Ger\u00e4usche bezw. Schmerzempfindungen vor und ordne sie in den Zusammenhang meines gegenw\u00e4rtigen Erlebens ein, determiniere dieses als dergleichen in sich schliefsend, und erlebe es nun, dafs der in dieser Determination eo ipso liegende G\u00fcltigkeitsanspruch durch den gegenw\u00e4rtigen Gesamtempfindungstatbestand negiert wird, oder dafs mir \u201everboten\u201c wird, diesem Anspruch zu gen\u00fcgen.\nAnaloges gilt von der Erinnerung, dafs ich gestern einen Gedanken nicht gehabt, oder eine Tat nicht getan habe. Was hier negiert oder verbietet, ist mein tats\u00e4chliches gestriges Erleben. Hier, wie im vorigen Falle, w\u00fcrde ich das Verbot nicht als solches erleben ohne die Tendenz des Zuwiderhandelns oder ohne jenen Geltungs a n s p r u ch. Vgl. Suggestion und Hypnose S. 430.1\nAnders steht es mit dem negativen Begriff, etwa \u201eNichtrot\u201c. Ich habe diesen Begriff, dies heilst: Ich habe das Wort, und habe das Bewufstsein, der Sprachgebrauch fordere von mir die Vorstellung einer Qualit\u00e4t, verbiete mir aber zugleich diese Qualit\u00e4t als Rot n\u00e4her zu bestimmen. Dies Verbot ist aber nicht ein logisches, sondern ein an mein Wollen gerichtetes. Vgl. dar\u00fcber die Schrift \u00fcber \u201eEinheiten und Relationen\u201c S. 68 f.\nDie Vorstellung endlich des Nichtrot ist die abstrakte Allgemeinvorstellung einer Qualit\u00e4t \u00fcberhaupt, wobei ich mir selbst verbiete, diese Qualit\u00e4t als rot n\u00e4her zu bestimmen; oder sie\n1 Sitzungsberichte der philos, und philol. Klasse der M\u00fcnchener \u00c4kad. d. Wiss. 1897, 2 (3).","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\n73\nist jene Vorstellung, mit der Absicht, diese Qualit\u00e4t nicht in solcher Weise n\u00e4her zu bestimmen. Diese negative Absicht, dies Selbstverbot, dies Nichtwollen ist ein besonderes Bewufstseins-erlebnis neben der positiven Absicht. Das Nichtwollen steht dem Wollen, das Widerstreben dem Streben gegen\u00fcber, wie die Verneinung der Bejahung, und analog, wie die Lust der Unlust. Vgl. V. F. W. u. D. S. 42fL\n9. Von hier aus kann die Betrachtung nach verschiedenen Bichtungen weiter gehen. Ich setze etwa in einer Rechnung irgend welchen komplizierten Ausdruck = M. Dies kann man wiederum eine \u201eAnnahme\u201c nennen. Aber diese Annahme hat mit den \u201eUrteilen ohne \u00dcberzeugung\u201c nichts zu tun. Sie ist zun\u00e4chst eine willk\u00fcrliche Annahme, also ein Willensakt. D. h. ich entschliefse mich, das M jenen Ausdruck repr\u00e4sentieren zu lassen, oder mit dem M. diesen Ausdruck zu meinen: Dies \u201eMeinen\u201c bezeichnet eine eigene apperzeptive Beziehung zwischen dem M und dem Ausdruck, eine durchaus eigenartige Apperzeptionstatsache, kurz eine eigenartige \u201eRelation\u201c. Diese stelle ich, und zwar zun\u00e4chst willk\u00fcrlich, her oder fest.\nIn der Folge bin ich dann oder f\u00fchle ich mich an diese meine \u201eFeststellung\u201c gebunden oder durch sie bestimmt, \u00fc hat jetzt f\u00fcr mich diese Bedeutung, es \u201emeint\u201c den Ausdruck tats\u00e4chlich oder objektiv. Das Bewufstsein davon ist eine Art des Urteils. Es ist ein Bewufstsein einer objektiven Zusammengeh\u00f6rigkeit. Aber es ist ein Urteil ganz eigener Art, kein Tatsachenurteil. Es ist die Anerkennung nicht eines objektiven Tatbestandes, sondern meines Entschlusses. Es ist das Wirken-lassen desselben in mir. Man kann dasselbe wiederum eine\nAnnahme nennen. Aber es ist eine Annahme, bei welcher \u2014\n\u2022 \u2022\t* \u2022\nnicht die \u00dcberzeugung fehlt, sondern der Begriff der \u00dcberzeugung, der eben ein logischer ist, gar keine Stelle findet. Es ist eine Art von Verpfliehtungsbewufstsein, vergleichbar dem Bewufstsein der Verpflichtung, ein Versprechen zu halten.\nUnd wie ich mich durch den einmal gefafsten Entschlufs binden lasse, so wird auch der Leser der Rechnung sich dadurch binden lassen oder daran binden. Auch er \u201enimmt\u201c die Gleichsetzung des M mit dem komplicierten Ausdruck \u201ean\u201c. Hierin liegt ein gleichartiger Sachverhalt.\nSo nehme ich die bestimmte Bedeutung des Y\u2014l an, d. h. ich binde mich daran in meinem Rechnen. Ebenso nehme ich","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nTheodor Lipps.\nallerlei sonstige willk\u00fcrlich gesetzte Symbole an und operiere geistig damit als mit feststehenden Tatsachen.\nHiermit ist eine zweite Hauptklasse von Annahmen bezeichnet. Offenbar haben sie mit den Annahmen, von welchen zuerst die Rede war, gar nichts zu tun. Sie geh\u00f6ren einer v\u00f6llig anderen Sph\u00e4re des psychischen Lebens an.\nJenes Meinen, von dem vorhin die Rede war, kann uns hinf\u00fchren zu Meinono\u2019s Meinung, dafs in jeder Vorstellung eines Gegenstandes eine Annahme liege. Es ist gewifs zu billigen, dafs Meinono statt der \u201eVorstellung\u201c eines Gegenstandes lieber das \u201eDenken\u201c desselben setzen will. Das Vorstellen ist zun\u00e4chst das Haben eines Bildes. Das \u201eVorstellen eines Gegenstandes\u201c dagegen ist das Apperzipieren des durch das Bild \u201eVorgestellten\u201c, d. h. Repr\u00e4sentierten, kurz Gemeinten. Und dies Letztere wird gewifs richtiger Denken genannt. Ich \u201estelle\u201c, so sage ich, jenes mir von innen und aufsen wohlbekannte Haus vor, oder ich stelle eine mathematische Linie, etwa eine Gerade vor, oder gar: Ich stelle den unendlichen Raum vor. Hier ist v\u00f6llig deutlich, dafs ich nichts von allem dem vorstelle, d. h. daf\u00a7 weder das mir bekannte Haus, noch die mathematische Linie, noch gar der unendliche Raum mir als Bild vorschwebt. Sondern was mir so vorschwebt, ist etwas v\u00f6llig Anderes, ein verwaschenes Bild, das mit einem Hause herzlich wenig \u00c4hnlichkeit hat, eine leidlich gerade Linie von dieser oder jener Farbe und Dicke, irgend ein endliches St\u00fcck Raum. Diese \u201estellen\u201c das \u201evor\u201c d. h. sie repr\u00e4sentieren das, was ich angeblich \u201evorstelle\u201c. Es ist einleuchtend, das wir f\u00fcr dies letztere Vorstellen einen anderen Namen w\u00e4hlen sollten. Und der Name Denken ist dazu wohl geeignet.\nDies Denken \u2014 oder Meinen \u2014 nun fafst Meinong, weil es \u00fcber das Vorstellen in seinem eigentlichen Sinne hinaus geht, ,mit unter den Begriff der Annahme. Es erscheint ihm als etwas zwischen dem Vorstellen und dem Urteilen Liegendes.\nDaran scheint etwas Wahres. Es liegt im Vorstellen oder Denken des Gegenstandes eine Art von Objektivit\u00e4t. Ich stelle mir etwa einen goldenen Berg vor. Auch hier ist, was ich mir vorstelle, d. h. was mir als Bild vorschwebt, kein goldener Berg, sondern ein vermutlich sehr d\u00fcrftiger Repr\u00e4sentant desselben. Aber damit ist ein goldener Berg gemeint. Und dies heilst: Es sollte oder m\u00fcfste mir eigentlich jetzt der \u201eGegenstand\u201c,","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\n75\nd. h. ein richtiger goldener Berg vorschweben, dieser Gegenstand fordert oder erhebt den Rechtsanspruch, an der Stelle des d\u00fcrftigen Bildes da zu sein; das was mir als Bild vorschwebt, \u201egilt\u201c nicht, sondern es gilt das damit Gemeinte. Indessen, dieser Rechtsanspruch des Gegenstandes an die Stelle des Bildes zu treten, oder diese Geltung des Gegenstandes, hat nun doch mit einer Annahme, oder einem \u201eUrteil ohne \u00dcberzeugung\u201c nichts zu tun. Ich nehme eben doch, indem ich mir einen goldenen Berg \u201evorstelle64, nicht an, dafs es etwas dergleichen gebe. Sondern ich stelle mir ihn einfach vor, oder denke ihn mir. Und auch die Beziehung zwischen dem Bilde und dem Gegenstand steht in keiner Analogie mit der Beziehung zwischen Subjekt und Pr\u00e4dikat eines Urteils. Das Meinen ist, wie schon gesagt, eine Beziehung v\u00f6llig eigener Art. Ich verweise hier auf die Schrift \u00fcber \u201eEinheiten und Relationen\u201c S. 69.\n11. V\u00f6llig widersprechen mufs ich endlich Mexnong-, wenn er die Einf\u00fchlung und das Bewufstsein der \u00e4sthetischen Realit\u00e4t mit den \u201eAnnahmen\u201c in Beziehung bringt. Wenn in der Mannorstatue, die da vor mir auf einem Sockel steht, ein Mensch dargestellt ist, so nehme ich doch nicht an, dafs da vor mir ein Mensch stehe, sondern ich bin von jeder solchen Annahme soweit als nur m\u00f6glich entfernt. Ich erlebe das innere Tun dieses Menschen und die Weise, wie ihm nach Aussage der Statue zu Mute ist. Ich erlebe es in der Betrachtung, d. h. nicht als der Mensch, der ich sonst bin, sondern lediglich als der Betrachtende, und in der Betrachtung des Kunstwerkes Aufgehende. Ich erlebe oder f\u00fchle es. Dies Erleben oder F\u00fchlen, dies \u201eMitmachen\u201c oder diese innere Nachahmung aber geh\u00f6rt einer v\u00f6llig anderen Sph\u00e4re des psychischen Lebens an als das Urteilen, Glauben, Annehmen, dafs etwas sei. Es ist sogar f\u00fcr diese \u00e4sthetische Einf\u00fchlung, oder dies gef\u00fchlsm\u00e4fsige Bejahen in allererster Linie Bedingung, dafs jeder Gedanke an ein intellektuelles Bejahen oder Verneinen ausgeschaltet ist. Die \u00e4sthetische Betrachtung ist ihrer Natur nach ein Heraustreten aus der Region der Annahmen, und Hineintreten in die vollkommen anders geartete Region des unmittelbaren Erlebens. Die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung ist sowenig eine Annahme, als Hunger und Durst, die ich jetzt f\u00fchle, Annahmen sind.\nUnd so wie ich mich zum Inhalte des Kunstwerkes verhalte, so verh\u00e4lt sich der K\u00fcnstler dazu. Auch er \u201enimmt\"","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nTheodor Lipps.\nnichts \u201ean\u201c. Er \u201efingiert\u201c auch nichts. Sondern er gestaltet etwas in seiner Phantasie, und erf\u00fcllt die Gestalten mit seinem Leben. Er lebt in ihnen, lebt ihr Leben mit, kurz f\u00fchlt sich in sie ein, oder ist in sie eingef\u00fchlt.\nDie Anschauung, dafs die Einf\u00fchlung eine Art der Annahme sei, dr\u00fcckt Meinong auch dadurch aus, dafs er das Eingef\u00fchlte als Phantasiegef\u00fchl und Phantasiebegehrung bezeichnet. Dazu bemerke ich: Phantasie ist doch wohl die F\u00e4higkeit, Vorstellungen zu haben, die blofse Vorstellungen sind, d. h. weder Empfindungen oder Wahrnehmungen oder jetzt erlebte Gef\u00fchle und Begehrungen, noch Vorstellungen, die mit dem Bewufstsein der Wirklichkeit des Vorgestellten verbunden sind. Danach w\u00e4ren Phantasiegef\u00fchle und Phantasiebegehrungen solche Gef\u00fchle und Begehrungen, die sich zu den jetzt erlebten oder den als irgendwo wirklich gedachten verhalten, wie sich etwa ein Phantasie-schlofs, das ich mir jetzt willk\u00fcrlich vorstelle, sich verh\u00e4lt zu einem, das ich sehe, oder von dessen Existenz ich aus Erinnerung oder Mitteilung Kenntnis habe.\nVon solchen Phantasiegef\u00fchlen und Phantasiebegehrungen sind aber aufs bestimmteste zu unterscheiden die Gef\u00fchle und Begehrungen, die ich jetzt tats\u00e4chlich habe oder f\u00fchle, nur dafs sie nicht auf Wirkliches, sondern auf Phantasiegegenst\u00e4nde sich beziehen, also die realen Gef\u00fchle und Begehrungen angesichts einer nur f\u00fcr die Phantasie bestehenden Weit. Solcher Art aber sind die Gef\u00fchle und Begehrungen, die ich in der \u00e4sthetischen Betrachtung erlebe.\nAber ich f\u00fcrchte nun, Meinokg scheidet dies beides nicht. Er l\u00e4fst in dem Namen Phantasiegef\u00fchle und Phantasiebegehrungen die Gef\u00fchle und Begehrungen, die selbst nur f\u00fcr die Phantasie bestehen, und die realen Gef\u00fchle und Begehrungen, die auf Phantasiegegenst\u00e4nde sich beziehen, in-einanderfliefsen. Nur unter dieser Voraussetzung verstehe ich seine Stellungnahme zur Einf\u00fchlungsfrage.\nDie Ansicht, der zufolge Einf\u00fchlung ein reales F\u00fchlen, ein tats\u00e4chliches Erleben eines Strebens, Tuns und Erleidens, einer Freude oder Trauer ist, bezeichnet Meinong als \u201eAktualit\u00e4tsansicht\u201c. Diese, meint Meinong, habe Witasek in seinem Aufsatz \u201eZur psychologischen Analyse der Einf\u00fchlung\u201c (diese Zeitschrift 25, S. 1 ff.) widerlegt. Ich erwidere darauf zun\u00e4chst, dafs Witasek in seinem Aufsatz allerdings Mifsverst\u00e4ndnisse der Aktualit\u00e4tsan-","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Fortsetzung der \u201ePsychologischen Streitpunkte\u201c.\n77\nsicht, oder der \u201eEinf\u00fchlung\u201c, die keiner Widerlegung bed\u00fcrfen, abgewiesen hat, dafs er aber von der einzig m\u00f6glichen Aktualit\u00e4tsansicht \u00fcberhaupt nicht redet.\nDiese Aktualit\u00e4tsansicht konstatiert eine Tatsache, die bei mir in jedem Falle stattfindet Um wiederum einmal die S\u00e4ule als Beispiel heranzuziehen: Ich f\u00fchle mich strebend in der S\u00e4ule. Hier ist jedes Wort in voller Strenge zu nehmen: Ich stelle mir nicht vor, oder phantasiere, dafs ich dies Streben f\u00fchle, sondern ich f\u00fchle es tats\u00e4chlich. Und ich f\u00fchle es in der S\u00e4ule und nirgendwo sonst. Ich f\u00fchle weder mich strebend neben oder angesichts der S\u00e4ule, noch f\u00fchle ich die S\u00e4ule strebend, sondern mein Streben und das Streben der S\u00e4ule sind Eines. Ich erlebe mich in diesem Streben schlechterdings mit der S\u00e4ule identisch. Und das Streben existiert nur als dies Eine und Selbe. Es hat kein Dasein, aufser sofern ich der S\u00e4ule betrachtend hingegeben bin. In dieser Betrachtung der S\u00e4ule, oder in der S\u00e4ule, sofern ich sie betrachte, als etwas an die S\u00e4ule, die ich betrachte, Gebundenes, als etwas ihr Zugeh\u00f6riges erlebe ich mein Streben.\nDagegen ist f\u00fcr Witasek dieses Streben ein nur vorgestelltes. Es ist dies in der Theorie oder der Theorie zuliebe. In der Praxis der \u00e4sthetischen Anschauung wird es sich wohl f\u00fcr Witasek nicht anders verhalten als f\u00fcr mich.\nDieser \u201eVorstellungsansicht\u201c nun stellt Meinong seine \u201eAnnahmeansicht\u201c gegen\u00fcber. Damit verbessert er die Sache, da ja die Annahme mehr sein soll als die blofse Vorstellung. Aber sowenig ich mir vorstelle, dafs ich in der S\u00e4ule ein Streben f\u00fchle, sowenig nehme ich Dergleichen an. Sondern ich f\u00fchle es. F\u00fcr das Weitere verweise ich auf meine demn\u00e4chst zu ver\u00f6ffentlichende \u201e\u00c4sthetik\u201c.\n12. Ich deutete vorhin schon an, was mir als ein Grund\u00fcbel des MEixoNo\u2019schen Buches erscheine. Sowie das \u00c4sthetische, so ist auch das Logische nicht von den anderweitigen Sph\u00e4ren des Psychischen gen\u00fcgend scharf geschieden. Am deutlichsten zeigt sich dieser falsche Psychologismus \u2014 der wahre schliefst die denkbar sch\u00e4rfste Scheidung in sich \u2014 in einem Satze wie: Ein Urteil ist jederzeit ein Tun im Gegensatz zum Erleiden. In Wahrheit ist das Urteil weder ein Tun noch ein Erleiden, sondern es steht v\u00f6llig aufserhalb dieses Gegensatzes. Das Urteilen oder der Vorgang des Urteilens kann ein Tun, es kann aber eben-","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nTheodor Lipps.\nsowohl ein Erleiden sein. Auch hierf\u00fcr verweise ich auf die \u00f6fter erw\u00e4hnten Schriften.\nMit dieser Nichtunterscheidung des Logischen vom aufser-logisch Psychologischen stimmt es \u00fcberein, wenn Meinong den Gegensatz des Motivs und Motivats aufs Logische \u00fcbertr\u00e4gt. Auch diese Begriffe stehen absolut aufserhalb des Logischen. An die Stelle tritt hier der v\u00f6llig anders geartete Gegensatz von Grund und Folge.\nHieran kn\u00fcpfe ich noch eine Bemerkung, die \u2014 nicht mehr zur Psychologie der Annahmen, wohl aber in den Zusammenhang dieser letzteren Bemerkungen geh\u00f6rt. In seinem zu dicken, davon abgesehen aber vortrefflichen Buche \u201eLogische Untersuchungen\u201c reiht mich Husserl unter die \u201ePsychologisten\u201c. Ich bemerke dazu: Ich bin Psychologist \u2014 nicht sowohl gegen\u00fcber den Logikern als gegen\u00fcber den Psychologen, n\u00e4mlich gegen\u00fcber denjenigen, die meinen, man k\u00f6nne Psychologie treiben ohne \u00fcberall auch die logischen und ebenso die \u00e4sthetischen und ethischen Tatsachen \u2014 da sie doch nun einmal psychische Tatsachen sind \u2014 im Auge zu haben. Ich bin es nicht in dem Sinne, dafs ich die Selbst\u00e4ndigkeit dieser Tatsachen leugne. Ich sehe vielmehr in der strengsten Scheidung insbesondere des Logischen vom aufserlogisch Psychologischen eine der wichtigsten Aufgaben der Psychologie. Die Psychologie ist das Allumfassende. Auch die Logik \u2014 beruht nicht auf Psychologie, sondern sie geh\u00f6rt dazu. Auch die Logik Husserl\u2019s. Dies kr\u00e4nkt Husserl vielleicht. Aber f\u00fcr mich ist nun einmal Husserl auch in seinen \u201eLogischen Untersuchungen\u201c ein, noch dazu recht ernst zu nehmender Psychologe.\n(Eingegangen am 20. Oktober 1902.)","page":78}],"identifier":"lit32936","issued":"1903","language":"de","pages":"47-78","startpages":"47","title":"Fortsetzung der \"Psychologischen Streitpunkte\" [, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg., 1902, Bd. 28, S. 145-178]","type":"Journal Article","volume":"31"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:22:51.652218+00:00"}