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{"created":"2022-01-31T14:40:15.348489+00:00","id":"lit32941","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ziehen, Th.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 31: 215-219","fulltext":[{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Hypothese\n\u00fcber den sog. \u201egef\u00fchlserzeugenden Prozefs\u201c.\nVon\nProf. Th. Ziehen in Utrecht.\nDetaillierte hypothetische Konstruktionen der physiologischen Parallelprozesse unserer psychischen Erscheinungen haben bis jetzt selten Nutzen gestiftet. Meistens reichen unsere tats\u00e4chlichen Kenntnisse zu solchen detaillierten Konstruktionen nicht aus. Selbst der grofsartige Entwurf Exneks scheint mir an dieser L\u00fcckenhaftigkeit unserer Kenntnisse gescheitert zu sein. Wenn ich daher heute trotz dieser Einsicht selbst eine speziellere hypothetische Konstruktion des physiologischen Parallelprozesses f\u00fcr eine bestimmte Gruppe der psychischen Erscheinungen mitteile, so geschieht das, weil ich mit Hilfe derselben ziemlich zahlreiche Erscheinungen zusammenfassen und relativ einfach beschreiben zu k\u00f6nnen glaube.\nEs handelt sich um den sog. gef\u00fchlserzeugenden Prozefs, d. h. um diejenige Komponente1 des materiellen Erregungsprozesses unserer Hirnrinde, welche den sensoriellen und intellektuellen Gef\u00fchlst\u00f6nen und deren Resultanten, den Affekten und Stimmungen, entspricht. Bekanntlich hat man f\u00fcr diese Komponente die allerverschiedensten Hypothesen aufgestellt, auf deren Aufz\u00e4hlung und Kritik ich an dieser Stelle verzichte. Ich erinnere\n1 In dieser Bezeichnung liegt schon, dafs ich mit den meisten Psychologen die Gef\u00fchle als Begleiterscheinungen der Empfindungen und Vorstellungen auffasse. Damit bestreite ich ihr Dasein nat\u00fcrlich nicht. Ein Kritiker suchte neuerdings Gruseln vor meiner Psychologie und Psychiatrie zu erwecken, indem er verk\u00fcndete: f\u00fcr Ziehen sind \u201eWille, Gef\u00fchl und Apperzeption \u00fcberfl\u00fcssige und irreleitende Begriffe\u201c. Die Leugnung der Apperzeption und des Willens allein h\u00e4tte heute schon nicht mehr gen\u00fcgt, um den Gl\u00e4ubigen das gew\u00fcnschte Entsetzen einzufl\u00f6fsen ; darum wird noch das Gef\u00fchl hinzugef\u00fcgt, und nun ist der Unmensch fertig.","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nTh. Ziehen.\nnur an die bekannte MEYXEET\u2019sche1 und die Lehmann'scIic Theorie2 und deren zahlreiche Varianten, ganz abgesehen von der bereits vielfach widerlegten James - LANOEschen Hypothese.3\nAus den Beobachtungstatsachen ergeben sich folgende Eigenschaften der in Rede stehenden Komponente :\n1.\tSie kommt den kortikalen Zellen zu (Verlust der Gef\u00fchlst\u00f6ne bei Dementia paralytica u. s. w.).\n2.\tSie ist eine Begleiterscheinung des dem Empfindungs- und Vorstellungsinhalt zugeordneten physiologischen Prozesses oder \u2014 was dasselbe ist \u2014 Komponente des Gesamtprozesses.\n3.\tDabei ist sie insofern doch in beschr\u00e4nktem Mais selbst\u00e4ndig, als sie durch Irradiation bezw. Reflexion4 von einer Vorstellung auf assoziativ verwandte Vorstellungen und deren Grundempfindungen \u00fcbertragen werden kann.\n4.\tSie steht zu dem Reiz in einem viel variableren Verh\u00e4ltnis als die der Empfindungsintensit\u00e4t und der Empfindungsqualit\u00e4t entsprechende Komponente (daher das Schwanken der Gef\u00fchlst\u00f6ne f\u00fcr dieselbe Empfindung bezw. Vorstellung bei demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Individuen ; daher auch die viel gr\u00f6fsere Relativit\u00e4t der Gef\u00fchlst\u00f6ne, das rasche Erm\u00fcden des einzelnen Gef\u00fchlstones u. s. f.).\n5.\tDie zu positiven Gef\u00fchlst\u00f6nen, Stimmungen und Affekten geh\u00f6rigen Komponenten beschleunigen im allgemeinen die Vor-stellungs- und die Bewegungsassoziationen, w\u00e4hrend \u201enegative\u201c verlangsamend (hemmend) wirken.\n6.\tDie unter 5 erw\u00e4hnten R\u00fcckwirkungen sind im allgemeinen der Erhaltung des Individuums oder der Art g\u00fcnstig (sog. teleologischer Charakter der Gef\u00fchle).\nMeine Hypothese geht nun einfach dahin, dafs die Gef\u00fchlskomponente des psycho-physiologischen Prozesses mit der Entladungsbereitschaft der kortikalen Zellen identisch ist. Einem bestimmten Empfindungs- und Vorstellungsinhalt entspricht ein bestimmter Ver\u00e4nderungsprozefs (z. B. eine chemische\n1\tDer Unlust entspricht nach der MEYNERTSchen Theorie eine dyspnoetische Ern\u00e4hrungsphase der Rindenzellen und vice versa.\n2\tDer Unlust entspricht nach Lehmann ein Mifsverh\u00e4ltnis zwischen Verbrauch an N\u00e4hrmaterial und Zuf\u00fchrung des letzteren und vice versa.\n3\tEntfernte Ankl\u00e4nge an die letztere finden sich \u00fcbrigens schon bei Thomas v. Aquino, Summ, theol. II, P. II, 1, Qu. 22, 44 etc.\n4\tBez\u00fcglich dieser Begriffe bitte ich meinen Leitfaden der physiologischen Psychologie, 6. Aufl., S. 155 ff., zu vergleichen.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Hypothese \u00fcber den sog. \u201egefiihlserzeugenden Prozefs\n217\nUmsetzung) in den Rindenzellen. Bei einem bestimmten derartigen Ver\u00e4nderungsprozefs kann die Entladungsbereitschaft noch sehr verschieden sein, d. h. die Tendenz und F\u00e4higkeit zur Fortpflanzung der Erregung (z. B. der chemischen Umsetzung) in die aus der Zelle entspringenden Assoziations- bezw. Projektionsfasern kann gr\u00f6fser oder kleiner sein. Einer grofsen Entladungsbereitschaft entsprechen die positiven, einer geringen die negativen Gef\u00fchlsprozesse.\nDer Wert dieser Hypothese scheint mir darin zu liegen, dafs sie viele Tatsachen kurz und unter einem Gesichtspunkt zusammenzufassen gestattet.\nZun\u00e4chst finden die 8 oben angef\u00fchrten Tatsachen eine befriedigende Erkl\u00e4rung oder vielmehr Zusammenfassung. Speziell kann man sich sehr gut vorstellen, dafs durch Einfl\u00fcsse der Zirkulation, der Ern\u00e4hrung u. s. f. die den Inhalten entsprechenden Ver\u00e4nderungen in den Rindenzellen nur wenig beeinflufst werden, w\u00e4hrend die den Gef\u00fchlsprozessen entsprechende Entladungsbereitschaft leicht modifiziert wird und daher sehr variabel ist.\nDie normale und die pathologische Verlangsamung der Ideenassoziation bei Unlustaffekten und die entsprechende Beschleunigung bei Lustaffekten findet bei der vorgeschlagenen Hypothese eine angemessene Deutung. Bei der Melancholie \u2014 w\u00fcrde die Hypothese f\u00fcr diesen Spezialfall lauten \u2014 ist z. B. durch die senile Involution oder Zirkulationsst\u00f6rungen u. s. f. die Entladungsbereitschaft der Rindenzellen schwer herabgesetzt, und psychisch dr\u00fcckt sich dies in den pathologischen Unlustaffekten der Melancholie aus, w\u00e4hrend der aus der herabgesetzten Entladungsbereitschaft hervorgegangenen Verlangsamung des Assoziationsprozesses die Denkhemmung entspricht. Den umgekehrten Nexus finden wir bei der Manie.\nEbenso ist der bekannte Verlauf der Gef\u00fchlskurve bezogen auf die Empfindungsintensit\u00e4ten (als Abszissen) mit der Hypothese zum mindesten leicht zu vereinigen. Man kann sich sehr wohl vorstellen, dafs die Entladungsbereitschaft zun\u00e4chst mit der St\u00e4rke der Erregung w\u00e4chst, aber bei \u00dcberschreiten einer bestimmten Erregungsgrenze wieder abnimmt.\nAuch die eigenartige Beeinflussung unserer Gef\u00fchlsprozesse durch manche Medikamente (Opium, Haschisch etc.) scheint mir damit dem Verst\u00e4ndnis n\u00e4her ger\u00fcckt.","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nTh. Ziehen.\nSelbstverst\u00e4ndlich will ich nun nicht behaupten, dafs etwa diese Entladungsbereitschaft von der dem Empfindungs- und Vorstellungsinhalt entsprechenden Grundkomponente v\u00f6llig zu trennen ist. Im Gegenteil ist zwischen beiden dieselbe enge Beziehung anzunehmen wie zwischen der Empfindung bezw. Vorstellung und ihrem Gef\u00fchlston ; auf die Enge dieser Beziehungen weist kaum ein anderes Faktum so deutlich hin wie die Entstehung der sog. affektiven Wahnvorstellungen. Ebenso liegt mir fern, stets eine gleichm\u00e4fsige und gleichartige Ver\u00e4nderung dieser Entladungsbereitschaft \u00fcber die ganze Hirnrinde bei allen Affekten anzunehmen. Vielmehr ist nicht ausgeschlossen, dafs diese Ver\u00e4nderungen zuweilen ungleichm\u00e4fsig ausgebreitet und auch unter sich qualitativ verschieden sind. Die qualitative Mannigfaltigkeit unserer Gef\u00fchlsprozesse, welche sich schwerlich ausreichend durch die Mannigfaltigkeit des zu Grunde liegenden Empfindungsund Vorstellungsinhaltes erkl\u00e4ren l\u00e4fst, und das Vorkommen sogenannter gemischter Affekte weist vielmehr geradezu auf solche Ungleichm\u00e4fsigkeiten und Ungleichartigkeiten der Entladungsbereitschaft hin. Eine relativ gleichm\u00e4fsige Ver\u00e4nderung der Entladungsbereitschaft findet man z. B. auch bei den von mir beschriebenen eknoischen Zust\u00e4nden.1 2\nNicht zu verwechseln ist mit der Entladungsbereitschaft der Rindenzellen die Erregbarkeit derselben Zellen. Letztere ist in gewissem Sinn die Inverse der ersteren und hat mit den Gef\u00fchlst\u00f6nen direkt nichts zu tun. Bei der Melancholie sind z. B., wie ich schon fr\u00fcher hervorgehoben habe -, positiv betonte Vorstellungen schwer erregbar, negativ betonte leicht erregbar. Bei der Manie findet man das Umgekehrte : alle \u2022Sorgen sind vergessen und nur die Lichtseiten kommen dem Kranken zum Bewufstsein.\nAuch die physiologische und pathologische Verlangsamung der Schmerzleitung wird so verst\u00e4ndlicher.\nIch bin mir der vielen Schwierigkeiten einer solchen Hypothese, welche unser h\u00f6chst kompliziertes Gef\u00fchlsleben unter einem einheitlichen physiologischen Gesichtspunkt zusammenzufassen sucht, sehr wohl bewufst. An andrer Stelle gehe ich ausf\u00fchrlich auf diese Schwierigkeiten ein.3 Vorl\u00e4ufig habe ich noch keine\n1\tMonatsschr. f. Psychiat. u, Neurol. 10 (5), 310.\n2\tArch. f. Psych. 24 und Psychiatrie, 2. Aufl., 1902.\n3\tDabei werde ich auch auf die Literatur n\u00e4her eingehen. Schon jetzt","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Hypothese \u00fcber den sog. rgef\u00dchlserzeuge?!den Prozefsu.\n219\nErscheinung im normalen und im pathologischen Gef\u00fchlsleben gefunden, welche sich nicht ohne Zwang der Hypothese unterordnen liefse, und vielfach durch die Hypothese ein besseres Verst\u00e4ndnis mancher Erscheinungen erlangt.\nWenn man schliefslich ein wenden wollte, dafs diese Hypothese die Tatsachen nur umschreibt, so w\u00fcrde ich mir diesen Ein wand gern gefallen lassen. Die Frage scheint mir nur zu sein, ob die Tatsachen damit in einfacher Weise beschrieben und ob damit viele Tatsachen zusammenfassend beschrieben wTerden. Mehr leistet keine Hypothese bez\u00fcglich der schon vorliegenden Tatsachen. Der heuristische Wert mit Bezug auf neu zu ermittelnde Tatsachen und Gesetze kann sich erst im Laufe der Zeit ergeben. Cedam meliori.\nm\u00f6chte ich jedoch hervorheben, dafs die M\u00fcNSTERBEKGSche \u201eAktionstheorie\u201c (Grundz\u00fcge der Psychologie, Leipzig 1900, S. 530 ff.) mit meiner Hypothese nichts zu tun hat; nach M\u00fcnsterberg h\u00e4ngt die \u201eWertnuance\u201c der Empfindung von der r\u00e4umlichen Lage der Entladungsbahn ab.\n(Eingegangen am IS. Februar 1903.)","page":219}],"identifier":"lit32941","issued":"1903","language":"de","pages":"215-219","startpages":"215","title":"Eine Hypothese \u00fcber den sog. \"gef\u00fchlserzeugenden Proze\u00df\"","type":"Journal Article","volume":"31"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:40:15.348494+00:00"}