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{"created":"2022-01-31T16:34:41.669664+00:00","id":"lit32942","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Meyer, Max","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 31: 233-247","fulltext":[{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"233\nZur Theorie der Ger\u00e4usckempfindungen.\nVon\nMax Meyer.\n\u00dcber Ger\u00e4uschempfindungen ist schon soviel geschrieben worden, dafs eine weitere Diskussion dieses Gegenstandes \u00fcberfl\u00fcssig scheint. Dennoch glaube ich im folgenden auf einige Tatsachen hinweisen zu k\u00f6nnen, die \u2014 wenigstens in diesem Zusammenh\u00e4nge \u2014 von Psychologen bisher nicht genug gew\u00fcrdigt worden sind, und deren Nutzbarmachung f\u00fcr die psychologische Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen einen Fortschritt bedeuten d\u00fcrfte.\nEine Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen hat vor allem die Frage zu erledigen: Ist ein Ger\u00e4usch in irgend einer Weise eine Komposition von T\u00f6nen oder etwas von T\u00f6nen wesentlich Verschiedenes? Wir werden sehen, dafs es f\u00fcr die Er\u00f6rterung dieser Frage aufserordentlich wichtig ist, zwischen objektiven T\u00f6nen, d. h. Sinusschwingungen, und subjektiven T\u00f6nen, d. h. Tonempfindungen, streng zu unterscheiden. Nicht einmal Stumpe, der das Problem der Ger\u00e4uschempfindungen sorgf\u00e4ltiger als irgend ein anderer diskutiert hat, ist hierin immer streng genug gewesen. Die Resonatorenhypothese, wronach das Ohr jede beliebige Luftwelle in eine Reihe von Sinusschwingungen aufl\u00f6st, hat neben vielen anderen Irr-t\u00fcmern auch diese Konfusion verschuldet. Wenn Sinusschwingungen und Tonempfindungen im strengsten Sinne parallel laufende Tatsachen w\u00e4ren, dann brauchte man freilich in theoretischen Diskussionen zwischen ihnen nicht zu unterscheiden; es w\u00fcrde sich dann nur um die Substitution eines Namens handeln. Doch kann von einer solchen Parallelit\u00e4t nicht die Rede sein.\nMan kann Ger\u00e4usche auf zwei Arten hervorbringen. Man kann sie objektiv aus musikalischen Kl\u00e4ngen zusammensetzen; *die Luftwelle ist in diesem Falle zwar nicht notwendigerweise\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 31.\tt5*","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nMax Meyer.\naperiodisch, aber mit Ausnahme weniger spezieller Tonkombinationen sehr kompliziert. Man kann Ger\u00e4usche ferner objektiv hervorbringen, indem man eine aperiodische Luftwelle ohne Zuhilfenahme regelm\u00e4fsig schwingender K\u00f6rper erzeugt. Bei der Diskussion dieser beiden F\u00e4lle dr\u00e4ngt sich nun eine zweite Frage auf, die wir hier zu erledigen versuchen werden : ob Ger\u00e4usche mit demselben Sinnesapparat empfunden werden wie T\u00f6ne, oder ob f\u00fcr Ger\u00e4usche ein besonderes Sinnesorgan existiert. Gegen die erste Annahme glaubt mau eher \u2014 z. B. Stumpf \u2014 den theoretischen Einwand erheben zu k\u00f6nnen, dafs es dann \u00fcberhaupt keine wirklichen Ger\u00e4usche gebe, sondern nur T\u00f6ne, weil unser tonempfindendes Organ den zusammengesetzten Vorgang wieder in die Sinuskomponenten zerlege und selbst eine aperiodische Welle gem\u00e4fs dem FouRiEii\u2019schen Theorem in eine Summe von Sinuswellen aufl\u00f6se. Dieser Einwand ist jedoch nicht statthaft. Es ist ja nicht eine Tatsache, sondern eine Hypothese, dafs das Ohr jede Klangwelle in eine Leihe von Sinus wellen aufl\u00f6se; und die Zahl derer, die diese Hypothese akzeptieren, ist im Abnehmen begriffen. Die scheinbare soeben erw\u00e4hnte Schwierigkeit ist jedoch \u2014 wie wir sehen werden \u2014 die einzige Veranlassung f\u00fcr die Annahme eines besonderen ger\u00e4uschempfindenden Sinnesapparates.\nDie erste Definition des Ger\u00e4usches, die Stumpe diskutiert, ist diese (Tonpsychologie II, S. 504) : Ger\u00e4usche sind nichts anderes als zahlreiche gleichzeitige T\u00f6ne von wenig verschiedener H\u00f6he. Die Bedingung \u201evon wenig verschiedener H\u00f6he\u201c glaubt Stumpf aus dem folgenden Grunde hinzuf\u00fcgen zu m\u00fcssen. Der Dur-Akkord, in sechs Oktaven gleichzeitig angegeben, enth\u00e4lt 19 T\u00f6ne. Trotzdem ist das kein Ger\u00e4usch. Die geringe Verschiedenheit ist daher nach Stumpf ein Hauptmerkmal dieser Definition. Es ist merkw\u00fcrdig, dafs Stumpf nicht gesehen hat, dafs dieses Beispiel nicht gen\u00fcgt, um die geringe Verschiedenheit zu einem Hauptmerkmal der Definition zu machen. Ein Dur-Akkord in sechs Oktaven ist ein ganz spezieller Fall mit ganz speziellen Eigenschaften. Betr\u00e4chtliche Unregelm\u00e4fsigkeiten (was mit \u201eUnregelm\u00e4fsigkeiten\u201c gemeint ist, werden wir bald genauer sehen) entstehen in diesem Falle durch das Zusammenklingen nicht. Wenn wir jedoch 19 T\u00f6ne in solcher Weise \u00fcber sechs Oktaven verteilen, dafs kein Ton mit","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen.\n235\nirgend einem anderen ein reingestimmtes Intervall bildet, so dafs die Schwingungszahl eines jeden mit der Schwingungszahl eines jeden anderen in einem komplizierten Verh\u00e4ltnis steht, dann werden wir wohl nicht l\u00e4nger an der geringen Verschiedenheit der Tonh\u00f6hen als einem Hauptmerkmal der Definition festhalten.\nWir wollen also diese Definition so fassen: Ger\u00e4usche sind nichts anderes als zahlreiche gleichzeitige T\u00f6ne in Intervallen, die betr\u00e4chtliche Unregelm\u00e4fsigkeiten des Klanges bedingen.\nWie entstehen denn nun diese Unregelm \u00e4fsigkeiten des Klanges? Es ist durchaus notwendig, dafs man \u00fcber diese Frage im klaren ist. Physiker, und leider auch die Mehrzahl der Psychologen, denken, wenn von Schwebungen die Rede ist, gew\u00f6hnlich nur an die wohlbekannten prim\u00e4ren (ich will f\u00fcr die verschiedenen Arten Schwebungen die Bezeichnungen \u201eprim\u00e4r\u201c und \u201esekund\u00e4r\u201c als Termini gebrauchen), deren Anzahl gleich der Differenz der Schwingungszahlen der Prim\u00e4rt\u00f6ne ist. Diese prim\u00e4ren Schwebungen sind jedoch in den meisten Beziehungen verh\u00e4ltnism\u00e4fsig unwichtig. Sie sind gew\u00f6hnlich so zahlreich, dafs sie nur als eine wenig st\u00f6rende Rauhigkeit empfunden werden. Z. B. die T\u00f6ne 600 und 702 erzeugen freilich 102 Schwebungen, aber man mufs schon einige \u00dcbung im Beobachten solcher Erscheinungen haben, um die diesen Schwebungen entsprechende Rauhigkeit wTahrzunehmen. Dagegen h\u00f6ren wir in diesem Falle 12 sekund\u00e4re Schwebungen, die sehr leicht auch von einem unge\u00fcbten Beobachter wahrgenommen werden k\u00f6nnen. Vielleicht sind diese sekund\u00e4ren Schwebungen in der folgenden Weise zu erkl\u00e4ren. Die T\u00f6ne 600 und 702 erzeugen den Differenzton 102. Die Obert\u00f6ne 3600 (in-) und 3510 (n(n\u20142)) erzeugen den Differenzton 90.1 Die Differenzt\u00f6ne 102 und 90 m\u00fcssen dann zw\u00f6lfmal in der Sekunde schweben. In der Tat bestehen diese sekund\u00e4ren Schwebungen in einem abwechselnden Hervortreten des tiefen Differenztons und der h\u00f6heren T\u00f6ne ; und ferner : mit obertonstarken Kl\u00e4ngen lassen sich die sekund\u00e4ren Schwebungen viel leichter beobachten als mit oberton schwachen. Trotzdem will ich die Richtigkeit der obigen Erkl\u00e4rung als unwesentlich hier dahingestellt sein lassen.\n1 Die T\u00f6ne 600 und 702 k\u00f6nnen als Vertreter des (verstimmten) Intervalls 6:7 betrachtet werden. In der obigen Berechnung ist m = 6 und n = 7. Die relativen Zahlen sind dann mit 100 multipliziert.","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nMax Meyer.\nSoviel ist richtig, dafs man auf die angegebene Weise die Frequenz der sekund\u00e4ren Schwebungen in speziellen F\u00e4llen bestimmen kann.\nDas ganze Klangph\u00e4nomen ist nun in dem eben beschriebenen Falle ziemlich regelm\u00e4fsig, da wir ein rhythmisches Hervortreten der verschiedenen Tonh\u00f6hen haben. Wenn wir jedoch anstatt der zwei T\u00f6ne drei oder mehr (jedoch keine reingestimmten Dreikl\u00e4nge) benutzen, so treten die einzelnen Tonkomponenten in einer sehr komplizierten Art der Aufeinanderfolge hervor und zur\u00fcck, so dafs von einem Rhythmus der Schwebungen kaum noch die Rede sein kann, obwohl ein solcher im mathematischen Sinne nat\u00fcrlich existiert. Es ist eine einfache Konsequenz dieser Tatsachen, dafs wir ein Schwirren h\u00f6ren, wenn wir eine ganze Oktave von Klavier- (besser Orgel-) tasten niederdr\u00fccken. Jeder der geh\u00f6rten T\u00f6ne ist abwechselnd stark und schwach; doch tritt dieser Wechsel in einer solchen Weise ein, dafs f\u00fcr unser Bewufstsein keine Regelm\u00e4fsigkeit besteht.\nWir sind nun im st\u00e4nde, unsere Definition zu diskutieren. Stumpf sagt : Ich kann nicht zugeben, dafs die Geh\u00f6rsempfindung in diesem Fall ihren tonalen Charakter und ihre Analysierbar-keit g\u00e4nzlich verliere. Im Gegenteil, sie bleibt im wesentlichen ein Klang, aus welchem auch eine gr\u00f6fsere oder geringere Anzahl von Klangteilen herauszuh\u00f6ren ist. \u2014 Wir stehen hier vor der Tatsache, dafs von zwei Forschern der eine (Helmholtz) eine gewisse Empfindung ein Ger\u00e4usch nennt, w\u00e4hrend der andere (Stumpf) ihr diesen Titel abspricht, weil die Empfindung einen tonalen Charakter besitze. Es bleibt uns da nichts \u00fcbrig, als zwischen reinen und tonalen Ger\u00e4uschen zu unterscheiden. Wir werden sehen, dafs diese Unterscheidung aufserordentlich fruchtbar ist, und dafs ihre verst\u00e4ndige Anwendung auf die Tatsachen zu einer vollst\u00e4ndigen L\u00f6sung des vorliegenden theoretischen Problems f\u00fchrt. Stumpf gibt selber zu, dafs die Empfindung beim gleichzeitigen Niederdr\u00fccken z. B. aller Tasten einer Oktave ger\u00e4uschartig ist; nur will er sie nicht als ein reines Ger\u00e4usch anerkennen.\nDafs die in Diskussion stehende Empfindung einen tonalen Charakter hat, ist nicht wunderbar. Wir sollten jedoch wohl im Auge behalten, warum sie einen solchen Charakter hat. Dies wird uns sp\u00e4ter helfen, den Unterschied zwischen einem tonalen","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen.\n237\nund einem reinen Ger\u00e4usch zu verstehen. Wie ich eben auseinanderzusetzen suchte, treten die einzelnen Tonkomponenten in einer f\u00fcr das Bewufstsein sehr unregelm\u00e4fsigen Weise bald hervor, bald zur\u00fcck. In einem Bruchteil einer Sekunde ist bald der eine, bald der andere Ton der st\u00e4rkste. Das macht es nat\u00fcrlich schwierig, einem einzelnen Tone gen\u00fcgende Aufmerksamkeit zu schenken, um ein betreffendes Tonh\u00f6henexistenzialarteil zu st\u00e4nde kommen zu lassen. Aber es macht dies nicht unm\u00f6glich. Es w\u00e4re in der Tat seltsam und in Widerspruch mit unseren sonstigen Erfahrungen, wenn wir v\u00f6llig unf\u00e4hig w\u00e4ren, die Tonh\u00f6he etlicher dieser Komponenten aufzufassen und zu vergleichen, blofs deshalb, weil wir sie nicht dauernd h\u00f6ren, sondern f\u00fcr kurze Zeiten, schnell abwechselnd mit anderen T\u00f6nen. Dafs Stumpf der Empfindung einen tonalen Charakter zuspricht, ist bedingt durch die M\u00f6glichkeit der Analyse; dafs Helmholtz die Empfindung ger\u00e4uschartig nennt, ist bedingt durch die Schwierigkeit der Analyse. M\u00f6glichkeit und Schwierigkeit schliefsen sich nat\u00fcrlich nicht gegenseitig aus.\nGegen diese Darstellung freilich erhebt Stumpf zwei Einw\u00e4nde, die wir nicht unwidersprochen entlassen k\u00f6nnen. 1. Die Tatsache n\u00e4mlich, dafs Helmholtz die Empfindung f\u00fcr ger\u00e4uschartig erkl\u00e4rt, will Stumpf darauf zur\u00fcckf\u00fchren, dafs die Schwebungen infolge eines noch unerforschten Zusammenhanges Ger\u00e4usche hinzubringen. 2. Stumpf fragt : W arum sollte Undeutlichkeit der Teile eines Zusammenklanges, mag sie nun beruhen worauf sie will, den Klang als ein Ger\u00e4usch erscheinen lassen ?\nDie Annahme eines noch unerforschten Zusammenhanges, vermittelst dessen Schwebungen zur Ursache von (die T\u00f6ne begleitenden) Ger\u00e4uschempfindungen v7erden, w\u00fcrde ein Zugest\u00e4ndnis sein, dafs unser Versuch einer Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen gescheitert ist. Stumpf kommt in der Tat zu dem Ergebnis, dafs Ger\u00e4usche eine besondere Art von Geh\u00f6rsempfindungen sind, \u00fcber deren Entstehung w7ir nichts Genaueres wissen. Doch kann uns nat\u00fcrlich niemand logischerweise zwingen, eine solche Annahme sofort uns anzueignen. Wir m\u00fcssen vielmehr erst versuchen, ob wir nicht ohne jene Annahme eine allgemeine, die Ger\u00e4usche einschliefsende Theorie der Geh\u00f6rsempfindungen aufstellen k\u00f6nnen. Sollte unser Versuch erfolglos sein, dann werden wir freilich jene Annahme akzeptieren m\u00fcssen, als das Beste, das","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nMax Meyer.\nsich uns darbietet. Doch ich glaube Voraussagen zu k\u00f6nnen, dafs dies nicht n\u00f6tig sein wird.\nDafs man eine Geh\u00f6rsempfindung ger\u00e4uschartig nennen d\u00fcrfe, wenn ihre Analyse Schwierigkeiten macht, lehnt Stumpf mit diesem Argument ab : \u201eIn den tausend und abertausend F\u00e4llen, wo Zusammenkl\u00e4nge von Nicht- oder Halbmusikern nicht oder unvollkommen analysiert werden, werden sie um deswillen doch noch lange nicht als Ger\u00e4usche aufgefafst.\u201c Es kommt hier sehr viel darauf an, was man unter Analyse versteht. Stumpf\u2019s Definition einer Analyse ist zur Beschreibung der Tatsachen sehr wenig geeignet, wie schon genugsam von anderen, und auch von mir selbst in dieser Zeitschrift gezeigt worden ist. Sie ist, ich m\u00f6chte sagen, zu scholastisch, zu sehr eine blofse Zusammenf\u00fcgung von Worten, durchaus nicht den Bed\u00fcrfnissen der Tatsachen angepafst. Wenn ein Unmusikalischer einen Akkord auf der Orgel h\u00f6rt, und die Geh\u00f6rsempfindung nicht als ein Ger\u00e4usch, sondern als ein Ton beurteilt wird, so hat er doch wohl eine, wenn auch sehr unvollkommene Analyse angestellt. Er wird n\u00e4mlich in einer Reihe von Kl\u00e4ngen eine Melodie erkennen. Dies aber w\u00e4re nicht m\u00f6glich, wenn nicht wenigstens Eine der Komponenten des Klanges ein Tonh\u00f6henexistential-urteil in ihm hervorgerufen h\u00e4tte. Ich sehe nun keinen Grund, warum man nicht bereits in diesem Falle von einer (nat\u00fcrlich unvollst\u00e4ndigen) Analyse des Klanges sprechen sollte. W\u00e4re wirklich gar keine Analyse des Klanges ausgef\u00fchrt worden, so h\u00e4tte dieser allerdings den Eindruck eines Ger\u00e4usches gemacht. Wenigstens entspricht das durchaus meinen eigenen Erfahrungen, Ich habe unz\u00e4hligemale die Beobachtung gemacht, dafs eine gewisse Geh\u00f6rsempfindung mir zun\u00e4chst als ein Ger\u00e4usch erschien, w\u00e4hrend ich sp\u00e4ter, nachdem ich sie wenigstens teilweise analysiert (d. h. zum mindesten Eine Tonh\u00f6he herausgeh\u00f6rt) hatte, sie beim besten Willen nicht mehr als ein einfaches Ger\u00e4usch zu bezeichnen vermochte. Auch spricht f\u00fcr unsere Auffassung des Unterschiedes zwischen Ton und Ger\u00e4usch die folgende wohl-bekannte Tatsache. Wenn man Holzst\u00e4bchen verschiedener L\u00e4nge oder Dicke auf die Tischplatte wirft, so kann man leicht eine Melodie erkennen, obwohl man zun\u00e4chst beim isolierten Hinwerfen keine definitive Tonh\u00f6he erkennen konnte. Aber die\nmelodische Verwandtschaft ist eben ein aufserordentliches Hilfs-\n\u2022 \u2022\nmittel f\u00fcr die Aufmerksamkeit, und nach einiger \u00dcbung lernt","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen.\n239\nman den Hauptton des Holzst\u00e4bchens auch beim isolierten Hinwerfen trotz der Ger\u00e4uschartigkeit des Klanges erkennen. Stumpe mag darin recht haben, dafs ein unvollkommen analysierter Klang durchaus nicht immer als Ger\u00e4uch beurteilt wird. Aber dies beweist doch nicht die Unm\u00f6glichkeit der Annahme, dafs, wenn immer ein Klang als Ger\u00e4usch oder ger\u00e4uschartig beurteilt wird, die Unm\u00f6glichkeit oder Unvollkommenheit der Analyse die Ursache dieses Urteils ist. Wir k\u00f6nnen somit diesen Hinwand Stumpf\u2019s mit der Gegenfrage zur\u00fcckweisen: Warum sollte Undeutlichkeit aller (oder doch der \u00fcberwiegenden Mehrheit der) Teile eines Zusammenklanges den Klang nicht als ein Ger\u00e4usch (bezw. ger\u00e4uschartig) erscheinen lassen?\nDer wichtigste Einwand, den Stumpe gegen die Definition eines Ger\u00e4usches als einer grofsen Zahl gleichzeitiger T\u00f6ne erhebt, ist dieser: \u201eMan kann sich sehr gut vorstellen, wie c und cis ohne Schwebungen klingt. Ebenso kann ich noch ziemlich gut etwa e, fis, g in der Vorstellung hinzuf\u00fcgen. Und so kann man sich wenigstens Ann\u00e4herungen an den Eindruck vorstellen, welchen die s\u00e4mtlichen T\u00f6ne der chromatischen Leiter ohne Schwebungen zusammenklingend geben m\u00fcfsten. Soviel scheint mir klar, dafs der Eindruck nicht die mindeste \u00c4hnlichkeit h\u00e4tte mit einem Ger\u00e4usch.\u201c Hierin mufs man Stumpe sicherlich zustimmen. Wenn man in der Definition unter gleichzeitigen T\u00f6nen gleichzeitige Tonempfindung versteht, und zwar von nicht beschr\u00e4nkter Dauer, relativ oder absolut frei von Schwebungen, verh\u00e4ltnism\u00e4fsig nicht allzu schwer analysierbar, so mufs man die Definition verwerfen. In der Tat stellt sich Stumpe die T\u00f6ne im obigen Beispiel analysiert vor. Was sollte der Ausdruck \u201ein der Vorstellung hinzuf\u00fcgen\u201c sonst f\u00fcr einen Sinn haben: Analysierte gleichzeitige T\u00f6ne sind sicher kein Ger\u00e4usch. Wenn man aber unter gleichzeitigen T\u00f6nen physikalische T\u00f6ne versteht (und Stumpe selber tut dies in seiner Diskussion des Helmholtz-schen Versuchs mit Niederdr\u00fccken einer ganzen Klavieroktave), so l\u00e4fst sich die Definition in der modifizierten Form, die ich ihr oben gegeben habe, sehr wohl halten, gilt aber nicht f\u00fcr alle Ger\u00e4usche, da man Ger\u00e4usche auch noch auf andere Weise hervorbringen kann. Psychologisch wichtig ist der Umstand, dafs wir dann nicht nur gleichzeitige Tonempfindungen haben, sondern auch einen raschen W e c h s e 1 der Empfindungen. Dies f\u00fchrt uns zu der zweiten Definition des Ger\u00e4usches, die Stumpe diskutiert.","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nMax Meyer.\n\u201eGer\u00e4usche sind sehr zahlreiche, sehr schnell aufeinanderfolgende T\u00f6ne verschiedener H\u00f6he.\u201c (Tonpsychologie II, 508.) Diese Ansicht h\u00e4lt Stumpf f\u00fcr ganz undurchf\u00fchrbar. \u201eWir k\u00f6nnen ja den schnellsten Wechsel von T\u00f6nen herstellen, wenn wir mit dem Finger \u00fcber die Tasten streichen oder auf einer Violinsaite stetig hinaufrutschen oder den eine gedackte Pfeife verschliefsenden Pfropfen hin- und herschieben. \u2014 Wenn man will, kann man freilich jede stetig ver\u00e4nderliche Tonh\u00f6he ein Ger\u00e4usch nennen, entgegen dem gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch ; ebenso wie manche Vertreter der vorangehenden Definition kurzweg jede unanalysierte Vielheit von T\u00f6nen ein Ger\u00e4usch nennen, auch wenn der gew\u00f6hnliche Mensch dagegen protestiert.\u201c\nDem letzten Argument konnten wir uns schon oben durchaus nicht anschliefsen ; denn der gew\u00f6hnliche Mensch protestiert gar nicht dagegen, dafs man ein Geh\u00f6rsph\u00e4nomen, aus dem er schlechterdings keine bestimmte Tonh\u00f6he heraush\u00f6rt, ein Ger\u00e4usch nennt. Nicht mehr \u00fcberzeugend ist das gegen die zweite Definition gerichtete Argument. Der Fehlschlufs ist \u00e4hnlich, als wenn jemand beweisen wollte, dafs ein Kreis kein Kegelschnitt sei, indem er einen Kegel zerschneidet und aufzeigt, dafs der Schnitt in diesem speziellen Falle eine Ellipse ist. Eine stetig-ver\u00e4nderliche Tonh\u00f6he nennt der gew\u00f6hnliche Sprachgebrauch freilich nicht unter allen Umst\u00e4nden ein Ger\u00e4usch; aber nennt er sie denn einen Ton ? Er hat einen anderen sehr bezeichnenden Namen daf\u00fcr. Wir m\u00fcssen uns jedoch etwas genauer aus-dr\u00fccken. F\u00fcr eine stetig, aber verh\u00e4ltnism\u00e4fsig langsam sich ver\u00e4ndernde Tonh\u00f6he hat der Sprachgebrauch \u00fcberhaupt keine besondere Bezeichnung; er beschreibt sie mit den Worten, mit denen wir sie soeben beschrieben haben. Dagegen hat er eine Bezeichnung f\u00fcr eine Tonh\u00f6he, die sich ziemlich schnell ver\u00e4ndert, so schnell, dafs zu keiner Zeit ein bestimmtes Tonh\u00f6hen-existentialurteil m\u00f6glich ist. Wenn die Ver\u00e4nderung sich sehr schnell vollzieht, k\u00f6nnen wir sogar auf die Bedingung der objektiven Stetigkeit verzichten. Man nennt eine solche Empfindung ein Geheul. Doch die folgende Bedingung mufs noch erf\u00fcllt sein, um von einem Geheul sprechen zu k\u00f6nnen: Die Ver\u00e4nderung mufs w\u00e4hrend einer gen\u00fcgend langen Zeit in derselben Richtung geschehen, um ein Urteil \u00fcber die Richtung m\u00f6glich zu machen ; in objektiver Hinsicht bedeutet das, da die Ver\u00e4nderung ja sehr schnell geschieht, dafs sie sich w\u00e4hrend der in Frage kommen-","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen.\n241\nden Zeit \u00fcber eine betr\u00e4chtliche Tonregion erstrecken mufs. Wenn aber eine solche schnelle Tonh\u00f6henver\u00e4nderung \u2014 stetig oder unstetig, das macht nun keinen Unterschied \u2014 bald in der einen, bald in der anderen Richtung geschieht und dieser Richtungswechsel so h\u00e4ufig ist, dafs wir in keinem Zeitmoment \u00fcber die jeweilige Richtung der Ver\u00e4nderung zu urteilen verm\u00f6gen, dann nennt der gew\u00f6hnliche Mensch das weder einen Ton noch ein Geheul, sondern \u2014 ein Ger\u00e4usch.\nWir k\u00f6nnen daher diese zweite, von Stumpe ohne hinreichenden Grund verworfene Definition eines Ger\u00e4usches (wovon ein Geheul nur ein spezieller Fall ist) sehr wohl festhalten. Wir m\u00fcssen nur im Ged\u00e4chtnis behalten, dafs in dieser Definition unter T\u00f6nen subjektive T\u00f6ne, d. h. Tonempfindungen gemeint sind, und dafs ein derartiger stetiger oder unstetiger Wechsel von Tonempfindungen objektiv auf zwei verschiedene Arten hervorgebracht wurden kann : durch einen entsprechenden Wechsel objektiver T\u00f6ne oder durch eine Anzahl gleichzeitiger T\u00f6ne in Intervallen, die betr\u00e4chtliche Unregelm\u00e4fsigkeiten des Klanges bedingen. Die obige Definition schliefst nat\u00fcrlich den Fall ein, dafs mehrere objektive Vorg\u00e4nge, von denen bereits jeder einzeln eine Ger\u00e4uschempfindung veranlassen w\u00fcrde, zugleich bestehen.\nDie Definition, zu der wir so gelangt sind, scheint jedoch unvollst\u00e4ndig zu sein, da von vielen Seiten behauptet wird, es gebe noch eine dritte Art der objektiven Entstehungsweise von Ger\u00e4uschen. Nach dieser Ansicht wird eine Ger\u00e4uschempfindung durch eine einzige das Ohr treffende Luftwelle erzeugt, w\u00e4hrend zwei oder mehr periodische Luftwellen eine Tonempfindung hervorbringen. Diese Theorie hegt nach unseren Erfahrungen im allt\u00e4glichen Leben (z. B. bei dem beliebten Kinderspiel des Zerdr\u00fcckens einer mit Luft gef\u00fcllten T\u00fcte) so nahe, dafs man wohl schwerlich einem bestimmten Namen die Urheberschaft zuweisen kann. Exner hat sie 1876 diskutiert. Besonders ausf\u00fchrlich ist diese Anschauung von Br\u00fccke behandelt worden. Die \u201eH\u00f6he\u201c des Ger\u00e4usches h\u00e4ngt nach Br\u00fccke von der L\u00e4nge der einfachen Welle ab. Diese Anschauung, dafs eine einzelne Welle ein Ger\u00e4usch hervorbringe, eine Wiederholung solcher Wellen dagegen einen Ton, scheint neuerdings in den Textb\u00fcchern mehr und mehr adoptiert zu werden (z. B. in den in\nAmerika weit verbreiteten B\u00fcchern von Titchener), keineswegs\ni\u00df\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 31.","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nMax Meyer.\njedoch verdientermafsen, wie wir sehen werden. Die mannigfaltigen Experimente, die zum Beweise dieser Anschauung angestellt worden sind und zur Nachpr\u00fcfung empfohlen werden, beweisen n\u00e4mlich gar nicht, was sie beweisen sollen.\nNach der B\u00df\u00fccKE\u2019schen Lehre m\u00fcfste jeder pl\u00f6tzlich entstehende starke Ton im Beginne der Empfindung einen Knall geben. Dafs dies der Erfahrung widerspricht, wird jeder ohne weiteres zugeben.\nDafs eine einzige Welle keine Tonempfindung hervorbringen kann, ist experimentell bewiesen. Unter diesen Umst\u00e4nden sollte man doch mit sehr mifstrauischen Blicken auf die Br\u00fccke\u2019sehe Theorie sehen, und eher zu der Annahme neigen, dafs eine einzige Welle \u00fcberhaupt keine Geh\u00f6rsempfindung irgend welcher Art hervorbringt \u2014 es sei denn, dafs das Gegenteil \u00fcberzeugend dargetan werden k\u00f6nnte. Dies ist aber keinem von den Anh\u00e4ngern dieser Theorie gelungen.\nJedermann weifs, dafs Schallwellen reflektiert werden; aber wenige denken daran zur rechten Zeit; noch viel geringer ist die Zahl derer, die eine richtige Vorstellung von einem solchen Vorg\u00e4nge haben. Freilich, bei einem urspr\u00fcnglich periodischen Vorg\u00e4nge kann man Reflexionen fast immer ungestraft vernachl\u00e4ssigen. Sie st\u00f6ren die Periodizit\u00e4t des akustischen Vorganges in den die Tonquelle umgebenden Medien nur ganz im Anf\u00e4nge betr\u00e4chtlich. Nach sehr kurzer, praktisch zu vernachl\u00e4ssigender Zeit tritt dort eine regelm\u00e4fsige Periodizit\u00e4t des Vorganges ein. Bei einer einzigen urspr\u00fcnglichen Welle ist dies anders. Hier veranlassen die Reflexionen in den die Quelle umgebenden Medien so komplizierte Vorg\u00e4nge, dafs sie mit der urspr\u00fcnglich hervorgebrachten Welle gar keine \u00c4hnlichkeit mehr haben. Selbst unser eigener K\u00f6rper und seine rTeile, namentlich die Knochen und H\u00f6hlungen des Sch\u00e4dels sollten hier nicht einfach vernachl\u00e4ssigt werden. Man kann eine einzige Luftwelle \u00fcberhaupt nicht her Vorbringen, ohne dafs das innere Ohr von irgend welchen Reflexionswellen getroffen werde. Br\u00fccke hat an Reflexionswellen wohl gedacht, glaubte aber beweisen zu k\u00f6nnen, dafs sie bei seinen eigenen Experimenten unwirksam seien. Abraham und Br\u00fchl (diese Zeitschrift 18) haben gezeigt, dafs dieser Beweis mifslungen ist, dafs Br\u00fccke\u2019s Instrument viel zu unempfindlich war, um irgend einen Schlufs zu gestatten.\nAuf der anderen Seite dagegen ist es gelungen, die Existenz","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen.\n243\nsolcher Reflexionswellen in einer so ausgezeichneten Weise zu demonstrieren, dafs auch der Taube daran glauben mufs. R. W. Wood (.Popular Science Monthly 57 (4), August 1900) hat eine Anzahl typischer F\u00e4lle photographiert, wovon die beigef\u00fcgte Abbildung eine gute Vorstellung gibt Doch sollte der Leser,\nder an diesen Problemen Interesse nimmt, nicht vers\u00e4umen, die \u00fcbrigen Abbildungen im Originale anzusehen. Wenn der K\u00f6rper, von dem die einzelne Welle reflektiert wird, verh\u00e4ltnism\u00e4fsig glatt ist, so wird die Welle ziemlich unver\u00e4ndert reflektiert. Aber wie selten ist diese Bedingung in Wirklichkeit erf\u00fcllt. Sobald die Welle auf unregelm\u00e4fsig geformte Oberfl\u00e4chen trifft, wird sie in mannigfaltiger Weise aufgebrochen. An einer Treppe oder einem Lattenzaun wird sie in eine regelm\u00e4fsige periodische Tonwelle verwandelt. Man kennt die helle, metallisch klingende Empfindung, die jeder Fufstritt verursacht, wenn man in einer stillen Gegend an einem Lattenzaun entlang geht. Die H\u00f6he des Tones ist durch die Schmalheit und den geringen gegenseitigen Abstand der Latten bedingt. Wenn die reflektierende Fl\u00e4che nicht aus einer Reihe gleichartig gestalteter K\u00f6rper besteht, sondern unregelm\u00e4fsig ist, so kommt kein Ton zu st\u00e4nde, sondern ein Ger\u00e4usch; z. B. das Echo eines Fufstritts oder H\u00e4ndeklatsches, das von einem Walde hervorgebracht wird. Mancher hat sich dar\u00fcber gewundert, dafs ein Echo so h\u00e4ufig h\u00f6her klingt oder doch eine hellere Klangfarbe besitzt als der Klang, den man hin\u00fcbergesandt hat. Nichts ist einfacher als die Erkl\u00e4rung dieser Tatsache. Wellen von gr\u00f6fserer Wellenl\u00e4nge werden durch die ZwTeige der B\u00e4ume in Wellen kleinerer Wellenl\u00e4nge aufgebrochen und kommen so als Echo zur\u00fcck.\nWenn wir zum Zweck eines Experimentes eine einzelne Luftwelle hervorbringen, so wird unser Ohr tats\u00e4chlich von einer grofsen Zahl von Luftwellen getroffen, die infolge der unregel-m\u00e4fsigen Gestalt der reflektierenden K\u00f6rper sehr verschiedene Wellenl\u00e4ngen haben m\u00f6gen. Was sollten wir daher erwarten zu\nh\u00f6ren? Eine grofse Zahl sehr schnell aufeinanderfolgender\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nMax Meyer.\nT\u00f6ne von verschiedener Tonh\u00f6he, hervorgebracht durch je zwei (oder auch manchmal drei oder mehr) direkt aufeinanderfolgende Reflexionswellen. Und was h\u00f6ren w7ir tats\u00e4chlich ? Ein Ger\u00e4usch \u2014 ganz in \u00dcbereinstimmung mit der oben vertretenen Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen.\nDas Ger\u00e4usch eines Pistolen- oder Kanonenschusses ist sicherlich nicht der direkte Erfolg der ersten, gewaltigen Luftver-dichtung, die der Explosion des Pulvers entspricht. Diese Luftverdichtung ist so unendlich viel st\u00e4rker als alle die periodischen \u00c4nderungen des Luftdrucks, die wir als T\u00f6ne zu empfinden pflegen, dafs wTir, wenn sie die direkte Ursache der Knallempfindung w\u00e4re, eine St\u00e4rke dieser Empfindung erwarten sollten, die alle unsere Einbildung \u00fcbersteigt. Tats\u00e4chlich ist jedoch ein Pistolenschufs durchaus nicht unvergleichlich st\u00e4rker als die st\u00e4rksten Tonempfindungen, die wir kennen. Die Explosionswelle selbst ist eben aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht die direkte Ursache der Knallempfindung, sondern die Knallempfindung ist eine Folge der Einwirkung der viel schw\u00e4cheren unregehn\u00e4fsigen Reflexionswellen auf das Geh\u00f6rorgan.\nWir m\u00fcssen daher die Theorie, wonach eine \u201ereine\u201c Ger\u00e4uschempfindung durch die Einwirkung einer einzigen Luftwelle hervorgebracht wird, beiseite legen. Diese Theorie hat einen zu geringen Grad von Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich und wTird durch die Tatsachen nicht gefordert.\nWir haben uns nun der Frage zuzuwenden, ob f\u00fcr Ger\u00e4uschempfindungen ein besonderes Sinnesorgan anzunehmen ist, oder ob das bekannte Geh\u00f6rorgan, die Schnecke, auch den Ger\u00e4uschempfindungen zu dienen vermag. Nat\u00fcrlich werden wir solch ein hypothetisches Ger\u00e4uschorgan nur dann annehmen, wenn eine befriedigende Erkl\u00e4rung des Zustandekommens der Ger\u00e4uschempfindungen auf andere W7eise unm\u00f6glich ist. Dafs sie unm\u00f6glich ist, ist von verschiedenen Seiten behauptet worden ; doch nur von denjenigen, die das Geh\u00f6rorgan in der Schnecke f\u00fcr ein Resonatorensystem halten. Von diesem Standpunkte aus kann man freilich die aufserordentlichen Unregelm\u00e4fsigkeiten der Geh\u00f6rsempfindung, die wir oben diskutiert haben (z. B. beim\nNiederdr\u00fccken aller Tasten einer Klavieroktave) nicht erkl\u00e4ren.\n/\nIndessen, dieses ungemein schnelle Auftreten und Verschwinden der Prim\u00e4r- und Differenzt\u00f6ne ist eine Tatsache; und wir haben nicht die Tatsachen der Theorie, sondern die Theorie den Tat-","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen.\n245\nSachen anzupassen. Die Erkl\u00e4rung dieser Tatsache ist einfach genug, sobald wir die Resonatorenhypothese aufgeben. Wenn wir annehmen, dafs irgend zwei direkt aufeinanderfolgende auf irgend einen sensibeln Punkt des Geh\u00f6rorgans ausge\u00fcbte Drucke eine Tonempfindung verursachen k\u00f6nnen (ich sage absichtlich nicht: unter allen Umst\u00e4nden m\u00fcssen), so begreift sich die Komplexit\u00e4t der Empfindung sogleich aus der Komplexit\u00e4t der Weise, in welcher die Reizungen, die physikalischen Druck\u00e4nderungen, in einem Falle wie bei der ganzen Klavieroktave, auf einanderfolgen. Die Resonatorentheorie jedoch, eine Theorie der Auslese bestimmter Resonatoren unter Tausenden durch graduell wachsende Intensit\u00e4t des Mitschwingens der ersteren, kann nicht zugeben, dafs irgend zwei aufeinanderfolgende Druck\u00e4nderungen schon eine Tonempfindung zu verursachen verm\u00f6gen ; wo bliebe sonst das wichtige Prinzip der Auslese. Man nimmt daher dann an, dafs das Ohr den verwickelten Vorgang wieder vereinfache, n\u00e4mlich durch Aufl\u00f6sung der zusammengesetzten Welle nach dem Fourier\u2019sehen Theorem. Eine solche verh\u00e4ltnism\u00e4fsig einfache Summe von Tonempfindungen kann freilich kein Ger\u00e4usch sein. Daher nimmt man ferner an, wie z. B. Stumpe in seiner Tonpsychologie, dafs es irgendwo ein mysteri\u00f6ses Sinnesorgan geben m\u00fcsse, das Ger\u00e4uschempfindungen \u201ehinzubringe\u201c. Geben wir die Resonatorentheorie auf und entschliefsen wir uns, im Co\u00dfTi\u2019schen Organ nichts als eine im wesentlichen an allen Punkten gleichartig funktionierende sensorielle Fl\u00e4che zu sehen1,\n1 Dafs man den sonstigen Tatsachen auf dem Gebiete der Geh\u00f6rsempfindungen unter dieser Voraussetzung ebensowohl, ja selbst besser gerecht werden kann, als auf Grund der Resonatorenhypothese, habe ich bereits fr\u00fcher in dieser Zeitschrift und anderw\u00e4rts gezeigt; wenn auch die von mir entwickelte Theorie des H\u00f6rens sich noch in einem sehr unvollkommenen Stadium befindet.\nNach Hensen (Das Verhalten des Resonanz-Apparates im menschlichen Ohr. Sitzungsberichte d. Akad. d. IFss. Berlin 38, 904\u2014914. 1902) wird das Vorhandensein eines Resonanzapparates im Ohr dadurch bewiesen, dafs ein Ton, der nur durch zwei gleichstarke Luftst\u00f6fse hervorgebracht wTird, sehr schwach ist; st\u00e4rker, wenn drei, vier oder mehr St\u00f6fse wirksam sind. Wie man aus dieser Erfahrung auf das Vorhandensein eines Resonanzapparates schliefsen kann, ist nicht ganz klar. Bisher hat man noch stets, auf allen Sinnesgebieten, angenommen, dafs die Intensit\u00e4t einer physiologischen Erregung in einem Sinnesorgan mit einer praktisch unendlich kleinen Gr\u00f6fse beginnt und anw\u00e4chst, bis sie die dem Reize entsprechende Gr\u00f6fse erreicht","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nMax Meyer.\nso sind wir zn der Annahme eines g\u00e4nzlich unbekannten Ger\u00e4uschorgans nicht l\u00e4nger gezwungen. Die verwickelte Weise, in der die Druck\u00e4nderungen einander folgen, l\u00e4fst uns dann erwarten, sehr viele sehr schnell aufeinanderfolgende T\u00f6ne zu empfinden, was mit der oben entwickelten psychologischen Theorie der Ger\u00e4usche \u00fcbereinstimmt. Die Hypothese eines besonderen Ger\u00e4uschorgans ist also \u00fcberfl\u00fcssig.\nEinen Ein wand, den man gegen die obige Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen machen k\u00f6nnte, will ich hier noch kurz erw\u00e4hnen. Man findet n\u00e4mlich experimentell, dafs verschiedene sehr schnell aufeinanderfolgende T\u00f6ne (\u00e4hnlich Akkorde von extrem kurzer Dauer) jemandem, der an die Beobachtung solcher Ph\u00e4nomene noch nicht hinreichend gew\u00f6hnt ist, mehr ger\u00e4uschartig erscheinen und l\u00e4ngere Zeit hindurch noch als Ger\u00e4usche beurteilt werden, wenn die die Geh\u00f6rsempfindung zusammensetzenden T\u00f6ne (ich meine Tonempfindungen, nicht physikalische T\u00f6ne) dissonant sind, als wenn sie konsonant sind. Dies darf uns jedoch nicht verf\u00fchren, die Bedingung der Dissonanz in unsere Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen aufzunehmen. Die Verwandtschaft der T\u00f6ne ist ein ausgezeichnetes Hilfsmittel f\u00fcr manche psychische Prozesse wegen ihres g\u00fcnstigen Einflusses auf die den verschiedenen Tonempfindungen zuzuwendende Aufmerksamkeit. Wir m\u00fcssen daher erwarten, dafs wir eine Reihe dissonanter T\u00f6ne l\u00e4nger als ger\u00e4uschartig beurteilen, eine Reihe konsonanter eher als eine tonale Empfindung, nicht direkt wegen der Konsonanz oder Dissonanz, sondern wegen des Einflusses der Konsonanz auf die Aufmerksamkeitsvorg\u00e4nge.\nNoch eine Frage bleibt uns zu er\u00f6rtern. Wir haben ein Ger\u00e4usch definiert als eine Reihe von Tonempfindungen unter Bedingungen, die das Zustandekommen eines bestimmten Ton-h\u00f6hen-Existentialurteils unm\u00f6glich machen. Widerspricht nun\nhat, um dann diese Gr\u00f6fse, falls keine Ersch\u00f6pfung eintritt, bis zum Aufh\u00f6ren des Eeizes zu behalten. Aus dieser Tatsache des Anwachsens der Intensit\u00e4t einer Empfindung in den ersten Augenblicken hat doch noch niemand auf das Vorhandensein eines Resonanzapparates in anderen Sinnesorganen geschlossen; z. B. im Auge. Warum denn im Ohr? Wahrscheinlich, weil man von vornherein an die Existenz dieses Resonatorenapparates im Ohr glaubt. Jenes Anwachsen der Intensit\u00e4t der Empfindung in den ersten Augenblicken der Reizung d\u00fcrfte wohl eine allgemeine Eigenschaft des Nervensystems sein, die f\u00fcr die Art der in Frage kommenden mechanischen Vorg\u00e4nge im Sinnesapparat gar nichts beweist.","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen.\nnicht dieser Definition die Tatsache, dafs man bei zwei reinen Ger\u00e4uschen das eine als h\u00f6her (heller), das andere als tiefer (dumpfer) zu beurteilen vermag? Ich denke nicht, dafs hier ein Widerspruch besteht; denn solche Urteile beziehen sich nicht auf die Tonh\u00f6he, sondern auf die Klangfarbe.\nWie Stumpf, dem ich mich hier anschliefse, zuerst gezeigt hat, besitzen einfache T\u00f6ne zwei den Schwingungszahlen parallel laufende psychologische Merkmale : Tonh\u00f6he und Tonfarbe (Pitch und Quality in englischer Terminologie). Die Tonh\u00f6he scheint aus dem Bewufstsein austreten zu k\u00f6nnen, ohne dafs dies auch mit der Tonfarbe desselben Tons zu geschehen braucht. Auf diese Weise kann man z. B. die Eigent\u00fcmlichkeiten sehr hoher und sehr tiefer T\u00f6ne, das Ph\u00e4nomen der Klangfarbe bei zusammengesetzten Kl\u00e4ngen, und mancherlei andere Erscheinungen erkl\u00e4ren.1 Eine einfache Konsequenz dieser Theorie ist die Annahme, dafs solche Reihen von Tonempfindungen, die wir Ger\u00e4usche nennen, weil wir keine bestimmte Tonh\u00f6he heraush\u00f6ren k\u00f6nnen, doch die Ursache eines Klangfarbenurteils sein k\u00f6nnen, das wir dann mit den Worten ausdr\u00fccken, das Ger\u00e4usch sei h\u00f6her oder heller als ein anderes.\n1 Weitere Einzelheiten findet man in meiner Abhandlung: \u00dcber Beurteilung zusammengesetzter Kl\u00e4nge, diese Zeitschrift *20, S. 13 33. 1899 und : Die Tonpsychologie etc., Zeitschrift f\u00fcr P\u00e4dagogische Psychologie 1. 1899. Die letztere Abhandlung ist mit Beziehung auf dies spezielle Problem etwas ausf\u00fchrlicher.\n(Eingegangen am 26. November 1902.)","page":247}],"identifier":"lit32942","issued":"1903","language":"de","pages":"233-247","startpages":"233","title":"Zur Theorie der Ger\u00e4uschempfindungen","type":"Journal Article","volume":"31"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:34:41.669670+00:00"}