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{"created":"2022-01-31T16:36:47.987664+00:00","id":"lit32939","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Feilchenfeld, Hugo","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 31: 127-150","fulltext":[{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"127\n(Aus der physikalischen Abtheilung des Physiologischen Instituts\nder Universit\u00e4t zu Berlin.)\nZur Lagesch\u00e4tzung bei seitlichen Kopfneigungen.\nVon\nDr. Hugo Feilcheneeld in Berlin.\nDie Untersuchungen \u00fcber die Gr \u00f6fs en Sch\u00e4tzung des: ruhenden Auges 1 f\u00fchren zu der weiteren Frage, welche F\u00e4higkeit das Ruheauge f\u00fcr die Richtungs- oder L a g e Sch\u00e4tzung besitzt. Auch hier wird uns der L\u00f6sung des Problems im wesentlichen nur das Studium der optischen T\u00e4uschungen n\u00e4her f\u00fchren k\u00f6nnen. Doch bedarf es, um die Funktion der \u201eBewegungsempfindungen\u201c m\u00f6glichst klar und eindeutig gegen die der Sehfeldsch\u00e4tzung abzugrenzen, noch mehr als bei dem Gr\u00f6fsenvergleich der Ausschliefsung des dritten, \u00fcberall komplizierend auftretenden Momentes, der Erfahrung; denn diese beseitigt eben jeden, durch die Zusammensetzung des per-zipierenden Apparates bedingten, Zwiespalt zwischen dem Sehraum und dem Tastraum, indem sie das Zeichensystem des ersteren mit den Verh\u00e4ltnissen des letzteren in Einklang bringt. So kommt es, dafs wir uns \u00fcber die Lage solcher Objekte im allgemeinen nicht t\u00e4uschen, die sich in einer Umgebung befinden, welche von anderen, der Lage nach bekannten, Objekten angef\u00fcllt ist. Als Vorbedingung des Versuchs erscheint demnach der Ausschlufs aller Erfahrungsmotive notwendig, wie er in dem absoluten Dunkelraum gegeben ist. Das einfachste Beobachtungsobjekt ist eine gleichm\u00e4fsige, schwach gl\u00fchende Lichtlinie, die eben wahrgenommen werden kann, aber den Raum noch nicht bis zur Sichtbarkeit erhellt. Dann ist, sowohl was das Objekt selbst als dessen Umgebung betrifft, jeder Ein-\n1 Feilchenfeld : Gr\u00f6fsensch\u00e4tzimg im Sehfeld. Gr\u00e4fes Arch. f. Qphth. 53,3.","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nHugo Feilchenfeld.\nflufs der Erfahrung ausgeschaltet, und die beiden anderen Momente treten in ihrer Wirkungssph\u00e4re rein zu Tage. Die resultierende T\u00e4uschung ist \u00fcberraschend: Bei vertikaler Kopfhaltung erscheint die Linie in ihrer wirklichen Lage, bei schulterw\u00e4rts geneigter Kopfhaltung nimmt sie eine entgegengesetzte scheinbare Neigung an. Diese, von Aubeet 1 entdeckte, T\u00e4uschung hat Nagel jun.'2 A ub Barsches Ph\u00e4nomen genannt. Herrn Professor Nagel verdanke ich auch die Anregung, dieser Frage meinerseits n\u00e4her zu treten.\nIch bediente mich mit geringen Ab\u00e4nderungen der Versuchsanordnung von Sachs und Meller3 4: Eine Siemens - Gl \u00fchli nie ist in einen geschw\u00e4rzten, im Kugelgelenk um ein Stativ drehbaren, Metallzylinder eingelassen, dessen 20 cm langer, 2 mm breiter Lichtspalt mit durchscheinendem Orangepapier verdeckt ist. Die Kopflage war durch ein, nur um die Sagittal-axe drehbares, Beifsbrettchen jedesmal fixiert, und ihr Winkel an einer Gradeinteilung abzulesen.\nDie Fragestellung \u2014 und es ist zweckm\u00e4fsig sie m\u00f6glichst zu variieren \u2014 kann in doppeltem Sinne erfolgen: Wenn sich der Kopf um bestimmte Winkel neigt, um welchen Winkel erscheint dann 1. eine feststehende Linie, z. B. eine Vertikale, gedreht; 2. um wieviel mufs ich eine Linie aus der Vertikalen Lerausdrehen, damit sie vertikal erscheint? Die Sicherheit, die wir in der Beurteilung der vertikalen Richtung besitzen, macht im zweiten Falle die Angaben bestimmter; doch kommt man bei einiger \u00dcbung im Winkelsch\u00e4tzen auch im ersten Falle zu brauchbaren Resultaten. Beide Untersuchungsreihen sowie die Einzelresultate jeder Untersuchungsreihe stehen in auffallender Korrespondenz zu einander ; aber neben dieser fast mathematischen Konstanz des Ph\u00e4nomens macht sich doch wieder etwas Schwankendes, Unsicheres bemerkbar, das von der Willk\u00fcr unabh\u00e4ngig ist, und \u00fcber dessen Wesen wir uns zun\u00e4chst keine Rechenschaft geben k\u00f6nnen. W\u00e4hrend Aubeet, Mulder \\ Nagel diese Inkonstanz als charakteristisch hervorheben, leugnet sie Sachs. Indem er die Expositionsdauer der Lichtlinie auf\n1\tAubbrt: Virchoivs Archiv 20, S. 381.\n2\tNagel: Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol. 16, S. 373.\n3\tSachs u. Meller: v. Gr\u00e4fes Arch. f. Ophth. 52, 3, wof\u00fcr ich der Abk\u00fcrzung halber im folgenden Sachs sagen werde.\n4\tMulder: Ponders Feestbundei.","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lagesch\u00e4tzung hei seitlichen Kopfneigungen.\n129\neine m\u00f6glichst kurze Zeit beschr\u00e4nkte (\u201eAuf blitz versuche\u201c), gelang es ihm eine wesentliche Ursache der \u201eInkonstanz\u201c zu eliminieren. Aber wenn nun zwar bei kurzer Exposition jene Schwankungen nicht in Erscheinung treten k\u00f6nnen, die sich eben bei l\u00e4ngerer Exposition erst bemerklich machen, so bleiben sie nichtsdestoweniger als Begleiterscheinung der l\u00e4ngeren Exposition eine Tatsache, mit der die Erkl\u00e4rung zu rechnen hat. Zeigte sich doch auch die Inkonstanz nunmehr in anderem Sinne, in dem die Resultate verschiedener Versuchstage verschieden ausfielen, \u201eselbst wTenn die Versuchsbedingungen dem Anscheine nach dieselben gewesen waren.\u201c Vollends ist der Gegensatz zwischen Sachs und seinem Voruntersucher Nagel nur ein scheinbarer, da auch letzterer nicht etwa \u201edie Empfindung ,vertikal\u2019 bei geneigtem Kopf unbestimmt findet\u201c, sondern bei der Kopfneigung \u201eeine ganz bestimmte Vorstellung von der Richtung der Schwerlinie hat\u201c (S. 375). Diese, an sich \u00e4ufserst bestimmte Vorstellung f\u00e4llt eben nur zu verschiedenen Zeiten verschieden aus, sei es dafs der Wechsel, wie bei Nagel, w\u00e4hrend einer l\u00e4ngeren Beobachtung, sei es dafs er, wenn die K\u00fcrze der Exposition hierzu keine Gelegenheit gibt, wie bei Sachs in zeitlich getrennten Beobachtungen erkannt wird.\nNeben diesen Schwankungen besteht aber in der Tat eine Konstanz, die ich oben eine fast mathematische genannt habe. Sie macht sich zun\u00e4chst in der Bestimmtheit des Urteils bei jeder Einzeluntersuchung geltend, ferner bei einer einzelnen \u00fcntersuchungs reihe, indem fast genau um denselben Winkel, um den ich den Kopf neige, die Linie sich in entgegengesetztem Sinne dreht. Man kann ihr so jede beliebige Lage verleihen, sie in eine fr\u00fchere Lage zur\u00fcckdrehen, indem man dem Kopfe eine fr\u00fcher gew\u00e4hlte Neigung wiedergibt. Wenn ich z. B., von der horizontalen Kopflage ausgehend, den Kopf zwischen 100\u00b0 und 80\u00b0 hin und her pendeln lasse, so macht die Linie die entsprechenden Gegenbewegungen in genauer Proportion. Aber auch bei Untersuchungen zu verschiedenen Zeiten ist die \u00dcbereinstimmung im allgemeinen auffallend : Ich bekam bei den Beobachtungen, die ich in den ersten Tagen anstellte, so \u00fcbereinstimmende Resultate, dafs ich mich \u00fcber die entgegengesetzte Angabe fr\u00fcherer Autoren wunderte. Dann kam freilich ein Tag, wo ich der T\u00e4uschung fast gar nicht ausgesetzt war und sie auch nicht erzwingen konnte. Ein anderes Mal betrug\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 31.\t9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"ISO\nHugo Feilchenfeld.\nsie wohl das dreifache des gew\u00f6hnlichen. Es gelang mir durch\neine Kopfneigung von 120\u00b0 eine Vertikale horizontal, resp. eine\nHorizontale vertikal zu stellen. Aber das waren Ausnahmen von\nder Regel; gew\u00f6hnlich stimmten die Winkel bis auf einzelne\nGrade \u00fcberein, ob ich die Versuche nun nach der ersten oder\n\u2022\u2022 _ _\nzweiten Methode (s. S. 128) anstellte. \u00c4hnlich gleichartige Resultate lieferte die Untersuchung an verschiedenen Individuen.\nKopfdrehung\tT\u00e4uschung\n(in Grad)\t(in Grad)\nDr.\tP.\t100\t55\n120\t55\n70\t25\n30\t10\n80\t35\n90\t40\n150\t58\nDr.\tM.\t45\t0\n90\t25\n100\t35\n60\t10\n100\t30\n135\t50\n150\t65\nDr.\tG.\t45\t0\n70\t10\n90\t25\n140\t42\n110\t40\n65\t8\n50\t15\n90\t20\n90\t20\n110\t35\n110\t25\nDr.\tC.\t20\t5\n85\t15\n95\t25\n130\t30\n100\t20!\n100\t25\n75\t20\n90\t20\n130\t33","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lagesch\u00e4tzung hei seitlichen Kopfneigungen.\n131\nKopfdrehung (in Grad)\nT\u00e4uschung (in Grad)\nDr. L.\n85\n90\n90\n60\n150\n130\n20\n35\n45\n8\n45\n50\nIch (1. Tag)\n90\n90\n60\n50\n135\n140\n30\n25\n15\n7\n65\n65\nDiese Untersuchungen konnte ich binokular anstellen, da s\u00e4mtliche Personen (Kollegen, die am Institut arbeiten) dem von Sachs erw\u00e4hnten Doppeltsehen nicht ausgesetzt waren. Sie konnten es sogar nur mit M\u00fche hervorrufen. Ich selbst erhalte, seitdem ich im Sehen von Doppeltbildern ge\u00fcbt bin, sie bei jeder st\u00e4rkeren Kopfneigung, auch wenn ich nicht bestimmte Beobachtungszwecke verfolge, also gewissermafsen \u201eim gew\u00f6hnlichen Leben\u201c regelm\u00e4fsig, sobald ich nur leichthin auf sie achte. Dafs sie bei Betrachtung einer einfachen Lichtlinie und Aus-schlufs aller gegen wirkenden \u00e4ufseren Erfahrungsmotive augenf\u00e4lliger wurden, \u00fcberraschte mich nicht. Sie sind bei mir gleichnamig; d. h. der Augenseite entsprechend, stehen sie, je nach der Lage der Basallinie neben- oder \u00fcbereinander. Sie verlaufen parallel, solange der, um die Sagittalachse gedrehte Kopf in der Frontalebene bleibt. Die Gesetze des Horopters widersprechen zwar der absoluten Parallelit\u00e4t ; aber meine Augen nehmen auch bei st\u00e4rksten Terti\u00e4rlagen von einer irgend in Betracht kommenden Abweichung nichts wahr. Daraus folgt, dafs f\u00fcr mich wenigstens in der Beurteilung der T\u00e4uschung ein Unterschied zwischen monokularer und binokularer Pr\u00fcfung sich ausschliefst; denn der Winkel der T\u00e4uschung mufs beide Male derselbe bleiben.\nWas die Erkl\u00e4rung dieses Doppeltsehens betrifft, so wissen wir, dafs \u201eder binokulare Blickraum kleiner ist als der beiden Augen gemeinschaftliche Teil des Blickraumes.\u201c1 Doch bringt\n1 Hering : Lehre vom binokularen Sehen, S. 43.\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nHugo Fe\u00eflchenfeld.\ndieses Gesetz noch kein ausreichendes Motiv. Die sich ergebende Differenz kommt n\u00e4mlich in der bez\u00fcglichen HERiNGschen Abbildung nur auf dem unteren Teile des Blickfeldes, also f\u00fcr die Blick Senkung zum Ausdruck, entsprechend ihrer Ursache, dafs sich mit der Blicksenkung Konvergenz der Gesichtslinien assoziativ verkn\u00fcpft, wodurch die gleichnamigen Doppeltbilder gen\u00fcgend erkl\u00e4rt werden. Hier aber finden wir solche gerade auch bei Kopfneigung, also Blickhebung. Dafs dabei das Horoptergesetz keine wesentliche Rolle spielt, haben wir bereits gesehen; auch k\u00f6nnen wir, um es auszuschalten, die Untersuchung an einem Lichtpunkt vornehmen, ohne dafs dadurch am Resultat etwas ge\u00e4ndert w\u00fcrde. Es macht also unsere Beobachtung eine Erweiterung des oben bezeichneten Gesetzes notwendig und zwar in dem Sinne, dafs der binokulare Blickraum wiederum bei geneigtem Kopfe kleiner ist als bei aufrechtem.\nDen* Grund f\u00fcr dieses neue Gesetz k\u00f6nnte man leicht an einer falschen Stelle vermuten. Bekanntlich vermag unsere Fusionstendenz in weit gr\u00f6fserem Umfange Doppelbilder mit Seitendistanz als solche mit H\u00f6hendistanz zu vereinigen. Da nun seiten distante Doppelbilder mit Zunahme der Kopfneigung ihre Seitendistanz verlieren und H\u00f6hendistanz an-nehmen, so k\u00f6nnte man in diesem Umstande die Ursache daf\u00fcr suchen, dafs jene Bilder, infolge der nat\u00fcrlichen Ruhelage der Augen einmal getrennt, sich nicht wieder vereinigen lassen und zwar um so weniger, je mehr die H\u00f6hendistanz die Seitendistanz \u00fcbertrifft. Es ist aber zu bemerken, dafs jener Unterschied in der Fusionsbreite in dieser Weise nat\u00fcrlich nur f\u00fcr die aufrechte Kopfhaltung gilt ; denn nur dann sind subjektiv seitendistante Doppelbilder auch objektiv querdisparat und subjektiv h\u00f6hendistante auch objektiv l\u00e4ngsdisparat, so dafs auch die Fusion ersterenfalls von den Seitenwendern, letzterenfalls von den Hebern und Senkern aufgebracht wird.\nIn das Verh\u00e4ltnis der, an dieser Fusion beteiligten Muskelgruppen bringt vielmehr erst die, mit der Kopfneigung verbundene Gegenrollung (parallele Raddrehung) eine Verschiebung hinein. Sie setzt schon den Ausgangspunkt des Blickfeldes \u2014 von einer prim\u00e4ren Blickrichtung kann hier nat\u00fcrlich nicht mehr die Rede sein \u2014 unter ungewohnte Innervationsbedingungen. Soll nun irgend eine Blickbewegung ausgef\u00fchrt","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lagesch\u00e4tzung bei seitlichen Kopfneigungen.\n133\nwerden, so m\u00fcssen in s\u00e4mtliche geraden und schr\u00e4gen Muskeln andere Innervationen gesandt werden, als sie die gleiche Blick-bewegung bei aufrechtem Kopfe erfordern w\u00fcrde. In dieser, f\u00fcr jede Kopf neig un g sich \u00e4ndernden Modifikation aller Innervationen sind wir nicht ge\u00fcbt; wir verm\u00f6gen daher die zum binokularen Einfachsehen notwendige synergische Bewegung nicht mehr auszuf\u00fchren und sehen doppelt. Wenn nun trotzdem viele Beobachter nicht doppelt sehen, Aubert sogar ausdr\u00fccklich betont, es sei gleichg\u00fcltig, ob die Versuche mit einem oder beiden Augen angestellt w\u00fcrden, so tr\u00e4gt gewifs nicht immer Mangel an \u00dcbung die Schuld. Vielmehr bestimmen individuelle, offenbar auch in der individuellen Anlage des okulomuskul\u00e4ren Apparates begr\u00fcndete, Verh\u00e4ltnisse das Mafs der Diplopie. W\u00e4hrend sie bei mir durch eine konvergente Ruhelage beg\u00fcnstigt wird, daher auch gleichnamig ausf\u00e4llt, h\u00f6ren wir von Meller, dafs er eine auffallend grofse Netzhautinkongruenz und von Sachs aus anderen Arbeiten, dafs er eine starke latente Divergenz besitzt. Von jener Inkongruenz bemerke ich nur noch beil\u00e4ufig, dafs sie mir im \u00fcbrigen f\u00fcr die Beurteilung und Bemessung des AuBERT\u2019schen Ph\u00e4nomens einfiufslos erscheint; denn es ist offenbar gleichg\u00fcltig, ob man zum Ausgangspunkt der Vergleichung bei binokularer Pr\u00fcfung objektiv Vertikales, oder das im mittleren L\u00e4ngsschnitt sich abbildende, scheinbar Vertikale bei monokularer w\u00e4hlt. Auch ruft die Inkongruenz, wrenn sie eben nicht ungew\u00f6hnlich stark ist, eine ganz geringe T\u00e4uschung hervor, die gegen\u00fcber den viel gr\u00f6beren und augenf\u00e4lligeren Irrt\u00fcmern der Au\u00dfERTschen gar nicht ins Gewicht f\u00e4llt.\nDie SwcHSsche Auf blitz methode war dagegen bei allen, oben mitgeteilten Untersuchungsmethoden in Anwendung gekommen. Die Angabe, ob die Kopfdrehung nach rechts oder links erfolgte, habe ich fortgelassen, da dies bei meinen Untersuchten im Gegensatz zu denen Nagels keinen gesetzm\u00e4fsigen Unterschied in dem Betrage der T\u00e4uschung herbeif\u00fchrte. Keiner der Untersuchten gab bei kleinen Kopfneigungen gleichsinnige Drehbewegung an, wie dies sowohl bei Nagel als bei Bachs der F all war. Vielmehr war bei so kleinen Neigungen das Urteil \u00fcber \u201evertikal\u201c ebenso oder nahezu so bestimmt und richtig wie bei aufrechter Kopfhaltung. Nagel fand bei schnellen Drehungen sowie bei Pendelbewegungen,","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nHugo Feilchenfeld.\ndie eine l\u00e4ngere Beobachtungsdauer doch ausschliefsen, jene Mitbewegung besonders deutlich. Ebenso erzielte sie Sachs vorzugsweise durch Aufblitzversuche, w\u00e4hrend er bei l\u00e4ngerer Beobachtung Gegenbewegung sah. Es ist darum bemerkenswert, dafs s\u00e4mtliche von mir Untersuchten auch bei Auf blitz versuchen Mitbewegung vermifsten. Wir werden also die Ursache des Unterschiedes doch nicht allein in der Expositions d a u e r, sondern daneben wiederum in individuellen Differenzen Suchen m\u00fcssen. Ich selbst sah einmal deutlich gleichsinnige Bewegung bei geringer Kopfneigung, sp\u00e4ter nie wieder. Ich scheide dieses Ph\u00e4nomen, welches dem, uns hier besch\u00e4ftigenden, entgegengesetzt ist, bei der Betrachtung vollkommen aus. Die \u201evor\u00fcbergehende\u201c Gegenrollung der Augen bei Kopfneigung ist mit ihrem starken Betrage geeignet dasselbe einwandsfrei zu erkl\u00e4ren.\nDas eigentliche \u2014 AuBEETsche \u2014 Ph\u00e4nomen hingegen verm\u00f6chte die Gegenrollung h\u00f6chstens zu paralysieren, und zwar die vor\u00fcbergehende ebenso wie die dauernde. Letztere ist aber viel zu gering, um gegen\u00fcber den starken Ausschl\u00e4gen desselben \u00fcberhaupt in Betracht zu kommen. Man wird voraussetzen, dafs, w\u00e4re sie nicht vorhanden, die T\u00e4uschung wahrscheinlich um eine Spur st\u00e4rker ausfiele. Dies ist auch tats\u00e4chlich der Fall, wie ich bei Patienten mit L\u00e4hmung eines Muskels aus der Heber- und Senkergruppe nachweisen konnte. Ein Fall mit totaler Okulomotorius- und Trochlearis-paralyse, bei dem alle Raddrehung und damit auch alle Gegenrollung ausscheidet, stand mir nicht zur Verf\u00fcgung. Dagegen untersuchte ich isolierte Paresen des Obliq. sup. sin., des Rectus sup. d., des Rectus inf. d. und des Rectus inf. sin. Bei Parese des 0. sup. ist die Einw\u00e4rtsrollung, die jetzt allein vom R. sup. besorgt wird, geschw\u00e4cht, infolgedessen bei L\u00e4hmung des linken die Gegenrollung dieses linken Auges schw\u00e4cher als die des rechten, wenn der Kopf nach links gedreht wird. Bei Drehung nach rechts ist die Gegenrollung des linken st\u00e4rker als des rechten, da in jenem die vereinigte Drehwdrkung des R. inf. und 0. inf. das \u00dcbergewicht hat gegen\u00fcber der isolierten des R. sup. Entsprechend fiel die T\u00e4uschung bei Drehung nach links auf dem linken, bei Drehung nach rechts auf dem rechten st\u00e4rker aus. In \u00e4hnlichem Sinne erfolgten die Resultate bei den anderen L\u00e4hmungen. Der Versuch ist nur dann einwandsfrei,","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lagesch\u00e4tzung hei seitlichen Kopfneigungen.\n135\nwenn man in der Anordnung gewisse Vorsicht \u00fcbt: In der Mitte der Lichtlinie wird ein Fixationsobjekt angebracht (schwarzer Faden), welches sich m\u00f6glichst entfernt (ca. 4 m) in der Median-ebene des Kopfes in Augenh\u00f6he befindet. Diese Augenstellung \u2014 ann\u00e4hernd Sekund\u00e4rlage \u2014 erfordert nur eine Aktion der Interni. Paresen, die in dieser Stellung Diplopie ergehen, sind zur Untersuchung geeignet. Man l\u00e4fst dann den Kopf nach links und nach rechts in die Horizontale drehen, achtet aber darauf, dafs die Nasenwurzel nach wie vor dem Fixationsobjekt gegen\u00fcber bleibt. Der Patient, der vorher gesessen, steht jetzt und lagert den Kopf auf einen entsprechend hoch geschraubten Tisch. Er ist also auch jetzt gewissermafsen in \u201eSekund\u00e4rlage\u201c, wenn man diese Bezeichnung in erweitertem Sinne gelten lassen will. Nur die Gegenrollung tritt als neues Moment hinzu. Die Beobachtung ist jedes Mal binokular. Man sch\u00e4rft dem Patienten ein, dafs er in den Angaben \u00fcber die Diplopie nur die Abweichung von der Parallelit\u00e4t ber\u00fccksichtigen soll, was bei den intelligenteren sofort gelingt. Der Vergleich zwischen dem Winkel bei der rechten Horizontalstellung, der Ausgangsstellung und der linken Horizontalstellung berechtigt dann zu dem von uns hergeleiteten Schlufs.\nWenn somit die Gegenrollung als solche zur Erkl\u00e4rung des Ph\u00e4nomens sich nicht eignet und jeder Versuch, sie nach dieser Richtung zu verwerten, scheitern mufs, so werden wir uns doch im folgenden \u00fcberzeugen, dafs indirekt der Mechanismus in engem Zusammenhang mit dem Zustandekommen des Lokalisationsirrtums steht. Aus der mitgeteilten Zusammenstellung der Beobachtungsresultate kann man ersehen, warum das Ph\u00e4nomen mit Recht zugleich konstant und labil genannt werden darf. Und gerade diese, die T\u00e4uschung charakterisierende Eigenschaft bringt sie in Gegensatz zu anderen optischen T\u00e4uschungen, dr\u00e4ngt uns die \u00dcberzeugung auf, dafs es sich hier um etwas prinzipiell verschiedenes handelt. Alle T\u00e4uschungen sind in gewissem Sinne Beziehungst\u00e4uschungen, indem sie aus einem Vergleich mit anderen, bereits bekannten Objekten resultieren. Diese f\u00fcr den Vergleich in Betracht kommenden Objekte gibt im allgemeinen die Aufsenwelt her oder vielmehr derjenige Teil der Aufsenwelt, welcher das jedesmalige Sehfeld bildet. Hier, wo die Aufsenwelt unsichtbar gemacht ist, bleibt nur noch ein einziges, bis zu gewissem Grade in Bezug","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nHugo Feilchenfeld.\nauf die Lokalisation bekanntes, Objekt: das untersuchende Subjekt, auf welches sich von selbst die beziehende Vergleichung hinlenkt. Das AuBERTsche Ph\u00e4nomen ist eine T\u00e4uschung nicht in Beziehung auf die Aufsenwelt, sondern in Beziehung auf mich selbst.\nDafs der hierdurch bedingte Irrtum auch die Nachbild-lokalisation beherrscht, wird demnach selbstverst\u00e4ndlich erscheinen, da ja diese unter dem Zwange derselben Erfahrungsmotive steht oder entstanden ist wie die Lokalisation der Aufsen-dinge. Die einfachste Methode, die T\u00e4uschung am Nachbilde zu konstatieren, ist offenbar folgende: Man verschaffe sich bei aufrechter Kopfhaltung das h or iz ont ale Nachbild einer Lichtlinie, drehe den Kopf ein wenig \u00fcber die Horizontalstellung hinaus, so dafs das Nachbild trotz der Gegendrehung (im Hellen) vertikal steht. Durch abwechselndes Verdunkeln und Erhellen des Baumes \u00fcberzeuge ich mich, dafs das Nachbild ebenso wie eine objektive Lichtlinie die vertikale Richtung verl\u00e4fst und wieder annimmt. Nimmt man nicht \u201evertikal\u201c zum Ausgangspunkte der Vergleichung, so wird das Urteil zu unbestimmt und bedarf einer zweiten objektiven Lichtlinie als Unterst\u00fctzung, wie sie Aubert und in verbesserter Anordnung Sachs ben\u00fctzt hat. Dann kann man zugleich nachweisen, dafs der Grad der T\u00e4uschung f\u00fcr die Nachbildlinie in der Tat genau derselbe ist wie f\u00fcr die objektive. Diejenigen, die einen prompt wirkenden Lokalisationsmechanismus ihren Theorien zu Grunde legen, m\u00fcfste freilich die T\u00e4uschung, am Nachbilde festgestellt, um so mehr \u00fcberraschen, als gerade das Nachbild als ein untr\u00fcgliches, ge-wissermafsen \u00e4ufserlich sichtbares Zeichen der Augenstellung zu gelten pflegt. Auch Herings 1 Beobachtung, dafs das Nachbild w\u00e4hrend des PuRKiNjEschen Schwindels und der dabei stattfindenden heftigen Augenbewegungen ruhig bleibt, weist die Dissonanz zwischen Nachbildlokalisation und Augenstellung nur f\u00fcr unwillk\u00fcrliche Bewegungen nach. Doch bleibt der Aus-schlufs der Erfahrungsmotive \u2014 hier Schlufs der Augen \u2014 die\nnotwendige Bedingung, \u201eBeweis genug, dafs allein die Ver-\n\u2022 \u2022\nSchiebungen der Netzhautbilder .... mich \u00fcber die \u00c4nderungen meiner Augenstellung belehren.\u201c Das Problem der Nachbildlokalisation im Dunkeln, \u00fcber das bisher nur gelegentliche\n1 Hering: Beitr\u00e4ge zur Physiologie, H. 1, S. 30.","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lagesch\u00e4tzung bei seitlichen Kopfneigungen.\n137\nEinzelbeobachtungen vorliegen, k\u00f6nnte, systematisch untersucht, zur Kenntnis der Raumlokalisation im allgemeinen und der sie bestimmenden Faktoren noch manchen wertvollen Beitrag liefern. Hier interessiert es uns nur als strengeres Beweismittel daf\u00fcr, dafs die Kenntnis unserer Augenstellung in diesem Falle keine ausreichende Lokalisationsbedingung ist.\nHat man diese prinzipielle Eigent\u00fcmlichkeit des Ph\u00e4nomens erkannt, so liegt am n\u00e4chsten die Annahme, dafs die Schulterneigung des eignen Kopfes untersch\u00e4tzt wird. Bei Horizontalstellung desselben bildet sich die vertikale Lichtlinie auf dem anatomischen Netzhauthorizont ab.1 2 W\u00fcfste ich, dafs dieser nunmehr eine Drehung von 90 0 ausgef\u00fchrt hat und infolgedessen vertikal steht, so w\u00fcrde mein Urteil nach wie vor richtig ausfallen und objektiv Vertikales vertikal erscheinen, untersch\u00e4tze ich aber die Neigung, d. h. nehme ich an, dafs der Netzhauthorizont sich nur um die H\u00e4lfte, um 45 aus seiner fr\u00fcheren Lage gedreht habe, so verlege ich in dieselbe Richtung die Lichtlinie, welche sich auf diesem Netzhauthorizont abbildet, sie scheint um 45\u00b0 in entgegengesetztem Sinne abgewichen. Dieser Erkl\u00e4rung widerspricht die Tatsache, dafs wir zwar kleine Kopfneigungen unter-, grofse dagegen \u00fcbersch\u00e4tzen, w\u00e4hrend doch andererseits die T\u00e4uschung gerade nur bei letzteren auftritt, bei ersteren aber gar nicht, oder sogar im negativen Sinne. Die von Helmholtz 2 gegebene Erkl\u00e4rung wird also hinf\u00e4llig. Aubert hatte schon im voraus auf das Unzul\u00e4ngliche eines solchen Erkl\u00e4rungsversuches hingewiesen. Nach ihm handelt es sich um ein Vergessen der Kopfneigung. Er hat damit aber nur einen anderen Ausdruck f\u00fcr ann\u00e4hernd dieselbe Sache eingef\u00fchrt. Es w\u00fcrde n\u00e4mlich dann die Neigung zwar anfangs richtig und nach einiger Zeit erst zu gering gesch\u00e4tzt werden. Ich kann nicht finden, dafs das tats\u00e4chlich zutrifft. Die sehr unbequeme Lage, die der Kopf bei starker Neigung, z. B. von 120\u00b0, annimmt, macht sich, je l\u00e4nger sie eingehalten wird, um so deutlicher bemerkbar. Auch habe ich schon dargestellt, wie die Gegenbewegung der Neigung unmittelbar folgt, und durch Pendelbewegungen des Kopfes die\n1\tIch lasse in dem schematischen Beispiele die Gegenrollung aufser Betracht.\n2\tHelmholtz: Physiol. Optik. 2. Aufl., S. 762.","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nHugo Feilchenfdd.\nentgegengesetzten Pendelbewegungen der Linie hervorgerufen werden.\nWenn demnach die Erkl\u00e4rungen des \u201eUntersch\u00e4tzens\u201c und des \u201eVergessens\u201c den wirklichen Sachverhalt nicht richtig zum Ausdruck bringen, so handelt es sich doch um einen \u00e4hnlichen Vorgang, f\u00fcr den nur der gew\u00e4hlte Ausdruck nicht pafst. Die Differenz im Ausdruck ist hier aber gerade das Entscheidende und der Punkt, an den ich meine Betrachtung ankn\u00fcpfen m\u00f6chte. Beide Ausdr\u00fccke setzen voraus, dafs wir im allgemeinen eine gen\u00fcgende Kenntnis von unserer Augenstellung besitzen, dafs diese Kenntnis die Vorbedingung oder vielmehr die Ursache f\u00fcr die Lokalisation der Aufsendinge sei. Diese Kenntnis habe uns pl\u00f6tzlich oder allm\u00e4hlich verlassen. Wir wissen bereits, dafs beides in Wirklichkeit nicht der Fall ist, dafs vor allem die Kopfneigung im dunklen Raume nicht anders als im hellen beurteilt wird, also eine Ursache f\u00fcr das Ausbleiben des Ph\u00e4nomens in letzterem keine Erkl\u00e4rung f\u00e4nde. Die Kenntnis unserer Kopf- und damit unserer Augenstellung bleibt vielmehr so vollkommen oder unvollkommen wie sonst, und es zeigt eben das Ph\u00e4nomen, wie wenig diese Kenntnis zur richtigen Lokalisation der Aufsendinge ausreicht, sobald wir auf sie allein angewiesen sind. Es braucht nichts falsch gesch\u00e4tzt, es braucht nichts vergessen zu werden, wenn eine gen\u00fcgende Kenntnis von vornherein nie vorhanden gewesen, wenn dieselbe auch unter gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnissen nicht die wesentliche Bedingung der Lokalisation ist. Das Mafs der T\u00e4uschung ist der Mafsstab f\u00fcr den entscheidenden Einflufs, welchen die Abbildungsverh\u00e4ltnisse im Sehfelde f\u00fcr die Lagesch\u00e4tzung besitzen, w\u00e4hrend es zugleich angibt, wie weit die kin\u00e4sthetischen Empfindungen zur\u00fcckzutreten haben und welche Rolle ihnen immerhin zukommt. Der Kampf zwischen diesen beiden Faktoren ist die Ursache der von den Autoren beobachteten Scheinbewegungen, die wechselnde Macht, mit der bald dieser bald jener Mafsstab in den Vordergrund tritt, der Grund f\u00fcr die verschiedenen Resultate, die w\u00e4hrend einer Einzelbeobachtung oder bei Beobachtung zu verschiedenen Zeiten oder bei Beobachtungen verschiedener Individuen erzielt werden. Hier zeigt sich, wie labil die Grenzen sind, in denen beide Gebiete aneinander stofsen. In extremen F\u00e4llen kann das eine oder das andere die absolute Herrschaft erlangen. Ist aber einmal die","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lagesch\u00e4tzung bei seitlichen Kopfneigungen.\n139\nGrenzregulierung erfolgt, d. h. ist der Prozentsatz festgelegt, der auf den einen und der auf den anderen Mafsstab entf\u00e4llt, so ist damit auch der Winkel der T\u00e4uschung eindeutig bestimmt, jeder weiteren Kopfneigung entspricht eine proportionale Gegendrehung, und das Ganze vollzieht sich nach einer mathematisch abgestimmten Regel. So wird das zugleich Konstante und Schwankende, das uns an dieser T\u00e4uschung zun\u00e4chst r\u00e4tselhaft erscheint, zum charakteristischen Merkmal ihrer Eigenart und ihrer Ursache. Lipps 1 schr\u00e4nkt die Funktion der Bewegungsempfindungen dahin ein, dafs sie \u201emit der Einordnung der Gesichtseindr\u00fccke in das Sehfeld, also mit der Wahrnehmung gleichzeitig gesehener Objekte nichts zu tun haben. Dagegen g\u00e4ben Bewegungsempfindungen des Auges und nicht minder solche des Kopfes, des K\u00f6rpers, den Mafsstab ab zur Abmessung der Verschiebungen, welche das ganze Sehfeld und jeder Punkt desselben innerhalb des uns umgebenden, als ruhend gedachten Gesamtraumes erleiden.\u201c Unsere T\u00e4uschung weist darauf hin, dafs jener letztgenannte Einflufs zwar vorhanden ist, in welchem Sinne und in welchem Mafse er aber eine weitere Einschr\u00e4nkung erf\u00e4hrt. Bereits Aubert hebt das Wesentliche der T\u00e4uschung richtig hervor: \u201eWir sehen nicht eine Drehung der hellen Linie. Diese bleibt vielmehr an Ort und Stelle. Der umgebende Raum dreht sich, unsere Vorstellung von oben und unten, rechts und links ist ver\u00e4ndert.\u201c\nDiese modifizierte Auffassung bringt uns nun den Grund, den uns die anderen Erkl\u00e4rungsversuche schuldig geblieben sind, daf\u00fcr, dafs die T\u00e4uschung nur im Dunklen, nicht aber im Hellen auftritt. Wir sind gew\u00f6hnt das f\u00fcr vertikal zu halten, was sich auf dem mittleren L\u00e4ngsschnitt des Doppelauges abbildet. Da die aufrechte Kopfhaltung die h\u00e4ufigste ist \u2014 wenigstens soweit wir \u00fcberhaupt Beobachtungen anstellen1 2 \u2014 ist in der Entwicklung der Rasse und des Individuums zur genetischen Ausbildung dieses Wechselverh\u00e4ltnisses zwischen\n1\tLipps: Eine falsche Nachbildlokalisation. Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol. 1.\n2\tMulder h\u00e4lt es f\u00fcr auffallend, dafs die T\u00e4uschung am st\u00e4rksten auftritt bei horizontaler Lage auf einem Ruhebette, \u201eeiner Lage, die n\u00e4chst der vertikalen f\u00fcr uns die gew\u00f6hnlichste ist, da wir ja ungef\u00e4hr ein Drittel des Lebens in dieser Haltung verbringen.\u201c Es ist eben zu ber\u00fccksichtigen, dafs dieses Drittel des Lebens nicht zu Beobachtungszwecken ben\u00fctzt wird.","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nHugo Feilchenfeld.\nobjektiv Vertikalen und mittlerem L\u00e4ngsschnitt die fortdauernd zwingende Ursache gegeben. Von zahlreichen Dingen haben wir auf diese Weise ihre vertikale Richtung in Erfahrung gebracht: einem mit Gewicht beschwerten Faden, Schornsteinen, T\u00fcrmen, der Linie, in der zwei Zimmerw\u00e4nde aneinander stofsen. Solche Dinge von bereits bekannter Erscheinung halten wir nicht f\u00fcr schief, selbst wenn sie sich infolge einer zuf\u00e4lligen Kopfdrehung ausnahmsweise auf einem Nebenl\u00e4ngsschnitte abbilden. Es ist die Erfahrung, die solchen Irrtum nicht auf-kommen l\u00e4fst, indem sie gewissermafsen die Abbildungsverh\u00e4ltnisse korrigiert und die \u00dcbereinstimmung zwischen Seh- und Tastraum wiederherstellt. Wie wir bekannte Gegenst\u00e4nde ihrer Gr\u00f6fse nach richtig beurteilen, unabh\u00e4ngig von der Entfernung (Gesichtswinkel -Bildgr\u00f6fse) in der wir sie sehen, so beh\u00e4lt auch ein Objekt, dessen vertikale Richtung bereits unzweifelhaft feststeht, bei Kopfneigung f\u00fcr unser Urteil diese Lage bei. Sobald auch nur ein einziger derartiger, im Sehfeld befindlicher Gegenstand eine solche \u201eUmwertung\u201c bewirkt, d. h. einen Nebenl\u00e4ngsschnitt zum vertikalempfindenden gestempelt hat, so gilt diese Umwertung nat\u00fcrlich f\u00fcr das ganze Sehfeld, auch f\u00fcr, bisher ihrer Lage nach unbekannte Objekte, einen T\u00fcrspalt, eine Lichtlinie ; und eine Lokalisationst\u00e4uschung kann erst eintreten in dem Augenblick, in dem alle jene Erfahrungsmotive beseitigt sind, im Dunkeln. Schon Mulder hat festgestellt, dafs auch jede andere Versuchsanordnung, wenn sie nur die Erfahrungsmotive ausschliefst, dieselbe T\u00e4uschung herbeif\u00fchrt; man erh\u00e4lt sie, wenn man durch eine lange, direkt an das Auge anschliefsende R\u00f6hre blickt. Nicht einmal dies ist n\u00f6tig; und bei mir trat die T\u00e4uschung nicht minder intensiv auf, wenn ich auf einen lotrecht vor einer gleich m\u00e4fsig grauen Fl\u00e4che auf geh\u00e4ngten, schwarzen Faden blickte. Die Fl\u00e4che mufs nur so grofs und der Faden so lang sein, dafs ihre Grenzen resp. seine Enden nicht ins Gesichtsfeld fallen, was man um so leichter erreicht, je mehr man sich der Fl\u00e4che n\u00e4hert.\nEinen noch labileren Charakter erh\u00e4lt die Umwertung, wenn wir bedenken, dafs die resultierende T\u00e4uschung gar nicht diejenige Intensit\u00e4t besitzt, die wir nach unserer schematischen Darlegung erwarten sollten, auch dann nicht, wTenn wir den Betrag der entgegengesetzt wirkenden \u201edauernden Gegenrollung\u201c von vornherein in Abrechnung bringen. Die sich jetzt noch er-","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lagesch\u00e4tzung bei seitlichen Kopfneigungen.\n141\ngebende Differenz ist, wie bereits angedeutet wurde, auf Rechnung der kin\u00e4sthetischen Empfindungen zu setzen. Wir kommen also zu dem merkw\u00fcrdigen Resultat, dafs einerseits den Netzhautmeridianen \u2014 in diesem Falle den L\u00e4ngsschnitten \u2014 ein sehr entschiedenes topogenes Moment zukommt, dafs dieses andererseits wiederum wenig stabil ist und durch einen anderen Faktor zum Teil kompensiert werden kann, und zwar je nach zeitlichen und individuellen Verh\u00e4ltnissen in verschiedenem Mafse. Nach einer solchen Auffassung bleibt der mittlere L\u00e4ngsschnitt nicht etwa vertikalempfindend bei allen Kopfdrehungen ; es gibt vielmehr keinen L\u00e4ngsschnitt, dem diese F\u00e4higkeit dauernd zukommt, sie wechselt von Winkel zu Winkel, und immer neue L\u00e4ngsschnitte nehmen sie an, regelm\u00e4fsig aber ein solcher, der dem mittleren verh\u00e4ltnism\u00e4fsig zu nahe liegt. Nur hierin zeigt sich das topogene Moment des Netzhautmeridianes.\nMan k\u00f6nnte einwenden, dafs damit die Existenz desselben \u00fcberhaupt an Wahrscheinlichkeit eingeb\u00fcfst hat und ein topogenes Moment wenig Glauben verdient, welches das wesentliche Charakteristikum eines solchen, die Stabilit\u00e4t, nicht besitzt und damit auch den Vorteil, den es uns bringen k\u00f6nnte, einen konstanten Mafsstab f\u00fcr die Orientierung, verloren hat. Aber analoge klinische Beobachtungen weisen auf das Vorhandensein und die gleichzeitige Unsicherheit dieses Momentes hin, so die Ausbildung neuer Identit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse bei Schielenden und ihre R\u00fcckbildung nach der Operation. Wundt 1 teilt die interessante Selbstbeobachtung mit, dafs eine Metamorphopsie, die durch Netzhautexsudate, also eine gegenseitige Verschiebung der Sehzellen, hervorgerufen war, sich im Laufe eines Jahres wieder ausgeglichen habe, ohne dafs, seiner Ansicht nach, dieser Ausgleich auf eine v\u00f6llige R\u00fcckbildung des anatomischen Prozesses bezogen werden k\u00f6nnte. Man beachte, eine um wieviel schwierigere Kompensation hier das Urteil zu leisten hatte, wenn auch freilich nicht zu verkennen ist, dafs es hier Umwertungen von mehr oder weniger langer Dauer, dort aber von best\u00e4ndigem Wechsel schafft.\nF\u00fcr diese eigenartig labilen Verh\u00e4ltnisse gewinnen wir erst vom genetischen Gesichtspunkte aus Verst\u00e4ndnis. Nagel 2 jun.\n1\tWundt : Zur Theorie der r\u00e4uml. Gesichtswahrnehmungen. Philosoph. Studien 14.\n2\tNagel : Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol. 12, S. 350 u. a. a. 0.","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nHugo Feilchenfeld.\nwies bei zahlreichen Tierarten nach, dafs sie imstande sind, Bewegungen des K\u00f6rpers durch solche des Kopfes1 oder des Auges vollkommen zu kompensieren. Bei diesen Tierarten kann der Mittelschnitt dauernd vertikal empfindend bleiben, jedes einzelne Netzhautelement sein topogenes Moment behalten, und alle Umwertung er\u00fcbrigt sich. F\u00fcr den aufrecht gehenden Menschen ist das Bed\u00fcrfnis nach K\u00f6rperneigungen seltener geworden und im selben Mafse die F\u00e4higkeit, sie zu \u00fcberwinden, geringer. Nur momentane Neigungen finden in der \u201evor\u00fcbergehenden Gegenrollung\u201c noch ausreichende Kompensation. Die dauernde ist als \u201erudiment\u00e4rer Reflex\u201c einer fr\u00fcher zweck-m\u00e4fsigen Einrichtung \u00fcbrig geblieben. Sie ist nur noch geeignet die Orientierung zu verwirren.2\nUnd in der Tat, wem etwa eine unvollkommene und labile Umwertung unannehmbar erscheint, den w\u00fcrden wir fragen: was k\u00f6nnte eine mathematisch arbeitende Umwertung gegen\u00fcber der, in ihrer Intensit\u00e4t wechselnden Gegenrollung n\u00fctzen, die im Gefolge unbewufster und unwillk\u00fcrlicher, ebenso wie im Gefolge bewufster und beabsichtigter Kopfneigungen auftritt? Wollte die Seele bei der Umwertung auch die Gegenrollung in Betracht ziehen, m\u00fcfste sie dann nicht von dem wechselnden Betrage derselben eine jedesmalige Kenntnis haben? Da aber die Gegenrollung doch vom Willen unabh\u00e4ngig ist, so w\u00fcrde solche Kenntnis nicht einmal durch sogen. Innervations-empfindungen vermittelt werden k\u00f6nnen ; und wir w\u00fcrden in die Phase der Muskel- und Kontraktionsempfindungstheorie geraten. Die Unvollkommenheit der Umwertung wird uns also nicht mehr bedenklich, sondern selbstverst\u00e4ndlich erscheinen ; und eine optische T\u00e4uschung ist eben immer der Ausdruck irgend einer Unvollkommenheit des Sehorgans, in diesem Falle einer genetisch durch die einseitigeren Zwecke des fortgeschrittenen menschlichen Bed\u00fcrfnisses begr\u00fcndeten. Die fr\u00fchere Richtschnur, die kompensierende Raddrehung leitet nicht\n1\tMan beachte, dafs Tiere, die nicht auf dem Erdboden leben (V\u00f6gel, Fische), den Kopf aufrecht und den K\u00f6rper geneigt halten k\u00f6nnen.\n2\tSachs (.Zeitschr. f. Augenheilk. 3, S. 302) macht darauf aufmerksam, dafs sie bei der, nicht seltenen, H\u00f6hendifferenz beider Augen n\u00fctzlich werden kann: Durch Kopfneigung werden zun\u00e4chst die Netzhautmitten in die horizontale Blickebene gebracht, durch Gegenrollung die Mittelquerschnitte.","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lagesch\u00e4tzung bei seitlichen Kopfneigungen.\n143\nmehr. So weit ein neues Bed\u00fcrfnis es notwendig macht, tritt eine neue F\u00e4higkeit, die Umwertung, in Kraft, die keinen automatischen Mechanismus, sondern einen labilen psychischen Vorgang darstellt.\nDie \u201eUmwertung\u201c, f\u00fcr die ich den Ausdruck von Sachs entlehnt habe, erscheint dadurch in einer, dem Sinne nach etwas abweichenden Bedeutung. Sie ist unter dem Einfl\u00fcsse der Erfahrungsmotive entstanden, hat sich aber im allgemeinen von demselben freigemacht. Nur bei schulterw\u00e4rts gerichteten Kopfneigungen macht sich solche Abh\u00e4ngigkeit noch bemerkbar, nirgends sonst. So nimmt ja auch die T\u00e4uschung in der Gesamtheit der optischen T\u00e4uschungen eine Ausnahmestellung ein, wie bereits einleitend bemerkt wurde : Sie resultiert nicht aus einem Vergleich mit anderen, sei es gleichzeitig, sei es fr\u00fcher gesehenen Objekten, sondern aus einer Beziehung auf das untersuchende Subjekt, auf mich selbst. Sie kann als solche h\u00f6chstens mit den autokinetischen Empfindungen unter eine gemeinsame Rubrik gebracht werden. W\u00e4hrend jedoch diese nur im allgemeinen darauf hin weisen, dafs die Kenntnis unserer Augen- resp. Kopfstellung unsicher ist oder unvollkommen verwertet wird, zeigt jene die Unvollkommenheit bei einer willk\u00fcrlich erzeugten Kopf- resp. Augenbewegung\u00bb\nDie Ausnahmestellung, die in dieser Beziehung den Schulterneigungen des Kopfes, also den Drehungen um die Sagittalachse, zukommt, findet ihre Erkl\u00e4rung und ihre Parallele in der Ausnahmestellung, welche ja auch die sagittalen Kompensationsbewegungen einnehmen. Wir wissen bereits, dafs die kompensierende Gegendrehung beim Menschen eine unvollkommene ist. Demgegen\u00fcber verf\u00fcgen diejenigen Blickbewegungen, die im \u201egew\u00f6hnlichen Leben\u201c am h\u00e4ufigsten Vorkommen, Hebung, Senkung, Seitenwendung, \u00fcber einen viel feineren und schmiegsameren Mechanismus. Hier k\u00f6nnen nicht nur Kopf- und Augenbewegungen vikariierend f\u00fcr einander eintreten, was bei den Seitenneigungen ganz ausgeschlossen ist, die Augenbewegungen verm\u00f6gen auch die des Kopfes vollkommen zu kompensieren. Also: wenn wir w\u00e4hrend der Beobachtung eines Objektes den Kopf um die vertikale oder um die frontale Achse drehen, so gleicht der Blick die Drehung v\u00f6llig aus, und das Netzhautbild beh\u00e4lt seinen Ort bei; solange dem Objekt die Aufmerksamkeit zugewandt ist, wird","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nHugo Feilchenfeld.\njeder kleinste Bild Wechsel, den eine willk\u00fcrliche oder unwillk\u00fcrliche Kopf bewegung zu erzeugen im Begriff ist, exakt kompensiert. Erst die Drehung um die Sagittalachse tritt mit der neuen Forderung an uns heran, eine Umwertung aufzubringen, der keine Aufmerksamkeits\u00e4nderung entspricht. \u00dcberall sonst ist die, mit der Aufmerksamkeits\u00e4nderung einhergehende Bewegungsabsicht Umwertungsmittel. Also sind wir gar nicht darauf einge\u00fcbt in diesem Ausnahmefalle das Bewusstsein oder die Kenntnis unserer Kopfstellung f\u00fcr die Lokalisation zu verwerten, sie in die Deutung des Netzhautbildes einzutragen. Und das bringt eben gerade unsere T\u00e4uschung zum Ausdruck: das\u2019Vorstellungsbild des Kopfes wird unvollkommen in die Ausdeutung des Netzhautbildes eingetragen.\nIch suchte nun den Gegensatz, der sich hier zwischen den Drehungen um die Vertikale oder Frontale einerseits und denen um die Sagittale andererseits bemerkbar macht, zu eliminieren. Hierzu benutzte ich folgenden kleinen Apparat: Ein zirka 3/4 m langer Holzstab verbindet ein Beifsbrettchen mit einer schwarzen Pappr\u00f6hre, \u00fcber die ein Deckel gesetzt werden kann, der in der Mitte einen mit weifsem Papier verklebten Lichtspalt tr\u00e4gt. Der Deckel l\u00e4fst sich auf der Bohre beliebig drehen, so dafs der Spalt eine vertikale, horizontale oder schr\u00e4ge Lage annimmt. Ein grofses schwarzes Tuch ist \u00fcber Kopf und Bohre ausgebreitet, an letzterer festgeheftet. Der Stab mufs, um Schwankungen zu vermeiden, recht fest sein und infolgedessen durch die rechte Hand leicht gest\u00fctzt werden, da das Gebifs allein nat\u00fcrlich nicht tragf\u00e4hig genug ist. So haben wir einen Apparat, der die Erfahrungsmotive ausschliefst und gleichzeitig bewirkt, dafs die Bewegungen des Objektes genau denen des Kopfes entsprechen. Jetzt wird also die kompensatorische Augenbewegung, die nur bei den Drehungen um die Vertikale und Frontale vollkommen ist, \u00fcberfl\u00fcssig. In der Tat tritt w\u00e4hrend der Schulterneigung keine T\u00e4uschung mehr auf. Auch bei l\u00e4ngerer Einhaltung starker Schulterneigungen ist jetzt die T\u00e4uschung nur wenig zwingend. Nat\u00fcrlich nimmt sie zu, je mehr der Ausgangspunkt der Objektbewegung sich aus dem Bewufstsein verliert. \u00c4hnliches kann man aber auch bei der Seitenwendung, Hebung und Senkung konstatieren. Dieses Besultat ist darum bedeutungsvoll, weil nicht nur der fr\u00fchere Gegensatz zwischen letzteren Blickrichtungen und der Seiten-","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lagesch\u00e4tzung hei seitlichen Kopfneigungen.\n145\nneigung eliminiert ist, sondern sich ein umgekehrter Gegensatz eingeschlichen hat. Fr\u00fcher war bei jenen die Kompensationsdrehung st\u00e4rker (vollkommen) als bei dieser; jetzt bleibt bei dieser die geringe, reflektorisch erzeugte Gegendrehung unver\u00e4ndert bestehen, w\u00e4hrend sie bei jenen ganz auf geh\u00f6rt hat. Die A\u00fcBERTsche T\u00e4uschung hat aber an Intensit\u00e4t erheblich ein-geb\u00fcfst; also ist nicht die Gegendrehung als solche die Ursache der T\u00e4uschung, sondern die Unvollkommenheit der Gegendrehung, resp. die Unf\u00e4higkeit, jene Unvollkommenheit durch psychische Umwertung zu ersetzen.\nNur insofern hat die Ermittlung dieser Unf\u00e4higkeit eine prinzipielle Bedeutung, als sie einen Einblick gew\u00e4hrt in die, unter empirischen Einfl\u00fcssen stehende Entwicklung der Umwertung. Wir haben hier einen Ausnahmefall vor uns, in dem die Umwertung unvollkommen ist, die Kenntnis unserer Augenstellung als Lokalisationsbedingung nicht ausreicht. Dabei bleibt die Frage ganz aus dem Spiele, wie die Kenntnis der Augenstellung zu st\u00e4nde kommt, ob die Lage des Auges selbst empfunden wird, oder die seelische Anstrengung, es in eine bestimmteLage zu bringen (Innervationsempfindung), oder ob allein der Wille, der diesem Innervationsimpulse vorausl\u00e4uft, ins Bewufstsein tritt. \u201eHabe ich eine Augenstellung willk\u00fcrlich hervorgerufen, so weifs ich freilich im voraus die Richtung und ungef\u00e4hre Gr\u00f6fse der Bewegung ; denn sonst h\u00e4tte ich eben die Bewegung nicht wollen k\u00f6nnen.\u201c (Hering.) Zur L\u00f6sung dieser, an sich bedeutungsvollen prinzipiellen Streitfrage ist unser Ph\u00e4nomen nicht geeignet. Alle drei Annahmen haben eine vollkommene Lokalisation zur Voraussetzung, eben diese Voraussetzung sollen sie erkl\u00e4ren. Darin aber liegt die prinzipielle Bedeutung unseres Ph\u00e4nomens, dafs sie eine Unvollkommenheit der Lokalisation aufdeckt, und diese Unvollkommenheit bereitet den Anh\u00e4ngern entgegengesetzter Dichtung gleiche Schwierigkeit.\nDas System von Sachs ist nun darauf gerichtet, den\npsychischen Vorgang der Umwertung oder, wenn wir Herings\n\u2022 \u2022\nAusdruck gebrauchen, die \u201e\u00c4nderung der absoluten Raum werte\u201c von empirischen Elementen ganz zu befreien; sie hat bei ihm nicht mehr den labilen Charakter einer werdenden oder gewordenen Einrichtung, sondern den eines pr\u00e4zise funktionierenden Mechanismus. Wie wir sahenv kann man mit dieser Annahme\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 31.\t10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nHugo F eilohen feld.\nim allgemeinen nicht auf Schwierigkeiten stofsen; und in der Tat erwies sich ihm f\u00fcr die Lage Sch\u00e4tzung1 >2 wie f\u00fcr die Gr \u00f6fsenSch\u00e4tzung 3 die Umwertung, die er unter Ausschaltung der \u201eBewegungsempfindungen\u201c jenen zu Grunde legte, \u00fcberall als vollkommen. Bei letzterer deutet Sachs freilich selbst an, dafs er ein wenig \u00fcber Hering hinausgeht. W\u00e4hrend dieser das Verh\u00e4ltnis nur in der Weise \u201everanschaulicht,\u201c dafs \u201eder Mafsstab, nach dem wir unseren subjektiven Raum messen, ein anderer werde, dafs wir \u2014 hei gr\u00f6fserer N\u00e4he \u2014 gleichsam das Netzhautbild mit einem kleineren Faktor multiplizieren,\u201c 4 nimmt Sachs diesen psychischen Vorgang in mehr w\u00f6rtlichem, also mathematischem Sinne und entwickelt den HERiNGschen Gedanken \u201edafs die St\u00e4rke der Vergr\u00f6fserung im allgemeinen von derjenigen abh\u00e4ngig ist, die ich n\u00f6tig habe, um das betrachtete Ding auf ihre mir l\u00e4ngst bekannte Gr\u00f6fse zu bringen\u201c dahin weiter, dafs man sich die Gr\u00f6fsensch\u00e4tzung unabh\u00e4ngig vorstellen kann von einerbereits bestehenden Kenntnis der Gr\u00f6fse eines Gegenstandes, der das Mafs der Vergr\u00f6fserung des Netzhautbildes abgeben soll\u201c.5 Es ist hier nicht der Ort, \u00fcber eine Hypothese zu diskutieren, die weitgehende metaphysische Spekulationen \u00fcber die F\u00e4higkeit der Seele zur Voraussetzung hat. Man kann anerkennen, dafs sie f\u00fcr den Versuch, die Ausscheidung des empiristischen Elementes bis zur letzten Konsequenz durchzuf\u00fchren, der entsprechende Ausdruck ist. Wir begn\u00fcgen uns hier auf S. 142 hinzuweisen, wonach die Tatsache, dafs die reflektorischen Gegendrehungen keine Scheinbewegung zur Folge haben, sich in einem solchen System schwer unterbringen l\u00e4fst. In Parallele zu dieser Tatsache steht die unvollkommene und labile Umwertung bei Neigungen des Kopfes gegen die Schulter.\nDa Sachs nunmehr auch die \u201eoptische Orientierung bei Neigung des Kopfes gegen die Schulter\u201c als Untersuchungsobjekt\n1\tSachs u. Wlassak: Die optische Lokalisation d. Medianebene. Zeitschrift f. Psychol, u. Physiol. 22.\n2\tSachs: Zur Symptomatologie der Augenmuskell\u00e4hmungen, v.Graefes-Arch. f. Ophth. 44, S. 320.\n3\tSachs: Zur Erkl\u00e4rung der Mikropie bei Akkomodationsparese. v. Graefes Arch. f. Ophth. 44, S. 87 und die Erwiderung gegen Koster ebenda 46.\n4\tHering : Beitr\u00e4ge zur Physiologie, S. 19.\n5\ta. a. O. S. 98 (im Text kein Sperrdruck).","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lagesch\u00e4tzung hei seitlichen Kopfneigungen.\n147\nin Angriff genommen hat, durfte man darauf gespannt sein, wie es diese mit seinem System in Einklang bringen w\u00fcrde. S. 400 heilst es:\t*\n\u201eDie \u00bbimpulsive\u00ab Umwertung........kann nicht das einzige, die\nLokalisation beeinflussende Moment sein. Wie uns scheint ist dieses\u201c \u2014 gemeint ist wohl: ein ferneres \u2014 \u201eMoment darin gelegen, dafs die Vorstellung des verdrehten Kopfes um so mehr in das aus den Netzhautempfindungen aufgebaute Anschauungsbild des Raumes eingetragen wird, je mehr der Kopf geneigt wird; oder mit anderen Worten, dafs die Unterscheidung von oben und unten (die Empfindung der Richtung der Schwerkraft) f\u00fcr die Ausdeutung des Netzhautbildes bei st\u00e4rkeren Kopfneigungen zum dominierenden Faktor wird. Insofern hierdurch allein schon eine Erkennung der Richtungen im Raume..........gegeben w\u00e4re, ist die im-\npulsive Umwertung, die demselben Zwecke diente, \u00fcberfl\u00fcssig: das Zusammentreffen beider Momente mufs die Lokalisation im Sinne einer Uberkompensation beeinflussen.\u201c\nIch lasse den Einwand anfser Betracht, dafs jene Empfindung der Schwerkraft, des \u201eoben und unten\u201c, kein neues Moment ist, sondern gleichfalls nur eine Funktion der Labyrintherregungen, die die impulsive Umwertung eben bedingen. Man brauchte dann den SACHSschen Gedanken nur etwa folgendermafsen auszudr\u00fccken : die Umwertung w\u00e4chst nicht in demselben Verh\u00e4ltnis wie die Kopfdrehung, sondern schneller als diese, und dieses schnellere Wachstum ist eine Folge der, sich mit wachsender Kopfneigung bemerklicher machenden Wirkung der Schwerkraft. Die Dichtigkeit der Annahme vorausgesetzt, ist zuzugeben, dafs auf diese Weise eine \u201e\u00dcberkompensationa, d. h. eine \u00fcber das Ziel hinausschiefsende Umwertung zu st\u00e4nde kommen m\u00fcfste. Sachs findet: \u201edies ist auch tats\u00e4chlich der Fall; denn bei h\u00f6hergradiger Kopfneigung erscheint eine Linie senkrecht, die sich auf einem Meridian abbildet, der \u2014 wenn blofs die impulsive Umwertung best\u00e4nde, schon bei einer Kopfneigung geringeren Grades vertikalempfindend werden m\u00fcfste.\u201c Wenn aber eine verh\u00e4ltnism\u00e4fsig zu starke Kopfneigung notwendig ist, um einen Meridian vertikalempfindend zu machen, so w\u00fcrde ich daraus im Gegenteil entnehmen, dafs die Gesamtumwertung zu gering, also die \u201eimpulsive\u201c nicht einmal in ihrem ganzen Betrage vorhanden ist. Bei einer Kopfneigung von 90\u00b0 liegt der Mittell\u00e4ngsschnitt L horizontal. W\u00fcrde die Umwertung ebenso wie die Kopfdrehung 90\u00b0 betragen, so\nw\u00fcrde b vertikalempfindend; sie betr\u00e4gt aber nur 60\u00b0; darum\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\tHugo Feilchenfeld.\nwird a vertikalempfindend, und es kommt eine T\u00e4uschung von 30\u00b0 zu st\u00e4nde. (Fig. 1.)\nEine unvollkommene Umwertung ist demnach der Erkl\u00e4rungsgrund der T\u00e4uschung, ohne den wir nicht mehr aus-kommen k\u00f6nnen, sobald wir uns von einer fehlerfreien Lokalisation des Kopfes \u00fcberzeugt haben. Nun haben Nagel und ebenso Sachs darauf aufmerksam gemacht, dafs eine Untersuchung der T\u00e4uschung bei Taubstummen von Interesse sein d\u00fcrfte. Da wir eine fehlerhafte Kopflokalisation nicht annehmen, so erscheint uns ein Unterschied im Verhalten der Taubstummen und Normalen gegen\u00fcber unserer T\u00e4uschung von vornherein nicht wahrscheinlich ; gerade in diesem Sinne konnte uns die Pr\u00fcfung der Taubstummen wertvoll werden. Zu diesem Zwecke war eine Auslese auf Grund eines etwaigen Fortfalls der reflektorischen Gegenrollungen angezeigt. Nach Aubert 1 sind die Bogeng\u00e4nge 1. ein sensibles Organ, welches uns \u00fcber die von Kopf und K\u00f6rper ausgef\u00fchrten Drehbewegungen unterrichtet, 2. ein exci-tomotorisches Organ, welches die kompensatorischen Be wegungen der Aug\u00e4pfel reflektorisch hervorruft. So tritt bei der Drehung des K\u00f6rpers um seine Achse in der Tat einerseits Scheinbewegung und Schwindel, andererseits starkes seitliches Augenzucken ein. Schwindel1 2 3 sowohl wTie Augenzucken8 f e h 1 e n bei Taubstummen mit Labyrinthst\u00f6rung. Aus diesem Grunde lag f\u00fcr uns die Frage nahe, ob diesen auch die reflektorischen Gegenrollungen fehlen. Eine so ausgew\u00e4hlte Gruppe liefs nach Analogie\n1\tAubert: Physiologische Studien \u00fcber die Orientierung. T\u00fcbingen, Haupt, 1888.\n2\tJames: Sense of dizziness in deafmutes. Harw. Un. Americ. Journ. of Otol. 1883. (Zit. nach Kreidl.)\n3\tKreidl: Pfl\u00fcgers Arch. 41, S. 124.","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lagesch\u00e4tzung bei seitlichen Kopfneigungen.\t149\nder jAMEs-KBEiDLschen Feststellungen am ehesten einen Fortfall der T\u00e4uschung erwarten, wenn man \u00fcberhaupt eine labyrinth\u00e4re Ausl\u00f6sung derselben zugeben will. Ich hoffte auch, so einen weiteren entscheidenden Beweis zu erlangen, dafs die Gegenrollungen als solche \u00e4tiologisch nicht in Betracht kommen. Es stellte sich aber heraus, dafs unter 60 Sch\u00fclern, die ich in Gemeinschaft mit Herrn Professor Nagel in der hiesigen k\u00f6nigl. Taubstummenanstalt unter g\u00fctiger Unterst\u00fctzung des Herrn Direktor Schulrat Walter untersuchte, alle reflektorische Gegenrollungen hatten. Ich w\u00e4hlte daher solche aus, die unter der Gesamtzahl der Z\u00f6glinge durch ihren schl\u00fcrfenden Gang auffielen. Diese zeigten gleichzeitig das KREiDLsche Ph\u00e4nomen.\nIch habe 7 Knaben im Alter von 9 bis 14 Jahren gepr\u00fcft, wobei mir Herr Taubstummenlehrer Mahner freundlichst zur Seite stand. Zwei Br\u00fcder und ein dritter sind taub geboren; einer, 12 j\u00e4hrig, vor 3 Jahren nach Scharlach (Otitis media) ertaubt, 3 nach Kr\u00e4mpfen in den ersten Lebensjahren, 1 Ursache unbekannt. Die Kinder sind intelligent und machen zuverl\u00e4ssige Angaben. Alle lokalisierten die Lichtlinie im Hellen richtig, selbst bei st\u00e4rksten Kopfneigungen. Im Dunklen trat bei allen die T\u00e4uschung im AuBERTschen Sinne auf ; sie wurde bald bei nach rechts, bald bei nach links gedrehtem Kopfe durch Auf blitz versuche festgestellt. Ich gebe keine Zahlen an, da ich den Grad der Kopfdrehung nicht genau festgestellt habe und betone nur, dafs die T\u00e4uschung weder st\u00e4rker noch geringer war als bei dem Durchschnitt der Normalen. Bei den, doch erheblichen, zeitlichen und individuellen Schwankungen, die das Ph\u00e4nomen an sich zeigt, w\u00fcrden kleine Differenzen auch gar nichts beweisen. Nur bei einem Knaben war die T\u00e4uschung auffallend stark, ungef\u00e4hr:\nKopfneigung\tT\u00e4uschung\n(in Grad)\t(in Grad)\n20\t0\n30\t15\n50\t25\n70\t35\n90\t45\n100\t45\n120\t60\nWenn man einer solchen Einzelbeobachtung \u00fcberhaupt Bedeutung beimessen will, so k\u00f6nnte man aus derselben den Schlufs","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nHugo Feilchenfeld.\nziehen, dafs zn der nnvollkommenen Umwertung der Normalen hier noch eine unvollkommene Kenntnis der Kopfstellung als neuer Faktor hinzutrat und die T\u00e4uschung verst\u00e4rkte. Viel wichtiger ist, dafs bei Taubstummen die T\u00e4uschung \u00fcberhaupt zu st\u00e4nde kommt und jedenfalls nicht verringert ist. Sie unterscheidet sich dadurch von einer anderen T\u00e4uschung \u00fcber die Vertikale, die in demselben Sinne erfolgt und die Mach 1 2 f olgendermafsen beschreibt :\n\u201eF\u00e4hrt man auf der Eisenbahn durch eine Kr\u00fcmmung, so scheinen die B\u00e4ume von der vertikalen abzuweichen, und zwar scheint sich ihr Gipfel auf der konvexen Seite der Kr\u00fcmmung von der Bahn wegzuneigen. Andererseits bemerkt man oft auch eine Schiefstellung der Wagen und h\u00e4lt dann die B\u00e4ume f\u00fcr vertikal. \u2014 Die Schiene wird bekanntlich auf der konvexen Seite der Kr\u00fcmmung h\u00f6her gelegt, um die Wirkung der Zentrifugalkraft zu kompensieren. Der H\u00f6henunterschied kann aber nur einer einzigen Fahrgeschwindigkeit entsprechen. Die beiden erw\u00e4hnten, einander widersprechenden Facta kl\u00e4ren sich nun einfach auf, wenn man annimmt, dafs man die Richtung der Vertikalen empfindet und stets die Richtung der aus Schwere und Zentrifugalkraft resultierenden Massenbeschleunigung f\u00fcr die Vertikale h\u00e4lt. F\u00e4hrt man mit jener Geschwindigkeit, welche der Kr\u00fcmmung und dem H\u00f6henunterschiede entspricht, so weifs man nichts von der Schiefstellung des Wagens. Dann scheinen die B\u00e4ume schief, in jedem anderen Falle der Wagen.\u201c\nDie T\u00e4uschung erinnert an die unsrige so sehr, dafs man versucht ist, beide in Beziehung zu einander zu bringen. Aber der entscheidende Gegensatz besteht darin, dafs hier in der Tat eine falsche Lokalisierung des K\u00f6rpers und Kopfes zu Grunde liegt ; und so hat auch Kkeidl 2 Verringerung resp. Fortfall dieser vestibular ausgel\u00f6sten T\u00e4uschung bei Taubstummen gefunden.\n1\tMach: Lehre von den Bewegungsempfindungen S. 23.\n2\ta. a. O. S. 141.\n(Eingegangen am 23. Dezember 1902.)","page":150}],"identifier":"lit32939","issued":"1903","language":"de","pages":"127-150","startpages":"127","title":"Zur Lagesch\u00e4tzung bei seitlichen Kopfneigungen","type":"Journal Article","volume":"31"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:36:47.987669+00:00"}