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{"created":"2022-01-31T14:21:01.126645+00:00","id":"lit32947","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lossky, N.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 30: 87-132","fulltext":[{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"87\nEine Willenstheorie vom voluntaristischen Standpunkte.\nVon\nN. Los8ky.\n(Unter Mitwirkung von H. Haag \u00fcbersetzt.)\nI. Vorl\u00e4ufige Definition des Voluntarismus.\nDer Voluntarismus ist diejenige Richtung in der Psychologie, welche behauptet, dafs alle Erscheinungen des Seelenlebens, die das individuelle Bewusstsein auf Grund des unmittelbaren Gef\u00fchls auf sein Ich bezieht, nach dem Muster der Willenshandlungen verlaufen, dafs die Willenshandlungen typische Formen der Bewufstseinsprocesse sind. Mit anderen Worten: im Bereiche des Ich giebt es keine bleibenden Zust\u00e4nde, sondern nur zielstrebende Handlungen. Dies ist die vorl\u00e4ufige Definition des Voluntarismus, welche seine Umrisse noch in unbestimmtem Lichte zeigt, da jeder der dabei verwandten Ausdr\u00fccke noch der n\u00e4heren Erl\u00e4uterung bedarf.\nDer Voluntarismus als eine streng empirische Richtung1 entnimmt seine psychologischen Begriffe der sorgf\u00e4ltigen Beobachtung des reellen Inhalts des Seelenlebens, und jedem von ihnen entspricht eine Gruppe von Thatsachen, die sich in dem Bewufstsein eines jeden finden. Daher sehen wir uns f\u00fcr die Betrachtung des Voluntarismus gen\u00f6thigt, von dem Inhalt der mitgebrachten Begriffe des Willens, der Willenshandlung, des Ich u. s. w. abzusehen und zu pr\u00fcfen, welche Thatsachen man uns unter diesen Namen proponiri Unseren Ausgangspunkt werden dabei die Wahlhandlungen bilden. Sie bestehen aus h\u00f6chst differenzirten Elementen und sind daher besonders geeignet f\u00fcr die Aufz\u00e4hlung der Thatsachen, welche die Willenshandlung bilden.\n1 8. Wundt, Grundrifs der Psychologie. 3 AufL, S. 21.","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nN, Losftky.\nn. B!\u00a9 Bestand theile der Willenshandltmg.\nBetrachten wir einen Fall wie den folgenden: Wir sind mit einer wissenschaftlichen Arbeit besch\u00e4ftigt. Da tritt einer von unseren Bekannten ein und fordert uns zu einem Spaziergang aut Wir antworten: gerne w\u00fcrden wir uns an dem sch\u00f6nen Fr\u00fchlingstag erfreuen, aber die Arbeit, die wir unter den H\u00e4nden haben, fordere dringend heute noch ihre Beendigung. Nachtr\u00e4glich kommt es uns in den Sinn, dafs wir durch einen Gang ins Freie wesentlich erfrischt und so bef\u00e4higt w\u00fcrden, unsere Arbeit in k\u00fcrzerer Zeit zum Ende zu f\u00fchren. Verm\u00f6ge dieser Erw\u00e4gung erheben wir uns und folgen nun doch der Aufforderung. Das Ende dieses zusammengesetzten inneren Processes besteht in einer Ver\u00e4nderung des psychophysischen Ganzen: es tritt eine Reihe von Bewegungen und neuen Zust\u00e4nden des Bewuf\u00dftseins auf, welche entweder ein Gef\u00fchl der Befriedigung mit sich f\u00fchren, oder z. B. wenn unerwartet schlechtes Wetter eintritt, ein solches der Nichtbefriedigung. Dieser Ver\u00e4nderung ging eine Reihe von Strebungen voraus, von denen die einen, wie es uns scheint, die Bedingung der Entstehung der Ver\u00e4nderungen sind, w\u00e4hrend die anderen die Nichtentstehung der Ver\u00e4nderungen zu bedingen scheinen. Mit anderen Worten: es scheint uns, dafs unser Ich die Ursache der Ver\u00e4nderung sei, insofern jene vorausgegangenen Zust\u00e4nde in unserem Be-wufstsein vorhanden waren, und dafs die Ver\u00e4nderung entstehe, wenn die verursachenden Zust\u00e4nde das Uebergewicht erhalten \u00fcber die entgegenstehenden. Willenshandlungen werden wir solche Handlungen nennen, welche die drei bezeichneten Elemente insgesammt enthalten: 1. meine Strebung, 2. das Gef\u00fchl meiner Activit\u00e4t \\ 3. die Ver\u00e4nderung, welche ganz oder theilweise Resultat der Th\u00e4tigkeit meines Ich zu sein scheint, obgleich es nicht immer \u201emein\u201c Bewufstseinszustand ist\nUnsere Analyse k\u00f6nnte uns den Vorwurf zuziehen, dafs wir statt der beabsichtigten Beschreibung von Thatsachen, wie sie in dem Bewufstsein eines Jeden zu finden seien, ein\u00a9 ganze Theorie entwickelt haben; man k\u00f6nnte vermuthen, dafs wir vom Ich als einer Substanz und von der Activit\u00e4t des Ich ge-\n1 Mit Gef\u00fchl werden wir jeden \u201enichtgegenst\u00e4ndlichen4* Bewufstseins-inhalt bezeichnen, welchen wir unter einer bestimmten Classe von psychischen Functionen nicht unterbringen k\u00f6nnen oder wollen.","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willens th\u00e9orie vom volun taristischen Standpunkte.\n89\nsprochen h\u00e4tten, dafs wir behauptet h\u00e4tten, die Strebungen seien die Ursache der Ver\u00e4nderung im Ich. In Wirklichkeit waren dies nicht unsere Worte: wir sprachen nur vom Gef\u00fchl der Activit\u00e4t \u2014 mag dieses Gef\u00fchl auch eine Illusion sein \u2014 und nicht von der F\u00e4higkeit, in der Aufsenwelt oder im eigenen Ich thats\u00e4chlicheVer\u00e4nderungen hervorzubringen ; von den Strebungen bemerkten wir, dafs sie uns \u2014 mag dies auch ein tr\u00fcgerisches Gef\u00fchl sein - in urs\u00e4chlicher Beziehung zu den auf sie folgen-den Ver\u00e4nderungen zu stehen scheinen. Von dem Ich sprachen wir nur im Sinne eines noch nicht analysirten Gef\u00fchls, welches alle Zust\u00e4nde des Bewufstseins stetig begleitet, die wir \u201emeine4 Zust\u00e4nde nennen. Eigentlich ist ja der ganze Inhalt jedes individuellen Bewufstseins von diesem Gef\u00fchle gef\u00e4rbt; bei n\u00e4herer Betrachtung jedoch erweist es sich, dafs einige von den Zust\u00e4nden des Bewufstseins sehr intensiv und in ihrem ganzen Umfange als meine empfunden werden, andere dagegen nicht intensiv oder nur theilweise die meinigen zu sein scheinen. Bei der Analyse der letzteren kann man die Elemente ausscheiden, -welche gar nicht von dem erw\u00e4hnten Gef\u00fchl gef\u00e4rbt worden sind, welche gar nicht meine eigenen, sondern mir gegebene oder von mir Vorgefundene zu sein scheinen. Z. B. wenn ich das Tintenfafs auf meinem Tisch betrachte, so scheinen mir die Empfindungen der Farbe, die Vorstellung der Form und andere Elemente dieser Wahrnehmung nicht die meinigen zu sein; sie sind mir gegeben und ich komme nur insofern dazu, sie die meinigen zu nennen, als meine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet worden ist.\nMit H\u00fclfe der Analyse kann man, wenn nicht in Wirklichkeit, so doch in der Abstraction, meine Elemente von den gegebenen abtrennen; daher unterscheiden wir die Begriffe Ich und individuelles Bewufstsein : unter dem Ausdruck individuelles Bewufstsein verstehen wir den Inbegriff aller Zust\u00e4nde des Bewufstseins, welche ein Ich erf\u00e4hrt, unter dem Worte Ich nur denjenigen Th eil des Bewufstseins, welcher als \u201eder meinige\u201c . empfunden wird.\nAlso nur mit der Beschreibung von Thatsachen wollten wir es bis jetzt zu thun haben; sie soll zum Ausgangspunkt einer Theorie bilden: der Lehre von der thats\u00e4chlichen Activit\u00e4t des Bewufstseins. Aber ehe wir dieser Aufgabe n\u00e4her treten, haben wir zuerst die Elemente des Willensactes, die Strebungen, das","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nN. Loasky.\nGef\u00fchl der Activit\u00e4t und die Ver\u00e4nderungen zu untersuchen, sowie die verschiedenen Gattungen der Willensacte zu bestimmen.\n1. Die Strebung.\nUnsere Aufgabe ist jetzt, die Bestandtheile der Strebung aufzusuchen und zu bestimmen. Diese Arbeit ist uns betr\u00e4chtlich erleichtert durch Pf\u00e4nder\u2019s vortreffliches Werk, \u201ePh\u00e4nomenologie des Wollens\u201c (Leipzig 1900). Pf\u00e4nder wollte darin, ohne eine Theorie des Willens zu geben, nur die Zusammensetzung der Strebung \u00fcberhaupt und der wichtigsten Gattung derselben, des Wollens im besonderen, darlegen; die Ver\u00e4nderungen, welche auf das Streben folgen, d. h. die Willenshandlungen selbst, untersucht er gar nicht. Die Endergebnisse seiner Analyse sind so ersch\u00f6pfend und \u00fcberzeugend, dafs uns nichts anderes \u00fcbrig bleibt, als sie hier wiederzugeben und zu erg\u00e4nzen durch unsere Beobachtung von einigen einfachsten Strebungen, welche Pf\u00e4nder nicht ber\u00fccksichtigt hat. Jedes Streben, sagt Pf\u00e4nder, begreift in sich die relativ lustvolle Vorstellung eines Erlebnisses, welches Gegenstand des Strebens ist1\nAber die relativ lustvolle Vorstellung eines Erlebnisses ist noch kein Streben. Wenn wir uns z. B. irgend ein zuk\u00fcnftiges lustvolles Ereignifs vorstellen und fest \u00fcberzeugt sind, dafs es sich ohne unser Zuthun verwirklichen wird, so geh\u00f6rt unser Zustand nicht zur Kategorie der Strebungen. Mit dem Ausdruck Streben kann man nur denjenigen Zustand des Bewufstseins bezeichnen, welcher aufser den oben aufgez\u00e4hlten Elementen noch ein eigenth\u00fcmliches, unzerlegbares Gef\u00fchl des Eindr\u00e4ngens, das \u201eStrebungsgef\u00fchl\u201c, wie es Pf\u00e4nder nennt, in sich begreift.2\nNach der Analyse des Thatbestandes des Strebens \u00fcberhaupt geht Pf\u00e4nder zur Untersuchung der wichtigsten Gattung des Strebens, zur Analyse des Wollens \u00fcber. Aufser den Elementen, die den Thatbestand eines jeden Strebens ausmachen, giebt es im Wollen noch eine Reihe neuer Momente; zun\u00e4chst das Be-wufBtsein der M\u00f6glichkeit, das Erstrebte durch eigenes \u201eThun\u201c zu verwirklichen. Ueberall wo dieses Bewufstsein fehlt, z. B. wenn der Gegenstand des Strebens \u201esch\u00f6nes Wetter\u201c ist, haben wir es nicht mit einem Wollen, sondern mit dem Wunsche,\n1 Pf\u00e4nder, Ph\u00e4nomenologie des Wollens, 1\u201461.\n* Ebenda S. 60\u201470.","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willemtheorie vom voluntaristischen Standpunkte.\t91\nHoffnung u. dergl. zu thun. Aufserdem m\u00fcssen wir nat\u00fcrlich uns dieses unser Thun vorstellen und es auch zum Gegenstand unseres Strebens machen.1 * *\nDie aufgez\u00e4hlten Elemente ersch\u00f6pfen noch nicht den That-bestand derjenigen Zust\u00e4nde, welche Pf\u00e4nder mit \u201eWollen4 be-zeichnet Das Streben, welches mit der Vorstellung des eigenen Thuns und mit der Entschlossenheit dazu verbunden ist, st\u00f6fst zuweilen mit der Vorstellung irgend einer unangenehmen Folge dieses Thuns zusammen; dann fangen wir zu schwanken an, unser Streben wird gefesselt. Umgekehrt f\u00e4hrt in anderen F\u00e4llen das urspr\u00fcngliche Streben auch nach solchen Zusammenst\u00f6\u00dfen fort, sich siegreich zu erweisen und beh\u00e4lt oder ge-winnt \u201eden Charakter v\u00f6lliger oder relativer Freiheit oder Entschiedenheit4. Nur ein solches siegreiches Streben nennt Pf\u00e4nder Wollen.2\nAufserdem giebt es noch ein Element, welches Pf\u00e4nder ins Wollen einbegreift Es wird am leichtesten nachgewiesen mittels der Analyse derjenigen F\u00e4lle, in denen das Wollen als Resultat der praktischen (nicht theoretischen) Ueberlegung und Wahl entsteht. Wenn z. B. ein Trunkenbold, der vor einem Glas Branntwein sitzt, mit der Erw\u00e4gung umgeht, ob es nicht besser w\u00e4re, sich diesmal zu enthalten, und diese Erw\u00e4gung eine j\u00e4he -Unterbrechung erf\u00e4hrt durch die einfache Thatsache, dafs er sein Glas ergreift und austrinkt, so ist diese Handlung nicht ein Resultat des Woliens : sie ist kein Resultat des Willensentscheides, sie geschieht gegen den Willen, ist Product der siegreichen Leidenschaft. Einen anderen Charakter haben, was die Gef\u00fchle anbetrifft, diejenigen Handlungen, welchen, wie im beschriebenen Falle, sich bek\u00e4mpfende Strebungen voraufgehen, aber das Ich, welches zun\u00e4chst schwankt, welche Partei es ergreifen soll, \u201estellt sich4 zuletzt \u201eauf die Seite einer Strebung und st\u00f6fst zugleich mehr oder minder erfolgreich die anderen Strebungen von sich hinweg4, \u201emacht eine derselben ausschliefslich zu der seinigen4.8 Die oben beschriebene Handlung kann zu dieser zweiten Kategorie geh\u00f6ren, wenn das Austrinken etwa auf eine Erw\u00e4gung hin erfolgt wie diese: \u201eAch was! zum Teufel mit der langweiligen Moral; wenn schon, denn schon!4 Also der Willens-\n1 Ebenda 8. 82\u2014104.\n*\tEbenda 8. 106\u2014108.\n*\tEbenda S. 126.","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nAr. Lossky.\nentscheid besteht darin, dafs \u201edas siegreiche Streben zugleich dasjenige ist, \u00bbauf dessen Seite sich das Ich gestellt hat\u00ab oder das dasich endg\u00fcltig \u00bbzu dem seinigen\u00ab gemacht hat. Wenn dagegen eine Begierde \u00bbHerr wird\u00ab, so w\u00fcrde das heifsen, es siegt ein Streben, auf dessen Seite das Ich sich nicht gestellt hat oder welches das Ich nicht zu dem seinigen gemacht hat*.1 Diese zwei Gattungen des Strebens bezeichnet Pf\u00e4nder als \u201emein Streben* und \u201eStreben in mir*. Den Unterschied zwischen ihnen beschreibt er auf folgende Weise: \u201eDas Streben, das man als \u00bbmein Streben\u00ab bezeichnet, scheint direct vom Ich selbst auszugehen, nicht durch, etwas vom Ich verschiedenes dem Ich aufgedr\u00e4ngt oder abg\u00a9-n\u00f6thigt zu sein. Oder, mit anderen Worten, in \u00bbunserem Streben\u00ab f\u00fchlen wir uns aus uns selbst heraus, frei nach dem vorgestellten Erlebnifs strebend ; kurz, wir f\u00fchlen uns in diesem Streben spontan. Dagegen ist zwar das \u00bbStreben in uns\u00ab in letzter Linie auch \u00bbunser Streben\u00ab, aber wir f\u00fchlen uns darin nicht frei aus uns selbst heraus strebend, nicht spontan strebend, sondern zu diesem Streben durch etwas von uns Verschiedenes gedr\u00e4ngt oder veranlafst\u201c 2\nWir f\u00fchren diese Aufstellungen Pf\u00e4nders mit besonderer Genugthuung an, weil wir finden, dafs sie unserer Unterscheidung von: \u201emir gegebene Zust\u00e4nde\u201c und \u201emeine Zust\u00e4nde\u201c entsprechen. Aber Pf\u00e4nder stellt nur zwei Kategorien von Strebungen fest und unterscheidet beide dadurch, dafs die einen, wie es scheint, durch unser Ich selbst\u00e4ndig verursacht werden, w\u00e4hrend die anderen wohl ebenfalls durch unser Ich verursacht werden, jedoch unter dem Zwange des \u00e4ufseren Einflusses. Nun finden wir aber, dafs einige von den Strebungen gleichsam dem selbst\u00e4ndig wirkenden Ich entspringen, andere ebenfalls, wie es scheint, dem Ich, aber nicht frei unter \u00e4ufserem Zwang, w\u00e4hrend wieder andere, wie es scheint, \u00fcberhaupt nicht dem Ich entspringen, sondern ohne Zuthun des Ich existiren, so dafs diesem nur die Rolle des Zuschauers \u00fcbrig bleibt ; die letzteren Zust\u00e4nd\u00a9 des Bewufstseins k\u00f6nnen als \u201edie meinigen\u201c bezeichnet werden, nur insofern meine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet ist. Ausdr\u00fccke wie \u201everschiedene W\u00fcnsche bek\u00e4mpfen sich in meiner\n1 Ebenda S. 125.\n* Ebenda S. 128.","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntaristischen Standpunkte.\n93\nBrust\u201c oder: \u201edie Leidenschaft reifst mich hin\u201c halten wir nicht f\u00fcr blofse Metaphern, sondern erkennen sie als genaue Beschreibung einiger Gef\u00fchle an. Um die Schattirungen der be-zeichneten Arten von Strebungen deutlich zu machen, werden wir alle drei durch die Modificationen eines und desselben Beispiels illustriren. Wenn der innere Kampf eines Trunkenbolds in einer f\u00fcr ihn selbst unerwarteten Weise eine pl\u00f6tzliche Unterbrechung erf\u00e4hrt dadurch, dafs er rasch sein Glas ergreift und austrinkt, so haben wir es mit dem typischen \u201emir gegebenen\u201c Streben zu thun. Wenn aus einem solchen Streben eine Handlung hervorgeht, so hat auch diese den Charakter der \u201emir gegebenen\u201c Handlung; wir werden sie als \u201eHandlung in mir\u201c bezeichnen. Nat\u00fcrlich ist eine solche Aufeinanderfolge von Be-wufstseinserscheinungen nur in den einfachsten F\u00e4llen m\u00f6glich und f\u00fchrt nur zu den primitivsten Handlungen. Nehmen wir den Fall: ein S\u00e4ufer k\u00e4mpft gegen das Streben zu trinken an, aber da er ganz von diesem Streben unterjocht ist, so nimmt dieses den ganzen Umfang seines Bewufstseins ein, so dafs er zuletzt anf\u00e4ngt, selbst zu \u00fcberlegen, z. B. wo man den Branntwein erlangen k\u00f6nnte, sich erinnert, dafs die Flasche im Schranke steht, sie heraus nimmt und austrinkt, wobei er sich jedoch nicht auf die Seite des Strebens zu trinken stellt, sondern bis zum Ende gleichsam unter der Wirkung der hypnotischen Suggestion handelt. In diesem Fall kann man das Streben zu \u00fcberlegen, wie der Branntwein zu erlangen sei, bezeichnen als \u201eabgen\u00f6thigtes Streben\u201c und das Ueberlegen selbst als \u201e ab-gen\u00f6thigte Handlung\u201c. Das Ergreifen der Flasche und das Austrinken kann dabei entweder eine \u201eHandlung in mir\u201c oder eine \u201eabgen\u00f6thigte Handlung\u201c sein. Wenn ein S\u00e4ufer dem Kampf mit seinem Gewissen durch einen ver\u00e4chtlichen, gegen die Moral gerichteten Ausruf ein Ende macht, so ist kein Zweifel, dafs sich sein eigenes freies Streben zu trinken einem \u201egegebenen\u201c Streben hinzugesellt hat Dieses hinzugekommene Streben ist \u201emein Streben\u201c und die auf dasselbe folgende Handlung ist \u201emeine Handlung\u201c.\nDas Hinzukommen von meinen Strebungen und Handlungen zu den \u201egegebenen\u201c und \u201eabgen\u00f6thigten\u201c Strebungen und Handlungen ist geeignet, den Boden vorzubereiten f\u00fcr das Auftreten der \u201eabgen\u00f6thigten\u201c oder gar der \u201ein mir gegebenen\u201c Handlungen, welche so complicirt sind, dafs man es kaum f\u00fcr m\u00f6g-","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\niV. Lossky.\nlieh h\u00e4lt, sie in dieser Kategorie unterzubringen. Eine leidenschaftliche Liebe, welche in der Brust eines Ehemanns mit seinem Pflichtgef\u00fchl k\u00e4mpft und sich seinem Bewufstsein gegen seinen Willen gleichsam wie ein b\u00f6ser D\u00e4mon auf dr\u00e4ngt, kann ihn zwingen, zun\u00e4chst den Plan der Erreichung des Ziels zu \u00fcberlegen. Ein solches abgen\u00f6thigtes Ueberlegen kann nur in seltenen F\u00e4llen zur Erfindung eines complicirten, listigen Plans f\u00fchren, weil die \u201eabgen\u00f6thigte4 Th\u00e4tigkeit sich immer wieder unterbricht, an ihr, wie es scheint, nicht alle Kr\u00e4fte des Ich sich betheiligen. Nun braucht aber nur der Gedanke zu kommen: \u201eWarum sollte ich es nicht \u00fcberlegen d\u00fcrfen? das kann doch nichts schaden. Thun werde ich es doch nicht4; und damit \u00e4ndert sich sofort die Lage: der Kampf h\u00f6rt auf, das \u201eabgen\u00f6thigte4 Ueberlegen verwandelt sich in mein Ueberlegen und wird ungemein lebhaft, fruchtbar; es kommt ein listiger Plan zum Vorschein, wie die Frau auf einige Zeit zu entfernen, eine Zusammenkunft mit der Geliebten zu bewerkstelligen sei u. s. \u00a3 Zuletzt h\u00f6rt das Spiel der Phantasie auf, der Mann kehrt zur Wirklichkeit zur\u00fcck, macht sich Selbstvorw\u00fcrfe und nimmt sich vor, nie mehr auf die Sache zur\u00fcckzukomraen. Indessen ist das Schwierigste schon \u00fcberwunden : der Plan ist einmal ausgeheckt, und beim n\u00e4chsten Ansturm der Leidenschaft kann die Erinnerung an den Plan und seine Ausf\u00fchrung leicht erfolgen, als \u201eabge-n\u00f6thigte Handlungen4 oder sogar als \u201eHandlungen in mir4.\nBei unserer seitherigen Betrachtung der Strebungen haben wir nur diejenige umfangreiche Classe derselben in Betracht gezogen, welche von Pf\u00e4nder behandelt ist und aus der Anticipation des Erlebnisses in der Form einer relativ lustvollen Vorstellung und aus dem Strebungsgef\u00fchl besteht. Nur solche ver-h\u00e4ltnifsm\u00e4fsig complicirte Zust\u00e4nde bringt Pf\u00e4nder in Zusammenhang mit der Willensth\u00e4tigkeit Da, wo eine Anticipation des Erlebnisses in der Form der Vorstellung nicht vorhanden ist, haben wir es mit dem blinden Trieb zu thun, und die Ver\u00e4nderung, welche auf einen solchen Trieb folgt, geh\u00f6rt seiner Meinung nach nicht zu dem Gebiete der Willenshandlungen. Einer solchen Construction des Begriffes des Willensactes und einer solchen Classification k\u00f6nnen wir nicht beitreten, weil sie die Bedeutung eines im vorliegenden Fall verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig nicht wichtigen Merkmals, n\u00e4mlich der Erkenntnifs \u00fcbertreibt und uns so veranlafst, dem Wesen nach \u00e4hnliche Erscheinungen weit von","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntarislischen Standpunkte.\n95\neinander zu trennen. Das Strebungsgef\u00fclil ist als das am weitesten wichtigste Merkmal der Strebungen anzusehen: sobald es auf-tritt, belebt sich sofort die Th\u00e4tigkeit des Bewufstseins in der Richtung der Bewerkstelligung irgend einer Ver\u00e4nderung, es er scheint sofort das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t (sogar in den W\u00fcnschen). Wenn wir daher Zust\u00e4nden des Bewufstseins begegnen werden, welche in allen Beziehungen den oben beschriebenen Strebungen \u00e4hnlich sind und denen nur die Vorstellungen fehlen, so werden wir sie in der Classe der Strebungen unterbringen. Und gerade die blinden Triebe haben einen solchen Charakter. Wenn wir aus der K\u00e4lte ins Zimmer treten und ganz in ein Gespr\u00e4ch vertieft sind, so k\u00f6nnen wir, ohne uns Rechenschaft dar\u00fcber zu geben, an den Ofen heran treten und uns w\u00e4rmen. Wenn wir uns in solchen F\u00e4llen von unseren Handlungen Rechenschaft ab-legen, so kann es sich erweisen, dafs wir sie sogar mifsbilligen, im obigen Fall z. B. weil wir es vielleicht f\u00fcr sch\u00e4dlich halten, sich am Ofen zu w\u00e4rmen. Beim Anblick eines unsch\u00f6n zusammengestellten Blumenstraufses empfindet eine \u00e4sthetisch entwickelte Person ein unangenehmes Gef\u00fchl, tritt an denselben heran und giebt ihm mittels einer Umstellung auf ein Mal ein besseres Aussehen, ohne sich im Voraus in Gedanken einen Plan zu machen. Kinder, wenn sie essen oder schlafen wollen, bekommen zuweilen Launen, fordern bald dies und bald jenes, und ihr ganzes Verhalten zeigt, dafs sie etwas suchen, nach etwas trachten, aber sie selbst legen sich keine Rechenschaft dar\u00fcber ab, was sie eigentlich brauchen; die erfahrene W\u00e4rterin err\u00e4th sofort, wo es fehlt, befriedigt ihren dunkeln Trieb und sie beruhigen sich. So einfache Bed\u00fcrfnisse wie Hunger bringen nur selten Erwachsene in die Lage eines Kindes, welches essen will, aber nicht f\u00e4hig ist, sich klar zu machen, was es will; jedoch giebt es Combinationen von Bedingungen, welche auch bei Erwachsenen solche Zust\u00e4nde herbeif\u00fchren k\u00f6nnen, wie sie in der Erfahrung eines jeden vorhegen. Wegen ihrer Einfachheit sind sie besonders geeignet f\u00fcr die Analyse, welche wir jetzt zu unternehmen haben.\nDas Strebungsgef\u00fchl geh\u00f6rt fraglos zu dem Thatbestand der dunkeln Triebe. Jedoch macht es nicht den ganzen Inhalt derselben aus. Denn das Strebungsgef\u00fchl ist einf\u00f6rmig ; die Strebungen und Triebe sind dagegen unendlich mannigfaltig. Folglich findet sich auch hier das Strebungsgef\u00fchl in Verbindung","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nN. Losvky.\nmit anderen Elementen. Und das versteht sich auch von selbst: das Strebungsgef\u00fchl ist das Gef\u00fchl des \u201eHindr\u00e4ngens\u201c zu etwas, und dieses etwas mufs in irgend einer Weise im Bewufstsein gegeben sein, sonst k\u00f6nnten wir unser Gef\u00fchl nicht als \u201eHindr\u00e4ngen\u201c bezeichnen. Es bleibt uns zu vermuthen, dafs auch in den Trieben ein Erlebnifs anticipirt wird. Dies wird best\u00e4tigt durch den Umstand, dafs auf die Triebe wie auf die Strebungen oft eine Reihe von Handlungen folgt, die eine Ver\u00e4nderung bewirken, welche in dem Maafs den Trieb befriedigt, dafs er erlischt. Auch diese Anticipation ist augenscheinlich von der relativen Lust begleitet, weil die Ann\u00e4herung zur Befriedigung des Triebs von wachsender Lust, die Entfernung von derselben von wachsender Unlust begleitet ist. Jedoch ist die Anticipation des Erlebnisses in den dunkeln Trieben keine Vorstellung, d. h. kein Erkenntnifszustand, sonst w\u00e4re es uns nicht schwierig, diese Anticipation nachzuweisen, wir w\u00fcrden die Triebe nicht \u201edunkle\" nennen und h\u00e4tten sie nicht von den Strebungen unterschieden. Vermuthlich ist dies\u00a9 Anticipation einfacher als die Anticipation in den Trieben; denn wir haben in den dunkeln Trieben ins-gesammt dieselben Elemente gefunden, die auch in den Strebungen vorliegen; und dennoch sind die dunkeln Triebe einfacher als die Strebungen. Wegen der Unzerlegbarkeit des Strebungsgef\u00fchls, des Gef\u00fchls der Activit\u00e4t und desjenigen der relativen Lust kann die Ursache dieser gr\u00f6fseren Einfachheit nicht in ihnen gesucht werden; also bleibt uns nur \u00fcbrig, sie durch die einfachere Anticipation des Erlebnisses zu erkl\u00e4ren. Nun ist ja die Anticipation in den Trieben keine Vorstellung des Erlebnisses, folglich mufs sie ein blofses Bewufstwerden, des Erlebnisses sein, und jede Vorstellung oder Erkenntnifs ist compli-cirter als das entsprechende Erlebnifs, wofern man von den vergessenen Elementen absieht Man kann ein heftiges Gef\u00fchl der Eifersucht, des Neides etc. haben, ohne zu wissen, dafs man diese Gef\u00fchle erlebt Wenn wir uns Rechenschaft davon &b-legen, ist unser Bewufstseinszustand complicirter als im ersteren Falle; solche complicirtere Zust\u00e4nde werden wir als \u201ege-wufste \u201c Zust\u00e4nde und die anderen als \u201e nichtgewufste\u201c Zust\u00e4nde bezeichnen. Die nichtgewufsten Zust\u00e4nde sind in unserem psychischen Leben sehr h\u00e4ufig und \u00fcberhaupt kann man nicht behaupten, dafs das \u201eGewufstmachen\u201c ein nothwendiger Factor bei der Ausf\u00fchrung einer Handlung sei. Bei der Auf-","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheone vom voluntar\u00f9tischen Standpunkte.\n97\nn\u00e4hme von Speis\u00a9 z. B. k\u00f6nnen wir uns manchmal nur von dem Gef\u00fchle der S\u00e4ttigung leiten lassen, ohne es zu erkennen, d. h. ohne eine Vorstellung der S\u00e4ttigung zu haben. Folglich kann auch der Trieb, den Hunger zu stillen, die Anticipation der S\u00e4ttigung in der Form nicht einer Vorstellung, sondern eines blofsen Erlebnisses einbegreifen. Eingehender werden wir die Frage \u00fcber den Unterschied zwischen dem \u201eGewufstsein\u201c und dem blofsen \u201eBewufstsein\u201c in einer Untersuchung \u00fcber das sogenannte Unbewufste betrachten, f\u00fcr jetzt wollen wir uns mit dem Hinweis auf allgemein bekannte F\u00e4lle begn\u00fcgen, in welchen der Zustand des Bewufstseins zweifellos, die Erkenntnifs desselben jedoch nicht existirt. Besonders h\u00e4ufig kommen solche Zust\u00e4nde in den vorbereitenden Stadien des Willensactes vor. Im compli\u00ab cirten Willensacte ist meist nur das urspr\u00fcngliche Streben und die Ausf\u00fchrung desselben gewufst, die Reihe aber der zwischenliegenden Strebungen, der Mittel und Wege der Ausf\u00fchrung und der ganze Mechanismus der Activit\u00e4t \u00fcberhaupt bleibt fast ganz ungewufst Dies l\u00e4fst sich leicht auf folgende Art nachweisen : Versuchen wir sofort nach der Ausf\u00fchrung irgend eines compli-\u25a0cirten Actes, welcher schnelle Erledigung erfordert und viele Seiten des Geisteslebens ber\u00fchrt, ihn in Gedanken zu reprodu-ciren ; wir werden dabei eine Reihe von Entdeckungen in unserer Seele, wir werden Gef\u00fchl\u00a9 und Motive bemerken, welche wir bis dahin in uns vielleicht nicht einmal geahnt haben.\nBei dem Gewufstmachen der dunklen Triebe finden wir, dais sie \u00a9ine Anticipation des gewollten Erlebnisses einbegreifen und von den fr\u00fcher betrachteten Strebungen sich nur dadurch unterscheiden, dafs diese Anticipation in ihnen keine Vorstellung ist Wir werden sie daher \u201e nichtge wufste Strebungen\u201c nennen und die fr\u00fcher betrachteten \u201egewufst\u00a9 Strebungen\u201c. Wie die gewufsten Strebungen k\u00f6nnen auch die nichtgewufsten \u201emeine\u201c Strebungen, \u201emir gegebene\u201c oder \u201eabgen\u00f6thigte\u201c sein. Die entsprechenden Handlungen k\u00f6nnen gewufst oder nicht jjewufst sein. Handlungen, welche meinen ungewufsten Strebungen entspringen, rechnen wir zu den Willenshandlungen ; wir erweitern also den Begriff des Willens im Vergleich zu Pf\u00e4nder, welcher nur die aus dem Wollen entspringenden Handlungen zu den Willenshandlungen rechnet. Die Erweiterung des Begriffs entsteht dadurch, dafs wir das Erkenntnifselement Ausfallen lassen, weil es keine wesentliche Bedeutung f\u00fcr den\nZeitschrift Ihr Psychologie SO.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nN. LossJcy.\nCharakter der Willensacte hat. Aufserdem ist jede Gewufstheit immer nur relativ: jede Handlung und jedes Streben begreift nichtgewufste Elemente ein.\nBevor wir zur Beweisf\u00fchrung \u00fcbergehen, haben wir noch eine merkw\u00fcrdige Eigenth\u00fcmlichkeit der Strebungen zu betrachten, n\u00e4mlich den Umstand, dafs die Strebungen im psychischen Leben nie vereinzelt Vorkommen, sondern immer zu mehreren, die untereinander verkettet sind. Wenn z. B. die Strebung auftritt, eine Preisaufgabe auszuarbeiten, so streben wir uns ihres Wortlauts genau zu erinnern; gelingt es uns nicht, so streben wir uns zu erinnern, wo das Buch liegt, in welchem das Thema angek\u00fcndigt ist; nach dem Lesen des Wortlauts der Aufgabe, tritt eine lange Kette neuer Strebungen auf, z. B. wie die, uns bei der einen oder anderen Person Rath zu erholen, diese oder jene besondere Frage, die zum Thema geh\u00f6rt, durchzudenken, unsere Gedanken niederzuschreiben, endlich das Manuskript zur Post zu geben u. s. w. Die Entstehung und Ausf\u00fchrung dieser Strebungen dauert fort bis zu einer Zeit, wo entweder das urspr\u00fcngliche Streben verwirklicht ist, oder neue, m\u00e4chtigere Strebungen entstanden sind, welche die ganze Unternehmung auf immer oder auf einige Zeit hemmen, z. B. wenn Erm\u00fcdung oder Gesundheitsr\u00fccksichten uns die Arbeit aufzugeben n\u00f6thigen. Die Kette der Strebungen, welche auf Anlafs der urspr\u00fcnglichen Strebung entstehen, bildet ein systematisches Ganze: alle ihre Glieder sind miteinander und mit der urspr\u00fcnglichen Strebung im Zusammenhang. Man kann sie in drei Gruppen eintheilen: Strebungen, welche die Ausf\u00fchrung des Actes f\u00f6rdern (z. B. im beschriebenen Fall ehrgeizige Strebungen); Strebungen, welche die Ausf\u00fchrung des Actes hemmen (z. B. die Strebung auszuruhen) ; und Strebungen, welche auf die Mittel zur Ausf\u00fchrung der urspr\u00fcnglichen Strebung gerichtet sind. Die letzte Classe werden wir \u201eabgeleitete\u201c Strebungen, den Gegenstand des urspr\u00fcnglichen Strebens Endziel und die Gegenst\u00e4nde der abgeleiteten Strebungen, relative Ziele nennen. Selbstverst\u00e4ndlich k\u00f6nnen die abgeleiteten Strebungen zugleich auch zu den f\u00f6rdernden oder hemmenden geh\u00f6ren, wenn sie an sich Gegenstand des Strebens oder Wider-strebens sind. In den meisten F\u00e4llen sind jedoch die Mittel an sich nicht Gegenstand des Strebens und bekommen Sinn nur im Zusammenhang mit dem urspr\u00fcnglichen Streben. Wenn wir","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntaristischen Standpunkte.\n99\nz. B. im obigen Fall unser Manuskript in Kreuzband einschlagen, so halten wir diesen Act nicht f\u00fcr ein Endziel, sondern setzen ihn in Beziehung zu unserer Absicht, das Manuskript auf die Post zu geben. In derselben Weise verhalten wir uns auch, wenn wir das Manuskript auf die Post geben u. s. w. Wenn wir nun so in der Reihe der einander bedingenden Strebungen aufsteigen, erreichen wir zuletzt ein urspr\u00fcngliches Streben und Endziel, welches uns absolut unbedingt zu sein scheint. Auf die Frage, warum wir uns ein solches Ziel stecken, bleiben wir entweder die Antwort schuldig, oder wir erwidern: \u201eIch will es mm eben einmal\u201c, oder bei etwas wichtigem: \u201eDas versteht sich doch von selbst, es ist ja Pflicht!\u201c\nBei der Bestimmung der Endziele unserer Handlungen geben wir uns auf jedem Schritt T\u00e4uschungen hin, die dann durch andere Handlungen ans Licht treten. Diese T\u00e4uschungen sind insofern interessant als sie uns zeigen, wie zahlreich die nichtgewufsten Elemente in unserem Willensleben sind. Ein ehrgeiziger Gelehrter, welcher einen Vortrag f\u00fcr einen wissenschaftlichen Congrefs vorbereitet, wie es scheinen kann aus reiner Liebe zur Wissenschaft, versichert nicht nur andere von der Reinheit seiner Motive, sondern ist meist selbst davon \u00fcberzeugt Ein Kind, welches ein Blasinstrument zum Geschenk bekommen hat, legt dasselbe beiseite, wenn es sattsam darauf gespielt hat, greift jedoch wieder danach, wenn er eine Gruppe von Leuten Vorbeigehen sieht oder in der N\u00e4he weifs und spielt so, dafs die Leute ihn h\u00f6ren k\u00f6nnen ; er prahlt mit seinem Spielzeuge vielleicht ohne selbst den Beweggrund zu kennen, der ihn zum Spielen veranlafst.\nWenn wir bei der Analyse der Strebungen nicht nur die gewufsten sondern auch die nicht gewufsten Strebungen in Betracht ziehen, so erweist sich die Unm\u00f6glichkeit, im Seelenleben irgend ein vor\u00fcbergehendes, vereinzeltes Streben zu finden. Immer erweist es sich vielmehr als Glied einer fortlaufenden Kette, in welcher wir in Folge mangelhafter Beobachtung den Anfang oder das Ende nicht bemerkt haben.\nEs k\u00f6nnte auf den ersten Blick scheinen, als ob die vor\u00fcbergehenden Strebungen, welche in ein Wollen sich nicht verwandeln und von uns nicht verwirklicht werden, vereinzelt bleiben k\u00f6nnten und es oft auch bleiben. Dem ist\njedoch nicht so: wenn das Streben sich nicht weiter entwickelt\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nN. Los\u00bbky.\nhat, so ist wahrscheinlich irgend ein anderes dem ersteren zu-widerlanfendes Streben darauf gefolgt und hat es auf immer oder auf einige Zeit gehemmt Z. B. nach dem Mittagessen erscheint beim Anblick eines Apfels in uns die Strebung, ihn zu essen, pl\u00f6tzlich aber taucht sie unter und wir vergessen unser anf\u00e4ngliches Vorhaben. Untersuchen wir diesen Proeefs, so finden wir sicherlich irgend einen Beweggrund zur Beseitigung des Strebens, z. B. ein l\u00e4stiges Gef\u00fchl der S\u00e4ttigung, welches ein Widerstreben gegen neue Speiseaufnahme hervorruft\nWir untersuchen hier die Eigenschaften der Strebungen nur um zur Begr\u00fcndung des Voluntarismus weiterzuschreiten; daher k\u00f6nnen wir uns auf folgende Resultate beschr\u00e4nken. Zweien wichtigen Eigenschaften der Strebungen, der gr\u00f6fseren oder kleineren Entfernung vom Ich und dem h\u00f6heren oder niedrigeren Grad der Gewufstheit entnehmen wir den Eintheilungsgrund der Strebungen, wonach wir sie eintheilen 1. in meine, ab-gen\u00f6thigte und mir gegebene Strebungen, und 2. in gewufste und nichtgewu&te Strebungen.\n2. Das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t\nDas Gef\u00fchl der Activit\u00e4t ist ein Bindeglied zwischen der Strebung und der ihr entsprechenden Ver\u00e4nderung. Wie alle anderen Zust\u00e4nde des Bewufstseins kann das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t das \u201emeinigew oder das \u201emir gegebene\u201c sein. Wenn ein Gewicht auf der Oberfl\u00e4che unserer auf dem Tisch liegenden Hand lastet, so empfinden wir eine gewisse Activit\u00e4t, die wir aber nicht uns, sondern dem Gewichte zuschreiben. Ein eben solches Gef\u00fchl der \u201egegebenen\u201c Activit\u00e4t kommt in vielen organischen Empfindungen als ein Bestandtheil derselben vor; z. B. wenn wir eine von denjenigen Schmerzempfindungen erfahren, die wir stechende, bohrende und dergl. nennen, so zeigen wir mit diesen Namen, dafs wir das Vorhandensein einer gewissen Activit\u00e4t gewahr werden, aber sie als eine fremde, nicht-unsere f\u00fchlen ; dieser Activit\u00e4t geht kein Streben voraus oder, richtiger, wir bemerken, erkennen keine Strebungen in diesem Falle. Ein solches Gef\u00fchl der \u201egegebenen\u201c Activit\u00e4t kommt sogar in den Wahrnehmungen der \u00e4ufseren Welt vor, z. B. in der Wahrnehmung eines Steins, der ein Fenster zertr\u00fcmmert, eines Curier-zuges, der in fliegender Eile dahinsaust, und dergl. Dr\u00fccken wir unsererseits auf einen Gegenstand oder vollziehen \u00fcberhaupt","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Wi\u00fcenstheorie vom voluntarietischen Standpunkte.\n101\neine willk\u00fcrliche Muskelbewegung, so haben wir ein dem beschriebenen \u00e4hnlichen Bewufstseinszustand, jedoch mit dem Unterschied, dafs wir ihn auf unser Ich beziehen. In solchen F\u00e4llen wirkt nicht etwas, sondern \u201eich will\u201c. Eben solches typisches Gef\u00fchl \u201emeiner\u201c Activit\u00e4t entsteht auch dann, wenn wir mit Anstrengung \u00fcber irgend eine Frage nachdenken oder mit M\u00fche uns an etwas zu erinnern Zusehen.\nUnsere n\u00e4chste Aufgabe ist nun die Untersuchung des Ge-f\u00fchls der inneren Activit\u00e4t; zuerst aber wollen wir nachweisen, dafs das Gef\u00fchl der \u00e4ufseren Activit\u00e4t keinesfalls eine Quelle des Wissens \u00fcber innere Activit\u00e4t sein kann, und dafs, will man schon eines aus dem anderen ableiten, aus dem Gef\u00fchl der inneren Activit\u00e4t das der \u00e4ufseren abzuleiten ist.\nJe intensiver ein Druck oder ein Schmerz wird, desto intensiver scheint diese \u00e4ufsere Activit\u00e4t zu sein. Jedoch folgt daraus keineswegs, dafs das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t das Bewufst-sein der Intensit\u00e4t der Empfindung ist. Erstens sind gewisse Empfindungen, wie z. B. die der W\u00e4rme, des Lichtes gar nicht von einer solchen Steigerung des Gef\u00fchls der Activit\u00e4t begleitet, wie wir sie bei der Steigerung des Drucks oder gewisser Schmerzen bemerken; und zweitens empfinden wir in den angef\u00fchrten F\u00e4llen ganz lebhaft, dafs der Druck, der Schmerz einerseits und die von uns empfundene Activit\u00e4t desjenigen, was diesen Schmerz oder Druck verursacht, andererseits etwas Verschiedenes sind. Wir k\u00f6nnen uns also nur folgende drei Quellen des Gef\u00fchls der Activit\u00e4t vorstellen: entweder das unmittelbare Bewufstsein der \u00e4ufseren Activit\u00e4t (mystische Wahrnehmung) oder die Wahrnehmung desselben mittels eines besonderen Organs, in der Art wie wir z. B. den Ton, das Licht etc. wahmehmen, oder endlich die Wahrnehmung der inneren Activit\u00e4t, welche nach dem Gesetz der Ideenassociation in die \u00e4ufsere Welt projicirt wird.\nJeder Anh\u00e4nger der ersten Hypothese mufs damit auch anerkennen, dafs die Activit\u00e4t nicht nur in der \u00e4ufseren Welt existirt und von uns unmittelbar empfunden wird, sondern dafs auch unter Ich Activit\u00e4t kundgiebt und sie unmittelbar in sich f\u00fchlt. Zu der zweiten Hypothese wird sich wohl niemand im Emst bekennen wollen; die Negirung der unmittelbaren Wahrnehmung f\u00fchrt also nothwendig zu dem dritten Fall, n\u00e4mlich zu der Annahme, dafs das Material f\u00fcr die Idee der Activit\u00e4t","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nN. Ltmk y.\n\u2014 mag si\u00a9 nun wahr oder falsch sein \u2014 in der Wahrnehmung des inneren Lebens des Ich gegeben ist und darauf in die \u00e4ulser\u00a9 Welt projicirt wird. Diese Hypothese ist am meisten verbreitet\nDas Gef\u00fchl der inneren Activit\u00e4t, der Activit\u00e4t des Ich kann also nicht aus dem Gef\u00fchl der \u00e4ufseren Activit\u00e4t abgeleitet werden. Nun entsteht aber die Frage, ob das Gef\u00fchl der inneren Activit\u00e4t ein Bewufstseinszustand centralen Ursprungs oder ob es eine Empfindung ist (nat\u00fcrlich nimmt die letzt\u00a9 Hypothese an, dais wir ein Organ haben f\u00fcr die Wahrnehmung der Activit\u00e4t, d. h. nur der inneren Activit\u00e4t).\nIm Kreise der zur psycho - physiologischen Richtung geneigten Psychologen herrscht die Neigung, das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t f\u00fcr eine Empfindung zu halten, n\u00e4mlich f\u00fcr einen Be-st&ndtheil der Bewegungsempfindungen. Da diese Theorie dem Voluntarismus direct widerspricht, so werden wir sie ausf\u00fchrlich betrachten, zun\u00e4chst in der Darstellung von M\u00fcnsterberg \\ bei welchem sie von einem anderen Gedanken durchkreuzt ist, der auch kritisch zu pr\u00fcfen ist In dem Werke \u201eDie Willenshandlung\u201c nimmt M\u00fcnsterberg entschieden an, dafs die moderne Psychologie anerkenne, dafs alle Bewufstseinszust\u00e4nd\u00a9 aus Empfindungen bestehen.1 2 Aus diesem Satze zieht er direct den Schlufs, dafs auch der Wille lediglich ein Complex von Empfindungen sei. Bei der Analyse der inneren Willensacte, z. B. der willk\u00fcrlichen Erinnerungsacte, der L\u00f6sung einer Aufgabe und dergl. kommt er auf folgendes Resultat: \u201eIn s\u00e4mmtlichen F\u00e4llen der willk\u00fcrlichen Vorstellungsbewegung ging dem klaren Be* wufstwerden der Vorstellung a ein anderer Bewufstseinszustand voraus, der dem Inhalt nach auch schon die Vorstellung a enthielt; bei jenen F\u00e4llen unwillk\u00fcrlicher Ver\u00e4nderung ging dem a nichts voraus, was schon a enthalten h\u00e4tte. Nach meiner\n1 Wir legen hier fr\u00fchere, in dem Werke \u201eDie Willenshandlung\u201c, ausgesprochene Ansichten M\u00fcnsterbbbo\u2019s dar. In einem neueren Werke \u201eGrandz\u00fcge der Psychologie\u201c h\u00e4lt er an seiner fr\u00fcheren Behauptung fest, dafs der Wille f\u00fcr die Psychologie (nicht aber f\u00fcr die normativen Wissenschaften) nur ein Complex von Empfindungen, jede Empfindung aber eine Folge eines motorisch - sensorischen centralen Processes sei und der Werth (die Gef\u00fchlsseite) einer Empfindung von dem motorischen centralen Processe abh\u00e4nge. Diese Ansichten \u00fcber das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t widersprechen dem Voluntarismus nicht.\n* S. S. 62.","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntaristischen Standpunkte.\n103\nAnsicht beruht hierauf der ganze Unterschied\u201c.1 Best\u00fcnde wirklich der ganze Unterschied nur darin, so w\u00e4re damit gesagt, dafs wir kein specielles Gef\u00fchl der Activit\u00e4t, kein Gef\u00fchl der Abh\u00e4ngigkeit gewisser Erscheinungen von unseren Strebungen haben. Man k\u00f6nnte sich mit diesem Gedanken vers\u00f6hnen, wenn wir das Recht h\u00e4tten, zu behaupten, dafs wir uns bei der Unterscheidung der unwillk\u00fcrlichen und der willk\u00fcrlichen Ver\u00e4nderungen auf folgende Pr\u00e4misse st\u00fctzen: \u201eWenn einer Ver\u00e4nderung a \u00a9ine Vorstellung a vorangeht, so h\u00e4ngt die Ver\u00e4nderung von mir, von meinem Willen ab.\u201c Das k\u00f6nnen wir jedoch nicht behaupten: entspr\u00e4che der Verlauf der Bewufst-8einsprocesse der Beschreibung M\u00fcnsterberg\u2019s, so h\u00e4tte der Begriff \u201eabh\u00e4ngig sein\u201c keinen anderen reellen Inhalt als eben die Beobachtung, dafs eine Vorstellung a einer Vorstellung a in dunkler Form vorangeht. Das bemerkt M\u00fcnsterberg selbst, wenn er sagt, dafs wir in denjenigen F\u00e4llen, in welchen die inneren Acte des Denkens sich ruhig und planm\u00e4fsig entwickeln, kein Bewufstsein der Willensth\u00e4tigkeit haben, und ferner, wenn er bemerkt: \u201eerst bei nachtr\u00e4glicher Reflexion ergiebt sich uns, dafs es wirklich Willensleistung war, und diese Erkenntnifs st\u00fctzt sich dann lediglich auf jenes wichtige Kriterium, dafs die Vorstellung schon im jedesmal vorangehenden Moment dem Inhalte nach im Bewufstsein gegeben war\u201c.2 Der Umstand, dafs der Vorstellung a eine Vorstellung a voranging, w\u00e4re also nur Gegenstand eines kalten Schlusses mit dem Resultat, dafs wir th\u00e4tig waren, begriffe aber kein lebhaftes Bewufstsein der Activit\u00e4t w\u00e4hrend der Arbeit selbst ein. Wir m\u00fcssen daher F\u00e4lle finden, in denen wir uns w\u00e4hrend der Arbeit selbst lebhaft th\u00e4tig f\u00fchlen, und untersuchen, welche Bestimmung aufser dem Umstand, dafs der Vorstellung a eine Vorstellung a vorangeht, dabei noth-wendig ist M\u00fcnsterbebg l\u00f6st diese Aufgabe auf folgende Weise: \u201eUeberall (dagegen) wo wir uns schon w\u00e4hrend der Willensleistung unserer inneren Arbeit bewufst werden, da ist lebhaftes Innervationsgef\u00fchl vorhanden ; gerade in diesem besteht ganz besonders das Gef\u00fchl innerer Th\u00e4tigkeit und die St\u00e4rke der Willensth\u00e4tigkeit ist unmitttelbarer Ausdruck f\u00fcr die Intensit\u00e4t der Innervation\u201c.0 Wenn das Bewufstsein der Willens-\n1 Ebenda 8. 67.\n*\tEbenda 8. 72.\n*\tEbenda 8. 72.","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nN. LoBiky.\nanstrengung von der Intensit\u00e4t der Innervationsempfindung abh\u00e4ngt, so bedeutet das, dafs diese Empfindung selbst und nicht ihr Zusammenhang mit den nachfolgenden Be wufstseinszust\u00e4nden das Bewufstsein der Activit\u00e4t ausmacht Es bleibt nur zu bestimmen, was f\u00fcr ein Bewufstseinszustand dieselbe ist, ob sie ein rein centraler psychischer Procefs ist, wie eine alte Schule von Psychologen und Physiologen behauptete, welche die Bezeichnung \u201eInnervationsempfindung44 eingef\u00fchrt hat, oder ob sie eine Empfindung peripherischen Ursprungs ist, wie alle Empfindungen.\nBei der Untersuchung dieser Frage kommt M\u00fcnstebbeeg auf den Gedanken, dafs die Innervationsempfindung eine Erinnerung an fr\u00fchere Bewegungsempfindungen sei, d. h. sich aus den Gelenk-, Sehnen-, Tast- und Muskelempfindungen bilde. Daraus m\u00fcfste er den Schlufs ziehen, dafs das lebendige Gef\u00fchl der Activit\u00e4t, welches die willk\u00fcrliche Muskelarbeit begleitet, ein Be-standtheil der Bewegungsempfindung ist, z. B. eine Muskelempfindung. Sobald er aber bemerkt, dafs die \u00e4ufseren Willenshandlungen, wie die inneren, nach dieser Theorie aus Wahrnehmungen (Bewegungsempfindungen) hervorgehen, welchen Vorstellungen vorangehen, die ihnen \u00e4hnlich sind, h\u00f6rt er auf, eine Quelle des lebendigen Gef\u00fchls der Activit\u00e4t zu suchen, und kehrt zu dem Gedanken zur\u00fcck, dafs der Ausdruck Willens-th\u00e4tigkeit nur den Umstand bezeichnet, dafs der Vorstellung a eine Vorstellung a vorangeht; \u201eauch bei der Muskelcontraction, w\u00fcrden wir demnach sehliefsen44, \u2014 wenn die Innervationsempfindung nichts anderes als die Erinnerung fr\u00fcherer Bewegungsempfindungen ist \u2014 \u201eist das, was wir Impuls nennen, aufser den Kopf Spannungen44 \u2014 M\u00fcnsterberg nimmt hier in R\u00fccksicht die Muskelbewegungen bei der Aufmerksamkeit \u2014, \u201enur der Umstand, dafs der Wahrnehmung des eingetretenen Effects schon die Vorstellung desselben vorangeht.441\nMan sieht : bei M\u00fcnstebbeeg durchkreuzen sich zwei Ansichten: erstens die Lehre, dafs das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t eine Bewegungsempfindung sei, und zweitens die Lehre, dafs das Bewufstsein der Activit\u00e4t das Bewufstsein des Umstandes sei, dafs der Vorstellung a eine Vorstellung a vorangehe. Die erste Hypothese erscheint bei ihm nur in unentwickelter Form, daher\n1 Ebenda 8. 76.","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom volun taristischen Standpunkte.\n105\nwerden wir sie sp\u00e4ter betrachten im Zusammenhang mit \u00e4hnlichen Ansichten anderer Psychologen, uns jetzt aber gleich der zweiten Hypothese zuwenden.\nErstens ist darauf hinzuweisen, dafs M\u00fcnsterberg sich selbst widerspricht: bei der Analyse der inneren Willensacte bemerkt er, dafs der Umstand, dafs der Vorstellung a eine Vorstellung a vorangeht, noch nicht das lebhafte Bewufstsein der Activit\u00e4t er-giebt, und findet dieses lebhafte Gef\u00fchl vielmehr in der \u00e4ufseren Willensth\u00e4tigkeit; nach ihrer Analyse aber behauptet er, dafs dieses Gef\u00fchl auch hier aus dem Umstand, dafs der Vorstellung \u00ab eine Vorstellung a vorangeht, entspringt. Zweitens widersprechen M\u00fcnsterberg's Ausf\u00fchrungen den Thatsachen: das Bewufstsein der Activit\u00e4t ist ein einfaches, unzerlegbares Gef\u00fchl und kein complicirter intellectueller Zustand, kein kaltes Constatiren der Thatsache, dafs der Vorstellung a eine Vorstellung a voranging. Und weiter: ein solches Vorangehen einer Vorstellung findet sich nicht in jeder Th\u00e4tigkeit, die wir unmittelbar als Willensth\u00e4tig-keit bestimmen: in den nichtgewufsten Acten geht der Ver\u00e4nderung ein dunkler Trieb voran, welcher keine Vorstellung der Ver\u00e4nderung ein begreift, und dennoch begleitet das einfache Gef\u00fchl der Activit\u00e4t auch solche Willensacte. Drittens f\u00fchrt die Hypothese M\u00fcnsterberg\u2019s zu ungereimten Consequenzen, welche die Wirklichkeit selbst widerlegt, wie im folgendem Fall : H\u00e4tten wir uns z. B. an das Schlagen der Uhr erinnert und unmittelbar nachher das wirkliche Schlagen der Uhr vernommen, so m\u00fcfsten wir nach seiner Theorie eine solche Ver\u00e4nderung zu den Willensprocessen rechnen in demselben Maafse wie z. B. die Denk-processe.\nUebrigens ist die Existenz einer einfachen und speciellen Quelle des Bewufstseins der Activit\u00e4t so augenscheinlich, dafs es weit interessanter ist, eine andere Hypothese zu betrachten, n\u00e4mlich die Lehre, dafs das Bewufstsein der Activit\u00e4t ein Bestandteil der Bewegungsempfindungen sei.1 Die Anh\u00e4nger dieser Hypothese sind der Ansicht, dafs die \u00e4ufseren Willensacte Reflexe seien, welchen die Erinnerung an fr\u00fchere Bewegungen vorangehe. Da das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t sich auch bei inneren Handlungen findet, so sind sie gen\u00f6thigt, zu behaupten, dafs alle diese Ver\u00e4nderungen von Muskelcontractionen (die Gesichtsmuskeln bei\n1 Ribot, Psychologie de l'attention, chap. 2, III.","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nJf. Lossky.\nangestrengter Aufmerksamkeit) oder von deren Hemmungen oder auch nur von der Erinnerung an fr\u00fchere Muskelcontractionen (Reproduction der Bewegungseieinente, die selbst in den allge-meinsten Vorstellungen Vorkommen) begleitet werden.1 II Die N\u00fcance der Activit\u00e4t, welche \u201emeinen\u201c Bewufstseinszust\u00e4nden insgesammt eigen ist, erweist sich also nach dieser Hypothese nicht als eine N\u00fcance, sondern als eine besondere Empfindung und zwar als eine Bewegungsempfindung. Man f\u00fchlt sofort die Unwahrscheinlichkeit dieser Hypothese, die in jeden Moment jedes Processes unseres psychischen Lebens Bewegungsempfin-d\u00fcngen einflicht. Man kann leicht errathen, was dieser Hypothese das Leben gegeben hat Wenn das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t eine allgemeine N\u00fcance \u201emeiner\u201c Bewufstseinszust\u00e4nde ist, welche, wie alle N\u00fcancen, reell von dem Inhalte der Processe unabtrennbar ist, und wenn diese N\u00fcance am st\u00e4rksten im Zusammenh\u00e4nge mit den Bewegungsempfindungen gef\u00fchlt wird, so lag es nahe, eine Hypothese aufzustellen, welche das Bewufstsein der Activit\u00e4t ganz auf Rechnung der peripheren Reize setzt und jedes Bewufstsein der Activit\u00e4t durch Muskelcontractionen oder wenigstens durch Erinnerungen an solche erkl\u00e4rt.\nAnalysiren wir die Bewegungsempfindungen, um das Falsche dieses Gedankens aufzuzeigen. Die Bewegungsempfindungen setzen sich zusammen aus Tastempfindungen (Spannung der Haut), aus Gelenk- und Sehnenempfindungen und endlich aus Muskelempfindungen, welche wahrscheinlich in Folge des Druckes auf die centripetalen Nervenfasern im Muskelgewebe entstehen. Hierher z\u00e4hlt man ferner noch die Innervationsempfindungen, welche man fr\u00fcher f\u00fcr Empfindungen centralen Ursprungs hielt Man findet aber jetzt gew\u00f6hnlich, dafs die Thatsachen, auf Grund deren man auf ihre Existenz schliefst (Beobachtungen bei Gel\u00e4hmten und bei Personen, an denen eine Amputation vorgenommen worden ist) durch die der neuen Bewegung vorausgehende Erinnerung an fr\u00fchere Bewegungen befriedigend erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen. Folglich f\u00fcgt das Element der Bewegungsempfindungen nichts qualitativ Neues zu den oben angef\u00fchrten Elementen hinzu2; und so k\u00f6nnen wir im weiteren Verfolg unserer Analyse nur vier Elemente betrachten. Um sie\nI\tEbenda, chap. 2, II.\nII\tS. W\u00fcndt, Physiologische Psychologie. 4. Aufl., Bd. I, S. 422\u2014426.","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willens th\u00e9orie vom voluntaristischen Standpunkte.\n107\nin reiner Gestalt zu bekommen, wollen wir sie in Gedanken aller fremdartigen Zus\u00e4tze entkleiden. Trennen wir zun\u00e4chst das Bewufstsein der Objectivit\u00e4t ab, welches besonders deutlich im Zusammenhang mit der Empfindung der H\u00e4rte, \u00fcberhaupt des Widerstandes auftritt. Danach ist es schon nicht mehr schwierig, ein weiteres abzul\u00f6sen, n\u00e4mlich die Raum Vorstellungen (manchmal sind auch die mit den Gesichts Vorstellungen verkn\u00fcpften Raumvorstellungen nach dem Gesetz der Ideenassociation fest verwachsen mit den Bewegungsempfindungen). Wenn wir die nach dieser Analyse noch gebliebenen Empfindungen betrachten, so finden wir, dafs sie sich dennoch durch das Element der Activit\u00e4t, das sie enthalten, von anderen Empfindungen, z. B. der W\u00e4rme-, Tast-, Geschmacksempfindungen scharf unterscheiden. Das Bewufstsein der Activit\u00e4t hebt sich von den Empfindungen ebenso ab wie der Gef\u00fchlston der Empfindungen ; wenn wir die allen Bewufstseinszust\u00e4nden anh\u00e4ngende N\u00fcance der Lust oder Unlust nicht in die Classe der Empfindungen unterbringen und ihr einen h\u00f6heren Grad von Subjectivit\u00e4t zuschreiben als den Empfindungen, so m\u00fcssen wir zugestehen, dafs das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t auch irrth\u00fcmlicher-weise in der Classe der Empfindungen untergebracht worden ist. Denn der besondere Charakter dieses Gef\u00fchls ist so augenscheinlich, dafs es keinem Psychologen in den Sinn kommen kann, es durch Tastreize (Spannung der Haut bei Bewegung) zu erkl\u00e4ren : es leuchtet unmittelbar ein, dafs die Tastreize nicht in dieser Weise wirken k\u00f6nnen. Man k\u00f6nnte sich versucht f\u00fchlen, den Gelenkempfindungen diese Rolle zuzutheilen, weil sie weniger bekannt sind ; allein durch die zwischen der Spannung der Haut und der Reibung der Gelenke bestehende Aehnlichkeit sehen sich viele (wenn auch nicht alle) Psychologen gen\u00f6thigt, sich des Gedankens, dafs das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t aus den Gelenken in unser Bewufstsein komme, zu ent-schlagen. Es bleibt also nur der Sehnen- oder Muskelsinn, zumal da die passiven Bewegungen von dem Gef\u00fchl der Activit\u00e4t in seiner sch\u00e4rfsten Form nicht begleitet sind. Die Reize in den Muskeln erinnern uns \u00e4ufserlich weniger an den Tastsinn, und zudem ist die Vorstellung von der Contraction des Muskelk\u00f6rpers, wie alle Vorstellungen der Bewegung, lebhaft mit der Idee der Activit\u00e4t verkn\u00fcpft (die Auffindung der Ursache dieser Erscheinung f\u00e4llt der Erkenntnistheorie zu); daher vers\u00f6hnen wir","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nN. Lossky.\nuns leicht mit dem Gedanken, dafs das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t dem Drucke des Muskels auf die Peripherie der in ihm auslaufenden Nerven entspringe. Auch dieser Procefs jedoch unterscheidet sich dem Wesen nach durchaus nicht von den Processen des Tastsinns; die Muskelempfindungen bezeichnet man nicht selten zusammen mit den Sehnenempfindungen als innere Tastempfindungen. Wenn wir daher bezweifeln, dafs der Tastsinn eine Quelle des Gef\u00fchls der Activit\u00e4t sein k\u00f6nne, so bleibt uns nur \u00fcbrig zu vermuthen, dafs dasselbe von centralen Processen abh\u00e4ngt und mittels einer feineren Analyse von den Bewegungsempfindungen abgesondert werden kann. Gl\u00fccklicherweise k\u00f6nnen wir die diese Analyse erleichternden \u00e4ufseren Bedingungen beschaffen: die Beobachtung nicht der Acte der Muskelcontraction, sondern derjenigen Bewufstseinszust\u00e4nde, welche eintreten, wenn von uns imabh\u00e4ngige Reize die Muskelempfindungen hervorbringen. Ein Beispiel daf\u00fcr bieten Reflexbewegungen, oder Muskelcontractionen, die unter dem Einflufs eines elektrischen Stromes entstehen.\nWohl hat man solche Muskelempfindungen schon der Beobachtung unterworfen, jedoch nicht behufs Bestimmung ihrer Qualit\u00e4t, sondern immer im Hinblick auf andere Zwecke, z. B. um zu bestimmen, wie grofs wir auf Grund dieser Empfindungen eine Bewegung sch\u00e4tzen. Daher habe ich mit meinem Collegen Dr. W. Lajsge Versuche gemacht, um solche Muskelempfindungen mit den Empfindungen bei willk\u00fcrlichen Bewegungen zu vergleichen. A priori k\u00f6nnte man erwarten, dafs sich die Erinnerungen an willk\u00fcrliche Bewegungen der Ideenassociation gem\u00e4fs den rein peripherischen Muskelbewegungen beigesellen m\u00fcfsten. Selbst in dem Falle, dafs die Ergebnisse jener Versuche der Theorie des centralen Ursprungs des Gef\u00fchles der Activit\u00e4t widersprochen h\u00e4tten, w\u00fcrde dies daher nicht bedeutet haben, dafs der ganzen Theorie durch die That-sachen das Urtheil gesprochen w\u00e4re. Ferner da das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t zum Best\u00e4nde jeder willk\u00fcrlichen Wahrnehmung im Procefs der Aufmerksamkeit und aufserdem zum Best\u00e4nde vieler Wabrnehmungen der \u00e4ufseren Welt (z. B. der Wahrnehmung der Bewegung, des Zusammenstofses zweier K\u00f6rper) in der Form des Bewufstseins der \u00e4ufseren (nicht inneren) Activit\u00e4t geh\u00f6rt, so mufste man vermuthen, das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t werde in irgend welcher Form auch bei den Muskelcontractionen rein","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntaristischen Standpunkte.\n109\nperipherischen Ursprungs Vorkommen, also eine scharfe Beobachtungsgabe erforderlich ist, erstens um dasselbe von dem Gef\u00fchl der inneren Activit\u00e4t bei der willk\u00fcrlichen Bewegung zu unterscheiden, und zweitens, um zu bestimmen, ob ein solches Gef\u00fchl der Activit\u00e4t eine urspr\u00fcngliche Quelle des Gef\u00fchls der inneren Activit\u00e4t sein kann. In der That sind diese Vermuthungen durch die Wirklichkeit best\u00e4tigt worden.\nDer Beobachtung sind sechs Personen unterworfen. Die Muskelcontraction wurde durch den constanten und intermittiren-den electrischen Strom hervorgerufen. Um die Bewegung st\u00f6rende, durch den electrischen Strom veranlafste Hautempfindungen zu beseitigen, wurde die Haut bei einigen Versuchen coca\u00efnisirt. Uebrigens erwies sich diese Maafsregel im Verlauf ziemlich \u00fcberfl\u00fcssig, da man diesen Empfindungen bald hinreichend gew\u00f6hnt ist, um von ihnen abstrahiren zu k\u00f6nnen. Der reflexartige Reiz der Muskeln bot nicht gen\u00fcgend Bequemlichkeit f\u00fcr die Zwecke des Versuchs: er wird mit gr\u00f6fserer M\u00fche hervorgerufen, und dann lenkt auch der Schlag mit dem Perkussionshammer die Aufmerksamkeit zu sehr ab. Uebrigens ergiebt der reflexartige Reiz der Bauchpresse durch Ber\u00fchrung mit einem sich rasch bewegenden kalten Gegenstand (etwa dem Griff des Hammers) gute Resultate. Eine ausf\u00fchrliche Beschreibung der Versuche unterlassen wir, da sie unsrer Ansicht nach nicht zahlreich genug waren, um eine entscheidende Bedeutung beanspruchen zu k\u00f6nnen.\nDie Versuche haben gezeigt, dafs die von den rein peripheren Reizen herr\u00fchrenden Bewegungsempfindungen sich wirklich von den Empfindungen der willk\u00fcrlichen Bewegung unterscheiden; sie sind den organischen Empfindungen \u00e4hnlicher, werden jedoch nicht so passiv empfunden wie die Mehrzahl der organischen Empfindungen, oder z. B. wie die Gesichtsempfindungen, weil sie das Bewufstsein der \u00e4ufseren Activit\u00e4t einbegreifen. Jedoch findet sich dieses Element in ihnen nur in dem Maafse wie z. B. in gewissen Schmerzen, die wir bohrende, stechende u. s. w. nennen ; es steigert sich, wenn eine anatomische Kenntnisse besitzende Person sich w\u00e4hrend des Versuchs vorstellt, wie in ihrem K\u00f6rper eine betr\u00e4chtliche Muskelmasse sich contrahirt und verschoben hat. Umgekehrt, wenn eine solche Ideenassociation nicht stattfindet, so ergiebt die Contraction einer wirklich umfangreichen Muskelmasse, z. B. des vastus extemus,","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nN. Lossky.\n\u00a9ine breite rein organische Empfindung. Wenn man diese genau betrachtet, so findet man es keineswegs befremdlich, dafs ungebildete Personen bei der Wahrnehmung einer Reihe reflexartiger Contractionen, welche rasch auf einander folgen, sich etwa aus-dr\u00fccken : \u201ees ist gerade, als ob Blut durchsickerte44, d. h. sie vergleichen ihren Zustand mit den Tastempfindungen bei der Ber\u00fchrung eines sich bewegenden Gegenstandes. Das Gef\u00fchl der \u00e4ufseren Activit\u00e4t, welches zu dem Thatbestande der von den rein peripheren Reizen herr\u00fchrenden Bewegungsempfindungen geh\u00f6rt, unterscheidet sich von dem Gef\u00fchl der inneren Activit\u00e4t der willk\u00fcrlichen Bewegungen (nicht: \u201edie Hand hebt sich44, sondern: \u201eich hebe die Hand44) so sehr, dafs man sich nicht vorstellen kann, das letztere habe seinen Ursprung im ersteren. Setzten wir diesen Ursprung des Gef\u00fchls der inneren Activit\u00e4t voraus, so m\u00fcfsten wir auch voraussetzen, dafs sich die Idee der Activit\u00e4t des Ich aus der Empfindung des stechenden oder bohrenden Schmerzes entwickeln kann.\nDie oben dargelegten theoretischen Erw\u00e4gungen sowie jene Beobachtungen, welche jedoch der Weiterf\u00fchrung und anderweitiger Best\u00e4tigung bed\u00fcrfen, beweisen, dafs der Act der willk\u00fcrlichen Muskelcontraction nicht nur die Erinnerung an fr\u00fchere reflexartig\u00a9 Contractionon einbegreift, sondern auch noch ein weiteres Element, n\u00e4mlich das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t, welches durch centripetale Reize nicht erkl\u00e4rt werden kann. Der gewonnene Schlufs kann in dem Sinne interpretirt werden, dafs man sagt, wir seien damit zu der alten Theorie der \u201eInnervationsempfindungen44 zur\u00fcckgekehrt, welche das Vorhandensein einer ganz besonderen Classe von Empfindungen voraussetzt, n\u00e4mlich denjenigen von rein centralem Ursprung. Diese Zusammenstellung ist jedoch \u2014 obwohl sie bis zu einem gewissen Grade zutrifft \u2014 nicht vorteilhaft, weil jene alte Hypothese haupts\u00e4chlich den anatomischen Schwierigkeiten, welche sich der Erkl\u00e4rung der Muskelempfindungen (man sprach den Muskeln centripetale Nerven ab) entgegenstellen, ihr Dasein verdankt; dafs sie zu eng war, spricht sich schon in dem Ausdruck \u201eInnervationsempfindung44 aus. Damit dafs wir diesem Bewufst-seinszustand rein centralen Ursprung zuschreiben, erkennen wir an, dafs er keine Empfindung ist, und h\u00e4tten wir selbst, in Uebereinstimmung mit den Anh\u00e4ngern der alten Hypothese vorausgesetzt, dafs das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t der Nervenentladung","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Eine W\u00fcleTtstheorie vom voluntaristwehen Standpunkte.\n111\nentspreche, auf welche der Innervationsstrom folgt, so m\u00fcfsten wir doch an unserer Behauptung festhalten, dafs es nicht nur Muskelcontractionen, sondern auch alle Ver\u00e4nderungen begleitet, die sich in unserem Bewufstsein vollziehen. Und in der That unterscheidet sich das hypothetische Bild der Nervenentladung, auf die der Innervationsstrom folgt, keineswegs von den Associationsstr\u00f6men, welche sich nach anderen Gehimcentren hin verbreiten, wie z. B. in dem Falle, wenn wir die Aufmerksamkeit auf di\u00a9 Idee der Kausalit\u00e4t richten und damit die Erinnerung an die mit derselben verkn\u00fcpften Ideen erregen. Wenn die der Muskelcontraction vorangehenden Ent- -ladungen mit dem Gef\u00fchl der Activit\u00e4t verkn\u00fcpft sind, so m\u00fcssen auch diese Entladungen von demselben Bewufstseins-zustand begleitet werden.\nWir sind zu der Ueberzeugung gekommen, dafs das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t keine Muskelempfindung ist. Daraus ziehen wir folgenden Schlufs: die oben erw\u00e4hnten Psychologen, welche behaupten, dafs unser Bewufstsein der Activit\u00e4t, das wir als Zeug-nifs f\u00fcr das wirkliche Vorhandensein unserer Activit\u00e4t in Anspruch nehmen, auf einer T\u00e4uschung beruhe, beweisen diese Aufstellung damit, dafs, wie sie sagen, das Bewufstsein der Activit\u00e4t eine Muskelempfindung ist; nun ist aber dieser Argument falsch, folglich ist der sich darauf st\u00fctzende Schlufs unbewiesen.\n3. Die Ver\u00e4nderungen.\nDer Ver\u00e4nderungen, welche auf \u201emein4 Streben und das Gef\u00fchl \u201emeiner4 Activit\u00e4t folgen, giebt es dreierlei. In einigen F\u00e4llen scheint die Ver\u00e4nderung in ihrem ganzen Umfange die \u201emeinige4 zu sein. Wenn wir f\u00fcr eine Maskerade das Kost\u00fcm eines Gentlemans der Zeit Ludwigs XIV. in Gedanken zusammenstellen, und, nachdem wir im ganzen den Plan desselben schon festgelegt haben, uns vorzustellen versuchen, wie es sich ausnehmen wird, wenn an die gr\u00fcnen Aufschl\u00e4ge der Aermel die Spitzen, die schon in unserem Besitz sind, angen\u00e4ht sein werden, so wird diese Synthese als die \u201emeinige4 empfunden. In anderen F\u00e4llen besteht die Ver\u00e4nderung theilweise aus \u201emeinen4, theil-weise aus \u201egegebenen4 Elementen; so z. B. wenn ich \u00fcberlege, auf welche Weise der Catalog meiner Bibliothek einzurichten ist, und mich dabei zum Theil der K\u00e4sten und Karten der","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nN. Lossky.\nZettelcataloge, die ich gesehen habe, erinnere, zum anderen Theil die Formen derselben selbst erfinde. Endlich drittens scheint manchmal auf den ersten Blick eine Ver\u00e4nderung ganz oder theilweise die \u201emeinige\u201c zu sein, aber eine aufmerksame Beobachtung zeigt, dafs sie ausschliefslich aus \u201egegebenen\u201c Elementen besteht und die \u201emeinige\u201c zu sein scheint nur aus dem Grunde, dafs sie auf ein lebendiges Gef\u00fchl \u201emeiner44 Activit\u00e4t folgt; in solchen F\u00e4llen empfinden wir lebhaft, dafs wir etwas hervorgebracht haben, ohne jedoch zu wissen, worin es bestand. Wenn wir z. B. die Hand willk\u00fcrlich aufheben, so erscheint diese Ver\u00e4nderung als die \u201emeinige\u201c, aber f\u00fcr unser Bewufstsein besteht sie lediglich in Bewegungs- und Gesichtsempfindungen, welche immer zu den gegebenen Zust\u00e4nden des Bewufstseins geh\u00f6ren; in diesem Fall entsteht die Illusion des Vorhandenseins \u201emeiner\u201c Elemente in der Ver\u00e4nderung in Folge eines h\u00f6chst lebendigen Gef\u00fchls, dafs unsere Anstrengung nicht ergebnislos geblieben ist, dafs wir etwas hervorgebracht haben, aber eine sorgf\u00e4ltige Analyse zeigt, dafs das von uns Hervorgebrachte in unserem Bewufstsein gar nicht gegeben ist. Ver\u00e4nderungen der ersten Art werden wir \u201emein innerer Act\u201c nennen, Ver\u00e4nderungen der zweiten Art \u201emein unvollst\u00e4ndig innerer Act\u201c, Ver\u00e4nderungen der dritten Art \u201emein \u00e4ufserer Act\u201c.\n\u201eMeine \u00e4ufseren Acte\u201c sind streng zu unterscheiden von einer Gattung der Ver\u00e4nderungen, welche nach einem ganz anderen Schema verlaufen, n\u00e4mlich von den Ver\u00e4nderungen, welche auf die Strebungen folgen, jedoch ohne das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t und \u00fcberhaupt ohne das Bewufstsein, dafs wir sie direct oder indirect hervorgebracht haben. Z. B. kommen wir morgens im Bette liegend zu dem Entschlufs, aufzustehen, aber wir sind nicht im Stande, uns zu \u00fcberwinden; nach einiger Zeit fangen wir an, \u00fcber irgend etwas nachzudenken und pl\u00f6tzlich bemerken wir, dafs wir schon im Aufstehen begriffen sind. Oder: In Gesellschaft wollen wir etwas erz\u00e4hlen, kommen aber zu der Einsicht, dafs unsere Erz\u00e4hlung nicht passend ist, aber einige Minuten sp\u00e4ter bemerken wir, dafs unsere Zunge uns unerwartet verrathen und zu sprechen angefangen hat Solche \u00e4ufsere Ver\u00e4nderungen kann man nicht Willenshandlungen nennen, wofern man diesen Ausdruck im oben festgestellten Sinne betrachtet,1 aber man kann sie auch nicht zu den reflexartigen\n1 S. oben II 2.","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntanstiscken Standpunkte.\n113\noder automatischen rechnen, weil ein psychischer Zustand ihnen unbedingt nothwendig vorausgeht. Wir werden diese Ver\u00e4nderungen psycho-reflexartige Acte nennen. Diese Acte widersprechen in keiner Weise der Behauptung des Voluntarismus, dafs alle Ver\u00e4nderungen im Bewufstsein, welche wir auf unser Ich beziehen, nach dem Typus der Willenshandlungen verlaufen: denn ein psycho-reflexartiger Act stellt als Ganzes ebenso wenig eine einheitliche Ver\u00e4nderung im Bewufstsein dar, als z. B. unser Nachdenken \u00fcber einen abstracten Gegenstand und eine auf denselben folgende Wahrnehmung des Schlagens einer Uhr. Mit anderen Worten: der psycho-reflexartige Act besteht aus zwei verschiedenen Ver\u00e4nderungen; dies wird sofort klar, wenn man genau feststellt, was man im Bewufstsein in solchen F\u00e4llen, z. B. in dem ersten der angef\u00fchrten F\u00e4lle findet. Zuerst haben wir eine Vorstellung des Actes des Aufstehens und eine entsprechende Strebung, nachher ist eine Ver\u00e4nderung eingetreten, welche man nicht mit den Worten \u201eich bin auf gestanden\u201c bezeichnen kann \u2014 da, wo eine solche Bezeichnung m\u00f6glich ist, haben wir es mit \u201emeinem \u00e4ufseren Act\u201c zu thun, welchem das lebendig\u00a9 Bewufstsein, dafs ich etwas hervorgebracht habe, vorausgeht \u2014 sondern welche wir genauer mit den Worten bezeichnen: \u201eich nehme mich als auf gestand en seiend wahr\u201c. In der That haben wir es hier mit zwei abgesonderten Erscheinungen im Gebiete des individuellen Be-wufstseins zu thun: mit der Strebung, welche aufgehoben oder, wie es scheint, nicht kr\u00e4ftig genug ist, um eine Ver\u00e4nderung herbeizuf\u00fchren und mit der Wahrnehmung der Ver\u00e4nderung, welche, wie es scheint, sich ohne die Activit\u00e4t des Ich vollzogen hat Es besteht kein Unterschied zwischen dieser Wahrnehmung und der Wahrnehmung einer reflexartigen Muskelcontraction : wenn wir eine in hohem Grad saure Frucht essen, und unsere Gesichtsmuskeln reflexartig zu contrahiren anfangen, so nehmen wir diese Contractionen im selben Sinne wahr wie solche, die ohne unseren Willen stattgefunden haben. Daher haben wir die oben beschriebenen Acte mit dem Ausdruck \u201epsycho-reflexartige Acte\u201c bezeichnet, welcher vielleicht in anderen Beziehungen nicht ganz zutreffend ist. Viele Psychologen bezeichnen solche Erscheinungen mit dem Ausdruck \u201eideo-motorischer Act\u201c. Jedoch ist dieser Begriff in einigen Beziehungen weiter, in anderen -enger als f\u00fcr unsere Zwecke n\u00f6thig ist Er ist weiter insofern\nZeiUchrift f\u00fcr Psychologie 30.\t8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nN Limhj.\nman unter ihm oft alle Bewegungen unterbringt, welche auf eine Vorstellung der Bewegung folgen, auch wenn eine solche Vorstellung vom Streben und vom Gef\u00fchl der Activit\u00e4t begleitet ist (\u201emein\u201c Act oder \u201eabgen\u00f6thigter\u201c \u00e4ufserer Act); enger ist er, insofern man unter ihm nur die Bewegungs&cte unterbringt, w\u00e4hrend die von uns beschriebenen specifischen Z\u00fcge der psycho-reflexartigen Ver\u00e4nderungen sich auch in psychischen Zust\u00e4nden finden, welchen auf der Peripherie des K\u00f6rpers keine Ver\u00e4nderung entspricht; solche innere psycho-reflexartige Acte sind besonders in den Processen der Erinnerung verbreitet.1\n4. Der Thatbestand des individuellen Bewufstseins: die Willensacte, die \u201eActe in mir\u201c und die Zust\u00e4nde des Bewufstseins.\nDer gegebenen Definition der Willenshandlungen gein\u00e4fs k\u00f6nnen alle Erscheinungen im individuellen Bewufstsein in folgende drei Gruppen vertheilt werden: die Willensacte (\u201emeine Acte\u201c), die \u201eActe in mir\u201c und die Zust\u00e4nde des Bewufstseins. Die Willensacte und ihre Arten haben wir schon betrachtet. Als \u201eActe in mir\u201c bezeichnen wir, wie oben erw\u00e4hnt, die psychischen Processe, welche aus den mir gegebenen Strebungen und den entsprechenden Ver\u00e4nderungen bestehen.2\nZust\u00e4nde des Bewufstseins endlich nennen wir solche psychische Erscheinungen, welchen im individuellen Bewufstsein keine Strebungen, weder \u201edie ineinigen\u201c noch die \u201emir ge* * gebenen\u201c vorausgehen. Hierher geh\u00f6ren z. B. alle Empfindungen der h\u00f6heren Sinne: wenn wir eine schwarze Fl\u00e4che betrachten, empfinden wir ihre Farbe als einen passiv gegebenen Zustand, welcher keine Strebung einbegreift; wTofern nat\u00fcrlich dieser Zustand Gegenstand der Aufmerksamkeit wird und sich dadurch einer Ver\u00e4nderung unterzieht, begreift er auch eine Strebung in sich, ist er ein Act; aber der eigentliche \u201egegebene\u201c Inhalt dieses Processes f\u00e4llt in keiner Beziehung unter den Begriff des Actes.\nEine interessante Uebergangsstufe zwischen den \u201eActen in mir\u201c und den Zust\u00e4nden des Bewufstseins bilden einige organische Empfindungen wie Durst, Erm\u00fcdung, Gliederreifsen ; in\n1 S. unten III. 1.\n* S. oben II. 2.","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntaristischen Standpunkte.\n115\nihnen f\u00fchlen wir etwas den Strebungen Aehnliches und darin besteht der Hauptunterschied zwischen ihnen und den Empfindungen der h\u00f6heren Sinnesorgane.\nIII. Der Voluntarismus.\n1. Der Willenscharakter \u201emeiner4 Processe des\nBe wufstseins.\nWir haben drei Gruppen von Processen festgestellt : Willensacte, Acte in mir, und Zust\u00e4nde des Be wufstseins. Wenn der Voluntarismus mit Recht behauptet, dafs alle Erscheinungen des Seelenlebens, welche das individuelle Bewufstsein auf das Ich bezieht, nach dem Schema der Willenshandlungen verlaufen, so bedeutet das, dafs \u201emeine4 Processe des Bewufstseins keine Zust\u00e4nde des Bewufstseins, sondern Willensacte sind; d. h. sie begreifen \u201emeine4 Strebung, das Gef\u00fchl \u201emeiner4 Activit\u00e4t und die mit dem Gef\u00fchl der Befriedigung oder Nichtbefriedigung verkn\u00fcpfte Ver\u00e4nderung ein, und umgekehrt wird alles, was wir zu der Classe der Zust\u00e4nde des Bewufstseins rechnen (die mit den Strebungen organisch nicht verkn\u00fcpften Processe), immer als \u201emir Gegebenes4 empfunden. Wir haben somit eine sehr weite Verallgemeinerung festzustellen. Bis jetzt haben wir nur den Thatbestand einiger von \u201emeinen\u201c Bewufstseinszust\u00e4nden beschrieben und f\u00fcr die Analyse m\u00f6glichst typische Formen ausgew\u00e4hlt ; daher ist wohl unsere Beschreibung bis hierher keinem Widerspruch begegnet. Jetzt aber, da wir unsere Analyse verallgemeinern und behaupten, dafs wir, insofern wir auf Grund des unmittelbaren Gef\u00fchls irgend einen Zustand als \u201emeinen\u201c Zustand bezeichnen, es immer mit dem Processe, welcher die Strebungen und das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t einbegreift, zu thun haben, wird sich gewifs eine Reihe von Zweifeln erheben. Unsere Beweisf\u00fchrung wird haupts\u00e4chlich in der Widerlegung solcher m\u00f6glichen Zweifel bestehen.\nZun\u00e4chst wird man einwenden, dafs alle Processe im individuellen Bewufstsein ohne Ausnahme als \u201emeine\u201c Processe empfunden werden. Wir haben oben davon gesprochen 1 und schon damals darauf hingewiesen, dafs es dennoch zwischen den verschiedenen Bewufstseinsprocessen grofse Unterschiede in Be-\n\u00bb S. II. 1.\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\n.Y. Losski/.\nziehnng auf die Abstufung dieses Gef\u00fchls giebt Von diesen Bewufstseinsprooessen scheinen die einen, n\u00e4mlich die am intensivsten von diesem Gef\u00fchl gef\u00e4rbten, ihrem ganzen Umfang nach die \u201em einigen\u201c zu sein, andere, am wenigsten von ihm gef\u00e4rbte, nur insofern \u201emeine\u201c Aufmerksamkeit auf sie gerichtet ist, w\u00e4hrend sie in anderen Beziehungen, besonders nach der Seite des Inhalts, \u201emir gegebene\u201c zu sein scheinen. Die Aufmerksamkeit also nimmt unter den Bedingungen, unter welchen Bewufstseinsprocesse als die \u201emeinigen\u201c erscheinen, die erste Stelle ein. Folglich m\u00fcssen wir, wenn wir den oben angef\u00fchrten Hauptsatz des Voluntarismus begr\u00fcnden wollen, zun\u00e4chst beweisen, dafs der Wechsel des Brennpunktes der Aufmerksamkeit und die daraus sich ergebenden Ver\u00e4nderungen unter unseren Begriff der Willenshandlung fallen. Nach den Untersuchungen von Wundt ist diese Aufgabe nicht mehr allzu schwierig. In jedem gegebenen Momente setzt sich unser Bewufstsein aus einer Menge verschiedenartiger Zust\u00e4nde zusammen, deren Inbegriff Wundt das Blickfeld des Bewufstseins nennt In diesem Felde nimmt irgend eine mehr oder minder umfangreiche Gruppe eine centrale Stellung ein in dem Sinne, dafs sie am klarsten und deutlichsten empfunden wird; sie bildet den Fixationspunkt des Bewufstseins, auf sie ist die Aufmerksamkeit gerichtet oder, nach der Terminologie von Wundt, wir appercipiren sie, w\u00e4hrend wir andere Bewufstseinserscheinungen nur percipiren. Die Apperception einer Bewufstseinserscheinung, d. h. ihr Ueber-gang von der Peripherie des Blickfeldes des Bewufstseins in den Fixationspunkt, ist gewifs einer der wichtigsten inneren Processe : derjenige Bewufstseinszustand, auf den sich die Aufmerksamkeit vor allen anderen concentrirt, verdr\u00e4ngt alle anderen Zust\u00e4nde, wird der klarste und gewinnt eine dominirende Stellung in dem Sinne, dafs der weitere Verlauf des bewufsten Lebens, z. B. die Erinnerung, das Nachdenken, die Phantasieth\u00e4tigkeit, die \u00e4ufseren Willenshandlungen dem appercipirten Zustande entsprechen.\nMachen wir zun\u00e4chst die Analyse derjenigen Art der Apperception welche Wundt active Apperception nennt Nehmen wir folgenden Fall: wir denken \u00fcber die Apperception nach und erinnern uns der WuNDT\u2019schen Theorie, wobei uns seine Terminologie in der russischen Sprache vorschwebt; dann aber suchen wir die deutsche Terminologie in unserem Ged\u00e4chtnifs aufzufrischen; auf der \u00e4u\u00dfersten Grenze der Peripherie des Bewufst-","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntaristwehen Standpunkte.\n117\nseins sind schon die Termini \u201eBlickpunkt\u201c und \u201eBlickfeld\u201c erschienen, aber in einer so undeutlichen Form, dafs wir sie noch nicht ausprechen oder niederschreiben k\u00f6nnen; erscheint nun in diesem Moment im Blickfeld unseres Bewufstseins unerwartet ein neues Element, percipiren wir z. B. undeutlich zu unserem Ohr dringende Geigent\u00f6ne, so h\u00e4ngt der weitere Verlauf unseres bewufsten Lebens direct davon ab, was wir appercipiren : wenn die Musik, so werden die deutschen Termini vergessen, vielleicht sogar auf lange Zeit; sind wir aber in die Arbeit sehr vertieft und strengen uns an, uns nicht von ihr abziehen zu lassen, sind aber andererseits auch Musikliebhaber, so kann folgende Reihe von Erscheinungen sich abspielen: zuerst lassen wir uns unbedacht in der Richtung der T\u00f6ne ablenken, die deutschen -Termini beginnen im Bewufstsein zu erl\u00f6schen; sobald wir aber 'dies gewahr werden, halten wir sofort inne, entziehen mittels einer gewissen Anstrengung unsere Aufmerksamkeit den T\u00f6nen und concentriren sie auf den urspr\u00fcnglichen Ideengang ; alsdann -werden die T\u00f6ne im Bewufstsein, unter Umst\u00e4nden vollst\u00e4ndig, erl\u00f6schen, die deutschen Termini aber werden klar im Bewufstsein emportauchen und wir werden sie mit dem Gef\u00fchl voller Befriedigung niederschreiben. Dieser Procefs begreift offenbar alle Elemente des Willensactes in sich; der Ver\u00e4nderung sind sogar zwei Vorstellungen vorausgegangen, welche man als Strebungen bezeichnen kann: sie sind mit dem eigenth\u00fcmlichen Gef\u00fchl verkn\u00fcpft, dessen Vorhandensein uns veranlafst, sie so zu bezeichnen (im obigen Fall die Strebung, uns der Termini zu erinnern, die Strebung, die Geigent\u00f6ne zu verfolgen). Die Ver\u00e4nderung ist von dem Gef\u00fchl der Activit\u00e4t begleitet und \u2022tritt mit dem Gef\u00fchl der Befriedigung auf. Eine solche Ver\u00e4nderung begreift in sich alle Elemente des zielstrebenden Actes.\nWeit h\u00e4ufiger findet einfacher Wechsel des Brennpunktes der Aufmerksamkeit statt, Vorg\u00e4nge, welche Wundt als passive Apperception bezeichnet. Wenn wir uns f\u00fcr die betreffende Arbeit nicht besonders interessiren und uns schlecht beherrschen, so machen wir gleich beim ersten Auftreten der uns anziehenden Geigent\u00f6ne \u2014 w\u00e4re es auch nur auf der \u00e4ufsersten Grenze des Bewufstseins, ohne vorhergehende Willensschwankung eine Anstrengung, sie anzuh\u00f6ren, und die deutschen Termini erl\u00f6schen \u00abdabei im Bewufstsein g\u00e4nzlich. Die Strebung, zuzuh\u00f6ren, das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t und endlich die mit dem Gef\u00fchl der Be-","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nX. L<mk:y.\nfriedigung oder Nichtbefriedigung verkn\u00fcpfte Ver\u00e4nderung, alle diese Elemente sind in der sogenannten passiven Apperception vorhanden ; auch sie ist also ein zielstrebender Act, und der beschriebene Fall geh\u00f6rt zu den nichtgewufsten unvollst\u00e4ndig inneren Acten.\nEndlich entbehren der Aufmerksamkeit auch nicht die \u00fcbrigen Bewusstseinsinhalte, welche die Peripherie des Blickfeldes ein-schliefst. Es giebt unz\u00e4hlige Uebergangsstufen zwischen der Apperception und der Perception, so dafs eine scharfe Grenze zwischen beiden \u00fcberhaupt nicht zu ziehen ist: es besteht nur ein quantitativer Unterschied nach dem Grade der Gewufstheit und dem Grade des Interesses, welches der Zustand hervorruft Das letztere Merkmal ist besonders wichtig: denn nicht nur die Apperception, sondern auch die Perception bezieht sich aus-schliefslich auf mehr oder minder f\u00fcr uns interessante Erscheinungen ; was in keiner Beziehung interessant ist, tritt \u00fcberhaupt nicht in die Sph\u00e4re des Bewufstseins ein. Daher stellen sich auch die Erscheinungen auf der Peripherie des Bewu\u00dftseins nicht als \u201eabsolut gegebene\u201c dar ; selbst diese Erscheinungen werden, wenn auch bisweilen in sehr geringem Grade, als die \u201emeinigen4* empfunden, insofern ich sie an schaue, insofern meine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet ist,\nDie Aufmerksamkeit ist ohne Zweifel einer der wichtigsten inneren Acte. Aber selbst in ihrer h\u00f6chsten Form, in der Form der Apperception, welche die Bewufstseinszust\u00e4nde aus der Peripherie in den Fixationspunkt \u00fcberf\u00fchrt, bringt sie dem Wesen nach nur unbetr\u00e4chtliche Ver\u00e4nderungen hervor, indem sie nicht einen Bewufstseinszustand schafft, sondern nur die Klarheit und Deutlichkeit eines schon vorhandenen steigert Mit anderen Worten: im Acte der Apperception f\u00fchlen wir uns ih\u00e4tig, aber wir empfinden, dafs nicht alles Resultat unserer Th\u00e4tigkeit, dafs das Grundmaterial der Erscheinung uns gegeben i\u00dft, und wir nur die Rolle des Zuschauers spielen, welcher sein Object th\u00e4tig anschaut, aber nicht schafft\nNur in dem Falle, wenn wir die psychischen Erscheinungen in solcher Weise analysiren und in ihnen \u201emeine4* Elemente und \u201emir gegebene\u201c unterscheiden, k\u00f6nnen vermeintliche im Hauptsatz des Voluntarismus vorhandene Widerspr\u00fcche gel\u00f6st werden. Es erweist sich dabei, dafs eine und dieselbe Erscheinung insofern sie als die \u201emeinige\u201c empfunden wird, Elemente des","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom vohmtaristischen Standpunkte.\n119\nWillensactes einbegreift, und, insofern sie als \u201egegebene\u201c empfunden wird, durchaus nicht unter den Begriff des Willensactes f\u00e4llt und vom Standpunkte des Voluntarismus nicht fallen mufs.\nJeder psychische Zustand ruft die Aufmerksamkeit des Ich in irgend einem, w\u00e4re es auch dem geringsten, Grade hervor, folglich mufs jeder psychische Zustand, wenn nicht im ganzen Umfang, so doch bis zu einem gewissen Grade, als \u201emein\u201c Zustand empfunden werden, was in der That durch die Beobachtung best\u00e4tigt wird. Wenn der psychische Zustand nur insofern als \u201emein\u201c Zustand empfunden wird als meine Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet ist, so begreift er die mindestm\u00f6gliche Quantit\u00e4t der activen Elemente ein. Wenn der psychische Zustand im ganzen Umfange, wie von der Seite des Inhalts, so auch von der Seite der Form, als auch endlich als Object der Aufmerksamkeit \u201emein\u201c Zustand zu sein scheint, so begreift er die gr\u00f6fstm\u00f6gliche Quantit\u00e4t der activen Elemente ein, weil er seinem ganzen Umfange nach unter den Begriff des Willensactes f\u00e4llt. Die Mehrzahl der psychischen Erscheinungen befindet sich zwischen diesen zwei \u00e4ufsersten Stufen und verbindet sie in unz\u00e4hligen Uebergangsformen. Wie die Processe der Aufmerksamkeit rufen auch diese Uebergangsformen viele dem Voluntarismus gef\u00e4hrliche MifsVerst\u00e4ndnisse hervor, weil \u201emeine\u201c Elemente in ihnen mit \u201egegebenen\u201c vermischt sind. Von diesem Standpunkt wollen wir die Producte der wichtigsten psychischen Th\u00e4tigkeiten betrachten in aufsteigender Reihe, d. h. wir werden von den Producten, welche im Allgemeinen am wenigsten von \u201emeinen\u201c Elementen einbegreifen, von den Wahrnehmungen ausgehen.\nJede Wahrnehmung besteht aus 1. mehreren (gew\u00f6hnlich sehr zahlreichen) gegenw\u00e4rtigen und reproducirten Empfindungen, 2. welche in gewisser Weise verkn\u00fcpft, 3. gewufst (die gr\u00fcne Farbe z. B. wird nicht nur empfunden, sondern auch als gr\u00fcne Farbe anerkannt), und 4. mit dem Gef\u00fchl der Objectivit\u00e4t (Bewusstsein des Vorhandenseins des Objects) verbunden sind. Jedes dieser Elemente wollen wir abgesondert betrachten.\nAlle Empfindungen in der Wahrnehmung werden als uns gegebene und nicht als von uns hervorgebrachte empfunden. Zwar m\u00fcssen wir, damit die Empfindung in den Fixationspunkt eintrete, auf sie die Aufmerksamkeit richten, manchmal Kopf,","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nN. Lossky.\nAugen und dergleichen zum Zwecke der Wahrnehmung wenden, m\u00fcssen sie endlich gewufst machen. Die Aufmerksamkeit steigert jedoch nur die Deutlichkeit der Empfindung, scheint aber nicht die Ursache der Empfindung zu sein; der Impuls, welcher mit dem Wenden des Kopfes, der Augen u. s. w. verkn\u00fcpft ist, ist vielleicht Ursache dieser Bewegungen, aber nicht der Gesichtsempfindungen ; das Gewufstmachen der Empfindung endlich bedarf in vielen F\u00e4llen betr\u00e4chtlicher Activit\u00e4t, z. B. angestrengter Erinnerungsth\u00e4tigkeit, der Zusammenstellung des Neuen mit fr\u00fcher Erlebtem u. s. f.; nun haben aber alle diese Acte einen Sinn nur dann, wenn die Empfindung schon vorhanden ist, folglich ist sie nicht von ihnen hervorgebracht, obgleich sie von ihnen eine neue F\u00e4rbung bekommt. Alle Empfindungen, nicht nur die der h\u00f6heren Sinnesorgane, sondern auch organische wie Durst, Hunger, M\u00fcdigkeit u. dergl. haben diesen Charakter des Gegebenseins; die ihnen vorkommenden activen Elemente begleiten sie nur, geben ihnen neue N\u00fcancen, aber machen nicht ihren Grundinhalt aus.\nIn weit h\u00f6herem Grade f\u00fchlen wir uns th\u00e4tig bei der Verkn\u00fcpfung der Elemente der Wahrnehmung in ein einheitliches Ganzes. Wenn wir uns an einer Wald land Schaft erg\u00f6tzen mit den Sonnenblicken auf den Birkenst\u00e4mmen, mit dem Contrast des hellgr\u00fcnen Laubs und der dunkeln Nadeln, mit den d\u00fcsteren Verstecken im Dickicht, so m\u00fcssen wir alle diese Elemente zu einer complicirten Einheit verkn\u00fcpfen, deren Theile (z. B. irgend ein einheitlicher Sonnenblick) gegeben sind, w\u00e4hrend das Ganze als solches nicht gegeben ist Ueberhaupt scheint, wenn wir einen einfachen, uns wohlbekannten Gegenstand wahrnehmen, z. B. die Lampe auf unserem Tisch, eine Einheit der Empfindungen gegeben zu sein, aber wenn der Gegenstand complicirt und uns wenig bekannt ist, z. B. wenn wir zum ersten Male das Strafsburger M\u00fcnster wahrnehmen, so betrachten wir die T\u00fcrme, S\u00e4ulen, Bogen u. s. w., und, um das Ganze \u00e4sthetisch zu geniefsen, verkn\u00fcpfen wir diese Theile zu einem allgemeinen Bilde mit grofser Anstrengung und in jedem Falle in der Erkenntnifs, dafs dieses Ganze nicht von sich selbst aus in unser Bewufstsein eingeht, sondern theilweise von uns construirt ist unter der Leitung von Strebungei], das Ganze zu umfassen und in eine Einheit zu bringen, Diese Construction begreift alle Elemente des Willensactes ein und geh\u00f6rt gew\u00f6hnlich zu den unvollst\u00e4ndig inneren","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntaristischen Standpunkte.\n121\nActen. In dieser Beziehung giebt es grofse Unterschiede bei den verschiedenen Individuen, die einen sind f\u00e4hig, sehr compli-cirte Gegenst\u00e4nde fast ohne M\u00fche wahrzunehmen, andere nicht; die einen erfassen mit grofser Leichtigkeit complicirte Klangmassen, andere complicirte Farbenzusammensetzungen, wieder andere complicirte Raumformen. Selbst die Wahrnehmungs-th\u00e4tigkeit einer und derselben Person unterliegt grofsen Schwankungen. Im Zustande der Erm\u00fcdung, der niedergedr\u00fcckten Stimmung, des Befangenseins wird man selbst bei dem Wahrnehmen eines so einfachen Gegenstandes, wie einer menschlichen Physiognomie, diese zu construiren sich gezwungen sehen.\nAlles \u00fcber die Construction der Wahrnehmung Gesagte bezieht sich auch auf das Gewufstmachen ihrer Elemente. Wenn wir es mit einem einfachen und uns gut bekannten Objecte zu thun haben, so scheint es in seinen einzelnen Elementen in ge-wufster Form gegeben zu sein (wir bemerken z. B. keine besondere Anstrengung beim Gewufstmachen der gr\u00fcnen Farbe des Laubes). Umgekehrt, wenn das Object aus vielen neuen Elementen besteht, oder wenn wir uns im Zustand der M\u00fcdigkeit befinden, so erfordert das Gewufstmachen oft grofse M\u00fche und hat zur Vorbedingung die Strebungen, zu erkennen, zu bestimmen, sich zu erinnern, zu analysiren u. s. f. Diese Acte geh\u00f6ren gew\u00f6hnlich zu den nichtgewufsten unvollst\u00e4ndig inneren Acten.\nEndlich wird das letzte Element der Wahrnehmung, das lebhafte Gef\u00fchl der Objectivit\u00e4t (z. B. der B\u00e4ume), so wenig als die Empfindung als etwas von uns Hervorgebrachtes empfunden ; das charakteristische Merkmal des Gef\u00fchls der Objectivit\u00e4t besteht gerade darin, dafs wir das Vorhandensein von irgend etwas Fremdem (und zwar nicht der Erscheinung, sondern dem Tr\u00e4ger der Erscheinung), das sich unserem Ich von aufsen auf dr\u00e4ngt, empfinden. Wofern wir auf dieses Gef\u00fchl unsere Aufmerksamkeit richten, wird dasselbe in dieser Beziehung auch als \u201emein Zustand41 empfunden und f\u00e4llt unter den Begriff des Willensactes.\nUnsere Analyse ist geeignet, alle m\u00f6glichen Einw\u00e4nde zu beseitigen, welche aus dem Umstande erwachsen, dafs \u201emeine\u201c Elemente und die \u201egegebenen\u201c Elemente in den Wahrnehmungen \u00fcberall eng verflochten sind. Dennoch wollen wir eine solche","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nN. Los sky.\nEinwendung hier speciell betrachten. Man k\u00f6nnte n\u00e4mlich einwenden, dafs doch, wie es scheine, die Wahrnehmungen einiger intensiven oder organischen Reize, z. B. der durch einen Kanonenschufs verursachten Detonation, des Stechens, Brennens einer Wunde, der Zahnschmerzen u. s. w. ohne jegliche Activit\u00e4t unsererseits entstehen und dennoch als \u201emeine\u201c Zust\u00e4nde empfunden werden und sich im Fixationspunkt des Bewusftseins befinden ; folglich seien sie geeignet, eine negative Instanz unserer Behauptung gegen\u00fcber zu bilden.\nJedoch f\u00fchrt eine Analyse selbst in solchen F\u00e4llen zur Be st\u00e4tigung des Voluntarismus. H\u00f6chst intensive oder organische Reize gehen gew\u00f6hnlich aus einer f\u00fcr uns gef\u00e4hrlichen oder \u00fcberhaupt wichtigen Ursache hervor und m\u00fcssen daher in Folge der durch lange Evolution ausgearbeiteten Anpassung eine der m\u00e4chtigsten Strebungen, n\u00e4mlich die Strebung der Selbsterhaltung erwecken* Folglich mufs es bei uns eine allgemeine Tendenz geben, die Aufmerksamkeit leicht und augenblicklich auf solche Reize zu richten, so dafs wir selbst ein Object, welches unsere Aufmerksamkeit fr\u00fcher g\u00e4nzlich in Anspruch genommen hat, sofort fallen lassen. Der psychologische Tact der Menschheit, welcher seinen Ausdruck in der Sprache findet, behauptet, wie es oft geschieht, ganz richtig, dafs es schwierig ist, von solchen Reizen \u201edie Aufmerksamkeit abzuziehen\u201c : in diesen F\u00e4llen folgen wir ohne Kampf der primitivsten, m\u00e4chtigen und fast immer nichtgewufsten Strebung. W\u00e4re im Leben kein Beispiel zu finden, in dem solche Reize in Folge der Ablenkung der Aufmerksamkeit durch eine andere, folglich m\u00e4chtigere Strebung, nicht wahrgenommen w\u00fcrden, so w\u00e4re das noch kein Zeichen, dafs sie selbst\u00e4ndig ohne H\u00fclfe der Aufmerksamkeit und unserer Strebungen in den Fixationspunkt des Bewufst-seins treten: es w\u00fcrde nur darauf hindeuten, dafs die Strebung zur Selbsterhaltung und die primitiven, aus ihr ableitbaren Strebungen, die f\u00fcr uns m\u00e4chtigste bewegende Ursache sind. Gl\u00fccklicherweise k\u00f6nnen wir aber einen gewichtigeren Beweis zu Gunsten des Voluntarismus finden. Obgleich die Menschheit noch auf einer verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig sehr niederen Stufe der Entwickelung steht, gelingt es doch einzelnen Personen, ihre Aufmerksamkeit \u2014 w\u00e4re es auch nur auf kurze Zeit \u2014 auf verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig weit h\u00f6here Objecte mit solcher Kraft zu concen-triren, dafs die primitiven Erscheinungsformen der Strebung zur","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willens th\u00e9orie vom voluntaristischen Standpunkte.\n123\nSelbsterhaltung zur\u00fccktreten und der intensive oder organische Reiz nicht weiter wahrgenommen wird. Es ist bekannt, dais der Verwundete in hitzigem Kampf seine Wunde nicht bemerkt. Wenn wir uns von irgend etwas hinreifsen lassen, so empfinden wir Zahnschmerzen, die uns vorher l\u00e4stig waren, nicht, obgleich die krankhaften Processe in den Z\u00e4hnen fortdauern u. s. f.\nAuf Grund der Analyse der Wahrnehmung k\u00f6nnen wir schon jetzt folgende wichtige S\u00e4tze \u00fcber \u201emeine\u201c Bewufstseinszust\u00e4nde und \u00fcber die \u201egegebenen\u201c Bewufstseinszust\u00e4nde feststellen.\n1.\tAlle sinnlichen Elemente des Bewufstseins (die Empfindungen) geh\u00f6ren zu den \u201egegebenen\u201c Zust\u00e4nden.\n2.\tEinige von den nichtsinnlichen Elementen k\u00f6nnen entweder \u201edie ineinigen\u201c oder \u201egegebene\u201c sein (z. B. die Einheiten der Empfindungen); andere nichtsinnliche Elemente sind stets gegebene (z. B. das Gef\u00fchl der Objectivit\u00e4t), wieder andere sind stets die \u201emeinigen\u201c (z. B. jene Schattirung der Bewufstseinszust\u00e4nde, welche durch die Concentration der Aufmerksamkeit bedingt ist).\n3.\t\u201eMeine\u201c Bewufstseinszust\u00e4nde geh\u00f6ren s\u00e4mrat-lich zu den nichtsinnlichen.\nIn der Wahrnehmung ist, wie wir gesehen haben, die Mehrzahl der Elemente \u201egegeben\u201c. Eben denselben Charakter haben auch die Processe der Erinnerung : gew\u00f6hnlich sind nur ihr Anfang und einige Zwischenpunkte in hohem Grade activ, alles \u00fcbrige aber besteht aus ganzen Reihen von Erinnerungen, welche ganz unwillk\u00fcrlich zu entstehen scheinen und nur der Activit\u00e4t zu ihrer Apperception bed\u00fcrfen. Man erkl\u00e4rt gew\u00f6hnlich die Gesetze der Erinnerung durch die Gesetze der Ideenassociation und bringt sie in keinerlei Zusammenhang mit den Strebungen des Ich; allein wenn das Gesetz der Ideenassociation \u00fcberhaupt Geltung hat, so gilt es nur f\u00fcr das \u201egegebene\u201c Material der Erinnerung; wofern aber dieses Material \u201emein\u201c wird, insbesondere wofern es aus der Peripherie des Bewufstseins in den Fixationspunkt eintritt, kann man stets das Vorhandensein von Strebungen und des Gef\u00fchls der Activit\u00e4t nach weisen; mit anderen Worten: insofern der Procefs der Erinnerung als \u201emein\u201c empfunden wird, f\u00e4llt er auch unter den Begriff des Willensactes. F\u00fcr die Analyse wollen wir den schon beschriebenen Procefs der Erinnerung der deutschen Termini \u201eBlickpunkt\u201c und \u201eBlickfeld\u201c benutzen. Wenn","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nN, Lossky.\nwir \u00fcber einen beliebigen Gegenstand, z. \u00cf3. \u00fcber Wundt\u2019s Theorie der Aufmerksamkeit nachdenken, so wimmeln auf der Peripherie des Bewufstseins in gr\u00f6fserer oder geringerer Zahl mehr oder minder dunkel die Ideenreihen, welche nach dem Gesetz der Ideenassociation mit der appercipirten Idee verkn\u00fcpft sind; die Entstehung dieser Ideen auf der Peripherie ist aber nicht vom Gef\u00fchl der Aetivit\u00e4t begleitet und wird von uns nicht zu unserem Ich in Beziehung gesetzt, diese Ideen entstehen auf dieselbe Weise wie die psycho-reflexartigen Acte1 : ohne \u201emeinen\u201c vorangehenden Act (ohne Apperception) w\u00e4ren diese Ideen nicht auf der Peripherie des Bewufstseins erschienen, und dennoch f\u00fchle ich mich nicht als Urheber ihrer Entstehung; ihre Entstehung ist nicht mein Willensact Intensiver wird das Gef\u00fchl der Aetivit\u00e4t von dem Momente an, da ich irgend eine von diesen, in dunkler Form gegebenen, Ideen appercipire. Im typischen Acte der Erinnerung (nicht des Construirens) tritt dabei rasch und deutlich in den Fixationspunkt des Bewufstseins ein gewisses complicirtes Ganzes (z. B. das Wort \u201eBlickfeld\u201c), und die Synthese seiner Theile wird als \u201egegeben\u201c empfunden ganz so, wie in den einfachsten Wahrnehmungen. Folglich haben wir es hier, wie wir schon oben bei der Analyse der Apperception be-merkt haben, mit dem unvollst\u00e4ndig inneren Acte zu thun.2\nWenn wir also den Ideen Wechsel, welcher nur in sehr geringem Grade von unseren Strebungen abh\u00e4ngt und nur vom Gesetz der Ideenassociation (wenn man \u00fcberhaupt von einem solchen sprechen kann) beherrscht ist, betrachten wollen, so m\u00fcssen wir, so weit m\u00f6glich, in uns die Apperceptionsth\u00e4tigkeit unterdr\u00fccken, alle unsere bestimmten Zwecke bei Seite schieben und das Spiel der Ideen, welches hierauf entstehen wird, beobachten. Richtiger gesagt: wir geben selbst in diesem Falle die Apperceptionsth\u00e4tigkeit nicht g\u00e4nzlich auf, sondern wnr stellen uns ein h\u00f6chst originelles Ziel \u2014 alles, was im Blickfelde des Bewufstseins emportaucht, zu appercipiren t wenn auch nicht besonders intensiv). Unter dieser (k\u00fcnstlichen) Bedingung beginnt eine tolle Ideenjagd und nur diese giebt eigentlich typische Beispiele f\u00fcr den blinden Ideenweehsel nach dem Gesetze der Ideen-association. Eine \u00e4hnliche Ideenjagd kann auch in anderen F\u00e4llen, in\n\u00bb S. II, 3. s.\n* 8. III, 1.","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntaristischen Standpunkte.\n125\ndenen sich die Apperceptionsth\u00e4tigkeit in geschw\u00e4chtem Zustande befindet, z. B. bei Erm\u00fcdung oder Geisteskrankheit erscheinen. Nach Wundts Meinung, \u201eBei normalen Menschen und unter den gew\u00f6hnlichen Lebensbedingungen kommt die mehrgliedrige Association kaum vor.\u201c 1\nDer Uebergang der Bewufstseinszust\u00e4nde von der Peripherie in den Fixationspunkt erscheint uns als von unseren Strebungen abh\u00e4ngig. Wenn man also das unmittelbare Gef\u00fchl in Betracht zieht, so ist anzuerkennen, dafs der Ideenwechsel im Fixationspunkt vom Wechsel der Strebungen abh\u00e4ngt; folglich wird das Grundgesetz des Verlaufes des bewufsten Lebens gefunden werden, wenn es gelingt, das Gesetz des Wechsels der Strebungen zu entdecken. Diese Frage werden wir ausf\u00fchrlich in dem Capitel \u00fcber den Verlauf der psychischen Zust\u00e4nde behandeln.\nBis jetzt haben wir nur \u00fcber die Activit\u00e4t der Aufmerksamkeit in den Erinnerungsprocessen gesprochen; w\u00e4ren in diesen nicht noch andere \u201emeine Elemente\u201c einbegriffen, so w\u00fcrden sie noch in h\u00f6herem Grade passiv erscheinen als die Wahrnehmung: der ganze Erinnerungsprocefs best\u00fcnde dann darin, dafs auf der Peripherie des Bewufstseins psycho-reflexartig die Ideen erschienen, welche den appercipirten Ideen entsprechen, und wir nur bald auf diese, bald auf andere unter ihnen unsere Aufmerksamkeit richteten. So ist es jedoch nicht: besonders in denjenigen F\u00e4llen, in welchen eine f\u00fcr unsere weitere Th\u00e4tigkeit n\u00f6thige Idee auf der Peripherie des Bewufstseins nicht erscheint, kann man bemerken, dafs wir uns nicht auf die Concentration der Aufmerksamkeit auf die appercipirte Idee beschr\u00e4nken, welche nach dem Gesetze der Association mit der Idee, deren wir bed\u00fcrfen, verkn\u00fcpft ist ; wir w\u00fchlen vielmehr sozusagen im Bewufstsein herum, suchen andere Ideen auf, welche mit der von uns ben\u00f6thigten verkn\u00fcpft sind (wobei wir uns durch das unmittelbare Gef\u00fchl der Ann\u00e4herung ans Ziel oder der Entfernung von demselben leiten lassen), richten unsere Aufmerksamkeit nicht so sehr auf diese Ideen selbst als auf ihre Zusammenh\u00e4nge und machen dabei gewisse eigenartige Anstrengungen. Ein solcher Erinnerungsprocefs f\u00e4llt unter den Begriff des \u00e4ufseren Willensactes.2\nIn weit h\u00f6herem Grade intensiv und ununterbrochen erscheint die Activit\u00e4t des Ich in h\u00f6heren Th\u00e4tigkeiten, als die-\n1 W\u00fcndt, Grundrifs der Psychologie, 3. Aufl., S. 280.\n* 8. HI. 3.","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nN. Lossky.\njenige der Erinnerung ist, z. B. beim Ausmalen von Phantasiebildern, beim Nachdenken und bei complicirter (nicht automatisch gewordener) praktischer Th\u00e4tigkeit, welche aus der Th\u00e4tigkeit der Einbildung, des Nachdenkens und der Muskelcontraction (\u00e4ufserer Willensact) besteht. Alle diese Processe haben als Grundlage das vom Ged\u00e4chtnifs gelieferte Material; folglich bed\u00fcrfen sie derselben Activit\u00e4t wie die Processe der Erinnerung und aufserdem noch aller m\u00f6glichen Vergleichungen, der Analysen, der Synthesen, von denen die meisten in Beziehung zu unserem Ich stehen, insofern sie von dem Gef\u00fchl der Activit\u00e4t begleitet sind. Wenn wir z. B. in Gedanken das Bild eines tropischen Waldes entwerfen, so erinnern wir uns, wenn wir eine lebhafte Phantasie besitzen, von Schlingpflanzen umrankter riesiger B\u00e4ume, an Magnolien, Bambus u. s. w. und die in diese Vorstellungen einbegriffenen Synthesen scheinen der Mehrzahl nach gegeben zu sein; um nun aber aus diesen Materialien das Bild eines solchen Waldes zu bekommen, m\u00fcssen wir aus ihnen ein Ganzes construiren, und diese Synthese bringen wir, wie es scheint, selbst hervor, gem\u00e4fs unserer Strebung, ein Bild hervorzubringen, das unseren \u00e4sthetischen Sinn befriedigt oder f\u00fcr die tropischen L\u00e4nder typisch ist Uebrigens geschieht gerade bei besonders erfolgreicher sch\u00f6pferischer Th\u00e4tigkeit auch diese Bearbeitung des Ged\u00e4chtnifsmaterials zum Theil aufserhalb des Gebietes des Ich, so dafs einige neue Synthesen, Analysen, Zusammenstellungen sich als \u201egegeben* erweisen und uns nur \u00fcbrig bleibt, sie zu appercipiren. Der Unterschied zwischen einem talentvollen Gelehrten oder Dichter und einem Alltagsmenschen besteht vielleicht haupts\u00e4chlich darin, dafs bei dem ersteren seinen Apperceptionen gem\u00e4fs sofort complicirte Materialien auf der Peripherie des Bewufstseins in reicher Auswahl erscheinen, so dafs ihm nur er\u00fcbrigt, aus diesen Materialien ein noch com-plicirteres Ganzes aufzubauen, w\u00e4hrend der gew\u00f6hnliche Mensch seine Kr\u00e4fte auch noch darauf verwenden raufs, diese Materialien m\u00fchsam zu erinnern und aufzubauen.\nIn allen von uns betrachteten F\u00e4llen f\u00fchlen wir uns also als Theilursache der psychischen Erscheinungen, welche sich in unserem Bewufstsein abspielen: in einigen Beziehungen werden sie als \u201emein\u201c empfunden und in denselben Beziehungen fallen sie unter den Begriff des Willensactes, weil sie alle Merkmale desselben besitzen. Folglich brauchen wir, um Mi\u00dfverst\u00e4ndnisse","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntaristischen Standpunkte.\n127\nzu vermeiden, nur eine Analyse unternehmen, welche \u201emeine\u201c Zust\u00e4nde von den \u201egegebenenw sondert.\nMan k\u00f6nnte uns jedoch einwenden, dafs wir bis jetzt die Emotionen und die Gef\u00fchle gar nicht in Betracht gezogen haben, w\u00e4hrend doch dieses dunkele Gebiet der psychischen Erschei-nungen vielleicht geeignet w\u00e4re, viele negative Instanzen gegen den Voluntarismus abzugeben. Darauf haben wir nur zu bemerken, dafs die Analyse \u201emeiner\u201c Elemente und der \u201egegebenen\u201c Elemente auch auf dieses Gebiet anwendbar ist, und dafs es sich dabei immer erweifst, dafs \u201emeine\u201c Elemente im Zusammenhang mit Strebungen stehen; in einer Emotion wie Zorn z. B. finden wir eine sehr grofse Zahl \u201emeiner\u201c Elemente und neben ihnen auch eine grofse Zahl von Strebungen, so dafs diese Emotion als negative Instanz gegen den Voluntarismus nicht ausgen\u00fctzt werden kann. Da dieses bis jetzt wenig erfolgreich bearbeitete Gebiet der Psychologie keine augenscheinlichen Anhaltspunkte f\u00fcr die Widerlegung des Voluntarismus ergiebt, so f\u00fchlen wir uns berechtigt, diese psychischen Erscheinungen jetzt bei Seite zu lassen und sie einer sp\u00e4teren Abhandlung vorzubehalten.\nEndlich m\u00fcssen wir noch einem m\u00f6glichen Mifsverst\u00e4ndnifs Vorbeugen. Der Willensact besteht aus einer Reihe von Elementen, welche relativ selbst\u00e4ndig sind oder wenigstens auf dem Weg der Analyse in Gedanken abgesondert werden k\u00f6nnen; daher liegt die Versuchung nahe, eines von den Elementen des Willensactes abgesondert zu nehmen und es als Beispiel einer psychischen Erscheinung hinzustellen, welche als \u201emein\u201c empfunden werde und dennoch nicht alle Bestandtheile des Willensactes einbegreife. Anlafs zu einem solchen Mifsverst\u00e4ndnifs k\u00f6nnen besonders leicht der Anfangs- und Endpunkt des Willensactes, die Strebungen und das Gef\u00fchl der Befriedigung oder Nichtbefriedigung geben.\nWas die Strebungen angeht, so sind wir damit einverstanden, dafs eine nichterf\u00fcllte Strebung oder ein System von nichterf\u00fcllten Strebungen als \u201emein\u201c Bewufstseinszustand empfunden werden kann, ohne doch \u2014 weil nichterf\u00fcllt \u2014 alle Elemente des Willensactes einzubegreifen. Das liefs sich aber auch er-wartep: es ist ja leicht denkbar, dafs gerade \u201emeine\u201c Strebungen, insofern sie von dem Gef\u00fchl der Zugeh\u00f6rigkeit zu meinem Ich gef\u00e4rbt sind, diese F\u00e4rbung auch den auf sie folgenden Ver-\u00e4nderungen mittheilen, so dafs eine nichterf\u00fcllte Strebung das","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nN. Lodsky.\neinzige Beispiel eines Bewufstseinszustandes ist, welcher nicht alle Elemente des Willensactes einbegreift und dennoch als \u201emein\u201c Bewufstseinszustand empfunden werden kann: es handelt sich hier um keinen Willensact, sondern nur um den Anfang eines Willensactes.\nTypische Beispiele f\u00fcr solche nichterf\u00fcllte Strebungen k\u00f6nnen aber nicht gefunden werden. Wie schon gesagt, giebt es im psychischen Leben keine vereinzelten Strebungen, welche von allen anderen psychischen Zust\u00e4nden abgesondert stehen.1 Jede Strebung f\u00fchrt zum Willensacte unmittelbar oder als Glied einer Reihe von Strebungen, welche sich zu einander verhalten wie Mittel und Zweck. Es w\u00e4re folglich ungerechtfertigt, irgend eine Strebung aus einem solchen organischen Ganzen herauszureifsen und sie, abgesondert betrachtet, als ein Beispiel f\u00fcr einen Bewufstseinszustand hinzustellen, welcher, obwohl er nicht alle Elemente des Willensactes einbegreift, dennoch als \u201emein\u201c Zustand empfunden wird. Daher ist unsere Vermuthung bez\u00fcglich der ausschliefslichen Stellung der nichterf\u00fcllten Strebungen in dieser Form auszudr\u00fccken: obgleich jede Strebung direct oder indirect zum Willensacte f\u00fchrt, so verwirklichen sich einige Strebungen, besonders die urspr\u00fcnglichen 2 nicht vollst\u00e4ndig und werden dennoch ihrem ganzen Umfang nach als \u201emeine\u201c Strebungen empfunden; so liegt die Vermuthung nahe, dafs die Strebungen eine ausschliefsliche Stellung im Bewufstsein einnehmen, dafs sie, selbst wenn sie nicht erf\u00fcllt werden, als \u201emeine\u201c empfunden werden k\u00f6nnen und dafs vielleicht gerade meine Strebungen diese F\u00e4rbung auf andere Bewufstseinszust\u00e4nde \u00fcbertragen.\nWir haben verschiedene Einwendungen betrachtet, die ihren Ursprung in Mifsverst\u00e4ndnissen haben, und ein Mittel gefunden, andere, \u00e4hnliche Einwendungen zu beseitigen, in der Unterscheidung \u201emeiner\u201c und \u201egegebener\u201c Elemente der Bewufstseinszust\u00e4nde. Auf eine solche Analyse gest\u00fctzt, k\u00f6nnen wir, ohne besorgen zu m\u00fcssen, widersprechenden Thatsachen zu begegnen, folgende Verallgemeinerungen als inductiv festgestellt betrachten:\n1. Jeder Bewufstseinszustand, insofern er als \u201emein\u201c Bewufstseinszustand empfunden wird, begreift alle Elemente des Willensactes ein, n\u00e4mlich\n1\tS. II. 2.\n2\tS. II. 3. S.","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntaristischen Standpunkte.\n129\nmeine Strebung, das Gef\u00fchl meiner Activit\u00e4t und eine von dem Gef\u00fchl der Befriedigung oder Nichtbefriedigung begleitete Ver\u00e4nderung, und erscheint mir als von mir hervorgebracht.\n2. Nur Strebungen k\u00f6nnen als \u201emein61 empfunden werden, selbst in dem Falle, wenn sie von den anderen Elementen des Willensactes nicht begleitet werden.\n2. Der Grundsatz des Voluntarismus.\nEndg\u00fcltige Definition des Voluntarismus.\nWenn \u201emeine66 Strebung ein noth wendiger Ausgangspunkt von jedem \u201emeiner\u201c psychischen Processe ist, so haben wir das Recht, zu behaupten, dafs \u201emeine66 Strebung eine Ursache (richtiger freilich eine Theilursache) eines solchen Processes ist Daher k\u00f6nnen wir die erste der festgestellten Verallgemeinerungen in folgende Form bringen : Alle Bewufstseinsprocesse, insofern sie als \u201emein66 empfunden werden, begreifen s\u00e4mmtliche Elemente des Willensactes ein und werden durch \u201emeine66 Strebungen verursacht. Wir k\u00f6nnen jetzt den Voluntarismus definiren als diejenige Richtung der Psychologie, welche von dieser Verallgemeinerung ausgeht.\nDas Gef\u00fchl der Activit\u00e4t hat uns also nicht get\u00e4uscht, wenn es uns das Bewufstsein nicht als etwas Passives, sondern als eine Quelle neuer Ver\u00e4nderungen in der Welt ansehen liefs: diejenigen Causalzusammenh\u00e4nge, von welchen wir Anfangs als von scheinbaren redeten, erweisen sich als thats\u00e4chlich. Um uns nicht blind von dem unmittelbaren Gef\u00fchl leiten zu lassen, haben wir diese Causalzusammenh\u00e4nge mittels der gew\u00f6hnlichen in-ductiven Methode festgestellt Jetzt aber k\u00f6nnen wir dem immittelbaren Gef\u00fchl mehr Gewicht beilegen und d\u00fcrfen mit Recht betonen, dafs die U ebereinstimmung zwischen den Ergebnissen der Induction und dem unmittelbaren Gef\u00fchl in hohem Grade zu Gunsten des Voluntarismus spricht Denn jedes empirische Wissen st\u00fctzt sich direct oder indirect auf Thatsachen der inneren oder \u00e4ufseren Wahrnehmung; der Voluntarismus kann sich direct auf diese Grundlage des empirischen Wissens st\u00fctzen, und darauf beruht einer seiner wichtigsten Vorz\u00fcge vor anderen Richtungen.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 80.\t9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\n3. Der Wille und das Gesetz der Causalit\u00e4t\nAuf Grund der oben vorgenommenen Verallgemeinerung kann man den Begriff des Willens folgendermaafsen definiren: Der Wille ist die Activit\u00e4t des Be wufstseins, welche darin besteht, dafs jeder unmittelbar als \u201emein\u201c empfundene Bewufstseinszustand durch \u201emeine\u201c Strebungen verursacht wird, und welche sich f\u00fcr das handelnde Subject im Gef\u00fchl der Activit\u00e4t ausspricht.\nDer Wille ist also nichts anderes als die Causalit\u00e4t des Be\u00bb wufstseins. Vom Standpunkt des Voluntarismus k\u00f6nnte man sogar das Wort \u201eWille\u201c, welches eine Masse tief eingewurzelter Vorurtheile nach sich zieht und deshalb gef\u00e4hrlich ist, ganz aufgeben und mit dem Ausdruck \u201eCausalit\u00e4t des Bewufstseins\u201c oder \u201eActivit\u00e4t des Be wufstseins\u201c vertauschen. Der Bequemlichkeit halber m\u00fcssen wir jedoch die alte Bezeichnung \u201eWille\u201c beibehalten, weil die Causalit\u00e4t des Bewufstseins als eine besonders eigenth\u00fcmliche Art der Causalit\u00e4t einer speciellen Bezeichnung bedarf. Diese Nothwendigkeit einer besonderen Bezeichnung wird sofort einleuchten, wenn wir bestimmen, welche Merkmale im generellen Begriff der Causalit\u00e4t, wenigstens vom Standpunkt der modernen empirischen Wissenschaft, und welche Merkmale in dem Artbegriff der Willenscausalit\u00e4t gedacht werden.\nVon jedem Standpunkt aus versteht man unter der Ursache diejenige Bedingung, bei deren Vorhandensein eine gewisse Thatsache sich mit Nothwendigkeit vollzieht. Die heutige empirische Wissenschaft will diese Nothwendigkeit gew\u00f6hnlich nur in der Form des nothwendigen Zusammenhangs in der Zeit anerkennen. Daher beweist sie diesen Zusammenhang mittels der wissenschaftlichen Induction, n\u00e4mlich durch die Hervorhebung der Thatsachen, welche den Forderungen des inductdven Beweisverfahrens entsprechen. Die Mehrzahl der anderen Ansichten \u00fcber die Nothwendigkeit des Causalzusammenhangs begreift auch die von der empirischen Wissenschaft aufgewiesenen Merkmale ein. Daher kann man sagen, dafs der generelle, den verschiedensten Standpunkten gemeinsame Begriff der Causalit\u00e4t das Merkmal des nothwendigen Zusammenhanges \u00a9inbegreift und in der modernen empirischen Wissenschaft di\u00a9","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Eine Willenstheorie vom voluntaristischen Standpunkte.\n131\nin folgendem Satz enthaltenen Merkmale einbegreift: die Causa-lit\u00e4t besteht in (1.) dem nothwendigen Zusammenhang, welcher (2.) sich in der Zeitordnung offenbart, und welcher (3.) mittels der wissenschaftlichen Induction entdeckt wird.\nUnser Begriff des Willensactes enth\u00e4lt sowohl diese drei Merkmale als noch drei weitere sehr wichtige Merkmale im Besonderen. Erstens : der Zusammenhang im Gebiete der Willens-causalit\u00e4t offenbart sich nicht nur in der Zeitordnung, sondern er wird auch unmittelbar im Gef\u00fchl der Activit\u00e4t empfunden. Zweitens: in dieser Art der Causalit\u00e4t findet immer zwischen Ursache und Wirkung eine eigenth\u00fcmliche Uebereinstimmung statt, welche uns berechtigt, jeden Willensact als zielstrebenden Act zu bezeichnen. Die Ursache eines solchen Actes ist immer eine, oft nichtgewufste, Strebung zu einer Ver\u00e4nderung, welche mit dem Gef\u00fchl der Befriedigung oder Nichtbefriedigung ein tritt und im ersten Falle als Verwirklichung, im zweiten Falle als Nichtverwirklichung irgend einer Strebung vorgestellt wird. Drittens : die Willenscausalit\u00e4t hat immer einen sch\u00f6pferischen Charakter.\nDa der Causalzusammenhang im psychischen Leben sich nicht nur in der Zeitordnung der Erscheinungen ausspricht, sondern auch unmittelbar im Gef\u00fchl der Activit\u00e4t empfunden wird, so ist es in der Psychologie leichter als in anderen Naturwissenschaften , inductive Verallgemeinerungen festzustellen. Nat\u00fcrlich ist dies nicht so zu verstehen, als ob sich die Zusammenh\u00e4nge der psychischen Erscheinungen so ganz ohne M\u00fche feststellen liefsen, als ob sich immer auf Grund der Beobachtung eines Paars von Erscheinungen sofort eine inductive Verallgemeinerung construiren liefse. In unserer Seele coexistirt immer eine Menge von Strebungen, Gef\u00fchlen und Vorstellungen, welche nicht ohne Wirkungen bleiben, und daher erkl\u00e4ren wir wegen der Nichtdifferenzirung des Gef\u00fchls der Activit\u00e4t, wegen des ungleich hohen Grades der Gewufstheit der Bewufstseins-zust\u00e4nde, auch wegen mangelhafter Beobachtung den Zusammenhang der Erscheinungen in unserer Seele oft unrichtig. So kann sich z. B. Jemand, der einen verlorenen Gegenstand gefunden hat, dies aber mit allen Zeichen der Angst geheim zu halten sucht, endlich doch aus Furcht bewogen f\u00fchlt, denselben seinem rechtm\u00e4fsigen Inhaber zur\u00fcckzuerstatten, sich aber dabei\n\u00a9inbilden, als thue er es nur aus Mitleid mit dem beunruhigten\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nN. Losshj.\nBesitzer. Um zu entscheiden, ob eine Person eine gewisse Handlung aus Angst oder aus Mitleid vollzieht, mufs man diese Person mehrmals in verschiedenen entsprechenden Situationen gesehen haben, welche den Forderungen der inductiven Methode entsprechen. Das unmittelbare Gef\u00fchl der Activit\u00e4t f\u00f6rdert die Untersuchung nur insoweit als es uns vermuthen l\u00e4fet, welche Paare von psychischen Erscheinungen causal verkn\u00fcpft sind, eine Vermuthung, welche nachtr\u00e4glich mittels der gew\u00f6hnlichen inductiven Methode zu controliren ist. W\u00e4re das Gef\u00fchl der Activit\u00e4t nicht vorhanden, so k\u00e4me jene Vermuthung \u00fcber den Zusammenhang der Erscheinungen nicht zu Stande, die doch den Ausgangspunkt der inductiven Unternehmung bildet Nehmen wir folgendes Beispiel: Ich sitze in freier Natur in den Anblick einer sch\u00f6nen Gegend vertieft und lausche den Weisen einer Schalmei, die in der Feme ein Hirte bl\u00e4st; das erinnert mich an das Spiel des Hirten im \u201eTannh\u00e4user\u201c; wenn ich nun gleich darauf bei der Wahrnehmung eines Rascheins im Grase die Emotion der Angst in meinem Bewufstsein vorfinde, so ist unerkl\u00e4rlich, wie ich aus einem complicirten Ganzen den Zusammenhang gerade dieses Paares der Erscheinungen ausscheiden k\u00f6nnte, wenn ich kein unmittelbares Gef\u00fchl ihres Zusammenhanges h\u00e4tte.\nDiesen Erw\u00e4gungen gem\u00e4fs mufs die Theorie des inductiven Schlusses \u00fcber psychische Zusammenh\u00e4nge ver\u00e4ndert werden. Ja, die inductive Untersuchung der physischen Erscheinungen kann nicht grundverschieden sein von der der psychischen Process\u00a9, daher m\u00fcssen wir auch die Frage erheben, ob wir nicht auch eine unmittelbare Wahrnehmung des causalen Zusammenhanges von Erscheinungen der \u00e4ufseren Welt unter sich besitzen. All\u00a9 diese Fragen geh\u00f6ren jedoch ins Gebiet der Er-kenntnifslehre und bilden daher den Gegenstand einer besonderen Untersuchung, welche wir der Zukunft Vorbehalten.\n(Eingegangen am 19. Juli 1902.)","page":132}],"identifier":"lit32947","issued":"1902","language":"de","pages":"87-132","startpages":"87","title":"Eine Willenstheorie vom voluntaristischen Standpunkte","type":"Journal Article","volume":"30"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:21:01.126651+00:00"}