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{"created":"2022-01-31T14:21:48.086889+00:00","id":"lit32944","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Iwanoff, Alexander","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 31: 266-276","fulltext":[{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\n(Aus der BASANOWA\u2019schen Klinik f\u00fcr Ohren-, Nasen- und Halskrause der Kaiserlichen Universit\u00e4t in Moskau.)\nEin Beitrag zur Lehre \u00fcber die Knochenleitung.1 2 *\nVon\nAssistenzarzt Dr. Alexander Iwanoee.\nBis jetzt wurde die Frage \u00fcber die Knochenleitung aus-schliefslich klinisch studiert, wobei vorzugsweise die pathologische Seite der Erscheinung erl\u00e4utert wurde; vom physikalischen Gesichtspunkte aus ist die Frage bisher nur von wenigen Schriftstellern untersucht worden.\nKessel 2 fand, dafs der Ton einer an den Sch\u00e4del angesetzten Stimmgabel in der verl\u00e4ngert gedachten Dichtung ihres Stieles objektiv betr\u00e4chtlich st\u00e4rker geh\u00f6rt wird, als in der darauf senkrechten Dichtung.\nMader 3 hat nachgewiesen, indem er die Knochenleitung mit Hilfe des von ihm eingerichteten Otomikrophons studierte, dafs von einem Ohr zum andern durch die Knochen sogar die schw\u00e4chsten Schallwellen nicht blofs der tiefen, sondern auch der h\u00f6heren T\u00f6ne \u00fcbergeleitet werden k\u00f6nnen.\nDie sehr interessante experimentelle Untersuchung hat Hugo Frey4 neuerlich unternommen. Seine Versuche hat er am Femur und Sch\u00e4del des Menschen angestellt und zwar sowohl am mazerierten, als auch am frischen Knochen. Das Gesamtergebnis seiner Experimente ist das folgende : 1. Der Femur leitet einen auf ihn direkt \u00fcbertragenen und in der L\u00e4ngs -\n1\tNach einem Vortrage auf dem VIII. PmoGOFFSchen Kongresse in Moskau, 3. Jan. 1902.\n2\tArchiv f. Ohrenheilk. 18, 129.\n8 XIII. Internat. Kongrefs. Section d\u2019Otologie. S. 25.\n4 Zeitschr. f. Psychol. 28, 9.","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Beitrag zur Lehre \u00fcber die Knochenleitung.\n267\nrichtung eintretenden Schallwellenzug haupts\u00e4chlich in der kompakten Substanz fort; dieser Satz gilt gleichm\u00e4fsig f\u00fcr den mazerierten, trockenen, wie f\u00fcr den die Weichteile enthaltenden Knochen. 2. Die Richtung, welche auf den Kopf \u00fcbertragene Schallwellen in dem kn\u00f6chernen Teile desselben einschlagen, ist wesentlich abh\u00e4ngig von der Dichtigkeit der Knochensubstanz. 3. Wenn daher von dem Geh\u00f6rgang der einen Seite Schallwellen ausgehen, so verbreiten sich dieselben wohl im ganzen Sch\u00e4del, sie werden aber vorzugsweise nach den symmetrischen Punkten der anderen Sch\u00e4delh\u00e4lfte geleitet.\nGanz unabh\u00e4ngig von Frey habe ich dieselben experimentellen Untersuchungen \u00fcber die Knochenleitung unternommen, und ich glaube, dafs die kurze Mitteilung auch meiner Resultate noch von Interesse sein werde.\nDie Fortpflanzung des7Schalles in den R\u00f6hrenknochen.\nMeine eigenen Untersuchungen \u00fcber die Knochenleitung habe ich mit mazerierten und getrockneten R\u00f6hrenknochen begonnen. Wenn man lange R\u00f6hrenknochen nimmt, z. B. Oberschenkelknochen, Schienbein oder Schulterbein, an das eine ihrer Enden die t\u00f6nende Stimmgabel und an das andere das Otoskoptrichterchen setzt und h\u00f6rt, so ist die ersten 5\u20148 Sekunden nach dem Ansetzen der Stimmgabel der Ton sehr laut, darauf verringert sich seine Kraft sehr rasch und nach 15\u201420 Sekunden ist nur noch ein schwacher Ton h\u00f6rbar.\nEtwas anders pflanzt sich der Ton in den frischen Knochen fort; hier h\u00f6rt man den durchgeleiteten Ton weit schw\u00e4cher, im Vergleich zu den trockenen Knochen; die Dauer des T\u00f6nens ist etwas geringer.\nUm zu wissen, wie die verschiedenen Knochenteile den Ton durchleiten, s\u00e4gte ich die Knochenenden ab und untersuchte die schallleitende F\u00e4higkeit der Corticalis und der Spongiosa; es ergab sich, dafs am st\u00e4rksten und am l\u00e4ngsten der Ton dann h\u00f6rbar wTar, wenn man Stimmgabel und Otoskop auf die Corticalis stellte; schw\u00e4cher und k\u00fcrzer war der Ton, wenn die Stimmgabel auf Corticalis und das Otoskop auf der Spongiosa stand und noch schw\u00e4cher und k\u00fcrzer war der Ton, wenn Stimmgabel und Otoskop auf der Spongiosa standen. Daraus kann","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nAlexander Iwanoff.\nman schliefsen, dafs der kompakte Knochen den Ton besser fortgepflanzt, als der por\u00f6se.\nUm mich noch mehr von der Richtigkeit des oben Gesagten zn \u00fcberzeugen, fing ich an die Schallleitung der pathologischen Knochen zu untersuchen, indem ich einerseits feste sklerotische Knochen nahm, und andererseits por\u00f6se Knochen. Wenn ich, zum Beispiel, das sklerotische und por\u00f6se Schienbein nehme, an eins ihrer Enden die t\u00f6nende Stimmgabel ansetze und ans andere das Otoskop, so wird der durchgeleitete Ton vom sklerotischen Knochen schlechter als von dem por\u00f6sen geleitet, aber die Dauer des T\u00f6nens ist l\u00e4nger (25\u201430 Sekunden) und das Schwachwerden der Intensit\u00e4t des Tones geschieht allm\u00e4hlich. Beim por\u00f6sen Knochen aber ist in den ersten 5\u20148 Sekunden der Ton sehr laut, aber dann wird seine Kraft rasch schw\u00e4cher und der geschw\u00e4chte Ton wird bald gar nicht mehr h\u00f6rbar. Die allgemeine Tondauer bei por\u00f6sen Knochen (15\u201420 Sekunden) ist bedeutend k\u00fcrzer als bei sklerotischen.\nAuf den ersten Blick k\u00f6nnte es scheinen, dafs die Schallleitung der por\u00f6sen Knochen gr\u00f6fser sei, als die der sklerotischen, da im ersten Moment nach dem Ansetzen der Stimmgabel der durchgeleitete Ton bei den por\u00f6sen Knochen st\u00e4rker h\u00f6rbar ist; aber hier m\u00fcssen wir zwei Erscheinungen in Rechnung ziehen \u2014 die Schallleitung und die Resonanz ; zahlreiche mit Luft gef\u00fcllte H\u00f6hlungen in den por\u00f6sen Knochen dienen als gute Resonatoren, und die gr\u00f6fsere Kraft des leitenden Tones erkl\u00e4rt sich durch resonatorische Verst\u00e4rkung ; aber da infolge der schlechten Schallleitung des por\u00f6sen Knochens die Tonenergie sich bald vermindert, so wird die Tonkraft schwach und die Tondauer k\u00fcrzer. In diesen F\u00e4llen ist die Tondauer f\u00fcr die Bestimmung der Schallleitung von gr\u00f6fserer Wichtigkeit als die Tonst\u00e4rke.\nAus den Beobachtungen der R\u00f6hrenknochen kann man den Schlufs ziehen, dafs die Schallleitung des Knochens desto besser ist, je fester, kompakter der Knochen ist. Wenn man daran denkt, dafs die Pyramide des Schl\u00e4fenbeins, in welchem sich das schallempfindende Organ befindet, den festesten Knochen des menschlichen Skeletts darstellt, so k\u00f6nnen wir in diesem Umstande die Bedingung sehen, welche die Schallschwingungen","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"sogar von hilft.\nEin Beitrag zur Lehre \u00fcber die Knochenleitung.\t269\nschw\u00e4chster Intensit\u00e4t bis zu dem Labyrinth leiten\nDie Fortpflanzung des Schalles im Sch\u00e4del.\nIndem ich zur Untersuchung der Schallleitung des Sch\u00e4dels \u00fcberging, wollte ich sie erst f\u00fcr die einzelnen Knochen des Sch\u00e4dels festsetzen, aber da diese Knochen nicht grofs sind und da die Methode selbst noch unvollkommen ist, so konnte ich keinen wesentlichen Unterschied f\u00fcr die verschiedenen Knochen feststellen, obgleich die Dauer des T\u00f6nens durch die Pyramide des Schl\u00e4fenbeins etwas gr\u00f6fser ist, als z. B. durch das Scheitelbein.\nWenn man den Stiel der Stimmgabel und das Otoskop auf verschiedene Punkte des Sch\u00e4dels stellt, kann man bemerken, dafs die Tonst\u00e4rke und die Dauer des T\u00f6nens nicht \u00fcberall gleich sind und dafs beide von der bez\u00fcglichen Lage der Stimmgabel und des Otoskops abh\u00e4ngen. In der unten beigef\u00fcgten Tabelle werden wir die Resultate der Untersuchung des Sch\u00e4dels anf\u00fchren, wobei zu bemerken ist, dafs die angegebenen Zahlen selbstverst\u00e4ndlich keine absolute Bedeutung haben und von der Individualit\u00e4t des Untersuchenden abh\u00e4ngen.\nStimmgabel\nan dem linken Warzenfortsatz\n55\t55\t55\t55\n55\t55\t55\t55\n55\t55\t55\t55\nan der Stirne\n55\t55\t55\nan Tuber frontale dest. am rechten Scheitelbein an dem Hinterhaupt\n55 55\t55\n55 55\t55\nbei dem Foramen vertebrale\nOtoskop\nan dem rechten W. an der Stirn an dem Hinterhaupt an dem Scheitel an dem Hinterhaupt an dem Warzenfortsatz Tuber front, sin. am linken Scheitelbein an der Stirn an dem Warzen forts atz an dem Scheitel\n55\t55\t55\n25\tSek.\tlaut\n15\t77\tschwach\n18\t77\t77\n20\t77\t77\n25\t77\tlaut\n15\t77\tschwach\n5\t77\t77\n8\t77\t77\n25\t77\tlaut\n15\t77\tschwach\n18\t77\t77\n28\t77\tlaut\nWenn man diese Tabelle durchsieht, wird man bemerken, dafs der Ton l\u00e4nger und st\u00e4rker in den F\u00e4llen h\u00f6rbar ist, wo Stimmgabel und Otoskop an den diametral entgegengesetzten Punkten des Sch\u00e4dels sich befinden. Wenn man die Stimmgabel an die Stirne h\u00e4lt und das Otoskop an das Hinterhaupt, so wird der Ton l\u00e4nger und st\u00e4rker h\u00f6rbar, als wenn man die","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nAlexander Iwanoff.\nStimmgabel an die Stirne und das Otoskop auf die Warzenforts\u00e4tze stellt, ja sogar als wenn die Stimmgabel und das Otoskop auf denselben Knochen gestellt worden in der Entfernung von 10 bis 15 cm von einander.\nBrachicephalische und doliehocephalische Sch\u00e4del pflanzen den Ton nach demselben Gesetze fort.\nDiese Tatsache, zuerst von Kessel bemerkt, wird von ihm auf die Weise erkl\u00e4rt, dafs der Ton am besten l\u00e4ngs der Linie geleitet wird, welche als Fortsetzung des Stimmgabelstiels dient, aber diese Erkl\u00e4rung ist unrichtig und h\u00e4lt der Kritik nicht stand.\nWenn man an den Sch\u00e4del an seinen diametral entgegengesetzten Enden zwei t\u00f6nende Stimmgabeln setzt, deren Schwingungszahlen nur wenig differieren (ich nahm Stimmgabeln von 50 und 60 Schwingungen) und mit dem Phonendoskop von irgend einem Punkte aus horchte, so konnte man deutlich die Schwebungen h\u00f6ren. Dieser Versuch zeigt, dafs die Interferenz der Tonwellen nicht nur in der Luft, sondern auch im Knochen geschehen kann.\nDie Fortpflanzung des Schalles in einer h\u00f6lzernen\nKugel.\nDa wir es bei der Untersuchung der Schallleitung des Sch\u00e4dels mit einem kugelf\u00f6rmigen oder richtiger eif\u00f6rmigen K\u00f6rper zu tun haben, so ist sehr interessant zu erfahren, in welchem Zusammenhang die Schallleitung zu der Form des leitenden K\u00f6rpers im allgemeinen steht, und wie im einzelnen der Ton in kugelf\u00f6rmigen K\u00f6rpern geleitet wird.\nWenn man sich an die Physik wendet, um diese Frage zu l\u00f6sen, so werden wir darin nichts finden, was uns interessieren k\u00f6nnte. Die Arbeiten von Vierokdt und Hesechus ber\u00fchren ausschliefslich die Schallleitung der Stangen aus verschiedenem Material.\nWenn wir eine aus Holz gedrechselte Kugel von geometrisch richtiger Form nehmen, den Stiel der t\u00f6nenden Stimmgabel aufsetzen und mit dem Otoskop von verschiedenen Punkten aus h\u00f6ren, so k\u00f6nnen wir bemerken, dafs das Maximum des Tones auf dem Punkte zu beobachten ist, welcher sich an der Spitze des Diameters befindet, der durch den Ber\u00fchrungspunkt der Stimmgabel durchgeht ; das Minimum des Tones ist an dem","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Beitrag zur Lehre \u00fcber die Knochenleitung.\n271\nPunkte, welcher von der t\u00f6nenden Stimmgabel 900 entfernt ist. Wenn wir das Otoskop vom Ber\u00fchrungspunkte der Stimmgabel l\u00e4ngs der Oberfl\u00e4che der Kugel zum entgegengesetzten Ende des Diameters gleiten lassen, so k\u00f6nnen wir bemerken, dafs der am Stiel starke Ton allm\u00e4hlich bei der Ann\u00e4herung zu dem Punkte, der von der Stimmgabel 900 entfernt ist, immer schw\u00e4cher wird ; darauf f\u00e4ngt er von neuem an stark zu werden und erreicht sein Maximum an der Spitze des Diameters.\nGraphisch kann dies auf folgende Weise dargestellt werden.\nFig. l.\nWenn man die verschiedenen Punkte des Halbkreises auf die Achse der Abszisse projiziert, und die Tonst\u00e4rke in diesen Punkten durch die H\u00f6he der Ordinaten ausdr\u00fcckt, so bekommt man, indem man die Enden der Ordinaten vereinigt, eine Kurve BCD. Die gr\u00f6fste Tonst\u00e4rke wird in der N\u00e4he von K \u2014 dem Ansatzpunkte der Stimmgabel \u2014 und 0 sein, die geringste neben C.\nWie erkl\u00e4rt man sich eine solche Schallleitung?\nKessel bem\u00fcht sich, wie bereits erw\u00e4hnt wurde, sie damit zu erkl\u00e4ren, dafs sich der Ton am besten in der verl\u00e4ngert gedachten Richtung des Stimmgabelstiels verbreitet. Den Irrtum dieser Erkl\u00e4rung kann man leicht beweisen, wenn man den Stiel auf die Oberfl\u00e4che der Kugel nicht senkrecht, l\u00e4ngs dem Radius, sondern an die Tangente der Kugel stellt ; das Maximum des durchgeleiteten Tons wird wiederum am diametral entgegengesetzten Ende der Kugel zu beobachten sein, obgleich nach Kessel die Tonwellen dann gar nicht in die Kugel hinein-kommen sollten.","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nAlexander hvanoff.\nEs scheint mir, dafs man diese Schallleitung in folgender Weise erkl\u00e4ren kann.\nIn dem gleichartigen Medium verbreiten sich die Schallschwingungen von dem Schallerreger gleichm\u00e4fsig nach allen Richtungen hin; wenn die Schwingungen bis an die zwei verschiedene Medien begrenzende Oberfl\u00e4che gehen, so verbreiten sie sich teilweise in das zweite Medium, zum Teil aber kehren sie in das erste zur\u00fcck und zwar nach dem Gesetze: der Eim fallswinkel ist gleich dem Reflexionswinkel.\nA\nFig. 2.\nWenn wir uns vorstellen, dafs dem Punkte K (Fig. 2) einer Holzkugel einige Tonenergie verliehen wird und von ihm aus die Tonschwingungen ausgehen, die sich gleichm\u00e4fsig nach allen Richtungen hin verbreiten, so erreiche ein Teil derselben direkt den Punkt 0, andere Tonwellen aber, nachdem sie z. B. die Punkte R, A, C erreicht haben, gehen zum Teil in die Luft \u00fcber, zum Teil erleiden sie eine Reflexion; dabei werden die Wellen, die in der Richtung KA gehen, nach dem Reflexionsgesetz, nach 0 reflektiert. Die Wellen, die nach dem Punkte B gehen, werden zweimal reflektiert und fallen beim Punkte 0 mit jenen zusammen. Der gr\u00f6fste Teil der anderen Wellen f\u00e4llt nach der Reflexion auf den Platz neben dem Punkte 0. Auf diese Weise erfolgt im Punkte 0 eine Summation der Wellen, die dahin teils unmittelbar gekommen sind, teils reflektiert wurden, und daher wird in diesem Punkte das Maximum des geleiteten Tons entstehen.\nDasselbe Resultat erh\u00e4lt man, wenn man die Schallleitung nicht durch eine kompakte, sondern durch eine hohle Kugel pr\u00fcft ; nur ist hier der Ton an allen Punkten der Kugel st\u00e4rker h\u00f6rbar als bei der kompakten.","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Beitrag zur Lehre \u00fcber die Knochenleitung.\n273\nWenn man statt der Kugel einen ovalen K\u00f6rper nimmt, so folgt die Schallleitung demselben Gesetze.\nDie Fortpflanzung des Schalles im Leichenkopfe.\nWir wollen jetzt zur Pr\u00fcfung der Schallleitung des Sch\u00e4dels einer Leiche \u00fcbergehen. W\u00e4hrend der Untersuchung hing der Leichenkopf vom Tischrande herunter und der ganze Kopf befand sich in der Luft, wodurch die Tischresonanz beseitigt wurde. Haben wir runde \u00d6ffnungen in das Stirn-, Hinterhaupt-, Schl\u00e4fen- und Scheitelbein gemacht und stellen wir die t\u00f6nende Stimmgabel und das Otoskop abwechselnd auf die Haut, auf den Knochen, die harte Hirnhaut und das Gehirn selbst, so bekommen wir in allen F\u00e4llen ein und dasselbe Resultat-, st\u00e4rker und l\u00e4nger h\u00f6rt man den Ton, wenn die Stimmgabel und das Otoskop sich in einer Linie befinden, die ann\u00e4hernd durch den Mittelpunkt des Sch\u00e4dels geht.\nDie Untersuchung der Schallleitung von den verschiedenen Teilen des Kopfes aus \u2014 von Haut, Knochen, Hirnhaut aus \u2014, gab uns die folgenden Resultate.\n1.\tDie Stimmgabel steht auf der Haut des rechten Schl\u00e4fenbeins, das Otoskop steht auf der Haut des linken Schl\u00e4fenbeins der durchgeleitete Ton ist h\u00f6rbar 25 Sek.\n2.\tDie Stimmgabel steht auf dem Knochen des rechten Schl\u00e4fenbeins, das Otoskop auf der Haut des linken Schl\u00e4fenbeins; der Ton ist 30 Sek. h\u00f6rbar, st\u00e4rker.\n3.\tDie Stimmgabel steht auf dem Knochen des rechten Schl\u00e4fenbeins, das Otoskop auf dem Knochen des linken Schl\u00e4fenbeins; der Ton ist 35 Sek. h\u00f6rbar, noch st\u00e4rker.\n4.\tDie Stimmgabel steht auf dem Knochen des rechten Schl\u00e4fenbeins, das Otoskop auf der harten Hirnhaut in der Gegend des linken Schl\u00e4fenbeins ; der Ton ist 20 Sek. h\u00f6rbar, schwach.\n5.\tDie Stimmgabel steht auf der harten Hirnhaut des linken Schl\u00e4fenbeins, das Otoskop auf dem Knochen des rechten Schl\u00e4fenbeins; der Ton ist 10 Sek. h\u00f6rbar, schw\u00e4cher.\n6.\tDie Stimmgabel steht auf der harten Hirnhaut in der Gegend des rechten Schl\u00e4fenbeins und das Otoskop auf der harten Hirnhaut in der Gegend des linken Schl\u00e4fenbeins ; der Ton ist 50 Sek. h\u00f6rbar, sehr stark.\n7.\tDie Stimmgabel steht auf dem Knochen des rechten Schl\u00e4fenzeitschrift f\u00fcr Psychologie 31.\t18","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nAlexander Iwanoff.\nbeins, das Otoskop auf der Gehirnsubstanz in der Gegend des linken Schl\u00e4fenbeins, der Ton ist sehr schwach h\u00f6rbar.\n8. Die Stimmgabel steht auf der Gehirnsubstanz in der Gegend des rechten Schl\u00e4fenbeins und das Otoskop auf der Gehirnsubstanz in der Gegend des linken Schl\u00e4fenbeins, es ist nur ein schwaches Get\u00f6se h\u00f6rbar.\nAlso einen sehr starken und lang dauernden Ton bekommen wir, wenn wir sowohl die Stimmgabel als auch das Otoskop auf die harte Hirnhaut stellen; die St\u00e4rke des durchgeleiteten Tons \u00fcbertrifft dabei die Tonst\u00e4rke, die man bei der Pr\u00fcfung des mazerierten Sch\u00e4dels bekommt; auf diese Weise \u00fcber trifft die Schallleitung durch die harte Hirnhaut diejenige des Knochens.\nWTenn wir die Stimmgabel auf den Knochen und das Otoskop auf die Gehirnsubstanz stellen, so wird ein sehr schwacher Ton h\u00f6rbar; wenn wir aber sowohl die Stimmgabel als auch das Otoskop ins Gehirn stecken, so k\u00f6nnen wir nur irgend ein schwaches, unbestimmtes Get\u00f6se vernehmen.\nDie sehr verbreitete Meinung, dafs in der Knochenleitung die Cranio - Tympanaleitung eine wesentliche Polle spielt, nach welcher die Schallschwingungen nur dem Trommelfelle unmittelbar \u00fcberliefert werden k\u00f6nnen, und durch dasselbe dem Labyrinth, erscheint infolge des oben Erw\u00e4hnten ganz unbegr\u00fcndet. Nehmen wir an, dafs die t\u00f6nende Stimmgabel auf den Warzenfortsatz aufgesetzt ist, so verbreiten sich vom Punkte des Ansetzens die Schallwellen gleichm\u00e4fsig nach allen Pichtungen hin und erreichen vor allem und unmittelbar das Labyrinth. Es ist kein Grund anzunehmen, dafs sie dem Labyrinth durch die Luft des \u00e4ufseren Geh\u00f6rgangs und durch das Trommelfell zugef\u00fchrt werden m\u00fcssen; wenn man aber die Stimmgabel auf die Stirn- oder auf das Scheitelbein setzt, so verlangt die cranio - tympanale Plypothese, dafs die Schallwellen auf ihrem Wege zum Trommelfelle das Labyrinth umgehen; wenn diese Hypothese aber einmal zul\u00e4fst, dafs die Schallwellen durch den Knochen bis zum Annulus tympani reichen, woher k\u00f6nnen sie dann nicht bis zum Knochenlabyrinth reichen? Die klinischen Beobachtungen zeugen auch gegen diese Voraussetzung, da bei vollst\u00e4ndigem Mangel des Trommelfells die Knochenleitung gar nicht gest\u00f6rt wird.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Beitrag zur Lehre \u00fcber die Knochenleitung.\n275\nZum Schl\u00fcsse werde ich mit einigen Worten die Frage ber\u00fchren, ob die nach physikalischen Grunds\u00e4tzen vorgenommenen Untersuchungen der Knochenleitung, abgesehen vom rein theoretischen Interesse, irgend eine praktische Bedeutung haben k\u00f6nnen. Obgleich dergleichen Untersuchungen erst im Anf\u00e4nge sind und vieles noch unerkl\u00e4rt und dunkel auf diesem Gebiete ist, so kann man schon jetzt, wie es mir scheint, auf Grund der in dieser Arbeit niedergelegten Beobachtungen zwei praktische Schl\u00fcsse ziehen.\n1.\tBei der Ausf\u00fchrung des WEBERschen Versuchs ist es notwendig, die Stimmgabel in der Mitte des Sch\u00e4dels in der Fl\u00e4che,\n\u2022 \u2022\t_\ndie durch die \u00e4ufseren \u00d6ffnungen des Geh\u00f6rgangs geht, zu stellen; da nach dem aufgestellten Gesetze der Schallleitung in den kugelf\u00f6rmigen K\u00f6rpern bei dieser Lage der Stimmgabel in beide Geh\u00f6rorgane gleiche maximale Mengen der durchgeleiteten Schallenergie eindringen kann. Wenn man aber die Stimmgabel z. B. auf die Stirn oder auf das Hinterhaupt aufsetzt und dabei weit von der Mittellinie ab, so werden zu den Geh\u00f6rorganen die Tonwellen mit ungleicher Intensit\u00e4t gelangen, die wenig intensiv sind, so dafs die schw\u00e4chere Schallempfindung in diesem oder jenem Ohr, welche durch die Eigent\u00fcmlichkeit der Leitung des Sch\u00e4dels entsteht, als pathologische Erscheinung aufgefafst werden kann.\n2.\tBei der Ausf\u00fchrung des RrxxEschen Versuchs hat man sich gew\u00f6hnt, den Stiel der Stimmgabel auf den Warzenfortsatz zu stellen. Infolge desselben Gesetzes der Leitung des Sch\u00e4dels wird bei der Lage der Stimmgabel, z. B. auf dem rechten Warzenfortsatz, das Maximum des durchgeleiteten Tons im Gebiet des linken Warzenfortsatzes sein und die gepr\u00fcfte Person wird den Ton nicht nur mit dem Ohr vernehmen, welches untersucht wird, d. h. mit dem rechten, sondern teilweise auch mit dem linken. Jeder kann sich davon leicht \u00fcberzeugen, indem er die t\u00f6nende Stimmgabel auf den rechten Warzenfortsatz setzt und mit dem Finger den linken Geh\u00f6rgang verstopft; dann wird er den Ton auch mit dem linken Ohr h\u00f6ren. Folglich kann es bei der Untersuchung des Kranken geschehen, dafs die gepr\u00fcfte Person mit dem kranken Ohr, welches untersucht wird, schon aufgeh\u00f6rt hat zu h\u00f6ren, und mit dem gesunden Ohr weiter h\u00f6rt. Man bekommt dann ein falsches Verh\u00e4ltnis zwischen der Luft-\nund Knochenleitung f\u00fcr das zu untersuchende Ohr. Um da\u00ab\n18*","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nAlexander Iwanoff.\nzu vermeiden, ist es besser bei der Ausf\u00fchrung des RiNNEschen Versuchs die Stimmgabel auf die oberen Vorderz\u00e4hne zu stellen, wie Rinke es selbst tat.\nWelche praktischen Schl\u00fcsse man noch aus den physikalischen Untersuchungen der Knochenleitung ziehen kann, werden uns zuk\u00fcnftige Beobachtungen zeigen.\nZum Schlufs benutze ich die Gelegenheit, dem Direktor der otiatrischen Klinik, Hrn. Stanislas von Stein f\u00fcr den Hinweis auf das Thema dieser Arbeit und f\u00fcr die erhaltenen n\u00fctzlichen Ratschl\u00e4ge w\u00e4hrend ihrer Ausf\u00fchrung meinen innigsten Dank auszusprechen.\n(.Eingegangen am 3. December 1902.)","page":276}],"identifier":"lit32944","issued":"1903","language":"de","pages":"266-276","startpages":"266","title":"Ein Beitrag zur Lehre \u00fcber die Knochenleitung","type":"Journal Article","volume":"31"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:21:48.086895+00:00"}