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{"created":"2022-01-31T16:26:40.666880+00:00","id":"lit32962","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lipps, Th.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 28: 145-178","fulltext":[{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"145\nEinige psychologische Streitpunkte.\nVon\nTh. Lipps.\nI. Zur Tonyerschmelzung.\nEbbinghaus erkennt in seiner Psychologie I, S. 325 ff. an, dafs wir in Gefahr sind, einen Ton mit seiner niederen oder h\u00f6heren Octave zu verwechseln. Und ebenso, dafs ein Ton leicht mit seiner niederen Octave verschmilzt. Und er giebt daf\u00fcr eine neue Erkl\u00e4rung. Sie beruht auf einer Hypothese. Wir wollen aber im Folgenden annehmen, diese Hypothese sei eine gesicherte Thatsache.\nDie Meinung Ebbinghaus\u2019 ist folgende : Wird ein Ton C von 100 Schwingungen und gleichzeitig ein Ton c von 200 Schwingungen angegeben, dann setzt jener zun\u00e4chst den auf 100, dieser den auf 200 Schwingungen abgestimmten Theil der Basilarmembran in Mitschwingung. Wir wollen jene n Theil der Basilarmembran kurz als die \u201eStelle 100\u201c, diesen als die \u201eStelle 200\u201c bezeichnen.\nDabei bleibt es aber nach E. nicht. Sondern die Stelle 100 wird zugleich durch den Ton c, also durch die 200 Schwingungen, in Mitschwingung versetzt. Aufserdem setzen beide T\u00f6ne gemeinsam die Stelle 50 in Mitschwingung u. s. w.\nNun wird aber, so f\u00e4hrt E. fort, an der Stelle 100 die durch den Ton G erzeugte Schwingung das Uebergewicht haben, also die durch den Ton c erzeugte Schwingung unterdr\u00fccken. Ebenso werden an der Stelle 50 die durch c erzeugten Schwingungen von den durch C erzeugten verdr\u00e4ngt werden. Darin liegt, so meint E., eine Verminderung der f\u00fcr den Ton c charakteristischen Nervenprocesse. c verliert also etwas von seiner Charakteristik. Und dies macht es begreiflich, wenn der Ton c bei gleichzeitigem Erklingen der beiden T\u00f6ne C und c nicht\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 28.\t10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nTh. Lipps.\nmehr von dem Ton C gesondert wird, wenn er also mit ihm verschmilzt.\nAchten wir nun zun\u00e4chst einen Augenblick speciell auf den Ton c. Sind f\u00fcr den Ton c, diesen Empfindungsinhalt, \u00fcberhaupt irgend welche nerv\u00f6sen Processe charakteristisch ?\nNat\u00fcrlich nicht ohne Weiteres. Sondern diese nerv\u00f6sen Pro-cesse m\u00fcssen auch f\u00fcr den Empfindungsinhalt etwas bedeuten. Der Empfindungsinhalt c mufs irgendwie durch sie qualitativ bestimmt sein. D. h. in unserem Falle: Dafs der Empfindungsinhalt c nicht einfach aus der Erregung der Stelle 200, sondern zugleich aus der Erregung der Stellen 100 und 50 etc. entsteht, dies mufs dem Empfindungsinhalt c eine Eigenth\u00fcmlichkeit geben, die er sonst nicht h\u00e4tte.\nNehmen wir jetzt C hinzu. Auch zur Erzeugung von C wirken die Stellen 100 und 50 u. s. w. mit. Auch die Eigenth\u00fcmlichkeit dieses Tones G wird also durch diese Stellen bestimmt. Da die Stellen in beiden F\u00e4llen dieselben sind, so m\u00fcssen auch die Eigenth\u00fcmlichkeiten, die sie verleihen, in beiden F\u00e4llen dieselben sein. Dies heilst, die T\u00f6ne C und c sind einander in besonderem Maafse gleichartig. Sie haben mehr als andere, von einander unterschiedene T\u00f6ne eine sie n\u00e4her bestimmende Eigenth\u00fcmlichkeit gemein. Sie haben, so k\u00f6nnten wir sagen, gleichartige Localzeichen\u201c. Dabei verstehe ich unter ..Localzeichen\u201c in diesem Falle nichts Anderes, als eben die Eigenth\u00fcmlichkeit, die ein Ton dadurch gewinnt, dafs er zu bestimmten Stellen der Basilarmembran geh\u00f6rt, oder dafs bestimmte Stellen der Basilarmembrane an seinem Zustandekommen mitwirken. \u2014 Hiermit glaube ich nur wiedergegeben zu haben, was in Ebbinghaus\u2019 Worten liegt.\nDabei nun mufs ein Moment besonders betont werden. Es ist dies, dafs dem C und c durch die Herkunft von theil-weise identischen Stellen der Basilarmembran gleiche \u201eEigenth\u00fcmlichkeiten\u201c verliehen werden. D. h. die Beeinflussung des Charakters des C und c durch die Stellen der Basilarmembran, von denen sie herstammen, mufs als eine qualitative gedacht werden.\nDies ist ohne Zweifel Ebbinghaus\u2019 Meinung. Es kann nicht etwa die Mitwirkung der Stellen 100 und 50 beim Zustandekommen des Tones c f\u00fcr ihn bestehen in einer blofsen Steigei ung der Intensit\u00e4t dieses Tones. Denn w\u00e4re es so, dann w\u00fcrde","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n147\nder Verlust, den nach der oben mitgetheilten Hypothese der Ton c erleidet, indem C und c Zusammentreffen, nur in einer Minderung der Intensit\u00e4t des Tones c bestehen k\u00f6nnen; und die Neigung des C und c, mit einander zu verschmelzen, h\u00e4tte in dieser Minderung der Intensit\u00e4t des c ihren Grund. Sie f\u00e4nde statt nach der Regel: Wenn zwei T\u00f6ne Zusammentreffen, von denen der eine eine geringere Intensit\u00e4t hat, so besteht eine Neigung des schw\u00e4cheren, mit dem st\u00e4rkeren zu verschmelzen.\nNun mag es eine solche Regel gehen. Nat\u00fcrlich mufs dieselbe aber, wenn sie gilt, genau ebenso gelten f\u00fcr T\u00f6ne, die in beliebigen Schwingungsverh\u00e4ltnissen zu einander stehen, insbesondere also auch f\u00fcr beliebig dissonante T\u00f6ne. Und darum handelt es sich ja f\u00fcr E. nicht. Seine Frage lautete nicht, wie es mit der Verschmelzung beliebiger T\u00f6ne bestellt ist unter Voraussetzung eines bestimmten I n t e n s i t \u00e4 t s Verh\u00e4ltnisses, sondern er w\u00fcnscht zu wissen, und sucht zu zeigen, wie es mit der Verschmelzung von T\u00f6nen bestellt ist, wenn sie sich verhalten wie ein Ton zu seiner Octave; allgemein gesagt, wie es mit der Verschmelzung von T\u00f6nen bestellt ist, die in einem einfachen Schwingungsverh\u00e4ltnifs zu einander stehen. Es ist also so, wie ich sage: die \u201eCharakteristik\u201c, von der E. redet, mufs durchaus als eine qualitative gemeint sein.\nDies liegt denn auch schon im Wort \u201eCharakteristik\u201c. Die Steigerung der Intensit\u00e4t eines Tones ist keine \u201eCharakteristik\u201c. Eine Charakteristik ist eine qualitative Eigenth\u00fcmlich-keit. Eine solche also hat der Ton c nach E. verm\u00f6ge des Umstandes, dafs er zu Stande kommt, nicht einfach aus der Wirkung der Stelle 200, sondern auch aus der Mitwirkung der Stellen 100 und 50.\nZum Ueberflufs spricht aber E. selbst auch von einer \u201eDiffer enzirung\u201c, welche der Ton c durch die Mitwirkung der Stellen 100 und 50 erleidet. Eine solche Differenzirung ist selbstverst\u00e4ndlich nicht Intensit\u00e4tssteigerung, sondern Mittheilung einer qualitativen Eigenth\u00fcmlichkeit.\nEndlich will E. ja auch die V erwechselung eines Tones mit seiner Octave, w7enn beide zeitlich sich folgen, auf den bezeichneten Umstand, d. h. auf das Mitwirken gleicher Stellen der Basilarmembran beim Zustandekommen beider T\u00f6ne, zur\u00fcckf\u00fchren. Er bemerkt mit Bezug hierauf, \u201edas Erkennen der\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nTh. Lipps.\nIdentit\u00e4t oder Niehtidentit\u00e4t zeitlich getrennter Bewufstseins-\ninhalte beruht zum Theil und unter Umst\u00e4nden auf Association mit ihnen verkn\u00fcpfter Vorstellungen. Offenbar kann es nun f\u00fcr die associativen Verkn\u00fcpfungen zweier T\u00f6ne mit anderen Inhalten nicht gleichg\u00fcltig sein, ob das Zustandekommen dei beiden durch ganz verschiedene, oder ob es durch theilveise identische nerv\u00f6se Elemente vermittelt wird. Im ersten Falle werden die T\u00f6ne im Allgemeinen in ganz verschiedene Beziehungsnetze eingesponnen und also relativ leicht aus einander zu halten sein, im zweiten gerathen sie in dieselben Beziehungen und werden leichter verwechselt.\u201c\nDazu bemerke ich zun\u00e4chst, dafs es f\u00fcr die Associationen, welche eine Empfindung eingeht, nat\u00fcrlich absolut gleichg\u00fcltig ist, durch welche nerv\u00f6sen Elemente die Empfindung vermittelt ist. Diese nerv\u00f6sen Elemente k\u00f6nnen f\u00fcr die Empfindung und ihre Associationsbeziehungen nur in Betracht kommen, wenn sie der Empfindung eine entsprechende Eigenth\u00fcmlichkeit mittheilen. Die von der Gleichheit der nerv\u00f6sen Elemente herr\u00fchrenden Eigent\u00fcmlichkeiten von Empfindungen aber, die bewirken, dafs die Empfindungen in gleiche Beziehungsnetze eilige sp\u00f6nnen werden, k\u00f6nnen nur gleichartige Eigent\u00fcmlichkeiten sein.\nIm Uebrigen wissen wir, dafs \u00fcberall Gleichartigkeit die Verwechselung beg\u00fcnstigt, Ungleichartigkeit sie verh\u00fctet. Es leuchtet also von vornherein ein, dafs C und c, wenn sie leicht\nverwechselt werden, irgendwie etwas Gemeinsames an sich tragen m\u00fcssen. Und dies Gemeinsame nun wird von E. auf die Mitwirkung identischer Theile der Basilarmembran beim Zustandekommen der T\u00f6ne zur\u00fcckgef\u00fchrt.\nUnd eben darauf nun basirt Ebbinghaus\u2019 Theorie der \"Verschmelzung von G und c. Er erkl\u00e4rt diese Verschmelzung daraus, dafs beim Zusammentreffen der T\u00f6ne der Ton c einen Theil seiner Charakteristik verliert. Diese Charakteristik ist, wie vii\ngesehen haben, die Hinzuf\u00fcgung eines Gleichartigen zu den vei-schiedenen T\u00f6nen. Der Ton c verliert seine Charakteristik, dies heilst also, er verliert dasjenige, was ihn dem Ton C gleichartig macht. Der Verlust der Charakteristik ist gleichbedeutend mit einer Steigerung der qualitativen V erschiedenheit dei beiden T\u00f6ne. Auf diese Steigerung der qualitativen Verschiedenheit also gr\u00fcndet E. die Neigung der beiden T\u00f6ne, zu verschmelzen.","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n149\nDies kann aber E. nat\u00fcrlich nicht im Ernste meinen. Er kann nicht die Verschmelzung auf eine Steigerung der qualitativen Selbst\u00e4ndigkeit gr\u00fcnden wollen. Wir wissen, dafs sonst Gleichartigkeit Bedingung, wie der Verwechselung, so auch der Verschmelzung ist.\nDas Ergebnifs ist demnach : E. hat gezeigt, dafs der von ihm vorgeschlagene Versuch, die Verschmelzung consonanter T\u00f6ne zu erkl\u00e4ren, unm\u00f6glich ist.\nIst es aber so, dann werden wir zun\u00e4chst bei einer der vorhandenen Erkl\u00e4rungen des Thatbestandes bleiben m\u00fcssen. Man kennt die STUMPu\u2019sche Erkl\u00e4rung der Verschmelzung von C und c. Er sagt, diese beiden T\u00f6ne bilden, m\u00f6gen sie gleichzeitig gegeben sein oder sich folgen, 'in besonderem Maafse eine Einheit. Damit bezeichnet er eine unleugbare Thatsache. Diese besondere Einheit ist ein unmittelbares Bewufstseinserlebnifs. Und zweifellos wird damit auch die Verschmelzung und nicht minder die Gefahr der Verwechselung Zusammenh\u00e4ngen. Es bleibt nur die Frage, wie dies unmittelbare Bewufstseinserlebnifs der besonderen Einheitlichkeit der beiden T\u00f6ne zu erkl\u00e4ren sei.\nHier nun komme ich auf Wundt, n\u00e4mlich auf seine Theorie der indirecten Klang Verwandtschaft. Zwei T\u00f6ne sind indirect klangverwandt, wenn sie einem und demselben Klang als Theil-t\u00f6ne angeh\u00f6ren. Dies ist ohne Zweifel der Fall bei den T\u00f6nen C und c. Und es ist wiederum kein Zweifel, dafs die Verschmelzung oder Verwechselung mit diesem Sachverhalt Zusammenh\u00e4ngen mufs. Nur fragt es sich hier, wie fern diese Zugeh\u00f6rigkeit zu einem Klang eine solche Wirkung \u00fcben kann.\nDie Zugeh\u00f6rigkeit zu einem Klang ist nicht ohne Weiteres eine psychologische Thatsache. Sie besagt zun\u00e4chst nichts weiter als dies: Wenn ein Klang von 100 Grundtonschwingungen irgendwie physikalisch, etwa durch den Anschlag einer Saite entsteht, dann kommt in diesem ,.Klange\u201c, d. h. in der Vielheit von T\u00f6nen, die durch den einen Anschlag gleichzeitig erzeugt werden, auch ein Ton von 200 Schwingungen vor. Genauer gesagt, die eine und selbe Saite l\u00e4fst, aufser dem Tone von 100 Schwingungen, gleichzeitig auch diesen zweiten Ton entstehen. Die Zugeh\u00f6rigkeit dieses Tones zu einem Klang wird erst zur psychologischen Thatsache, wenn der Klang als Klang geh\u00f6rt wdrd, d. h. wenn die Theilt\u00f6ne zum Klang ver-","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nTh. Tipps.\nschmelzen. Aber wie dies geschehe, oder worauf die Verschmelzung beruhe, das ist ja eben hier die Frage.\nUnd hier nun komme ich wieder zur\u00fcck auf Stumpf. Die Theilt\u00f6ne eines Klangs, so sahen wir schon, verschmelzen nach Stumpe zu einem Klang, oder anders gesagt, Theilt\u00f6ne, die einem und demselben Klang zugeh\u00f6ren, haben die Tendenz zur Verschmelzung, weil sie an sich in besonderem Maafse einheitlich sind. Nat\u00fcrlich wird diese Einheitlichkeit Zusammenh\u00e4ngen damit, dafs sie Theile eines und desselben Klanges sind, d. h. dafs sie sich verhalten, wie die Theilt\u00f6ne eines Klangs sich zu einander zu verhalten pflegen. Und dies wiederum heilst, dafs sie in einfachem Schwingungsverh\u00e4ltnisse zu einander stehen.\nDarin nun liegt wiederum, dafs diese einfachen Schwingungsverh\u00e4ltnisse auch f\u00fcr die den Schwingungsanzahlen entsprechenden Tonempfindungen eine Bedeutung haben m\u00fcssen. Auf die Frage aber, wie dies denkbar sei, giebt die Antwort die \u201eTheorie der Tonrhythmen\u201c. In den Tonempfindungen, oder genauer, den psychischen, oder wenn man lieber will, centralen Vorg\u00e4ngen, die dem Ton, diesem Empfindungsinhalt, zu Grunde liegen, kehrt der Rhythmus der entsprechenden physikalischen Schwingungsfolgen in irgend einer Weise wieder. \u201eIn irgend einer Weise\u201c, dies will sagen, dafs die Wiederkehr nicht eine einfache zu sein braucht. Vielleicht vervielfacht sich der physikalische Rhythmus in den psychischen Vorg\u00e4ngen. Worauf es ankommt, ist lediglich, dafs das Verh\u00e4ltnis der physikalischen Rhythmen in den psychischen Vorg\u00e4ngen erhalten bleibt. Wir wollen aber der Einfachheit des Ausdrucks halber die Annahme machen, es finde eine einfache Wiederkehr des physikalischen Rhythmus in den psychischen Vorg\u00e4ngen statt. Dann hat die Empfindung unseres Tones C den \u201eRhythmus 100\u201c, die Empfindung c den Rhythmus 200.\t200 aber ist 2 X 100, oder 100 X 2. Beide Ton-\nempfindungen haben also den Rhythmus 100 gemein. Damit sind sie vereinheitlicht. Und diese Vereinheitlichung bedingt die Neigung zur Verschmelzung und zugleich die Gefahr der Verwechselung.\nIn dieser Anschauung finden, so viel ich sehe, Stumpf\u2019s und Wundt\u2019s Theorie ihren nat\u00fcrlichen Einheitspunkt. Und eben dieser Anschauung dient auch das Scheitern des Ebbinghaus sehen Versuchs zur Best\u00e4tigung.\nVielleicht aber habe ich im Vorstehenden E. trotz gegen-","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n151\ntheiliger Bem\u00fchung mifsverstanden. Vielleicht ist der eigentliche Sinn der EBBiNOHAirs\u2019schen Theorie der : Die T\u00f6ne C und c haben verm\u00f6ge des Umstandes, dafs bei ihrem Entstehen gleiche Theile der Basilarmembran betheiligt sind, etwas Gemeinsames, das bei ihrem Zusammentreffen nicht aufgehoben wird. Und was sie verschmelzen l\u00e4fst, und zugleich ihre Verwechselung beg\u00fcnstigt, ist eben dies Gemeinsame. Dann fahre ich fort : Dies Gemeinsame beruht nach E., kurz gesagt, auf der Besonderheit der Stellen der Basilarmembran. Jede Stelle dieser Membran, so k\u00f6nnte diese Annahme weiter verdeutlicht werden, hat ihre bestimmte Charakteristik. Und diese giebt auch der zugeh\u00f6rigen Tonempfindung eine bestimmte Eigent\u00fcmlichkeit.\nDazu bemerke ich dann ein Doppeltes. Die Bewufst-seinsinhalte C und c zeigen zweifellos kein besonderes gemeinsames Element. Sie stimmen in keiner Weise in h\u00f6herem Grade \u00fcberein als die Bewufstseinsinhalte C und H oder C und Cis. So bleibt nur die M\u00f6glichkeit, dafs die Eigent\u00fcmlichkeiten, hinsichtlich welcher C und c \u00fcbereinstimmen, gesucht werden in den psychischen oder centralen Vorg\u00e4ngen, welche den Bewufst-seinsinhalten zu Grunde liegen.\nZweitens, wenn den psychischen Vorg\u00e4ngen, die den Be-wufstseinsinhalten C und c zu Grunde liegen, eine solche gemeinsame Eigent\u00fcmlichkeit zukommt, weil sie von gleichartigen Stellen der Basilarmembran herr\u00fchren, dann mufs viel eher den fraglichen psychischen Vorg\u00e4ngen ein gemeinsames Element anhaften auf Grund des Umstandes, dafs sie aus Schwingungsfolgen stammen, die sich wie 100 zu 200 verhalten. Diese Schwingungsfolgen haben, wie gesagt, etwas Gemeinsames. Sie haben den Rhythmus 100 gemein. Und dies Gemeinsame hat den Vorzug, nicht hypothetisch zu sein. Damit w\u00e4re auch mit E. eine Uebereinstimmung erzielt. Nat\u00fcrlich w\u00fcrde jenes von E. nur angenommene Moment der Uebereinstimmung zwischen C und c zur\u00fccktreten m\u00fcssen hinter diesem, das aus einer jedermann bekannten Thatsache entnommen ist.\nII. Angebliche Bedeutung der Bewegungs-\ne m pfindunge n.\nIch verstehe hier unter Bewegungsempfindungen die Empfindungen, die bei Gelegenheit der k\u00f6rperlichen Bewegungen durch Reizungen erzeugt werden, die in den bewegten Theilen entstehen.","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nTh. Lipps.\nAlso vor Allem die Muskel-, Sehnen- und Gelenkempfindungen. In Wahrheit sind alle diese Empfindungen keine Bewegungsempfindungen, da die Bewegung die Vorstellung der R\u00e4umlichkeit in sich schliefst, und diese in jenen qualitativ abgestuften Empfindungen in keiner Weise eingeschlossen liegt.\nDafs die fraglichen Empfindungen an sich keine Bewegungsempfindungen sind, dar\u00fcber ist sich auch Ebbinghaus vollkommen klar. Er ist sich nicht ebenso klar dar\u00fcber, dafs auch eine Reihe von anderen Benennungen, die man jenen Empfindungen hat zu Theil werden lassen, ihnen als solchen nicht zukommen; dafs insbesondere jene Empfindungen an sich genau ebenso wenig Anstrengungsempfindungen, Kraftempfindungen, Widerstandsempfindungen sind, als sie Bewegungsempfindungen sind. Es giebt in Wahrheit keine Bewegungsempfindungen. Genau so giebt es keine Empfindungen der Anstrengung, der Kraft, des Widerstandes. Es giebt streng genommen auch keine Empfindungen der Schwere und keine Spannungsempfindungen. Jede solche Benennung ist ungenau, oder schliefst eine Verwechselung in sich.\nGewisse Functionen, die man den Bewegungsempfindungen zuweist, wenn man sie mit jenen Namen benennt, haben Andere einer anderen Gattung von Empfindungen zugewiesen. Man nannte sie Innervationsempfindungen. Diese Empfindungen weist E. mit guten Gr\u00fcnden zur\u00fcck. Aber wenn er nun das, was die Innervationsempfindungen leisten sollen, als Leistung jener Bewegungsempfindungen auf fassen will, so unternimmt er Unm\u00f6gliches. Es giebt keine Innervationsempfindungen, aber es giebt etwas von diesen Innervationsempfindungen, wie von allen Empfindungen \u00fcberhaupt, absolut Verschiedenes, n\u00e4mlich die Strebungsgef\u00fchle. Diese sind es, die an die Stelle jener Innervationsempfindungen gesetzt werden m\u00fcssen.\nDiese Strebungsgef\u00fchle \u00fcbersieht E. Und er \u00fcbersieht zugleich, dafs es eine Anschauung giebt, die seit lange an die Stelle der Innervationsempfindungen diese Strebungsgef\u00fchle setzt. Dies durfte E. nicht. Es gilt ja nicht etwa das, was er gegen die Innervationsempfindungen sagt, zugleich gegen die Strebungsgef\u00fchle. Dieselben sind also nicht durch die Kritik der Innervationsempfindungen mit beseitigt.\nDiese Strebungsgef\u00fchle sind es nun insbesondere auch, die erst den Worten : \u201eAnstrengung\u201c, \u201eKraftaufwand\u201c, \u201eWiderstand\u201c,","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n153\nschliefslich den Worten: \u201eSchwere\u201c und \u201eSpannung\u201c, sei es ganz, sei es theilweise, ihren Sinn geben.\nDas Gef\u00fchl des Strebens, das im Uebrigen viele Namen hat, \u2014 Gef\u00fchl des Begehrens, Verlangens, W\u00fcnschens, Sehnens, F\u00fcrchtens, H\u00f6ffens \u2014, ist der Begleiter jedes psychischen Geschehens, das seiner Natur nach auf einen Erfolg gerichtet ist, auf diesen Erfolg hin wirkt, die positive Bedingung desselben in sich schliefst, aber dabei Hemmungen begegnet. Dies Gef\u00fchl ist, wie theilweise schon jene verschiedenen Namen andeuten, mannigfacher Modificationen f\u00e4hig. Das Wort \u201eStrebungsgef\u00fchl\u201c bezeichnet eine qualitative Mannigfaltigkeit von mehreren Dimensionen. Hier aber ist nur zweierlei zu bemerken.\nErstlich: Wir m\u00fcssen unterscheiden zwischen dem sozusagen punktf\u00f6rmigen Strebungs- oder Willensimpuls einerseits, und dem Streben in Bewegung, dem strebenden Fortgehen oder Verharren, dem inneren Thun, der Willenshandlung andererseits. Ein psychischer Vorgang oder \u201eErregungszustand\u201c \u2014 eine Zielvorstellung etwa \u2014 wird das eine Mal ausgel\u00f6st und \u201ewirkt\u201c auf einen bestimmten Erfolg hin, d. h. tr\u00e4gt in sich die Bedingungen eines solchen, wird aber an diesem Erfolg verhindert, der Art, dafs damit zugleich das Streben, d. h. das Hinwirken des Vorganges auf den Erfolg aufgehoben wird; so wie etwa ein gegen eine Mauer geschleuderter Stein durch die Mauer in seiner Bewegung aufgehalten und zugleich der Tendenz oder des Strebens, seinen Weg fortzusetzen, beraubt wird. Dieser Fall liegt vor im W\u00fcnschen, Hoffen, in der Forderung, dafs etwas geschehe etc.\nEin andermal bleibt das Streben trotz des Hemmnisses bestehen. Das psychische Geschehen geht fort zum Erfolg, beginnt also das Hemmnifs zu \u00fcberwinden. Oder es h\u00e4lt auch nur dem Hemmnifs Stand. In diesem Falle liegt nicht blos ein Streben vor, sondern ein Thun, ein strebendes Fortgehen oder Verharren. Und damit \u00e4ndert auch das Gef\u00fchl seinen Charakter. Es wird zu einem Gef\u00fchl des Thuns oder der Th\u00e4tigkeit, einem Gef\u00fchl des strebenden Fortgehens oder Verharrens.\nUnd dazu f\u00fcge ich das Zweite : Das Gef\u00fchl der Strebens, wie es auch sonst beschaffen sein mag, hat jederzeit mehr oder minder den Charakter der Spannung. Es ist immer zugleich ein Spannungsgef\u00fchl. Der Gegensatz, der Conflict, die \u201eSpannung\u201c zwischen der Wirkung des Strebens, d. h. des psychi-","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nTh. Lipps.\nsehen Geschehens, in welchem das Positive des Strebens besteht, einerseits, und der Gegenwirkung des hemmenden Factors andererseits, giebt dem Gef\u00fchl diesen Charakter. Dieser Charakter steigert sich mit der thats\u00e4chlichen Gr\u00f6fse jenes Gegensatzes oder jener Spannung. \u2014 Was ich hier mit dem Spannungsgef\u00fchl oder mit dem im Strebungsgef\u00fchl bald mehr bald minder liegenden Charakter der Spannung meine, ist jedermann bekannt, der einmal sich oder seinen Willen \u201eangespannt\u201c, mit \u201egespannter Aufmerksamkeit\u201c einen Gedanken verfolgt, ein Ereignifs mit Spannung erwartet hat u. dgl.\nUnd auch dies Spannungsgef\u00fchl hat nun einen verschiedenen Charakter, je nachdem das Streben einfach ein punktf\u00f6rmiges Streben ist, oder aber als ein Streben in der Bewegung oder im Verharren, kurz als ein Thun sich darstellt. Wie das Strebungsgef\u00fchl \u00fcberhaupt, so ist auch das Spannungsgef\u00fchl das eine Mal einfach das Gef\u00fchl einer daseienden Spannung, das andere Mal ein Gef\u00fchl der Spannung im Thun. Es ist dort punktf\u00f6rmig, hier zur Linie gedehnt. Es ist dort einfache Spannung, hier \u201eReibung\u201c.\nUnd dies Gef\u00fchl der Reibung, oder der Spannung im Thun, ist das Anstrengungsgef\u00fchl, oder Gef\u00fchl der Bem\u00fchung, oder der aufgewendeten Kraft. Es ist, so k\u00f6nnen wir auch sagen, das Gef\u00fchl der Arbeitsleistung. Es ist das unmittelbare Be-wufstseinssymptom der Thatsache, dafs durch ein psychisches Geschehen Hemmung bestimmter Gr\u00f6fse \u00fcberwunden, oder einer Hemmung standgehalten wird. Es ist in jenem Falle Gef\u00fchl der positiven, in diesem Gef\u00fchl der negativen psychischen Arbeitsleistung.\nEin solches Anstrengungsgef\u00fchl habe ich etwa, wenn ich meinen Arm hebe. Ich habe es aber ebensowohl, wenn ich mich anstrenge, einen Gedanken zu verfolgen oder festzuhalten, oder wenn ich mich bem\u00fche, einer Sache mich zu erinnern. In allen diesen F\u00e4llen ist in mir ein Geschehen, das auf einen Erfolg, die Verfolgung eines Gedankens, das Auftreten eines Erinnerungsbildes etc. hin wir kt. Und jedesmal steht der Erreichung des Erfolges eine Hemmung gegen\u00fcber. Das Gef\u00fchl, das aus dem Gegensatz zwischen diesen beiden gegens\u00e4tzlichen Momenten resultirt, ist hier jedesmal ein Anstrengungsgef\u00fchl, weil es nicht einfach bei diesem Gegensatz bleibt, sondern Arbeit geleistet wird, eine Bewegung oder ein Standhalten stattfindet ; kurz ein","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n155\nauf die Beseitigung der Hemmung gerichtetes Thun, in welchem die punktf\u00f6rmige Spannung sich zur Linie dehnt, eine Reibung.\nDies Anstrengungsgef\u00fchl nun, und damit zweifellos das Strebungsgef\u00fchl \u00fcberhaupt, ist f\u00fcr E. identisch mit Empfindungen der Spannung in den Muskeln oder Sehnen, oder allgemeiner mit Bewegungsempfindungen. So meint E. nach dem Vorgang Anderer. Diese Anschauung entspricht einer Neigung einiger Psychologen, deren Ziel so sich kurz bezeichnen l\u00e4fst: Psychische Thatsachen existiren nicht, oder d\u00fcrfen nicht existiren, so lange sie nicht durch eine aufserhalb der psychologischen Erfahrung stehende Autorit\u00e4t approbirt sind. Diese Autorit\u00e4t ist der gegenw\u00e4rtige Stand der physiologischen Erkenntnifs und das, was man sich auf Grund derselben \u201evorstellen\u201c kann. F\u00fcr solche Psychologen ist nat\u00fcrlich auch die Frage, was den Sinn unseres Anstrengungs- und Kraftbewufstseins ausmacht, gleichbedeutend mit der Frage, was die Physiologen und die diesen bekannten \u201enerv\u00f6sen Processe\u201c dazu sagen. Die Frage, ob es hier nicht am Ende etwas geben k\u00f6nne, f\u00fcr das die nerv\u00f6sen Processe nicht bekannt sind, ein von allem Empfindungsinhalt absolut verschiedenes Gef\u00fchl, diese Frage existirt f\u00fcr sie nicht.\nDie absolute Verschiedenheit des Strebungsgef\u00fchls, insbesondere des Anstrengungsgef\u00fchls oder Gef\u00fchls des Kraftaufwandes, von jeder Art der k\u00f6rperlich localisirten Bewegungsempfindungen ergiebt sich aber schon unmittelbar aus folgender Erw\u00e4gung. Wenn ich ein unmittelbares Bewufstsein habe von der Kraft meines Denkens, oder der in meinem Denken aufgewandten Kraft, des angestrengten Besinnens, der auf irgend ein Ziel gerichteten inneren Bem\u00fchung, so f\u00fchle ich \u201emich\" kraftvoll th\u00e4tig, ich f\u00fchle das Angestrengtsein als eine Bestimmtheit meiner seihst, f\u00fchle die Bem\u00fchung oder das Bem\u00fchtsein als Bem\u00fchung \u201emeiner\u201c oder als \u201emein\u201c Bem\u00fchtsein, genau so wie ich \u201emich\u201c erfreut, traurig, ernst, heiter, hoffend und verzagend f\u00fchle. D. h. jene Namen bezeichnen, wie diese, Qualit\u00e4ten des unmittelbar erlebten Ich, des Gef\u00fchls-Ich oder des Ich-Gef\u00fchls. Und demgem\u00e4fs hat es genau so viel Sinn, die Anstrengung, den Kraftaufwand, die Bem\u00fchung, als eine Muskelempfindung zu bezeichnen, als es Sinn hat, die Gef\u00fchle der Lust, der Trauer, der Heiterkeit, des Ernstes, des H\u00f6ffens und der Verzagtheit mit irgend welchen Muskelempfindungen zu identificiren. Ich f\u00fchle mich bem\u00fcht, einen Gedanken zu verfolgen, f\u00fchle mich","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nTh. Lipps.\nin meinem Denken angestrengt th\u00e4tig, dies heilst so wenig : Ich finde meine Arme oder irgend welchen sonstigen Theil meines K\u00f6rpers in einer bestimmten Verfassung, als ich mit jenen anderen Namen eine Beschaffenheit meiner Glieder bezeichne.\nWeil nun aber E. das eigenartige und unmittelbare Erleb-nifs, das in dem Gef\u00fchl der Anstrengung, der Bem\u00fchung, des Kraftaufwands liegt, nicht sieht, so mufs er construiren. Auch daf\u00fcr fehlt es ihm nicht an Vorbildern.\nDerjenige, dessen rechter Arm gel\u00e4hmt ist, kann sich anstrengen, diesen Arm zu bewegen und das Gef\u00fchl einer solchen Anstrengung haben. Im gel\u00e4hmten Arm aber entstehen keine Empfindungen, auch keine Spannungsempfindungen. Und doch soll das Gef\u00fchl der Anstrengung mit solchen Spannungsempfindungen identisch sein.\nDiesen Widerspruch sucht schon James damit zu beseitigen, dafs er bemerkt, wenn in dem Arme, den ich bewegen will, keine Spannungsempfindungen ausgel\u00f6st werden, so werden solche doch im anderen Arme oder sonst wo im K\u00f6rper ausgel\u00f6st. Und E. weist darauf hin, dafs der Kranke, dessen eines Glied gel\u00e4hmt sei, auf allen m\u00f6glichen anderen Wegen doch dazu zu gelangen sucht, dem gel\u00e4hmten Gliede die gew\u00fcnschte Lage zu geben. Dabei entstehen Bewegungsempfindungen. Und einen Theil derselben beziehe der Kranke, da ihre Analyse schwierig sei, der Kranke auch kein Interesse daran habe, auf das gel\u00e4hmte Glied, von welchem er solche Eindr\u00fccke sehnlichst erwarte.\nIch frage zun\u00e4chst: Was will diese letztere Wendung ? Einmal: \u2014 Warum erwartet der Kranke \u201e sehnlichst solche Eindr\u00fccke d. h. auf Grund welcher Bewufstseinserlebnisse erwartet er sie? Diese Erwartung ist ja doch nicht ein zuf\u00e4llig in ihm entstehender Vorgang. Sie entsteht auch nicht etwa, weil dem Kranken Jemand sagt, die Eindr\u00fccke werden eintreten.\nDie selbstverst\u00e4ndliche Antwort auf die gestellte Frage lautet: Der Kranke erwartet die Eindr\u00fccke, weiter sich bem\u00fcht oder sich anstrengt, sie zu haben, und weil er von dieser Bem\u00fchung oder Anstrengung weifs. D. h. dasjenige, was E. durch Berufung auf Spannungsempfindungen in anderen Theilen des K\u00f6rpers erkl\u00e4ren will, ist in dieser Erkl\u00e4rung bereits vorausgesetzt.\nZweitens: \u2014 Was heilst das \u00fcberhaupt: Der Kranke \u201eerwartet sehnlichst solche Eindr\u00fccke\u201c. Wenn ich einen Freund","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n157\nsehnlichst erwarte, wenn ich mich nach seiner Ankunft sehne, so ist dies ein anderer Ausdruck daf\u00fcr, dafs ich seine Ankunft intensiv will, dafs ich heftig nach diesem Erlebnifs strebe. Mein Bewufstsein von dieser \u201esehnlichen Erwartung\" ist ein Bewufst-sein des Strebens. Und in diesem liegt bereits die Spannung.\nDies Letztere erkennt E. sogar ausdr\u00fccklich an. Die Aner-kenntnifs liegt im Worte \u201esehnlichst\". Warum sagt E. nicht statt \u201esehnlichste\u201c Erwartung \u201egespannte\u201c Erwartung? Gewifs w\u00fcrde dieser Ausdruck nicht minder passen. Ein Bewufstsein einer gespannten Erwartung, also ein Spannungsbewufstsein, ist dann also, auch nach E., die Voraussetzung f\u00fcr die Entstehung des Anstrengungsbewufstseins oder des Bewufstseins des Kraftaufwandes. Nun ist weiterhin f\u00fcr E., wie f\u00fcr uns, das Bewufstsein der Anstrengung gleichbedeutend mit einem Bewufstsein der Spannung. Also erscheint hier von Neuem das Bewufstsein der Anstrengung aus dem Bewufstsein der Anstrengung erkl\u00e4rt. \u2014 Im Uebrigen bedarf es jenes Worttausches nicht. Dafs im Sehnen oder der Sehnsucht eine Spannung liegt, bezweifelt Niemand.\nNoch mehr: Der Kranke, sagt E., erwartet solche Eindr\u00fccke. In Wahrheit erwartet er sie nicht. D. h. er wartet nicht darauf, ob sie ihm etwa durch die Gunst des Schicksals zu Theil werden. Sondern er erwartet sie so, wie ich das erwarte, was ich hervorzubringen im Begriffe bin. Dies heifst aber gar nichts anderes, als : Er bem\u00fcht sich um die Eindr\u00fccke, und er hat das Bewufstsein, dafs er um die Hervorbringung der Eindr\u00fccke sich bem\u00fcht, dafs er sich anstrengt, dafs er Kraft aufwendet. In den fraglichen \u201eEindr\u00fccken\u201c besteht aber f\u00fcr ihn, d. h. f\u00fcr sein Bewufstsein, die Bewegung des Gliedes. Die Bem\u00fchung, die Eindr\u00fccke zu haben, und die Bem\u00fchung oder Anstrengung, das Glied zu bewegen, ist also in Wahrheit eine und dieselbe Sache.\nJetzt ergiebt sich als Sinn des EsBiNGHAUs\u2019schen Satzes wiederum dies: Weil der Kranke ein Bewufstsein davon hat, dafs er sich bem\u00fcht, das gel\u00e4hmte Glied zu bewegen, darum bezieht er die Empfindung der in den anderen Gliedern stattfindenden Bewegung auf diesen gel\u00e4hmten Arm; und daraus ergiebt sich ihm das Bewufstsein, dafs er sich bem\u00fcht oder anstrengt, das Glied zu bewegen.\nDrittens : Was heifst dies : Der Kranke bezieht die thats\u00e4ch-lichen Bewegungsempfindungen der anderen Glieder auf den ge-","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nTh. Tipps.\nl\u00e4hmten Arm. Dies kann doch wohl nichts anderes heifsen, als : Sie erscheinen ihm als Empfindungen einer Bewegung des gel\u00e4hmten Gliedes. Darauf deuten Ebbinghaus\u2019 Worte: \u201eDa ihre Sonderung\u201c \u2014 n\u00e4mlich die Sonderung der sonst im K\u00f6rper stattfindenden Bewegungen \u2014 \u201eschwierig ist, auch f\u00fcr den Kranken kein Interesse hat\u201c. Ich w\u00fcfste zum mindesten nicht, worauf sonst diese Bemerkung hinauslaufen sollte. Dann aber mufs der Kranke glauben, dafs er das thats\u00e4chlich unbewegte Glied bewegt. Und dies ist doch eben nicht der Fall.\nViertens: Wenn mein Arm nicht gel\u00e4hmt ist, und ich das Bewufstsein habe, \u2014 nicht dafs der Arm sich bewegt, sondern, dafs ich ihn bewege, d. h. dafs die Bewegung das Ergebnifs ist meines Wollens, meiner Bem\u00fchung, meiner Anstrengung? Wie soeben gesagt, die Bewegung des Armes besteht f\u00fcr mich im Dasein der Bewegungsempfindungen. Wie kann dann das Bewufstsein des auf die Bewegung, d. h. auf das Dasein der Bewegungsempfindungen gerichteten Wollens im Dasein eben dieser Bewegungsempfindungen bestehen? Wie kann das Bewufstsein, dafs ich mich bem\u00fche, die Bewegungsempfindungen zu haben, bestehen in dem Haben dieser Bewegungsempfindungen?\nVielleicht sagt man hier, die Bewegungsempfindungen, die ich will, bestehen in Gelenkempfindungen, das Bewufstsein der auf die Bewegungsempfindungen gerichteten Bem\u00fchung dagegen besteht in Spannungsempfindungen. Aber wenn ich nun mich darauf capricire, Spannungsempfindungen zu wollen, wenn mir das Bild gewisser, mir wohl bekannter Spannungen vorschwebt und ich mich bem\u00fche oder anstrenge, diese Spannungen recht intensiv auftreten zu lassen, wenn ich etwa mir M\u00fche gebe, oder mich anstrenge, meine f\u00fcnf Finger, ohne sie aus ihrer relativen Lage zu entfernen, intensiv zu spannen? \u2014 Besteht dann das Bewufstsein der Bem\u00fchung, die Spannung herbeizuf\u00fchren, d. h. die Spannungsempfindungen zu haben, im Haben dieser Spannungsempfindungen ?\nF\u00fcnftens: Wenn ich es nicht unterlassen kann zu g\u00e4hnen, wenn ein unwiderstehlicher Drang mir die beim G\u00e4hnen functionirenden Muskeln spannt, habe ich dann das Bewufstsein, dafs ich mir M\u00fche gebe, dafs ich mich anstrenge, die G\u00e4hnbewegung auszuf\u00fchren, dafs ich mich anstrenge in dem Sinne, in welchem ich mich anstrenge den Arm zu heben, dann wenn ich ihn freiwillig hebe? Geschieht es nicht vielleicht um-","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n159\ngekehrt, dafs ich mich bem\u00fche oder anstrenge, das G\u00e4hnen zur\u00fcckzuhalten, also jene Muskelspannungen nicht zu Stande kommen zu lassen?\nSechstens : Lassen wir auch das. E. erkl\u00e4rt bei jenem Kranken das Gef\u00fchl der Bem\u00fchung oder Anstrengung, das gel\u00e4hmte Glied zu heben, indem er sie zur\u00fcckf\u00fchrt auf Empfindungen von Bewegungen und Spannungen in sonstigen Theilen des K\u00f6rpers. Aber wissenschaftlich ein B aus einem A erkl\u00e4ren, dies heilst, wie ich sonst \u00f6fter gesagt habe \u2014 nicht, irgend einen That-bestand A auf weisen und versichern, dieser Thatbestand sei der Erkl\u00e4rungsgrund f\u00fcr R, sondern es heilst \u2014 auch in der Psychologie, da ja auch die Psychologie eine Wissenschaft sein soll : eine gesetzm\u00e4fsige Abh\u00e4ngigkeitsbeziehung finden zwischen B und A. Und diese Abh\u00e4ngigkeitsbeziehung mufs sich aussprechen lassen in einem allgemeinen Satz von der Form: Immer wenn A ist, so tritt B ein. Und diesen Satz mufs ich glaublich machen k\u00f6nnen, d. h. ich mufs zeigen k\u00f6nnen, dafs er allgemein gilt. Ich mufs weiter versuchen, ihn zusammenzubringen mit analogen S\u00e4tzen. Ich mufs versuchen, ein allgemeineres Gesetz zu gewinnen, als dessen specieller Fall jener Satz und diese analogen S\u00e4tze erscheinen k\u00f6nnen.\nHier nun handelt es sich um die Erkl\u00e4rung des Gef\u00fchls der Anstrengung, der Bem\u00fchung, des Kraftaufwands. Es ist offenbar, welche Regel hier E. m\u00fcfste aufstellen, und als allgemeing\u00fcltig nachweisen k\u00f6nnen. N\u00e4mlich die Regel: Immer wenn ich eine Bewegung irgend eines Theiles meines K\u00f6rpers vorstelle, und es finden gleichzeitig irgendwo sonst in meinem K\u00f6rper Bewegungen statt, die zu analysiren schwierig ist, und an deren Analyse ich kein Interesse habe, so beziehe ich die betreffenden Bewegungsempfindungen auf die vorgestellte Bewegung, und habe eben damit das Bewufstsein, dafs ich mich anstrenge, diese Bewegung auszuf\u00fchren.\nDiese Regel nun trifft nicht zu. Ich stelle mir jetzt beliebige Bewegungen meines K\u00f6rpers vor, gleichzeitig finden allerlei sonstige Bewegungen thats\u00e4chlich in meinem K\u00f6rper statt, und ich denke nicht daran, sie zu analysiren. Aber ich habe nicht das Bewufstsein, dafs ich mich bem\u00fche, die vorgestellten Bewegungen auszuf\u00fchren. Ich habe dies Bewufstsein nur, wenn ich in dem Glied, dessen Bewegung ich vorstelle, \u201esolche Eindr\u00fccke\u201c d. h. Spannungsempfindungen \u201esehnlichst","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nTh. Tipps.\nerwarte\u201c, n\u00e4mlich in dem Sinne, den die \u201esehnlichste Erwartung\u201d oben hatte, d. h. wenn ich mich bem\u00fche, das Glied zu bewegen und wenn ich davon ein Bewufstsein habe. Ist die sehnlichste Erwartung anderer Art, dann hilft auch sie zu nichts, d. h. sie schafft mir kein Bewufstsein meiner Anstrengung.\nVielleicht erwarte ich in einer jener bekannten Jahrmarktsbuden sehnlich st, dafs der elektrische Strom die Muskeln meiner beiden H\u00e4nde in der mir bekannten Weise spanne. Ich erwarte sehnlichst die Spannungsempfindungen. Dann habe ich doch ganz und gar nicht das Bewufstsein, dafs ich mich anstienge, mit meinen H\u00e4nden diese Spannung zu Stande zu bringen; auch nicht, wenn ich gleichzeitig beliebige sonstige Bewegungen ausf\u00fchre.\nSchliefslich weise ich noch auf einen besonderen Fall, den E. anf\u00fchrt, und der ihn besonders unmittelbar von der Unm\u00f6glichkeit seiner Anschauung h\u00e4tte \u00fcberzeugen m\u00fcssen. Von einem Kranken sind Bewegungen bestimmter Art gefordert worden, und er meint, diese . ausgef\u00fchrt zu haben. Er wundert sich, wenn er bemerkt, dafs er sie nicht ausgef\u00fchrt hat. Wie kommt dieser Kranke zu seiner Meinung? Lebt er etwa in dem Glauben, alle Bewegungen, die \u201egefordert\" sind, werden ausgef\u00fchrt? Nat\u00fcrlich nicht. Wohl aber ist er gew\u00f6hnt, dafs Bewegungen sich vollziehen, die er will, und die auszuf\u00fchien ei sich bem\u00fcht. Mit anderen Worten, der Kranke hatte nicht blos die Forderung geh\u00f6rt, sondern sich auch bereit gefunden und bem\u00fcht, sie auszuf\u00fchren. Da hier eine Innervation nicht stattfindet, so kann von einer Innervationsempfindung, wie E. mit Recht bemerkt, keine Rede sein. Um so sicherer findet hier das Bewufstsein der Bem\u00fchung oder Willensanstrengung statt, nur dafs dieser keine Innervation folgt,\nIn diesem Falle besteht f\u00fcr E. das Bewufstsein dei Anstrengungin den \u201eillusionsartig lebhaften Bildern\u201d der gefoideiten Bewegung. Aber dafs diese \u201eillusionsartigen\u201c Erinnerungsbilder entstehen, mit anderen Worten, dafs der Kranke glaubt, die Bewegung ausgef\u00fchrt zu haben, das hat ja doch eben in dem Bewufstsein des Kranken, er habe sich bem\u00fcht oder habe die n\u00f6thige Kraft aufgewandt, seinen Grund oder seine V oraussetzung.\nEs giebt, so sagte ich, keine Anstrengungsempfindungen oder Empfindungen des Kraftaufwands. Es giebt dieselben so wenig als es Bewegungsempfindungen giebt, D. h. so wie die","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n161\nMuskel-, Sehnen- und Gelenkempfindungen an sich mit R\u00e4umlichkeit, also auch mit Bewegung nichts zu thun haben, so haben diese Empfindungen auch mit Anstrengung, Kraft u. s. w. nicht das allermindeste zu thun. Was in ihnen empfunden wird, ist mit dem, was die Worte: Anstrengung, Kraftaufwand u. s. w. bezeichnen, so unvergleichlich, wie es unvergleichlich ist mit der Vorstellung der R\u00e4umlichkeit. Die Bewegungsempfindungen bekommen r\u00e4umliche Bedeutung, indem auf Grund der Erfahrung die Vorstellung der R\u00e4umlichkeit hinzutritt. So erscheinen auch die Spannungsempfindungen als \u201eEmpfindungen\u201c der Anstrengung oder des Kraftaufwands lediglich dadurch, dafs das Gef\u00fchl der Anstrengung hinzutritt. Spannung der Muskeln ist das Mittel, die Hemmung zu beseitigen, welche der Verwirklichung meines, auf k\u00f6rperliche Bewegung gerichteten Strebens oder Wollens entgegensteht. Das Anstrengungsgef\u00fchl geht also bei k\u00f6rperlichen Bewegungen mit Spannungsempfindungen Hand in Hand.\nDaraus entstehen, wie gesagt, die \u201eAnstrengungsempfindungen\u201d. Angenommen, es g\u00e4be \u00fcberhaupt gar keine Spannungsempfindungen, so bliebe doch das Gef\u00fchl der Anstrengung und damit das Bewufstsein derselben unver\u00e4ndert bestehen. In der That \u2014 und darin liegt ein letztes, und f\u00fcr sich allein entscheidendes Argument gegen Ebbinghaus\u2019 Theorie des An-strengungsbewufstseins \u2014 bleibt dasselbe bestehen, wenn ich angestrengt nachdenke. Dabei mag ich alle m\u00f6gliche Muskeln meines K\u00f6rpers spannen. Aber von diesen Spannungen weifs ich nichts, weil meine Aufmerksamkeit nicht ihnen, sondern meinen Gedankeninhalten zugewendet ist. Also k\u00f6nnen sie auch nicht mein Anstrengungsbewufstsein ausmachen.1\nWie mit den Anstrengungsempfindungen oder Empfindungen der auf ge wandten Kraft, so steht es nun weiter auch mit den Widerstandsempfindungen. D. h. von Widerstandsempfindungen zu reden, als w\u00fcrde in allem Ernste Widerstand empfunden, geht nicht an. Es giebt keine Widerstandsempfindung, sondern nur ein Widerstandsgef\u00fchl.\nDie Widerstandsempfindungen, meint E., r\u00fchren vermuthlich daher, dafs bei der Belastung eines ruhig gehaltenen oder be-\n1 Weiteres hier\u00fcber siehe in meiner Schrift \u201eDas Selbstbewufstsein ; Empfindung und Gef\u00fchl\u201d. Wiesbaden 1901.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 28.\n11","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nTh. Lipps.\nwegten Gliedes durch einen \u00e4ufseren Gegenstand die Glieder in den Gelenken etwas fester an einander geprefst werden, so dafs die Ber\u00fchrung und Reibung unter einem st\u00e4rkeren Druck stattfindet. Es ist einleuchtend, was allein aus diesem Sachverhalt sich ergeben kann, n\u00e4mlich Empfindungen eines st\u00e4rkeren Druckes in den Gelenken. Aber Druck in den Gelenken ist doch nicht Widerstand, den ein Gegenstand aus\u00fcbt. Die Empfin dung desselben ist nicht \"Widerstandsempfindung. Sie kann nur dazu werden, indem ein specifisch.es Widerstandsbewufstsein\nhinzutritt.\nDafs aber dies Moment nicht etwa in der Empfindung des Drucks unmittelbar mit gegeben ist, wird deutlich, wenn wir ber\u00fccksichtigen, dafs wir ein Widerstandsbewufstsein doch auch haben, wo keine Gelenke in Frage kommen. Ich habe das Be-wufstsein des Widerstandes, wenn eine Sache mir einfallen soll, aber nicht einfallen will, wenn Gedanken, die ich festhalten soll, sich nicht wollen festhalten lassen. Damit ist doch nicht die Empfindung eines Drucks in meinen Gelenken verbunden.\nWohl aber ergiebt sich dabei ein Gef\u00fchl des Widerstandes. Und dies Gef\u00fchl des Widerstandes ist gar nichts, als jenes oben bezeichnte Spannungsgef\u00fchl, \u00fcbertragen auf die Hemmung, d. h. auf dasjenige, was der Verwirklichung meines Strebens entgegensteht und entgegenwirkt. Dies ergiebt sich schon aus dem Wort Widerstand, an dessen Stelle ich ebensowohl das Wort Widerstreben setzen kann.\nJedes Streben erscheint mir, in dem Maafse als es in seiner Verwirklichung gehemmt wird, einerseits als \u201emein\" Streben, andererseits als ein Widerstreben dessen, was mich hemmt. Dies Streben und Widerstreben ist das eine und selbe Spannungsgef\u00fchl nach den beiden Seiten betrachtet.1\nUnd wenn nun dies Spannungsgef\u00fchl zu den Empfindungen hinzutritt, die bei k\u00f6rperlichen Anstrengungen aus dem Dasein des Hemmnisses sich ergeben, dann, und dann erst k\u00f6nnen diese Empfindungen als Widerstandsempfindungen . bezeichnet werden. Wiederum doch nur in demselben Sinne, in welchem die Empfindungen der k\u00f6rperlichen Bewegung beim Hinzutritt\n1 Genaueres hier\u00fcber s. in einer Schrift, die demn\u00e4chst erscheinen und den Titel \u201eVom F\u00fchlen, Wollen und Denken\u201c tragen soll.","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n163\nder Vorstellung der R\u00e4umlichkeit zu Bewegungsempfindungen werden.\nDamit ist weiter auch schon die Empfindung der Schwere erledigt. Genau soweit n\u00e4mlich, als die Empfindung der Schwere eine Widerstandsempfindung ist. Das Moment des Widerstandes steckt aber schliefslich in dem Bewufstsein der Schwere allemal.\nIn jedem Falle trifft dies zu bei den \u201eEmpfindungen\u201c der Schwere, um die es sich hier handelt. Es ist dies diejenige, die wir beim Heben von Gewichten gewinnen. Hier bem\u00fche ich mich und f\u00fchle die Bem\u00fchung oder Anstrengung, die f\u00fcr die Hebung erforderlich ist, d. h. ich habe das Gef\u00fchl der Bem\u00fchung oder Anstrengung, das mit der Hebung nothwendig sich verbindet. Dies Gef\u00fchl hat eine bestimmte Intensit\u00e4t. Hieraus entsteht das Bewufstsein, das Gewicht habe eine entsprechende Schwere. Es entsteht, indem ich das Gef\u00fchl der Bem\u00fchung oder Anstrengung oder Spannung auf das Gewicht als Ursache desselben beziehe. Das Gewicht hat die bestimmte Schwere, d. h. es ist mir durch dasselbe diese bestimmte f\u00fchlbare Anstrengung oder Bem\u00fchung abgen\u00f6thigt.\nHierbei erinnere ich noch einmal speciell an das schon oben Gesagte : Das Gef\u00fchl der Anstrengung ist ein Gef\u00fchl der Reibung, d. h. der Spannung in der Bewegung, in meinem strebenden Fortgehen oder Beharren, kurz meinem Thun. Wenn ich aber ein Gewicht hebe, so handelt es sich immer \u2014 nicht um einen momentanen Act des Strebens, sondern um einen dauernden Procefs. Das psychische Geschehen, dafs auf den Erfolg, die Hebung des Gewichts hinwirkt, wird freilich irgend einmal ausgel\u00f6st. Es vollzieht sich ein das Streben er\u00f6ffnender Impuls. Dann aber wirkt das Geschehen weiter und weiter auf diesen Erfolg hin. Ich strebe w\u00e4hrend der ganzen Hebung des Gewichts von Punkt zu Punkt fort. Und bei diesem \u201eThun\u201c ergiebt sich mir das Bewufstsein der Schwere des Gewichts. Es ergiebt sich aus der Gr\u00f6fse der Spannung, die ich f\u00fchle \u2014 nicht in einem Moment, vor Allem nicht etwa im Anfangsmoment, sondern im ganzen Verlauf dieses von Punkt zu Punkt fortgehenden und fortwirkenden Strebens. Ich pr\u00fcfe die Schwere des Gewichts nicht etwa so, dafs ich achte auf jenen ersten Moment dieses von Punkt zu Punkt weiter gehenden und fortwirkenden Strebens,\nsondern indem ich achte auf das, was ich w\u00e4hrend des Hebens,\n11*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nTh. Lipps.\nalso w\u00e4hrend dieses ganzen in der Zeit verlaufenden Vorgangs erlebe.\nDaraus nun werden auch die bekannten Gewichtst\u00e4uschungen verst\u00e4ndlich. Sie haben den Grund, den E. angiebt. Ich bestimme nur, was E. sagt, etwas genauer. Sind zwei gleich schwere Gewichte, deren Schwere ich vergleiche, hinsichtlich ihrer Gr\u00f6fse deutlich verschieden, so hebe ich das gr\u00f6fsere unwillk\u00fcrlich mit einem st\u00e4rkeren Impuls. Ich theile also, ohne es zu wissen, dem gr\u00f6fseren Gewicht eine st\u00e4rkere Anfangsbewegung mit. Die Folge ist, dafs dies Gewicht in den folgenden Momenten in geringerem Maafse als Hemmung wirkt. Ich habe also w\u00e4hlend der auf den Anfangsmoment folgenden Bewegung ein geringeres Anstrengungs- oder Widerstandsgef\u00fchl, und demgem\u00e4fs den Eindruck einer geringeren Schwere.\nE. findet, dafs auch diese Gewichtst\u00e4uschungen die Annahme von Innervationsempfindungen widerlegen. Damit ist er im Unrecht. Der Vertheidiger der Innervationsempfindung wird sagen, zweifellos sei die Anfangsinnervation bei dem gr\u00f6fseren Gewicht st\u00e4rker, aber die Innervation, die bei der Hebung eines Gewichts stattfinde, sei eben nicht identisch mit dieser Anfangsinnervation, sondern sei ein fortgehendes Innerviren. Und eben daraus, dafs die Anfangsinnervation bei den gr\u00f6fseren Gewachten eine st\u00e4rkere sei, folge, dafs sie im Fortgang der Innervation eine schw\u00e4chere sei, und das Resultat sei, dafs im Ganzen die\nInnervation geringer erscheine.\nDie ..Innervationsempfindungen\" sind nun freilich durch andere Thatsachen widerlegt. Aber eben das, was der Vertheidiger der Innervationsempfindung von dieser Innervationsempfindung sagen w\u00fcrde, gilt vom Gef\u00fchl der Spannung.\nZur Verdeutlichung des Obigen f\u00fcge ich noch hinzu,. dafs auch sonst ein kraftvoller, von vornherein mit allen Schwierigkeiten rechnender Entschlufs die zu vollbringende Arbeit leichtei erscheinen l\u00e4fst als der halbe, der dann gegen\u00fcber jeder neu auftretenden Schwierigkeit ein weiteres Entschliefsen n\u00f6thig macht. Die Analogie dieses Falles mit jenem obigen ist eine\nvollkommene.\nIch sagte vorhin, schliefslich liege in jedem Bewufstsein der Schwere das Bewufstsein des Widerstandes, also der nothwendigen Anstrengung oder Bem\u00fchung. Dies trifft gewifs zu. In dei Vorstellung der Schwere liegt die Vorstellung des Strebens nach","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n165\nunten und andererseits des Widerstrebens oder des Widerstandes gegen den Versuch, das schwere Object zu heben, oder auch nur in seiner Lage zu erhalten. Es liegt darin, anders gesagt, dafs es einer gewissen Kraft des Wollens bedarf, um den Gegenstand zu heben, oder dafs seine thats\u00e4chliche Hebung mit einem Anstrengungsgef\u00fchl von bestimmtem Grade verbunden sein w\u00fcrde. Im Uebrigen kommt es auf die Frage, ob es so sich verhalte, hier nicht an.\nSchliefslich w\u00fcrde auch die Spannungsempfindung von uns nicht als solche bezeichnet werden, wenn es nicht die Spannungsgef\u00fchle g\u00e4be. Ich habe das Gef\u00fchl gespannten Aufmerkens, gespannten Nachdenkens u. s. w. Hier hat das Spannungsgef\u00fchl zu Muskelspannungen keine Beziehung. Das Wort Spannung bezeichnet hier einfach das, jedermann bekannte, in keiner Weise in Elemente aufl\u00f6sbare Gef\u00fchlserlebnifs.\nEs geht aber auch nicht etwa an zu sagen, dies Gef\u00fchl trage darum den Namen ..Spannung\u201c, weil ich, wenn ich auf einen Gegenstand merke, oder dar\u00fcber gespannt nachdenke und dabei das Gef\u00fchl der Spannung habe, gleichzeitig auch Spannungsempfindungen erlebe. Denn einmal fehlen solche Spannungsempfindungen nie, sie sind also f\u00fcr jenes Gef\u00fchlserlebnifs nicht charakteristisch. Und zum zweiten, k\u00f6nnen sie gerade f\u00fcr jenes Gef\u00fchlserlebnifs besonders wenig charakteristisch sein, weil, wie schon oben bemerkt, derjenige, der einem Gedanken mit innerer Spannung nachgeht, auf die begleitenden k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4nge, also auch auf die Spannungen, naturgem\u00e4fs nicht achtet.\nDagegen ist leicht begreiflich, wie umgekehrt die Spannungsempfindungen von jenem Gef\u00fchl ihren Namen gewinnen k\u00f6nnen. K\u00f6rperliche Spannungen sind \u2014 nicht jederzeit, aber doch in der Kegel, n\u00e4mlich immer dann, wenn sie willk\u00fcrlich erzeugt werden und demnach Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit sind, von einem Gef\u00fchl des Wollens und eben damit, in h\u00f6herem oder geringerem Grade von einem Gef\u00fchl der Spannung begleitet. \u2014\nIm Uebrigen ist es nat\u00fcrlich f\u00fcr die Sache gleichg\u00fcltig, ob der Name Spannung urspr\u00fcnglich auf das Spannungsgef\u00fchl oder auf die Spannungsempfindungen angewandt worden ist. In jedem Falle bleibt die \u201eIdentification\u201c beider so unzul\u00e4ssig als die Identification der W\u00e4rmeempfindung mit dem Gef\u00fchl des inneren Erw\u00e4rmtseins, der Schmerzempfindung mit dem","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nTh. Lipps.\nGef\u00fchl schmerzlicher Entt\u00e4uschung, der Empfindung des Durstes mit dem Gef\u00fchl des Wissensdurstes u. dgl.\nDer Fortschritt der wissenschaftlichen Psychologie wird viel weniger von geh\u00e4uften Experimenten abh\u00e4ngen, als davon, dafs man wiederum lernt von solchen Verwechselungen sich frei zu halten. Es ist Dasselbe, wenn ich sage, er wird abh\u00e4ngen von dem Grade, in welchem man Uebung gewinnt in der Kunst der psychologischen Beobachtung.\nIII. Die Relation der Aehnlichkeit.\nAuf die Frage nach dem Ursprung des Bewufstseins der Causalit\u00e4t, der urs\u00e4chlichen Verkn\u00fcpfung oder Beziehung, gieht das naive Bewufstsein die Antwort, wir sehen Dinge aufeinander wirken und daraus entnehmen wir die Vorstellung der Urs\u00e4chlichkeit. Wie es nun damit in Wahrheit bestellt ist, das haben uns Hume und Kant gezeigt. F\u00fcr Hume besteht der Sinn der urs\u00e4chlichen Beziehung, kurz gesagt, in einem Apper-ceptionserlebnifs.\nIch habe das Bewufstsein, ein Erlebnifs sei Ursache eines anderen, rufe das andere hervor, erzeuge es, habe das andere nothwendig zur Folge, dies heilst: Ich finde nicht etwa in den Ereignissen, als ein ihnen anhaftendes Merkmal, die Noth-wendigkeit auf einander zu folgen, oder finde zwischen ihnen, oder in ihrer Aufeinanderfolge, ein Band der Nothwendigkeit, sondern ich finde mich gen\u00f6thigt, in meinen Gedanken auf das eine das andere folgen zu lassen, oder finde mich gen\u00f6thigt, wenn ich das Stattfinden des einen bejahe, auch das Stattfinden des anderen, oder genauer gesagt, die bestimmt geartete Folge des anderen, zu bejahen. Die Nothwendigkeit ist nicht eine Bestimmtheit der Ereignisse oder ihres Zusammen, sondern eine unmittelbar erlebte Bestimmtheit meiner selbst, n\u00e4mlich mein unmittelbar erlebtes Gen\u00f6thigtsein. Sie ist insofern zun\u00e4chst ein Icherlebnifs. Sie ist zugleich ein Apperceptions-erlebnifs, sofern sie die N\u00f6thigung ist, Gegenst\u00e4ndliches in bestimmter Weise zusammen zu appercipiren oder zur appereeptiven Einheit zusammenzuschliefsen.1\n1 Weiteres hier\u00fcber in meinen \u201eGrundz\u00fcgen der Logik', Hambuig u. Leipzig 1893 ; ferner in der schon oben erw\u00e4hnten, bald zu ver\u00f6ffentlichenden Arbeit \u201eVom F\u00fchlen, Wollen und Denken\u201c, und der vermuthlich mit","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n167\nDie Psychologie unserer Tage nun scheint \u2014 genau so als h\u00e4tte es weder Hume noch Kant gegeben \u2014 wiederum auf den Standpunkt des naivsten Bewufstseins zur\u00fccksinken zu wollen. Wenn nicht mit R\u00fccksicht auf die Causalrelation, so doch mit R\u00fccksicht auf andere Relationen, z. B. mit R\u00fccksicht auf die Aehnlichkeitsrelation.\nMit dem Begriff der Relation hat man in Zusammenhang gebracht den Begriff der Gestaltqualit\u00e4t, oder wie ich lieber sage, der Gesammtqualit\u00e4t. Auch diesen Begriff hat man in einer psychologisch unzul\u00e4ssigen Weise verwandt. Ja es ist dieser Begriff, wenn damit Ernst gemacht ist, \u00fcberhaupt ein in sich psychologisch widersinniger.\nIch will nun im Folgenden mich nicht wenden gegen irgend eine allgemeine Relationenlehre. Ich will auch nicht gegen den Versuch mich wenden, mit dem Wort \u201eGestaltqualit\u00e4t\u201c das R\u00e4thsel der Relationen \u2014 und vielleicht aufserdem noch beliebig viele andere R\u00e4thsel \u2014 zu l\u00f6sen. Sondern ich will einige Bemerkungen machen \u00fcber eine in die Relationenlehre geh\u00f6rige Meinungs\u00e4ufserung Ebbinghaus\u2019, die den Sinn der \u201eRelationen\u201c in besonders klarer Weise verkennt, und dasjenige, was an dem Begriff der Gestaltqualit\u00e4t psychologisch unm\u00f6glich ist, auf seinen schroffsten Ausdruck bringt, und sich dazu in r\u00fcckhaltlosester Weise bekennt.\nSpeciell wende ich mich gegen Ebbinghaus\u2019 Bemerkung zur Relation der Aehnlichkeit und Verschiedenheit, damit freilich zugleich implicite gegen seine ganze Relationenlehre. Denn sein Standpunkt gegen\u00fcber der Aehnlichkeitsrelation mufs con-sequenterweise von ihm \u00fcbertragen werden auf alle Relationen \u00fcberhaupt.\nIch nehme dabei der Einfachheit halber an, die Aehnlichkeit sei Aehnlichkeit im engsten Sinne, oder anschauliche Aehnlichkeit, ich meine solche Aehnlichkeit, bei welcher das Aehnlichkeits-bewufstsein seinen gegenst\u00e4ndlichen Grund hat in einer Ueberein-stimmung in den gegenst\u00e4ndlichen Bewufstseinsinhalten, oder in einer Uebereinstimmung von Merkmalen, Eigenth\u00fcmlichkeiten, Qualit\u00e4ten, die in den gegenst\u00e4ndlichen Bewufstseinsinhalten von uns angetroffen werden, also von Merkmalen, Eigenth\u00fcm-\ndieser zusammen zu ver\u00f6ffentlichenden Arbeit \u00fcber \u201eEinheiten und Relationen\u201c.","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nTh. Tipps.\nlichkeiten, Qualit\u00e4ten, die selbst Bewufstseinsinhalte oder Theil-inhalte von Bewufstseinsinhalten sind. Ein Beispiel ist die Aehn-lichkeit zweier ann\u00e4hernd gleich hoher T\u00f6ne, oder die Aehnlich-keit des Roth und Violett.\nDie subjective Bedingung dieses Aehnlichkeitsbewufstseins bezeichnet man wohl als Vergleichung. Vergleichung, so scheint es, ist eine Th\u00e4tigkeit. E. meint, einer besonderen Th\u00e4tigkeit bed\u00fcrfe es f\u00fcr das Bewusstsein der Aehnlichkeit und Verschiedenheit nicht. Vielleicht hat er damit Recht. Lassen wir also die \u201eTh\u00e4tigkeit\u201c dahingestellt. Aber ein Vergleichen liegt f\u00fcr E. doch auch dem Aehnlichkeits- und Verschiedenheitsbewufstsein zu Grunde. Nur bestimmt er dieses Vergleichen in seiner Weise.\nEr thut es zun\u00e4chst mit den Worten des Condillac : Comparer n\u2019est autre chose que donner en m\u00eame temps son attention \u00e0 deux id\u00e9es. Diesem Satze schliefst sich E. zun\u00e4chst ausdr\u00fccklich an. Dann aber f\u00fcgt er scheinbar erl\u00e4uternd, in Wahrheit co'rrigirend hinzu : \u201eW,as man gew\u00f6hnlich als Ergebnifs einer besonderen Vergleichungsth\u00e4tigkeit auffafst, ... ist in seiner elementarsten Form lediglich die directe, und reflexionslose Wirkung derselben objectiven Reize, die die sogenannten Empfindungen verursachen, nur mit dem Unterschiede, dafs f\u00fcr die Entstehung des Eindrucks von Aehnlichkeit oder Verschiedenheit stets eine gewisse Mehrheit, mindestens eine Zweiheit von Empfindungsursachen Zusammenwirken mufs.\u201c\nWie hier Ebbinghaus den Satz Condillac\u2019s corrigirt, ist deutlich. Von Aufmerksamkeit ist bei E. keine Rede mehr. Das Bewufstsein der Aehnlichkeit ist die directe Wirkung eines Zusammen von Reizen. Dafs beim Eindruck der Aehnlichkeit oder Verschiedenheit mehrere Reize Zusammenwirken, dies unterscheidet den Eindruck der Aehnlichkeit vom Eindruck oder von der Empfindung einer Farbe. Diese entsteht aus der Wirkung eines einzelnen Reizes.\nIndefs lassen wir den Vergleich von Ebbinghaus und Condillac. In jedem Falle ist E.\u2019s Erkl\u00e4rung nicht zutreffend. E. giebt in Wahrheit die Bedingung an, unter welcher das Bewufstsein der Aehnlichkeit und Verschiedenheit nicht entsteht.\nIch verfahre in einem bestimmten Falle nach Ebbinghaus\u2019 Vorschrift. Ich lasse zwei T\u00f6ne C und c, ein andermal zwei T\u00f6ne C und Cis, \u201ereflexionslos\u201c auf mich wirken. Die T\u00f6ne seien an St\u00e4rke und hinsichtlich ihrer Klangfarbe einander gleich,","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n169\nalso nur hinsichtlich ihrer H\u00f6he verschieden. Hier gewinne ich, wenn ich wirklich \u201ereflexionslos\u201c mich verhalte, den T\u00f6nen C und c gegen\u00fcber den Eindruck einer eigent\u00fcmlichen Uebereinstimmung oder einer inneren qualitativen Zusammengeh\u00f6rigkeit, den T\u00f6nen C und Gis gegen\u00fcber den Eindruck einer relativen Nichtzusammengeh\u00f6rigkeit, eines Ausein anderstrebens, der Fremdheit. Jenen Eindruck bezeichnen wir als Eindruck der Consonanz, diesen als Eindruck der Dissonanz.\nDieser Eindruck nun ist von dem Bewufstsein der Aehnlich-keit von C und c bezw. C und Gis, wie dasselbe aus dem Vergleich der T\u00f6ne G und c und der T\u00f6ne C und Gis sich ergiebt, durchaus verschieden, ja er widerspricht ihm. Vergleiche ich G und c einerseits und C und Gis andererseits, so scheinen mir vielmehr G und c einander fremder als C und Gis. Vergleichen, und reflexionslos sich der Wirkung objectiver Heize \u00fcberlassen, sind also zu einander in Gegensatz stehende Dinge.\nVergleichen, sagt Condillac, heifst, das Verglichene gleichzeitig beachten. In diesem Satz des Condillac liegt eine Wahrheit. Eines w\u00e4re zun\u00e4chst noch hinzuzuf\u00fcgen. Wir haben nicht nur ein Bewufstsein der Aehnlichkeit oder Verschiedenheit zweier Objecte \u00fcberhaupt. Sondern Objecte erscheinen uns \u00e4hnlich oder verschieden in dieser oder jener Hinsicht. Dies beruht auf entsprechenden Arten des Vergleichens. Wir vergleichen Objecte in dieser oder jener \u201eHinsicht\u201c. Dies heifst, wir achten nicht nur auf die verglichenen Objecte, sondern wir achten auch wiederum, in den verglichenen Objecten, speciell auf dieses oder jenes Moment, z. B. die Farbe. Die Folge davon ist, dafs nur diese Momente oder Elemente das Vergleichsergebnifs bestimmen. Wir gewinnen etwa angesichts zweier, hinsichtlich ihrer Form v\u00f6llig verschiedener Fl\u00e4chen dennoch den Eindruck der Gleichheit, n\u00e4mlich hinsichtlich der Farbe.\nAber damit wissen wir nun noch ganz und gar nichts dar\u00fcber, worin das Bewufstsein der Aehnlichkeit besteht. Ich achte bei zwei Objecten A und B auf ihre Farbe. Was ich daraus unmittelbar gewinne, ist nichts Anderes, als das Bewufstsein, das Object A habe diese Farbe, z. B. Roth, das Object B habe jene Farbe, z. B. Violett. Aber das Bewufstsein der Aehnlichkeit von A und B ist weder das Bewufstsein, das A sei roth, noch das Bewufstsein, das B sei violett, noch ist es dieses Beides","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nTh. Lipps.\nzusammen. Aehnlichkeit ist weder ein Name f\u00fcr Roth, noch, ein Name f\u00fcr Violett, noch etwa ein Name f\u00fci Beides zugleich. Sondern das Wort Aehnlichkeit bezeichnet ein neues Eilebnifs neben den Erlebnissen, die die Namen Roth und Violett tragen. Zugleich ist doch dies Erlebnifs allerdings durch die Erlebnisse Roth und Violett bedingt.\nDafs nun ein solches besonderes Aehnlichkeitserlebnifs besteht, erkennt auch Ebbinghaus bereitwillig an. Aber er findet es in einer Empfindung oder einem Empfindungsinhalt bezw. einer Qualit\u00e4t von Empfindungsinhalten. Es besteht f\u00fcr ihn nicht in einer Qualit\u00e4t einer einzigen Empfindung, sondern m einer Qualit\u00e4t, die zwei Empfindungen haben, oder die m zwei Empfindungen ihren gemeinsamen Tr\u00e4ger hat. Die Aehnlichkeit ist ihm, obgleich er den Ausdruck nicht braucht, eine Gesammt-qualit\u00e4t der beiden Empfindungen, oder eine Qualit\u00e4t des Ganzen aus beiden Empfindungen.\nHier ist nun zun\u00e4chst merkw\u00fcrdig die Art, wie E. die Behauptung, Aehnlichkeit werde empfunden, rechtfertigt. Man konnte zun\u00e4chst, sagt E., geneigt sein, das Aehnlichkeits- und Verschiedenheitsbewufstsein f\u00fcr eine blofse Vorstellung zu halten, d. h. f\u00fcr etwas blos Gedankliches im Gegensatz gegen das sinnlich Empfundene. Dies ist nun das Aehnlichkeits- und \\ ei-schiedenheitsbewufstsein nach E. unter Umst\u00e4nden thats\u00e4chlich. Aber nicht immer. Und in den F\u00e4llen, in denen es nicht blofse Vorstellung ist, ist es nach E. nothwendig eine Empfindung^\nAlso; _ Was nicht Vorstellung ist, ist Empfindung. Diese Anschauung erinnert uns an Ebbinghaus Er\u00f6rterungen \u00fcber das Anstrengungsbewufstsein. Da es keine Innervationsempfindungen giebt, so mufs das Anstrengungsbewufstsein eine andere Art der Empfindung, n\u00e4mlich Muskelempfindung, sein. Der Gedanke, dafs es ein Gef\u00fchl, ein Icherlebnifs sein k\u00f6nnte, ist an jenei Stelle E. nicht gekommen. Ebensowenig nun kommt ihm hier der Gedanke, dafs das Aehnlichkeitsbewufstsein weder eine Empfindung noch eine Vorstellung, sondern ein Apperceptions-erlebnifs sein k\u00f6nne.\nDie Ich- und Apperceptionserlebnisse, so meinen Einige, darunter ich, sind die wichtigsten Factoren des psychischen Lebens. Vielmehr sie sind die eigentlich psychischen Factoren, diejenigen, ohne welche auch die Empfindungsinhalte nicht psychisch, sondern physisch sind. Sie sind im geistigen Leben","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Einige 'psychologische Streitpunkte.\n171\ndas Geistige oder der Geist; sie sind dasjenige, ohne welches von Psychischem oder Geistigem zu reden, \u00fcberhaupt keinen Sinn hat, von dem letzten Endes alle psychologischen Begriffe hergenommen sind.\nDies Psychische oder Geistige nun meint Ebbinghaus nach dem Vorg\u00e4nge von Lange, James, Sergi u. A. auch hier aus-treiben zu m\u00fcssen. Dann, ist er \u00fcberzeugt, versteht er das psychische oder geistige Leben. Vielmehr er treibt dies Psychische oder Geistige gar nicht aus. Die Meinung, dafs es dergleichen gebe, ist ihm nicht einmal der Erw\u00e4hnung werth.\nUnd warum das Alles? Letzten Endes darum, weil man sich die Apperceptionserlebnisse nicht physiologisch vorstellen kann, weil jedenfalls die peripherischen nerv\u00f6sen Processe daf\u00fcr nicht gefunden werden k\u00f6nnen.\nF\u00fcr uns nun hat das Dogma: Was nicht Vorstellung ist, ist Empfindung, was keines von beiden ist, existirt nicht, keine Geltung. Wir fordern, dafs die psychologischen Thatsachen zu ihrem Rechte kommen, auch auf die Gefahr hin, dafs das Bed\u00fcrfnis der physiologischen Interpretation oder gar der Auf-zeigung peripherer nerv\u00f6ser Processe, das freilich nur bei Empfindungen zu befriedigen ist, unbefriedigt bleibt.\nWie nun aber steht es in unserem Falle mit den Thatsachen? Zun\u00e4chst, wie rechtfertigt E. seine Anschauung, der zufolge Aehnlichkeit empfunden wird? Hat etwa E. die Empfindung der Aehnlichkeit, die er behauptet, gefunden?\nIch betrachte eine rothe Fl\u00e4che aufs Genaueste, einstweilen ohne an die Existenz einer violetten Fl\u00e4che zu denken oder gar die rothe Fl\u00e4che mit einer violetten zu vergleichen. Dann betrachte ich eine violette Fl\u00e4che ebenso. Beides ergiebt auch nach E. kein Aehnlichkeitsbewufstsein. Weder die rothe Fl\u00e4che ist \u00e4hnlich noch die violette.\nDann endlich vergleiche ich die beiden unter einander. Tritt jetzt zu dem, was ich sah, als ich die rothe Fl\u00e4che sah, und zu dem, was ich sah, als ich die violette Fl\u00e4che betrachtete, etwas hinzu, entdecke ich irgendwie in den beiden Fl\u00e4chen, oder an ihnen, oder zwischen ihnen, ein Merkmal, nehme ich mit meinen Augen in ihnen oder an ihnen oder zwischen ihnen eine Qualit\u00e4t wahr, die vorher f\u00fcr meine optische Wahrnehmung nicht bestanden hat, oder aus irgend einem Grunde mir entgangen ist, und die ich als den eigenth\u00fcmlichen Sinn des Wortes Aehnlichkeit be-","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nTh. Tipps.\nzeichnen k\u00f6nnte? Sehe ich irgendwo das Nene, dem dieser Name zukommt? Hat sich etwas an dem Roth oder dem Violett ge\u00e4ndert? Oder ist zur Summe dessen, was ich vorher sah, ein Moment bereichernd hinzugetreten, das macht, dafs das Roth f\u00fcr mich jetzt nicht mehr blos dies Roth, und das Violett nicht mehr blos dies Violett, sondern aufserdem beide \u201eeinander \u00e4hnlich\u201c sind?\nZweifellos nicht. Und doch mufs das bei der Betrachtung der rothen Fl\u00e4che Wahrgenommene, und das bei der Betrachtung der violetten Fl\u00e4che Wahrgenommene jetzt, bei der gleichzeitigen Betrachtung beider und ihrer Vergleichung, allerdings eine Bereicherung erfahren haben, und diese Bereicherung mufs an der rothen und der violetten Fl\u00e4che oder dem Nebeneinander derselben vorgefunden, oder das Bereichernde mufs in ihnen mitempfunden werden, wenn E. Recht haben soll.\nE. sagt ausdr\u00fccklich, es verhalte sich mit der Aehnlichkeit genau so, wie mit Raum, Zeit und Ver\u00e4nderung. Nun, wenn ich erst die rothe und die violette Fl\u00e4che f\u00fcr sich sehe und dann beide in irgend eine r\u00e4umliche Beziehung zu einander gesetzt erblicke, dann hat allerdings mein gesammter optischer Wahrnehmungsinhalt eine Bereicherung erfahren. Ich sehe etwa die beiden jetzt unmittelbar neben einander. Dann bezeichnet dies unmittelbare Nebeneinander einen eigenen und neuen Wahrnehmungsinhalt. Ich sehe die rothe und die violette Fl\u00e4che verbunden durch eine einzige Grenzlinie. Oder beide sind r\u00e4umlich aufser einander. Dann sehe ich eine einerseits von Roth, andererseits von Violett begrenzte Zwischenfl\u00e4che. Und ebenso ist es mit der Zeit und der Ver\u00e4nderung. Ich nehme etwas Neues wrahr aufser G und D, wenn ich beide T\u00f6ne sich folgen h\u00f6re, n\u00e4mlich die einerseits von C, andererseits von D begrenzte Zeitstrecke. Und ich nehme ebenso etwas Neues wahr, wenn ein Ton C nicht dieser Ton C bleibt, auch nicht etwa einem Ton D Platz macht, sondern wenn jener zu diesem sich ver\u00e4ndert, oder in ihn \u00fcbergeht. Dies Uebergehen ist ein mit dem einfachen Ton oder der Mehrheit von T\u00f6nen v\u00f6llig unvergleichliches Wahrnehmungserlebnifs.\nDagegen finde ich keinerlei neues Moment in oder an den farbigen Fl\u00e4chen vor, wenn ich sie vergleiche und \u00e4hnlich finde. Ich finde die Fl\u00e4chen und Farben, die ich auch vorher fand; ich finde vielleicht auch hier r\u00e4umliche und zeitliche Beziehungen,","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n173\ndie mir vorher entgingen. Aber in diesen besteht ja die Aehn-lichkeit nicht.\nSo zum mindesten verh\u00e4lt es sich bei mir. Und ich ver-muthe, dafs es sich bei meinem verehrten Gegner ebenso verh\u00e4lt. Auch er hat die angebliche Empfindung nicht gefunden, den angeblichen Empfindungsinhalt nicht vorgefunden oder empfunden. Er hat ihn erfunden. E. wird sagen, er habe ihn erschlossen. Aber eigene Empfindungsinhalte, die man nicht empfindet, erschliefsen, dies heilst eben, sie erfinden.\nEmpfindungsinhalte, Bewufstseinsinhalte \u00fcberhaupt, kann man bei sich vorfinden, und man kann Andere darauf hinweisen, so dafs nun auch die Anderen sie bei sich vorfinden. Dies Vorfinden ist der einzig m\u00f6gliche Beweis ihres Daseins. Ihr Vorgefundenwerden, das ist eben ihr Dasein. E. erschliefst die Empfindung der Aehnlichkeit, wie schon gesagt, nach der Regel : Alles, von dem ich ein Bewufstsein habe, ist ein Empfindungsinhalt, falls es nicht ein blofser Vorstellungsinhalt ist.\nDafs aber diese Regel nicht zutrifft, und dafs das Aehnlich-keitsbewufstsein ganz gewifs nicht Empfindungsinhalt oder eine Qualit\u00e4t von Empfindungsinhalten ist, dies h\u00e4tte E. aus eben den Beispielen, die er in dem fraglichen Zusammenh\u00e4nge anf\u00fchrt, mit voller Sicherheit erschliefsen k\u00f6nnen.\nIch kann mir, so sagt E., einen Hund und einen Wolf in Gedanken vergegenw\u00e4rtigen, und mir ihrer Aehnlichkeit bewufst werden. In diesem Falle, meint E., ist das Aehnlichkeitsbewufst-sein \u201enat\u00fcrlich\u201c nur Vorstellung. In der That ist es f\u00fcr Ebbinghaus nat\u00fcrlich, dafs es sich so verh\u00e4lt: Der Hund und der Wolf sind nur vorgestellt. Die Aehnlichkeit aber ist f\u00fcr E. eine Qualit\u00e4t, die an den \u00e4hnlichen Objecten vorgefunden wird, in unserem Falle eine Qualit\u00e4t des Hundes nnd des Wolfes; und Qualit\u00e4ten eines blos Vorgestellten k\u00f6nnen \u201enat\u00fcrlich\u201c nur vorgestellte Qualit\u00e4ten sein.\nIn Wahrheit aber ist es ganz und gar nicht nat\u00fcrlich, dafs in dem bezeichneten Falle die Aehnlichkeit nur Vorstellung sei. Vielmehr ist das fragliche Aehnlichkeitsbewufstsein, falls ich mir wirklich, wie E. annimmt, erst jetzt, in der Vorstellung, der Aehnlichkeit bewufst werde, \u201enat\u00fcrlich\u201c etwas ganz Anderes. Ich stelle mir nicht den Hund und den Wolf als einander \u00e4hnlich vor, so wie ich mir sie als behaart oder als vierbeinig vorstelle, sondern ich finde diese Aehnlichkeit, ich erlebe sie, wenn man","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nTh. Lipps.\nwill, ich nehme sie wahr; ich finde sie an den nicht wahr-genommenen, sondern nur vorgestellten Objecten; ich finde sie, erlebe sie, nehme sie wahr, genau in dem Sinne, in dem ich an wahrgenommenen Objecten Aehnlichkeit finde, erlebe, wahrnehme. Ich stelle den Eindruck der Aehnlichkeit nicht vor, sondern habe ihn, er ist nicht ein vorgestellter, sondern mein wirklicher gegenw\u00e4rtiger Eindruck.\nDer vorgestellte Hund und der vorgestellte Wolf sind Er-innerungs- oder Phantasiebilder. Das Bewufstsein der Aehnlichkeit dagegen, das ich aus dem gegenw\u00e4rtig, angesichts der Erinnerungsbilder vollzogenen Vergleich gewinne, ist weder Er-innerungs- noch Phantasiebild. Gesetzt, ich habe gestern zwei Menschen gesehen und in der unmittelbaren Wahrnehmung den Eindruck ihrer Aehnlichkeit gewonnen oder das unmittelbar ei-lebt, was ich mit dem Worte Bewufstsein der Aehnlichkeit meine. Dann kann ich mich jetzt allerdings, indem ich mich der beiden Menschen erinnere, zugleich jenes Aehnlichkeitseindruckes, odei jenes unmittelbaren Aehnlichkeitserlebnisses erinnern. In diesem Falle ist die Aehnlichkeit blofse Vorstellung. Vielleicht aber habe ich bei meiner gestrigen Wahrnehmung keinen Aehn-lichkeits ein druck gewonnen. Ich habe die beiden nicht verglichen. Vielleicht sah ich sie nicht zu gleicher Zeit; oder indem ich den zweiten sah, erinnerte ich mich nicht des ersten. Oder indem ich den einen sah, achtete ich nicht auf den anderen. Ich betrachtete jeden nur f\u00fcr sich. Jetzt ahei, in dei Erinnerung, stelle ich beide neben einander, und nun gewinne ich den Eindruck der Aehnlichkeit, genau in dem Sinne, in dem ich den Eindruck der Aehnlichkeit gewonnen haben w\u00fcrde, wenn ich sie gestern neben einander gesehen und in der unmittelbaren Wahrnehmung mit einander verglichen h\u00e4tte.\nVielleicht hatte ich auch gestern den Eindruck der Aehnlichkeit, weil ich auf gewisse Z\u00fcge speciell achtete. Und jetzt, indem ich mir beide Menschen in der blofsen Vorstellung vergegenw\u00e4rtige, und andere Z\u00fcge ins Auge fasse, etwa die Gr\u00f6fse, die Art zu gehen, zu sprechen etc., gewinne ich den Eindruck minderer Aehnlichkeit, oder gar den Eindruck entschiedener Un\u00e4hnlichkeit. Ich begreife vielleicht nicht mehr, wie ich die beiden \u00e4hnlich finden konnte, da ich sie jetzt so verschieden finde. \u2014 Ich denke, ich brauche nicht weiter zu reden, um den Unterschied zwischen der Vorstellung der Aehnlichkeit, dem","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Einige 'psychologische Streitpunkte.\n175\nreproduetiven Nachbilde eines Aehnlichkeitseindruckes, und dem Aehnlichkeitseindrucke selbst, zwischen der Erinnerung an die erlebte Aehnlichkeit und dem gegenw\u00e4rtigen Aehnlichkeits-erlebnifs eindringlich zu machen.\nDurch die hiermit bezeichnete Thatsache ist aber die Ebbing-HAUs\u2019sche Theorie widerlegt. Kann ich angesichts zweier Erinnerungsbilder den unmittelbaren Eindruck der Aehnlichkeit haben, d. h. ein Aehnlichkeitsbewufstsein, das nicht Erinnerungsbild ist, oder allgemeiner gesagt, kann das Bewufstsein der Aehnlichkeit blofser Erinnerungsinhalte ein gegenw\u00e4rtiges unmittelbares Erlebnifs sein, so steht fest, dafs Aehnlichkeit nicht eine Eigent\u00fcmlichkeit, ein Merkmal, eine Qualit\u00e4t dessen sein kann, das ich als \u00e4hnlich erkenne; dafs insbesondere die Aehnlichkeit zwischen Empfundenem nicht eine diesem Empfundenen anhaftende und in ihm mitempfundene Qualit\u00e4t sein kann; dafs es vor Allem ganz und gar nicht angeht, zu sagen, das Aehnlichkeitsbewufstsein sei die directe Wirkung eben der objectiven Reize, die die sogenannten Empfindungen verursachen. Denn ist Aehnlichkeit eines Empfundenen ein Mitempfundenes, eine mitempfundene Qualit\u00e4t dieses Empfundenen, dann kann Aehnlichkeit eines Vorgestellten nichts Anderes sein als eine mit-vorgestellte Qualit\u00e4t dieses Vorgestellten.\nIch wiederhole hier noch einmal Ebbinghaus\u2019 Versicherung: \u201eEs verh\u00e4lt sich mit Aehnlichkeit und Verschiedenheit genau ebenso wie mit Raum, Zeit und Ver\u00e4nderung; sofern sie dem sinnlich Empfundenen zukommen, sind sie gleichfalls durchaus sinnlich empfundene Ergebnisse.'4 Dies gilt in der That von Raum, Zeit und Ver\u00e4nderung. Das Bewufstsein der Ver\u00e4nderung an einem Vorgestellten, etwa der Ver\u00e4nderung eines vorgestellten Tones, ist selbstverst\u00e4ndlich nichts als Vorstellung dieser Ver\u00e4nderung. Ebenso ist das Bewufstsein einer r\u00e4umlichen oder zeitlichen Bestimmung an einem Vorgestellten nichts als Vorstellung der r\u00e4umlichen oder zeitlichen Bestimmung. Die r\u00e4umliche Ausdehnung einer Farbe, die zeitliche Dauer eines Tones ist unweigerlich nur vorgestellt, wenn die Farbe oder der Ton nur vorgestellt ist. V\u00f6llig anders dagegen verh\u00e4lt es sich mit der Aehnlichkeit. Aehnlichkeit zwischen Vorgestelltem kann blofse Sache der Vorstellung sein. Sie kann aber auch jetzt unmittelbar erlebt sein.\nSondern \u2014 es verh\u00e4lt sich mit Aehnlichkeit und Verschieden-","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nTh. Lipps.\nheit analog wie mit jedem Ich- und jedem Apperceptionserleb-nifs, z. B. mit dem Icherlebnifs \u2014 und zugleich Apperceptions-erlebnifs \u2014 Lust genannt. Ich kann mich eines Gegenstandes erinnern, und zugleich der Lust, die ich angesichts desselben f\u00fchlte. Hier ist die Lust lediglich yorgestellte. Ich kann aber ebensowohl einer Sache mich erinnern oder sie vorstellen, und an dem Vorgestellten jetzt thats\u00e4chlich Lust f\u00fchlen. Vielleicht f\u00fchlte ich ehemals angesichts der Wahrnehmung eines Gegenstandes Lust, jetzt in der Erinnerung aber f\u00fchle ich Unlust; oder umgekehrt.\nDiesen Sachverhalt habe ich schon vor langer Zeit als ein Kriterium daf\u00fcr bezeichnet, dafs Lust nicht eine Eigenschaft von Empfindungen, oder eine Empfindungsqualit\u00e4t sei. Nicht minder nun ist der analoge Sachverhalt bei der Aehnlichkeit und Verschiedenheit, und f\u00fcgen wir hinzu, bei allen Relationen \u00fcberhaupt, bei den Relationen des Plus und des Minus, der Causa-lit\u00e4t, der logischen Unvertr\u00e4glichkeit, oder wie sonst sie heifsen m\u00f6gen, ein Kriterium daf\u00fcr, dafs diese Relationen nicht etwas sind, das den gegenst\u00e4ndlichen Bewufstseinsinhalten als Merkmal zukommt, keine Qualit\u00e4ten eines einzelnen Empfundenen oder Vorgestellten, noch auch Gesammtqualit\u00e4ten oder Gestaltqualit\u00e4ten, sondern etwas von allem dem v\u00f6llig Verschiedenes, eigenartige Erlebnisse, die ich angesichts des Gegenst\u00e4ndlichen habe. \u2014 Es ist sonderbar, E. denkt nicht einmal an die M\u00f6glichkeit solcher Erlebnisse.\nFormuliren wir das Argument allgemein. Aehnlichkeit des Roth und des Violett ist zwar nicht ein Merkmal, wohl aber ein \u201ePr\u00e4dicat\u201c von Roth und Violett. Mit Verwendung dieses Begriffes d\u00fcrfen wir allgemein sagen : Ist ein Pr\u00e4dicat eines Gegenstandes, oder dasjenige, was wir in dem Pr\u00e4dicate dem Gegenst\u00e4nde zuerkennen, ein Merkmal des Gegenstandes, eine ihm selbst anhaftende, also in oder an ihm auffindbare Eigent\u00fcmlichkeit, Bestimmtheit, Qualit\u00e4t, so ist dies Pr\u00e4dicat empfunden bezw. wahrgenommen oder blos vorgestellt, je nachdem der Gegenstand in der Empfindung bezw. Wahrnehmung, oder in der blofsen Vorstellung gegeben ist. Umgekehrt, kann ein Pr\u00e4dicat eines Gegenstandes unmittelbar erlebt sein, w\u00e4hrend der Gegenstand nicht empfunden oder wahrgenommen, kurz, nicht unmittelbar erlebt, sondern nur als Gegenstand des reproduktiven \\ or-stellens, also als Inhalt der Erinnerung oder der Phantasie","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Einige psychologische Streitpunkte.\n177\ngegeben ist, so ist das fragliche Pr\u00e4dicat nicht ein Merkmal, eine Eigent\u00fcmlichkeit, eine Qualit\u00e4t des Gegenstandes, nichts an ihm Haftendes oder ihm Zugeh\u00f6riges in dem Sinne, in dem Merkmale, Eigenth\u00fcmlichkeiten, Qualit\u00e4ten demjenigen zugeh\u00f6ren, dessen Merkmale, Eigenth\u00fcmlichkeiten, Qualit\u00e4ten sie sind.\nSo bezeichnen die Pr\u00e4dicate \u201elustvoll\u201c, \u201eangenehm\u201c, \u201eerfreulich\u201c nicht Merkmale des Lustvollen, Angenehmen, Erfreulichen, da dasjenige, was sie besagen, unmittelbar erlebt oder gef\u00fchlt werden kann angesichts einer blofsen Vorstellung.\nSo ist die Wahrheit eines Wortes, die Gewifsheit eines Satzes, die Zweifelhaftigkeit einer Behauptung nicht ein Merkmal des Wortes, des Satzes, der Behauptung, da ich das unmittelbare Bewufstsein der Wahrheit haben, Gewifsheit erleben, Zweifel versp\u00fcren kann auch dem vorgestellten Worte, dem vorgestellten Satze, der vorgestellten Behauptung gegen\u00fcber.\nEbenso nun und aus gleichem Grunde sind die Pr\u00e4dicate der Aehnlichkeit und Verschiedenheit, und mit ihnen die Pr\u00e4dicate der Einheit, Mehrheit, Anzahl, der Wirklichkeit und Nicht-wirklichkeit, der causalen Zusammengeh\u00f6rigkeit, der Consonanz und Dissonanz u. s. w., kurz, alle Relationspr\u00e4dicate, nicht Merkmale von Gegenst\u00e4ndlichem, sie sind insbesondere auch nicht Gesammt- oder Gestaltqualit\u00e4ten.\nUnd was sind sie dann ? Ich sagte Apperceptionserlebnisse. Ich bestimme dies, was die Aehnlichkeit angeht, etwas genauer, indem ich sage, das Bewufstsein der Aehnlichkeit ist das unmittelbare Bewufstsein von einer Weise, wie Objecte in meiner Einheitsapperception sich zu einander stellen, oder es ist das Bewufstsein der eigenth\u00fcmlichen apperceptiven Vereinheitlichung, welche die Objecte verm\u00f6ge ihrer Beschaffenheit gewinnen, wenn ich sie jedes f\u00fcr sich appercipire und zugleich in einen einzigen Act der Apperception zusammenschliefse.\nAuch f\u00fcr Ebbinghaus ist die Aehnlichkeit von Roth und Violett nicht eine Eigenschaft des Roth und des Violett, sondern der beiden zusammen oder des Zusammen der beiden. Dies heilst aber nicht: Sie ist eine Eigenschaft des gegenst\u00e4ndlichen, d. h. des r\u00e4umlichen oder zeitlichen Zusammen. Sondern : Sie ist eine Eigenschaft, besser ein Pr\u00e4dicat, das den beiden Farben zukommt, wenn ich sie zusammennehme. Dies mein \u201eZusammennehmen\u201c ist das, was ich hier bezeichne\n12\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 28.","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nTh. Lipps.\nals Einheitsapperception oder als Zusammenschluss in einen einzigen Aet der Apperception.\nNiemand kann zweifeln, dafs ein Aehnlichkeitsbewufstsein ohne ein solches apperceptives Zusammennehmen unm\u00f6glich ist. In diesem apperceptiven Zusammennehmen \u00e4ndern sich aber die Gegenst\u00e4nde nicht, also ist das Pr\u00e4dicat, das in diesem Zusammennehmen neu entsteht, das Pr\u00e4dicat der Aehnlichkeit, nicht ein Merkmal der Gegenst\u00e4nde, sondern eine Bestimmtheit des Zusammengenommenseins. Sie ist eine Weise, wie die Gegenst\u00e4nde in die Einheitsapperception sich einf\u00fcg en, oder innerhalb der Einheitsapperception sich zu einander stellen, eine Weise ihres sich Vereinheitlichens f\u00fcr mein Be-wufstsein.\nWie aber diese Weise des sich Vereinheitlichens n\u00e4her beschrieben werden k\u00f6nne, lasse ich hier dahingestellt. Ich hoffe, wie schon oben angedeutet, in B\u00e4lde wenigstens eine Skizze einer Psychologie der Relationen zu ver\u00f6ffentlichen. Hier lag mir im Wesentlichen daran, zu zeigen, dafs die Sache minder einfach ist, als E. anzunehmen scheint, und zweifellos Viele, vielleicht\ndie Meisten, ihm glauben werden.\nDie Psychologie unserer Tage bedarf einer Reform von\nGrund aus.\n(Eingegangen am 22. Januar 1902.)","page":178}],"identifier":"lit32962","issued":"1902","language":"de","pages":"145-178","startpages":"145","title":"Einige psychologische Streitpunkte","type":"Journal Article","volume":"28"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:26:40.666886+00:00"}