Open Access
{"created":"2022-01-31T14:56:27.451260+00:00","id":"lit32964","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Kalischer, Edith","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 28: 199-252","fulltext":[{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"199\nAnalyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n(Plastik und Malerei.)\nVon\nDr. Edith Kalischee.\nI.\nDie vorliegende Untersuchung stellt sich die Aufgabe, den psychologischen Vorgang herauszufinden und zu analysiren, der sich bei aller \u00e4sthetischen Betrachtung, dagegen bei keinem aufser\u00e4sthetischen Verhalten findet. \u2014\nDieser Fragestellung gegen\u00fcber scheint sich sogleich eine methodische Schwierigkeit zu ergeben : das specifisch \u00e4sthetische Verhalten kann, so sollte man meinen, nur dann bestimmt werden, wenn ein fester Begriff des \u00e4sthetisch Wirksamen vorausgesetzt wird. Aber so wenig eine Analyse der Aufmerksamkeit einen Begriff der die Aufmerksamkeit erregenden Gegenst\u00e4nde zu Grunde zu legen braucht, so wenig setzt auch die Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation den Begriff der Gegenst\u00e4nde voraus, durch welche sie hervorgerufen wird. Vielmehr : die Gegenst\u00e4nde, durch welche ein psychischer Vorgang veranlafst wird, bilden ja, sobald man sie begrifflich zu fassen sucht, stets das Correlat dieses Vorgangs. Wie ..Werth\u201c nicht anders definirt werden kann denn als Gegenstand des Begehrens, das Begehren aber ohne einen Werth, auf den es sich richtet, nicht bestimmt werden kann, so ist auch das \u00e4sthetisch Wirksame nicht anders bestimmbar, denn als Correlat der \u00e4sthetischen Betrachtung. Wenn wir den psychischen Vorgang herausfinden, der nur dem Kunstwerk gegen\u00fcber eintritt, so haben wir zugleich gefunden, was das wesentlich K\u00fcnstlerische am Kunstwerk ist. Und umgekehrt : wenn wir \u2014 aus den Thatsachen der Kunstgeschichte \u2014 das Wesen des Kunstwerks erschlossen haben, so k\u00f6nnen wir daraus wiederum den Vorgang der \u00e4sthetischen Betrachtung ableiten. Ja, es kann","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nEdith Kalischer.\nzum Kriterium einer Analyse der \u00e4sthetischen Betrachtung gemacht werden, ob sich nach ihren Ergebnissen die historisch gegebenen Thatsachen der Kunst deuten lassen.\nDieser Erw\u00e4gung gem\u00e4fs wird die Untersuchung sich zweier, einander erg\u00e4nzender, Methoden bedienen m\u00fcssen: der Selbstbeobachtung und der Betrachtung der Kunstgeschichte. Was die blofse Selbstbeobachtung betrifft, so ist sie hier, wo auch lebhafte Gef\u00fchle in Frage kommen, in noch h\u00f6herem Grade als sonst, ihren Fehlerquellen, dem Mangel an Exactheit und der F\u00e4lschung durch vorgefafste Meinungen, ausgesetzt. Da nun die sonst \u00fcbliche Erg\u00e4nzung dieser Methode, das Experiment, an der Complicirtheit des Vorgangs scheitert, so erscheint es auch von dieser Seite geboten, einen anderen erg\u00e4nzenden Weg zur Erkenntnifs einzuschlagen. Ein solcher Weg ist nun die Betrachtung des Problems, dessen L\u00f6sung ein jedes Kunstwerk, dessen immer neue L\u00f6sung der \u2014 pragmatisch betrachtete \u2014 Entwickelungsgang der Kunst uns darbietet. Es entspricht dieser Weg der Methode der V\u00f6lkerpsychologie.1 Wie das Studium der allgemeinen geistigen Erzeugnisse, der Sprachen und Sprachentwickelungen, des Mythus, der Religions- und Sittengeschichte, so mufs auch das der Kunstgeschichte in den Gesichtskreis psychologischer Betrachtung ger\u00fcckt werden. Wir haben hier \u2014 in crystallisirtem Zustande gleichsam \u2014 geistige Vorg\u00e4nge vor uns, welche den Erfahrungsumfang des Einzelbewufst-seins \u00fcberschreiten. \u2014\nDie vorliegende Abhandlung erhebt weder den Anspruch, die Psychologie des \u00e4sthetischen Eindrucks ersch\u00f6pfend zu behandeln, noch auch den, den \u00e4sthetischen Genufs zu erkl\u00e4ren. Sie sucht lediglich einen f\u00fcr alle \u00e4sthetische Betrachtung charakteristischen Vorgang zu umschreiben. Wenn sie f\u00fcr diesen Vorgang den Namen der \u201e\u00e4sthetischen Contemplation\u201c in Anspruch nimmt, so glaubt sie einem alten philosophischen Sprach-gebrauche zu entsprechen. Denn die fr\u00fchere Aesthetik glaubte vielfach, gerade durch den mit diesem Namen bezeichneten Begriff, das specifisch \u00e4sthetisch Verhalten charakterisirt zu haben. Es erw\u00e4chst uns daher zun\u00e4chst die Aufgabe, die Inhalte, die bisher unter dem Begriff der \u00e4sthetischen Contempla-\n1 s. Wundt, Vorlesungen \u00fcber Menschen- und Thierseele. 3. Auflage, S. 10.","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der' \u00e4sthetischen Contemplation.\n201\ntion zusammengefafst wurden, kurz anzugeben und darzuthun, inwiefern sie sieh mit dem charakteristisch \u00e4sthetischen Zustand, den wir suchen, nicht decken.\nDen altlateinischen Ausdruck \u201eContemplation hat Kant in der Aesthetik angewandt und zwar in der Bedeutung des interesselosen Wohlgefallens. \u201eDaher ist das Geschmacksurtheil blos contemplativ, d. i. ein Urtheil, welches, indifferent in Ansehung des Daseins eines Gegenstandes, nur seine Beschaffenheit mit Gef\u00fchl der Lust und Unlust zusammenh\u00e4lt.\" 1 Schon im Alterthum bedeutet Contemplation den Gegensatz zum handelnden Leben, das beschauliche \u00fcber den Dingen Schweben. Im Mittelalter gewinnt der Begriff mehr die Bedeutung der wahrhaften, philosophischen oder religi\u00f6sen Erkenntnifs. Diese Bedeutung des Wortes schliefst aber Kant ausdr\u00fccklich aus \u201e. . . aber diese (sc. die \u00e4sthetische) Contemplation selbst ist nicht auf Begriffe gerichtet\u201c. Neuerdings hat sich K\u00fclpe (Der associative Factor in der Aesthetik) des Ausdrucks \u201eContemplation\u201c bedient, um damit das allen \u00e4sthetischen Eindr\u00fccken Gemeinsame, das er in der \u201eVersenkung in den Vorstellungsinhalt als solchen\u201c findet, zu bezeichnen.\nBei Kant werden nun unter dem Begriff der Interesselosigkeit zwei \u2014 als Correlativa gedachte \u2014 Bestimmungen zusammengefafst : das \u00e4sthetische Urtheil ist nicht nur ohne Beziehung zum Begehrungsverm\u00f6gen ; es ist auch ohne Interesse an der wirklichen Existenz des Gegenstandes. \u201eEtwas wollen und an dem Dasein desselben ein Wohlgefallen haben, d. i. daran ein Interesse nehmen, ist identisch.\u201c2 Interesselosigkeit bedeutet nicht nur psychologisch die Ausschaltung des Willens; der Begriff soll auch \u00fcber die Auffassung des \u00e4sthetischen Objects etwas aussagen : dies n\u00e4mlich, dafs uns seine Existenz gleichg\u00fcltig ist. Wir m\u00fcssen diese beiden Momente des Begriffs gesondert betrachten und beginnen mit der ersten psychologischen Bestimmung: der Ausschaltung des Willens.\n1\tKritik der Urtheilskraft \u00a7 5.\n2\tDie zun\u00e4chst sehr merkw\u00fcrdige Identificirung dieser beiden Factoren: \u201ean dem Dasein eines Dinges Wohlgefallen haben\u201c und \u201ees wollen\u201c, dieses in Beziehung setzen unseres Interesses zum Bewufstsein der Wirklichkeit enth\u00e4lt einen psychologisch wichtigen Gedanken, der zu weiterer Untersuchung auffordert.","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nEdith Kalischer.\nDie Aesthetiker des 18. Jahrhunderts, die sich von der rationalistischen Aesthetik zti emancipiren und der Eigenth\u00fcmlich-keit des \u00e4sthetischen Urtheils gerecht zu werden suchten, hatten den Gegensatz zwischen realer Erregung und \u00e4sthetischem Reiz (Dubos: phant\u00f4mes de passions), zwischen Begierde und \u00e4sthetischer Leidenschaftslosigkeit betont (Addison , Webb). 1 Fast gleichzeitig f\u00fchrten dann Crousaz und Hutcheson f\u00fcr diese Eigenth\u00fcmlichkeit des \u00e4sthetischen Urtheils den Begriff des interesselosen Wohlgefallens ein.\u20192 Nicht etwa, dafs diese Aesthetiker ein reales Interesse als Grund des \u00e4sthetischen Wohlgefallens leugneten; wenn sie vom interesselosen Wohlgefallen sprechen, so kommt es ihnen nur darauf an, das \u00e4sthetische A erhalten als subjectiv unabh\u00e4ngig von allen sonstigen Interessen, als ein eigenes Verm\u00f6gen zu charakterisiren. Crousaz giebt das Beispiel vom Vorzimmer des Richters: unser Interesse kann mit aller Intensit\u00e4t dem Urtheil des Richters entgegensehen; deshalb k\u00f6nnen wir doch ein Gem\u00e4lde im Vorzimmer des Richters betrachten und beurtheilen. Treffender ist Hutcheson\u2019s Beispiel vom bitteren Tranke : das Interesse an unserer Gesundheit kann uns dazu bringen, einen bitteren Trank zu nehmen, nicht aber, ihn s\u00fcfs zu finden. Diese Ummittelbarkeit, mit der das Gef\u00fchl auf eine Sinnesempfindung reagirt, findet er bei den \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen wieder. \u201eDies h\u00f6here Verm\u00f6gen (Sch\u00f6nheit zu empfinden) wird mit Recht ein innerer Sinn genannt, weil es hierinnen mit den anderen Sinnen \u00fcbereinkommt, dafs das Vergn\u00fcgen nicht aus einer Erkenntnifs von Grunds\u00e4tzen, Verh\u00e4ltnissen, Ursachen oder von der N\u00fctzlichkeit des Gegenstandes entspringt.\u201c \u201eKein Vorsatz von unserer Seite, kein ^ orhersehen eines Vortheils oder Nachtheils kann die Sch\u00f6nheit oder H\u00e4fslich-keit eines Gegenstandes ver\u00e4ndern.\u201c 3 Nach Kant hat besonders Schopenhauer das Sch\u00f6ne, seiner subjectiven Seite nach, als interesseloses Wohlgefallen zu charakterisiren versucht. I \u00fcr ihn ist das interesselose Anschauen so entscheidend, dafs er die objective Seite des Sch\u00f6nen: Das Erkennen der \u201eIdee\u201d des Dinges geradezu zu seinem Correlat macht.\n1\tGolbfriedrich, Kant\u2019s Aesthetik.\n2\tStein, Entstehung der neueren Aesthetik. Stuttgart 1886. S. i8c.\n0 Hutcheson, 1. Absehn. XII, Ursprung unserer Ideen vom Guten und Sch\u00f6nen. Uebers. v. Merk. 1762.","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n203\nEs sind haupts\u00e4chlich zwei Gr\u00fcnde, weshalb dieser Begriff des interesselosen Wohlgefallens, wie ihn Hutcheson, Crousaz, Home u. A. fassen, als seiner Aufgabe nicht gen\u00fcgend betrachtet werden mufs :\nErstens: Der Begriff des interesselosen Wohlgefallens enth\u00e4lt eine Determination, die von Bedeutung ist, wenn sie \u2014 was hier nicht zur Discussion kommen soll \u2014 wirklich leistet, was sie leisten soll : die Abgrenzung der \u00e4sthetischen Betrachtung gegen die Betrachtungsweisen der Dinge als n\u00fctzlich, angenehm etc. Aber der Begriff des interesselosen Wohlgefallens sagt nichts Positives dar\u00fcber aus, was eigentlich in uns vorgeht, w\u00e4hrend wir \u00e4sthetisch urtheilen. Er dr\u00fcckt nur das Verh\u00e4ltnifs des \u00e4sthetischen Zustandes zu anderen Bewufstseinszust\u00e4nden aus; dies Verh\u00e4ltnifs bildet aber nicht den Inhalt des \u00e4sthetischen Zustandes, den wir suchen.\nWunderbar w\u00e4re es, wenn die Interesselosigkeit, welche die \u00e4sthetische Betrachtung von anderen Betrachtungsarten unterscheidet, auch die \u00e4sthetische Betrachtung selbst, als psychologisches Gebilde, charakterisirte, und wenn dieses Gebilde durch eine solche \u2014 nachtr\u00e4glich aufgefundene! \u2014 Beziehung auch realiter zu Stande k\u00e4me.\nZweitens : Das interesselose Wohlgefallen als solches ist psychologisch unverst\u00e4ndlich. Wie kommen wir dazu, von allen Interessen zu abstrahiren? Es ist schlechterdings nicht einzusehen, warum wir zeitweise alle unsere Willensinteressen, deren Verfolg doch von gr\u00f6fster praktischer Wichtigkeit ist, ganz vergessen, unser nat\u00fcrliches im Kampfe ums Dasein erworbenes Verhalten zu den Dingen aufgeben sollten \u2014 es sei denn \u2014 die Dinge zw\u00e4ngen uns dazu. Die Interesselosigkeit ist kein Zustand, mit dem wir an die Betrachtung der Dinge herantreten, er wird erst durch einen eigenth\u00fcmlichen Bewufstseinszustand als dessen secund\u00e4re, wenn auch nothwendige Folge hervorgerufen. \u2014\nWir kommen zu dem zweiten Moment des Contemplations-begriffs : der Gleichg\u00fcltigkeit der \u00e4sthetischen Anschauung gegen die Existenz des Gegenstandes. Kant er\u00f6rtert dies ausf\u00fchrlich an dem Beispiel des Palastes: \u201eWenn mich jemand fragt, ob ich den Palast, den ich vor mir sehe, sch\u00f6n finde, so mag ich zwar sagen, ich liebe dergleichen Dinge nicht, die blos f\u00fcr das Angaffen gemacht sind, oder, wie jener Irokesische Sachern, ihm gefalle in Paris nichts besser als die Gark\u00fcchen . . . etc.","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nEdith Kalischer.\nMan kann mir alles dies einr\u00e4mnen und gut heifsen, nur davon ist jetzt nicht die Rede. Man will nur wissen, ob die blofse Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen begleitet sei, so gleichg\u00fcltig ich auch immer in Ansehung der Existenz dieser Vorstellung sein mag.\u201c ]\nWodurch dies Jenseits der Wirklichkeit und Unwirklichkeit bedingt ist, inwiefern es sich als Ergebnifs der \u00e4sthetischen Betrachtung, \u2014 als ein seeund\u00e4res Ergebnifs \u2014 herausstellt, wird aus unserer Untersuchung (s. S. 220, 221) hervorgehen. Dafs es nicht zum wesentlichen Inhalt der \u00e4sthetischen Betrachtung gemacht werden kann, erhellt schon daraus, dafs es \u2014 ebenso wie das interesselose Wohlgefallen im ersteren Sinne (bei C\u00dfOUSAZ etc.) \u2014 nur eine negative Aussage enth\u00e4lt.'1 2 Eben deshalb kann es aber auch nicht als ein wirkender Factor innerhalb der \u00e4sthetischen Betrachtung angesehen werden ; es sei denn, dafs man die scholastische \u201ecausa deficiens\" wieder einf\u00fchren wollte. \u2014\nII.\nDie Analyse der Contemplation der bildenden Kunst mufs unterscheiden zwischen den Gesichtseindr\u00fccken, die uns im Kunstwerk gegeben sind und den geistigen Vorg\u00e4ngen, die sich daran kn\u00fcpfen. Um das specifisch Aesthetische zu finden, scheint der einfachste Weg der zu sein, dafs wir die sinnlichen Eindr\u00fccke, die uns das Kunstwerk zur Bildung einer Anschauung giebt, mit denen vergleichen, die uns das t\u00e4gliche Leben bietet.3 Denn nicht fr\u00fcher k\u00f6nnen wir sagen, dafs wir die \u00e4sthetische Contemplation begreifen, als bis wir ihre gesetz-\n1\tKritik der Urtheilskraft \u00a7 2.\n2\tBei Kant selbst erhebt die \u00e4sthetische Contemplation durchaus nicht den Anspruch, das specifisch \u00e4sthetische Verhalten zu charakterisiren. Sie wird lediglich als Determination eingef\u00fchrt, bestimmt, das Sch\u00f6ne vom Angenehmen und Guten zu unterscheiden, eine Bestimmung des Sch\u00f6nen neben mehreren anderen.\n3\tEs sei beil\u00e4ufig erw\u00e4hnt, dafs eine solche Vergleichung nicht nur von \u00e4sthetischem, sondern auch von erkenntnifstheoretischem Interesse ist. So hebt es Helmholtz ausdr\u00fccklich hervor: ..Das Studium der Kunstwerke wird wichtige Aufschl\u00fcsse geben k\u00f6nnen \u00fcber die Frage, welche Theile und Verh\u00e4ltnisse unserer Gesichtseindr\u00fccke die Vorstellung von dem Gesehenen vorzugsweise bestimmen, welche dagegen zur\u00fccktreten.","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n205\nm\u00e4fsige Abh\u00e4ngigkeit von den Dingen dargethan haben, an denen sie sich entwickelt.1 2\nF\u00fcr die Raumvorstellung hat Hildebrand 2 eine solche Untersuchung ausgef\u00fchrt. Die Raum Vorstellung der Natur beruht auf einem unendlichen Erfahrungsaustausch der Gesichtsund Bewegungs -Vorstellungen. Schon zur Vorstellung der k\u00f6rperlichen Form eines Gegenstandes bedarf es eines Wechsels der Standpunkte, verschiedener Accomodationen des Auges, kurz der Bewegungen des Auges, deren einzelne Phasen nur zweidimensionale Eindr\u00fccke liefern. Die Malerei, indem sie auf die Fl\u00e4che beschr\u00e4nkt ist, ist gezwungen, die Fl\u00e4chenelemente so anzuordnen, dafs sie die Tiefenvorstellung zwingend hervorrufen. Die Plastik ordnet die k\u00f6rperliche Form so an, dafs sie wenigstens in einer Ansicht vom Gesichtseindruck aus erfafst werden kann. \u201eAuf solche Weise gelangt der K\u00fcnstler dazu, die Raumvorstellung und Form Vorstellung, welche urspr\u00fcnglich aus einem Complex unz\u00e4hliger Bewegungsvorstellungen bestehen, so anzuordnen, dafs uns ein Fl\u00e4cheneindruck mit starker Anregung zu einer Tiefenvorstellung \u00fcbrig bleibt, welchen alsdann das ruhig schauende Auge ohne Bewegungsth\u00e4tigkeit aufzunehmen im Stande ist.\u201c 3\nWorauf es hier also ankommt, ist dies, dafs das Kunstwerk eine Anschauung, die wir auch aus der Natur gewinnen, auf anderem W ege hervorbringt. Aus dem Kunstwerk sollen wir auch bei ruhendem Auge, aus rein zweidimensionalen Eindr\u00fccken auf unzweideutige Art die Raumvorstellung gewinnen.\n1\tWenn wir im Folgenden eine solche vergleichende Untersuchung \u2014 in ein paar Hauptz\u00fcgen \u2014 durchzuf\u00fchren suchen, so haben wir einer Menge von Thatsachen zu gedenken, die, gew\u00f6hnlich als \u201eblos technische Schwierigkeiten\u201c kurz abgethan, ebenso selbstverst\u00e4ndlich als allbekannt erscheinen. Wenn wir dennoch auf ihre Erw\u00e4hnung nicht Verzicht leisten, so geschieht dies, einmal, um hervorzuheben, wie wesentlich die Eigen-th\u00fcmlichkeit der einzelnen Kunstwerke, der Kunstepochen, der Kunstentwickelung von diesen selbstverst\u00e4ndlichen Thatsachen abh\u00e4ngt, sodann, um das allgemeine Princip, nach welchem sich \u00fcberall das Mittel der Kunst von dem des Lebens und \u2014 dementsprechend \u2014 die \u00e4sthetische Betrachtung von der allt\u00e4glichen unterscheidet, m\u00f6glichst scharf hervortreten zu lassen.\n2\tAdolf Hildebrand, Das Problem der Form in der bildenden Kunst.\n3\tHildebrand, Das Problem der Form in der bildenden Kunst. 1. Auflage, S. 65.","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nEdith Kalischer.\nGanz abgesehen von der immensen Bedeutung, welche den verschiedenen L\u00f6sungen dieses \u201eRaumproblems\u201c in der Geschichte der Kunst zukommt \u2014 ich erinnere an die diesbez\u00fcglichen Darstellungen von Loewy, Berenson, W\u00f6lflix \u2014 abgesehen auch davon, ob Hildebrand wirklich Recht hat \u2014 dafs ein K\u00fcnstler von seinem Range L\u00f6sung oder Nichtl\u00f6sung dieses Problems zum Kriterium f\u00fcr Kunst \u2014 Unkunst macht, wird gen\u00fcgen, um die \u00e4sthetische Bedeutung zu zeigen, welche der k\u00fcnstlerischen Umbildung des Raumes bei jedem Werk der bildenden Kunst zugesprochen werden mufs.\nGehen wir weiter zur Untersuchung der Frage, durch welche Mittel die Kunst im Gegensatz zur Wirklichkeit einen Gegenstand zur Anschauung bringt. Zun\u00e4chst das ganz Selbstverst\u00e4ndliche : das Gem\u00e4lde giebt, da es flach ist, dem rechten Auge dasselbe Bild, wie dem linken. Zweitens giebt es Gegenst\u00e4nde nur so, wie sie dem ruhenden Auge erscheinen.1 Alle die \"Verschiedenheiten der Ansichten, die sich aus der K\u00f6rper- und Augenbewegung ergeben und die wesentlich zur Auffassung der Gegenst\u00e4nde beitragen, fallen im Gem\u00e4lde weg. Aus dieser einfachen Thatsache geht das ganze Problem der Perspective hervor. Und vieles von dem, was an einem W erke der bildenden Kunst \u201eComposition\u201c, k\u00fcnstlerische \u201eAuffassung des Gegenstandes\u201c genannt wird, ist in der Wahl der Ansicht, in der H\u00f6he oder Ferne des Augenpunktes begr\u00fcndet, von dem aus der Gegenstand in seiner k\u00fcnstlerischen Erscheinung neu erstehen soll. Ja, durch eine blofse originelle Ansicht, eine frappante\n1 Hier ist unter dem ruhenden Auge nicht das im psychologischen Sinne \u201efixirende\u201c zu verstehen. Es ist bekannt, dafs die Maler h\u00e4ufig von der durch einen bestimmten Augenpunkt bedingten Perspective in der Darstellung bewufst abweichen, wenn sich daraus zu starke \\ erk\u00fcrzungen ergeben w\u00fcrden. Auch m\u00fcfsten ja, bei Innehaltung der strengen Fixation, alle Maler auf den Standpunkt der \u201ePositivisten\u201c gelangen, welche nur die Mitte des Bildes ausf\u00fchren, nach den Seiten zu dagegen Alles so darstellen, wie es im indirecten Sehen erscheint, d. h. also: die Formen in dei durch die \u201eSchachbrettt\u00e4uschung\u201c veranschaulichten Verzerrung, die Farben blasser und ohne Roth und Gr\u00fcn. \u2014 Es l\u00e4fst sich vielleicht sagen, dafs bei der zeichnerischen und malerischen Darstellung eines Gegenstandes sowohl, wie beim Betrachten des Bildes \u2014 diejenigen Augenbewegungen vorausgesetzt werden d\u00fcrfen, die bei einem \u2014 einen bestimmten Punkt fixirenden \u2014 Auge innerhalb des Blickfeldes m\u00f6glich sind. Fs ist klar, dafs die Augenbewegungen im t\u00e4glichen Leben, besonders im Verein mit Bewegungen des Kopfes, dieses Blickfeld fast stets \u00fcberschi eiten.","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n207\nVerk\u00fcrzung lassen sich sogar Wirkungen bildnerischer Komik erzielen, wie z. B. bei Th. Th. Heine.\nAbgesehen von diesen grundlegenden Beschr\u00e4nkungen, die sich der Erfassung der k\u00f6rperlichen Form im Kunstwerk entgegenzustellen scheinen, sind es besonders die Tasteindr\u00fccke, von denen im Kunstwerk abgesehen wird. Zur Vorstellung des Sammtes z. B. geh\u00f6rt unmittelbar seine sanfte Ber\u00fchrung. Der Maler mufs in Farben, Falten, Lichtreflexen allein die schwarze Sammetfl\u00e4che von schwarzem Tuch oder von Seide unterscheiden. Und lediglich durch die Behandlung der Oberfl\u00e4che, durch den Faltenwurf und die Art, wie sich der Stoff dem K\u00f6rper anschmiegt, vermag der Bildhauer das Stoffliche zu geben. Ganze Kunstrichtungen lassen sich durch den gr\u00f6fseren oder geringeren Nachdruck charakterisiren, den sie auf die Wiedergabe des Stofflichen legen. Man stelle die alten Niederl\u00e4nder und Holl\u00e4nder, bes. Rembbaxd \u2014 neben Cobnelius, eine Figur der pergamenischen Kunst \u2014 neben eine von Canova oder Thob-v7ali)sen ! \u2014 Ferner wird bei den meisten Bildern von der nat\u00fcrlichen Gr\u00f6fse abgesehen, durch Wiedergabe der Verh\u00e4ltnisse ist dem Eindr\u00fccke der Wirklichkeit gen\u00fcgt. Dabei \u00fcbt die absolute Gr\u00f6fse, in die der Gegenstand der Wirklichkeit in der Darstellung \u00fcbersetzt wird, eine bestimmte Wirkung aus. Wo wir Formen, die wir in einem ann\u00e4hernd bestimmten absoluten Gr\u00f6fsenmaafs kennen, in viel kleinerem Maafse wiederfinden, entsteht meist der Eindruck des Niedlichen, Zierlichen (der Eindruck des kleinen Kindes). Im umgekehrten Falle der Eindruck des Grofsartigen. Diese willk\u00fcrliche Verkleinerung und Ver-gr\u00f6fserung steht durchaus im Zusammenhang mit der Auffassung des Gegenstandes. So bemerkt Schxaase j, dafs in der holl\u00e4ndischen Genremalerei die Darstellung im verkleinerten Maafs-stabe wesentlich war, \u201etheils, um der Bedeutung der Gegenst\u00e4nde in der Enge des Hauses zu entsprechen, theils, weil die mit der Genauigkeit der Wiedergabe verkn\u00fcpfte Zuf\u00e4lligkeit und Gebrechlichkeit des Beiwerks die nat\u00fcrliche Gr\u00f6fse scheuen mufs.\u201d Das Resultat : dafs der Gegenstand erkannt wird, ist das Gleiche ; aber es wird hier besonders deutlich, wie sehr der Eindruck des Gegenstandes durch die Art seiner Darstellung modifient wird. Diese willk\u00fcrliche Uebersetzung der wirklichen Gr\u00f6fsen kann\n1 Schnaase, Niederl\u00e4ndische Briefe.","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nEdith Kalischer.\nbis zur v\u00f6lligen Abweichung von den nat\u00fcrlichen Verh\u00e4ltnissen gehen. So sieht Schn aase den Reiz der Er-zHEiMER\u2019schen Landschaft darin, dafs sie wie durch ein Verkleinerungsglas gesehen seien, dafs sie die Gegenst\u00e4nde so deutlich geben, wie man sie nur aus der N\u00e4he erkennen kann, zugleich aber so klein, wie sie nur aus der Ferne erscheinen. Aehnliches in Bezug auf die Farben findet sich bei Altdorfer etc.\nAm deutlichsten zeigt sich die Incongruenz der Mittel der Kunst an ihrer gr\u00f6fsten Aufgabe, an der Darstellung des Menschen. Im Leben gewinnen wir ein Bild von einem Menschen durch unz\u00e4hlige verschiedene Eindr\u00fccke. Die Entwickelung der griechischen Vasenmalerei zeigt ebenso wie die Entwickelung der Malerei und des Reliefs im Mittelalter, wie die f\u00fcr den Ge-sammteindruck maafsgebenden Elemente der Anschauung erst fast Glied f\u00fcr Glied erobert werden mufsten.1 Die Einzeleindr\u00fccke, aus denen wir das Bild eines Menschen gewinnen, sind so complexer Natur, so miteinander verschmolzen und so unbekannt, dafs es einer jahrzehntelangen Kunstentwickelung bedurfte, ehe z. B. die Bedeutung der Durchbildung des Mundes und der Lippen als Mittel des Ausdrucks erkannt wurde. (Erst von Euphronios.) Eine Parallele dazu bieten die lachenden Engelchen vom Bamberger Dom oder das archaische L\u00e4cheln in der Antike, ein ungeschickter Versuch, den freundlichen Ausdruck darzustellen, d. h. wir sind, so lange uns nicht der Versuch der Wiedergabe auf kl\u00e4rt, in v\u00f6lliger Unkenntnifs dar\u00fcber, auf welchen einzelnen sinnlichen Eindr\u00fccken die Anschauung eines freundlichen Gesichtes beruht. So unbeholfen die Wiedergabe des Ausdrucks im Anfang war, so souver\u00e4n sind dann die Mittel z. B. eines Valloton, der die Analyse der Anschauung in ihre Elemente so beherrscht, dafs er unter Weglassung sehr wesentlicher Theile des Gesichtes noch den Eindruck desselben v\u00f6llig erreicht. Dasselbe ist\u2019s mit dem Ausdruck durch Geb\u00e4rde. Das fr\u00fcheste Mittel, um den Ausdruck durch Geb\u00e4rden zu kennzeichnen, war die typische Festsetzung derselben, wie sie z. B. aus der byzantinischen Kunst her bekannt ist. Durch die neue Sprache seiner Geb\u00e4rden that Giotto einen so grofsen Schritt\n1 Vgl. J. Lange, Die Darstellung des Menschen in der altgr. Kunst. Strafsburg 1898.\nE. L\u00f6wy, Die Natur Wiedergabe in der \u00e4lt. gr. Kunst Rom K\u00f6l.","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n209\n\u00fcber den Byzantinismus hinaus. Bei der Vielheit der sinnlichen Momente, aus denen wir den Ausdruck gewinnen, l\u00e4fst sich nat\u00fcrlich derselbe Ausdruck auf die verschiedenste Art darstellen und die Art, den Ausdruck zu geben charakterisirt dann den Meister (die besondere Bewegungsform, die Donatello, die Michel Angelo, die Rembeand daf\u00fcr anwendet), ja, eine K\u00f6rperhaltung als Ausdruck einer bestimmten Gem\u00fcthsstimmung wird f\u00fcr ganze Epochen \u2014 die Gotik, die Ramses- und Buddhafiguren, die assyrische Kunst \u2014 charakteristisch.\nSchliefslich das Charakteristikum alles Lebendigen : die Bewegung. Die Kunst kann keine Gestalt darstellen ohne Bewegung \u2014 denn jede \u201eStellung\u201c ist Ausdruck einer Bewegung \u2014 und sie kann Bewegung nur durch Ruhe ausdr\u00fccken. Die Schwierigkeit des Problems wird deutlich, wenn man an die \u201egebundenen\u201c Figuren der archaischen Kunst denkt, an das Staunen des Alterthums \u00fcber den sagenhaften D\u00e4dalos, dessen Figuren von den Postamenten zu schreiten schienen. Indessen w\u00fcrde doch eine Behauptung \u2014 \u00e4hnlich der Lessing\u2019s \u2014 die bildende Kunst k\u00f6nne also keine Bewegung darstellen, ebenso absurd sein, wie etwa die : die Malerei k\u00f6nne keinen Raum darstellen, da ihr nur die Fl\u00e4che zur Verf\u00fcgung stehe. Wie es eine der Hauptaufgaben der Malerei ist, durch F\u00fcllung der Fl\u00e4che die Illusion des Raumes hervorzurufen, so auch die, durch ruhende Gestalten die Illusion der Bewegung zu wecken. Es handelt sich nicht um Vort\u00e4uschung der Bewegung, was der Kinematograph vollkommener leisten w\u00fcrde, sondern darum, dafs sich aus einer v\u00f6llig in sich ruhenden Figur in uns die Vorstellung ihrer Bewegung entwickele. Der Eindruck der Bewegung, den wir aus den Renaissancefiguren gewinnen, steigert sich \u2014 der Gotik gegen\u00fcber \u2014 in gleichem Maafse, wie der Eindruck der Ruhe. \u2014 Dies nun ist nicht etwa so zu verstehen, als schl\u00f6ssen wir aus der dargestellten Bewegungsphase auf die n\u00e4chstfolgende \u2014 so also, wie vom Laokoon gesagt worden ist, er sei so lebendig dargestellt, dafs, wenn man die Augen schl\u00f6sse, man ihn im n\u00e4chsten Augenblick in einer neuen Bewegung wieder zu sehen erwarte \u2014 sondern nur so : dafs man die Stellung, in der die Figur sich befindet, nachempfindet, und dafs die Vorstellung derjenigen K\u00f6rperempfindung, deren Ausdruck die Stellung der Figur ist, sich in uns entwickelt. Welche Stellung die f\u00fcr einen bestimmten Bewegungseindruck maafs-\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 28.\t14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nEdith Kalischer.\ngebende ist, diese Frage l\u00f6st jedes Kunstwerk neu. Der vom K\u00fcnstler gew\u00e4hlte Moment braucht durchaus nicht mit einer jener Stellungen zusammenzufallen, welche die Momentphotographie von einer sich bewegenden Gestalt entwirft. Von den Parthenonmetopen, die \u201ein Bewegung erstarrt\u201c sind, bis zu dem Fries, der die Bewegung in vollendeter Weise zur Darstellung bringt, von der Tyrannenm\u00f6rdergruppe bis zur Diana von Ephesos, gelangt man allm\u00e4hlich zu der Einsicht, dafs nicht das mittlere und nicht das Endstadium der Bewegung das f\u00fcr den Bewegungseindruck Maafsgebende ist, sondern das Anfangsstadium derselben. Neue Schwierigkeiten treten auf bei der Darstellung der Bewegung einer bekleideten Figur. \u201eDie Thatsache, dafs bei der energischen Bewegung des K\u00f6rpers die Gewandung in allen ihren Theilen mit in Flufs kommen mufs, hat erst bei Hieron einen ann\u00e4hernd richtigen Ausdruck gefunden.\u201c1 Aber die Wunder der Nike von Samothrake, der sog. Parzengruppe des Parthenongiebels, oder der Figuren des Botticelli\u2019sehen \u201eFr\u00fchlings\u201c beruhen wahrlich nicht zum geringsten Theile auf der Souver\u00e4nit\u00e4t, mit der dies Problem : das Verh\u00e4ltnifs des Gewandes zum bewegten K\u00f6rper, hier gel\u00f6st ist.\nWie wird nun Handlung durch die Kunst dargestellt ?\nEine Handlung erfahren wir fast niemals nur durch Gesichtseindr\u00fccke. Es geh\u00f6rt stets ein Wissen dazu und ein H\u00f6ren. Nun sind in der bildenden Kunst thats\u00e4chlich vielfach solche Handlungen dargestellt worden, die im Bewufstsein derer lebten, f\u00fcr die sie dargestellt wurden. Die Darstellung ausgegrabener, historischer Vorg\u00e4nge oder Personen, l\u00e4ngst vergessener mythologischer Scenen, ist eine Erfindung unk\u00fcnstlerischer Zeiten. Das Leben des heiligen Franziskus wuide f\u00fci die Franziskaner gemalt, d. h. f\u00fcr diejenigen, deren Bewufstsein von dem heiligen Leben dieses Mannes erf\u00fcllt war, die Ei-z\u00e4hlungen des Neuen Testaments f\u00fcr die Gl\u00e4ubigen, in denen sie lebten. Aber abgesehen davon, dafs eine solche Ueberein-stimmung in dem Wdssen des Publikums und dem des K\u00fcnstleis nur ein Product besonders g\u00fcnstiger Umst\u00e4nde ist und unter complicirteren \u2014 wie unseren modernen \u2014 Verh\u00e4ltnissen \u00fcberhaupt nicht m\u00f6glich \u2014 dieses Wissen gen\u00fcgt auch nicht. Es\n1 Hartwig, Griechische Meistervasen.","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\nv\n211\nliegt im Begriff der Handlung, dafs sie niemals nur durch einen Moment uns im Leben deutlich wird. F\u00fcr die Kunst ist daher die Wiedergabe einer Erz\u00e4hlung eine \u00e4ufserst schwierige Aufgabe. ..In den fr\u00fcheren Perioden der Malerei \u2014 welche \u00fcberhaupt unmittelbar f\u00fcr die poetische Vorstellung arbeiten \u2014 \u00fcbernimmt die zeitliche Auffassung, zu leisten, was H\u00f6he und Breite f\u00fcr die r\u00e4umliche Auseinandersetzung nicht verm\u00f6gen, und die successive Anschauungsform \u00fcberwiegt noch die simultane des Bildlichen selber.U1 Ueberall, wo auf einer Fl\u00e4che, an welcher der Beschauer entlang geht, eine Erz\u00e4hlung dargestellt werden soll, kann der Fortschritt der Handlung in aufeinanderfolgenden einzelnen Scenen zur Anschauung gebracht werden. So verf\u00e4hrt der Chronikenstil der orientalischen Kunst, so verfahren auch die mittelalterlichen und die Renaissancemaler, welche die Heiligenlegenden an den W\u00e4nden der Capellen erz\u00e4hlen ; und ganz analog ist auch die fortlaufende Darstellung des Parthenonfrieses. Wo dagegen auf einer kleineren, einheitlichen Fl\u00e4che eine Handlung zur Darstellung gebracht werden soll, tritt die Schwierigkeit ein, die successive Auffassung in die simultane zu \u00fcbersetzen. Da prefst nun die griechisch-archaische Kunst alles in eine Scene zusammen, ohne doch den Moment zu pr\u00e4eisiren. ..Die archaische Kunst will gleich alles erz\u00e4hlen. Es will ihr nicht in den Sinn, dafs sie nicht, wie die Poesie, den ganzen Verlauf der Handlung, sondern nur einen Abschnitt behandeln darf.\u201c1 2 Und ganz Analoges findet sich in der christlichen Malerei. ..So geben die Miniaturen der deutschen Rechtsb\u00fccher im 14. Jahrhundert, um den lebhaften Verkehr des Richters mit den Parteien zu schildern, wie er sich einmal sprechend nach links, dann nach rechts hinwendet, dem thronenden Manne zwei Paar H\u00e4nde, die nach der einen und nach der anderen Seite hin gesticuliren.\u201c3 So hat noch bei Boi :ticelli\u2019s DANTE-Zeichnungen der Mond, aus dem bald die seligen und bald die b\u00f6sen Geister den Dichter anschauen, zwei K\u00f6pfe. Wickhoee unterscheidet die distinguirende, completirende und continuirende Darstellungsart. Unter den beiden letzten\n1\tSchmabsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst. Leipzig, Verlag von Hirzel, 1899.\n2\tRobert, Bild und Lied. Berlin, Weidmann\u2019sche Buchhandlung, 1881. S. 14 ff. \u2014 Ebenda zahlreiche, ausgef\u00fchrte Beispiele.\n3\tWickhoff, Die Wiener Genesis-Handschrift.\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nEdith Kalischer.\nArten, wie sie auf r\u00f6mischen Sarkophagen, in der ganzen mittel-alterlichen Malerei, ja noch bei Michel Angelo Vorkommen, versteht er die Vereinigung mehrerer Scenen derselben Handlung auf einer ungetheilten Fl\u00e4che, wobei bei der cotinuii enden Darstellungsart dieselbe Figur wiederholt auftntt; em Verfahren, das bei der completirenden Art vermieden wird. Aus dieser hat sich bei den Griechen die \u2014 seit dem 17. Jahrhundert jetzt so gut wie ausschliefslich herrschende \u2014 distinguirende Art entwickelt, bei der die ganze Handlung durch die Darstellung eines ihrer Momente wiedergegeben wird. Hier nun kommt alles auf die Wahl des fruchtbaren Momentes an. ^ Man denke \u2014 um beliebiges herauszugreifen \u2014 an \u201edie 'Vertreibung des Heliodor\u201c von Rafael, (auch sein Sposalizio, \u2018j oder an Kem-brand\u2019s Darstellung von \u201eJosef und Potiphaiv Auf die Art, vie sich in der Rund-Plastik das Problem der Darstellung einer Handlung mit dem der Gruppenbildung zu einer \u2014 wie es scheint \u2014 unl\u00f6slichen Aufgabe verquickt, sei hier nur hingewiesen. Wieder ist die Kunst des Erz\u00e4hlens f\u00fcr k\u00fcnstlerische Eigenart charakteristisch ; sie kennzeichnet die Kunst des Quattrocento gegen\u00fcber der des Cinquecento, die Kunst von Florenz gegen\u00fcber der von Venedig.\nWie eine Handlung, so kann auch eine Idee durch em Kunstwerk dargestellt werden. Hier sind vor Allem festgewordene Symbole im Gebrauch. Ein Gerippe bedeutet den Tod, eine Frau mit Schwert und Waage die Gerechtigkeit etc. Soweit diese Symbole feststehend und aus der Dichtung \u00fcbernommen\nsind, ___ wie z. B. die mittelalterliche Darstellung der \u201eFrau\nWelt\u201c, deren R\u00fccken aus eklem Gew\u00fcrm gebildet ist \u2014 leisten sie nichts. Die Allegorie ist deshalb ein so zweifelhaftes Kunstgenre, weil die abstracte Idee zur Anschauung in gar keinem unmittelbaren Verh\u00e4ltnifs steht. Alle vorherbetrachteten Gegenst\u00e4nde der Darstellung waren wohl in der Wirklichkeit aus ganz anderen sinnlichen Momenten gewonnen, als in der Darstellung, aber zu allen diesen Gegenst\u00e4nden ist auch in der Wirklichkeit kein anderer Zugang, als die sinnliche Wahrnehmung. Zu der Vorstellung einer Idee kommen wir lediglich durch abstracte\n3 TJeber den Fortschritt dieses Gem\u00e4ldes in Bezug aut die Dai Stellung der Handlung \u2014 gegen\u00fcber dem des Perugino vgl. Wolflik, \u201eDie\nklassische Kunst\".","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n213\nGedankeng\u00e4nge. Personificationen der Tugend, der Kirche u. s. w. sind nur auf Umwegen m\u00f6glich und bedurften daher auch Anfangs der Beischrift. Es k\u00f6nnen nur diejenigen sinnlichen Erscheinungen zur Darstellung gelangen, aus denen uns eine Idee besonders stark anspricht. Die verschiedenen M\u00f6glichkeiten, die hierbei in Betracht kommen, k\u00f6nnen hier nicht er\u00f6rtert werden. Eine Analyse der allegorischen Darstellung w\u00fcrde eine Er\u00f6rterung \u00fcber das Verh\u00e4ltnis der abstracten zu den concreten Vor-stellungen voraussetzen. F\u00fcr den Zweck unserer Untersuchungen ist nur dieses wichtig: an Stelle der unz\u00e4hligen Anschauungen und Ahstractionen, durch die wir im Leben zum lebendigen Be-wufstsein einer abstracten Vorstellung kommen, setzt die Kunst einzelne Erscheinungen.\nDie Untersuchung, inwiefern die sinnlichen Eindr\u00fccke, aus denen wir im Leben Vorstellungen gewinnen, von denen verschieden sind, aus denen wir sie in der k\u00fcnstlerischen Darstellung empfangen, ergiebt als allgemeines Resultat dies : die Mittel, welche der bildenden Kunst zur Darstellung von Raum, K\u00f6rpern, Bewegung, Seele, Handlung und Idee zu Gebote stehen, sind den sinnlichen Eindr\u00fccken gegen\u00fcber, aus welchen wTir diese Vorstellungen im Leben gewinnen, wesentlich reducirt, einfacher und directer, es sind T heilin halte aus dem Complex sinnlicher Eindr\u00fccke, aus denen wir im Leben Anschauungen und Vorstellungen entwickeln. Davon, welche Theilinhalte f\u00fcr die Darstellung als charakteristisch herausgefunden werden, h\u00e4ngt die Entwickelung der Kunst und die Eigenth\u00fcmlichkeit einzelner Kunstwerke wesentlich ab.\nAber auch die sinnlichen Eindr\u00fccke selbst, welche die Kunst als Theilinhalte derer, die wir im Leben empfangen, bietet, sind denen des Lebens nicht gleich. Gleich die Fl\u00e4che, aus der wir den Raum gewinnen, ist im Gem\u00e4lde anders gegeben, als im Leben. Sie ist stets in absichtsvoller Weise gegliedert. Es scheint, dafs besonders die symmetrische Eintheilung der leichten Erfassung der Fl\u00e4che entgegenkommt. Sch\u00fcmann (Sch\u00e4tzung r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsen) hebt hervor, dafs die Aufmerksamkeit bequem nur zwei gleiche Linien zu umfassen vermag, wie sie auch bequem nur drei Elemente, die in gleichen Distanzen angeordnet sind, gleichzeitig umfafst. Aus T\u00e4uschungen in der Gr\u00f6fsen-sch\u00e4tzung geht ihm ferner hervor, dafs ,.Linien, die zur Medianebene symmetrisch liegen, eine besondere Tendenz haben, sich","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nEdith Keltischer.\neinheitlich zu verbinden\u201c. Danach w\u00e4re also die symmetrische Anordnung im Gem\u00e4lde ein Mittel, uns die Fl\u00e4che leicht \u00fcberschauen zu lassen. Und aus dieser Anleitung, welche durch eine symmetrisch gegliederte Fl\u00e4che dem Auge zur sicheren und v\u00f6lligen Auffassung dieser Fl\u00e4che geboten wird, liefse sich vielleicht der beruhigende Eindruck ableiten, der sich bei gleichfalls ruhig wirkenden Farben zum Weihevollen oder Religi\u00f6sen steigern kann. Daher ist auch f\u00fcr alle weihevollen Bilder \u2014 Altargem\u00e4lde \u2014 die symmetrische Anordnung die Regel, w\u00e4hrend bei Darstellungen heftiger Affecte Bewegung nach einer Richtung bevorzugt wird (Rubens). So liefse sich also das \u201emerxw\u00fcrdige , noch merkw\u00fcrdiger begr\u00fcndete Resultat erkl\u00e4ren, zu dem Schnaase in den ,.Niederl\u00e4ndischen Briefen\" gelangt. ,,Je mehr das architectonische Princip (die symmetrische Anordnung) im Gem\u00e4lde erhalten ist, desto mehr hat es religi\u00f6sen Ausdruck.\u201c Ein anderes Schema, das die Auffassung der Fl\u00e4che erleichtert, ist der Halbkreis. \u201eDie grofsen Meister von Giotto bis Raphael, ordnen die Handlung am liebsten in freien Curven \u2014 einer Ellipse etwa, die nach vorn sich \u00f6ffnet. Die vollkommenste Composition, die die Malerei kennt, die Schule von Athen, war hierin wie eine Offenbarung. Aber die Form des Halbkieises ist sogar in dem handlungslosen, streng schematischen Altarbild, der Santa Conversatione zu erkennen. Sie ist ein Reflex des r\u00e4umlichen Schemas, in dem die Welt vor uns steht: als Viertel einer Hohlkugel, ein halber Horizont, dar\u00fcber das Firmament, Sie pafst auch zu der nat\u00fcrlichen Bewegung des Auges, dessen Sehaxe, wenn es in der Accomodation an eine bestimmte Ferne beharrt, einen Halbkreis beschreibt. Sehr charakteristisch ist die Art der Fl\u00e4chenbildung bei Niccolo und Giovanni Pisano. Ebenso consequent wie Niccolo die Mitte betont, sucht Giovanni ihre F\u00fcllung durch eine Figur zu vermeiden. Seine Composition hat etwas Beklemmendes, wie ein schmales Thal, zu dessen beiden Seiten hohe Berge ansteigen. Es wird hier deutlich, wie die Abweichung von dem sinnlich Befriedigenden das Ausdrucksvolle in dem Kunstwerk hervorzubringen vermag. Es ist bekannt, wie verschieden das Breitformat im Gegensatz zum Hochbild wirkt, Man hat gezeigt, wie die Pyramide in den Madonnencompositionen Rafael\u2019s im\n1 s. Justi, Michelangelo. Leipzig, Breitkopf u. H\u00e4rtel, 1900. S. 101.","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n215\nLaufe seiner Entwickelung immer weniger steil wird. Es werden die Abweichungen von der sinnlich wohlthuendsten Gliederung der Fl\u00e4che bewufst als Ausdrucksmittel verwendet.\nWie die Fl\u00e4che, so sind auch Farben und Helligkeiten im Gem\u00e4lde anders gegeben, als in der Natur. Helmholtz 1 hat berechnet, dafs bei grofsem Oberlicht und heller Wolkenbeleuchtung das hellste Weifs auf einem Gem\u00e4lde nur V20 von der Helligkeit des direct von der Sonne beleuchteten Weifs haben k\u00f6nnte. Meist werde es nur 1/4w sein. Ferner: Die Beleuchtung durch die Sonne ist 800 000 mal st\u00e4rker, als die hellste Vollmondbeleuchtung. Die hellsten Farben des Malers sind nur 100 mal so hell, als seine dunkelsten Schatten. Dennoch ist es verm\u00f6ge der Wirksamkeit des WEBE\u00df-\u2019schen Gesetzes m\u00f6glich, dafs wTir, ohne durch die starken Lichter erm\u00fcdet und angestrengt zu werden, aus dem Gem\u00e4lde einen Eindruck empfangen, der nicht wie die Carricatur der wirklichen Landschaft wirkt. Bei sehr starkem Licht ist das Auge f\u00fcr Unterschiede der Helligkeit unempfindlich. Den Eindruck des Blendenden, den wir aus solcher Ueber-reizung des Auges in der Natur gewinnen, erreicht der Maler, indem er bei einer mittleren Helligkeit die Farben der Gegenst\u00e4nde alle gleich hell macht (Helmholtz). Dasselbe ist\u2019s mit den Farben; die subjectiven Farbenerscheinungen, z. B. die Contrastwirkungen, die Irradiationserscheinungen, die im Auge durch die intensiven Farben hervorgerufen werden, werden im Gem\u00e4lde objectiv dargestellt. \u2014 Es ist aber nicht Unverm\u00f6gen, weshalb die Kunst auf die intensiven Wirkungen der Wirklichkeit verzichtet, \u201eTransparentbilder und Glasmalereien k\u00f6nnen viel h\u00f6here Grade von Helligkeit, viel ges\u00e4ttigtere Farben ben\u00fctzen. Bei Dioramen und Theaterdecorationen k\u00f6nnen wir mit starker k\u00fcnstlicher Beleuchtung, n\u00f6thigenfalls mit elektrischem Licht nachhelfen. \u2014 Aber w\u00e4ren h\u00f6here k\u00fcnstlerische Wirkungen mit sonnenbeleuchteten Farben zu erreichen, wir w\u00fcrden unzweifelhaft Gem\u00e4lde haben, die davon Vortheil z\u00f6gen\u201c (Helmholtz).\nWarum also verzichtet die Kunst auf die Eindr\u00fccke, welche die Wirklichkeit zu gew\u00e4hren vermag? \u2014 Die Untersuchung der sinnlichen Eindr\u00fccke, welche die Kunst anwendet, ergiebt, dafs die Kunst die Auffassung dieser uns wesentlich erleichtert,\n1 Optisches \u00fcber Malerei. Vortr\u00e4ge uncl Reden Bd. 2.","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nEdith Kalischer.\nindem sie den subjectiven Bedingungen des Sehens Rechnung tr\u00e4gt.\nVergegenw\u00e4rtigt man sich nur die aller allgemeinste That-sache der bildenden Kunst, dafs sie lediglich durch Gesichtseindr\u00fccke Dinge wiedergiebt, deren Vorstellung wir im Leben nur durch das Ineinanderwirken vieler und disparater Sinneseindr\u00fccke gewinnen, fafst man ins Auge, dafs Zeichnung, Radirung, Holzschnitt u. s. w. auch noch von der Farbe als einem wesentlichen Element der Anschauung abstrahiren und lediglich durch den Umrifs und die Helligkeitsabstufungen die Vorstellung der Dinge erwecken, bedenkt man ferner, wie der Dilettantismus von der Kunst sich immer durch die Umst\u00e4ndlichkeit und Breite seiner Mittel unterscheidet, wie die Entwickelung eines jeden K\u00fcnstlers und jeder Kunstepoche immer nach der Richtung der gr\u00f6fseren Vereinfachung der Mittel geht, und wie auf der Eigenart dieser Mittel \u2014 wie wir sahen \u2014 die Eigenart der Wirkung beruht, betrachtet man die k\u00fcnstlerische H\u00f6he der archaischen Kunst und die k\u00fcnstlerische Unm\u00f6glichkeit eines Eklekticismus, der das Helldunkel Coreeg-io\u2019s mit der scharf umgrenzten Form Rafael\u2019s vereinigen will, und erinnert man sich schliefslich des Vergn\u00fcgens, das der Anblick von Handzeichnungen grofser Meister gew\u00e4hrt \u2014 nach Morelli\u2019s Ausspruch, das gr\u00f6fste Vergn\u00fcgen, das einem Sterblichen zu Theil werden kann \u2014 so sieht man sich zu dem Schl\u00fcsse gedr\u00e4ngt, dafs der eigenth\u00fcmliche Zustand, in den uns die Betrachtung der bildenden Kunst versetzt, darin besteht, dafs ein Minimum sinnlicher Eindr\u00fccke, auf welches die Aufmerksamkeit fortgesetzt concentrirt ist, ein Maximum von Bewufstseins-inhalten (zun\u00e4chst Vorstellungen) anregt.1\nDer Zustand der Contemplation ist also durch zwei entgegengesetzte psychische Vorg\u00e4nge charakterisirt : einerseits sind wir ganz Auge, unsere ganze Aufmerksamkeit ist den Gesichtseindr\u00fccken zugewandt, andererseits ist ein Gedr\u00e4nge von Vorstellungen in uns von solcher Intensit\u00e4t und F\u00fclle, dafs es die Enge des Bewufstseins zu sprengen scheint. Das Auge haftet an den Formen des Marmors und in der Vorstellung entsteht immer neu das Bild eines biegsamen, bewegten, lebenswarmen\n1 Das N\u00e4here \u00fcber das Verh\u00e4ltnifs der sinnlichen Eindr\u00fccke zu den reproducirten Vorstellungen s. Cap. III.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n217\nK\u00f6rpers. Es ist viel \u00fcber die Illusion gesprochen worden, die ein Kunstwerk erweckt. Das ist in der Consequenz der ber\u00fchmte, weiter nicht discutable Standpunkt des Wachs-figurencabinetts. Aus den allgemeinsten Thatsachen der k\u00fcnstlerischen Darstellung, die wir soeben betrachtet haben, geht hervor, dafs es gerade die Erweckung einer Vorstellung mit scheinbar unzul\u00e4nglichen Mitteln ist, auf wrelche die Darstellung hinausl\u00e4uft, dafs, wie \u00fcberall in der Kunst, der Ton auf den Mitteln liegt, nicht auf dem Resultat. Aus den Schranken des Materials und der Technik erwachsen die Werthe der Kunst. Denn nur das Verh\u00e4ltnifs von Mittel und Resultat ruft jenen eigenth\u00fcmlichen, in sich widerspruchsvollen Zustand der \u00e4sthetischen Betrachtung hervor. Nicht, dafs wir die Raumvorstellung gewinnen, ist das Entscheidende im Bilde, sondern, dafs wir sie aus der Fl\u00e4che gewinnen ; nicht, dafs wir eine bewegte Figur sehen, sondern dafs uns der Eindruck der Bewegung aus dem todten Marmor, aus der farbigen Fl\u00e4che, aus ein paar Bleistiftstrichen entgegentritt. Daher ist es immer ein Symptom k\u00fcnstlerischer Cultur, wenn man das Material betont, die Eigenart der Holz-, Bronce- und Marmortechnik, der graphischen Kunst, der Oel-, Tempera- und Aquarelltechnik er\u00f6rtert. Man weifs, welche Bedeutung der noch unbehauene Marmorblock f\u00fcr Michelangelo besafs. Er sah seine Statue darin vorgebildet. ..Der Stein scheint von ihm das Leben zu fordern und reizt ihn es zu befreien. Aber er l\u00e4fst ihn auch z\u00f6gern die definitive Befreiung zu vollziehen, die Zwischenr\u00e4ume herauszuschlagen, die Br\u00fccken zu durchbrechen, die hervorragenden Theile abzul\u00f6sen\u201c (Justi). Michelangelo hat wie kein anderer das Wesen des Steins in seinen Statuen zum Ausdruck gebracht. Wer behauptet, \u00fcber dem dargestellten Gegenst\u00e4nde sollten wir den Marmor vergessen, m\u00fcfste consequenterweise auch sagen, \u00fcber dem dargestellten Raume sollten wir die Flachheit des Gem\u00e4ldes vergessen. \u2014\nDie Betonung des Materials kann auf ganz verschiedene Art erfolgen. Man kann es hervorheben, indem man es seiner Natur gem\u00e4fs behandelt, indem man am Marmor die tief einschneidenden Falten, am Holz die weiche Rundung, an der Tempera das Ineinandermischen der Farben vermeidet. Man kann es aber auch hervorheben, indem man ihm zu widerstreben scheint. In diesem Sinne sind die fliegenden Figuren des Barock","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nEdith Kalischer.\naufzufassen ; so bewundert Cassiodok an den alten r\u00f6mischen S\u00e4ulen, dafs sie wie fliefsend oder aus Wachs erschienen, da sie doch aus hartem Metalle seien. Die Contemplation ist in beiden F\u00e4llen verschieden. Im zweiten Fall ist die Spannung der Gegens\u00e4tze gr\u00f6fser, es erfolgt ein gewaltsames Hin- und Herschwingen der Vorstellung; es wirkt aufregend, anspannend. Wo hingegen der Anblick einer Silberschale von van der Stapfen dem einer harmonischen in sich zur\u00fcckkehrenden Linie gleicht. Die Vorstellung des Gegenstandes, die sich aus dem geformten Silber entwickelt, steht in keinem Widerspruch zu dem Silber selbst, sie ist nur wie die Ausgestaltung all des Fliefsenden, Weichen, Zarten, das f\u00fcr uns schon in der Vorstellung des Materials enthalten ist.\nUnd wie durch die verschiedene Art, in der das Material hervorgehoben werden kann, so kann auch durch die gr\u00f6fsere oder geringere Ausf\u00fchrlichkeit, mit der die sinnlichen Eindr\u00fccke gegeben sind, die Contemplation modificirt werden. Man stelle ein EviCsches Portr\u00e4t neben eines von Franz Hals, von Manet, eine Landschaft von Meissonnier neben eine von Monet. Es ist aber wohl zu beachten, dafs hier eigentlich nur die Glieder der Gleichung verschieden sind ; das Verh\u00e4ltnifs selbst bleibt dasselbe. Die Vorstellung der Person, die sich aus dem Eyk\u2019sehen Portr\u00e4t entwickelt, ist um genau so viel inhaltreicher d. h. an Merkmalen reicher!) als die entsprechende aus dem Manetportr\u00e4t gewonnene, wie die sinnlichen Eindr\u00fccke, aus denen ich diese Vorstellungen gewinne, bei van Eyk zahlreicher auf der Fl\u00e4che zusammengedr\u00e4ngt sind, als bei Manet. Der Verschiedenheit in der reproducirten Vorstellung, dem Ergebnifs der \u00e4sthetischen Betrachtung, entspricht genau die Verschiedenheit beim Beginn derselben bei den sinnlichen Eindr\u00fccken. Im zu begreifen, warum \u2014 \u00fcber diese Gleichheit des Verh\u00e4ltnisses hinaus \u2014 dennoch die Wirkungen beider Kunstarten specifisch verschieden sind, m\u00fcssen wir auf das Verh\u00e4ltnifs der Skizze zum ausgef\u00fchrten Gem\u00e4lde einen Blick werfen. \u2014 Liegt doch \u2014 ohnedies \u2014 der Einwand nahe, dafs unsere Schilderung der \u00e4sthetischen Contemplation sich weniger auf sorgf\u00e4ltig ausgef\u00fchrte, als auf impressionistisch behandelte Kunstwerke und auf Skizzen beziehe. \u2014\nDie Gegen\u00fcberstellung von Skizze und ausgef\u00fchrtem Kunstwerk liegt in der geraden Verl\u00e4ngerung der Linie, die von","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n219\nvan Eyk zu Manet, von Meissonnier zu Monet hin\u00fcb erf\u00fchrt. Wenn die Impressionisten die Ausf\u00fchrung im Einzelnen vernachl\u00e4ssigen, das Material : den Pinselstrich, betonen, den Schein einer bewufsten Composition \u00e4ngstlich zu vermeiden suchen, \u2014 so streben sie bewufst die Wirkung der Skizze an. In der That! Die Wirkung der Skizze ist generell verschieden von aller Wirkung der ausgef\u00fchrten Gem\u00e4lde. Wie die Skizze ihrer Entstehung nach nichts ist, als die Niederschrift des entscheidenden k\u00fcnstlerischen Eindrucks, so giebt sie auch ihrer Wirkung nach nur das entscheidend K\u00fcnstlerische. Es ist hier ein \u00fcberw\u00e4ltigender Contrast. Das Material der Darstellung kommt hier in seiner ganzen Incongruenz zum Dargestellten zum Ausdruck. Die entwickelte Vorstellung braucht weder besonders lebhaft, noch besonders inhaltreich zu sein; dafs sich \u2014 aus diesen Mitteln \u2014 \u00fcberhaupt eine Gegenstandsvorstellung zwingend entwickelt \u2014 das ist das Entscheidende. Dieser fundamentalen Thatsache gegen\u00fcber, gegen\u00fcber dem Dafs Ueberhaupt, sind alle Unterschiede zwischen inhaltreicher und inhaltarmer Vorstellung geringf\u00fcgig. Das wesentlich K\u00fcnstlerische wird daher aus Skizzen und impressionistisch gemalten Bildern immer st\u00e4rker ansprechen als aus sorgf\u00e4ltig ausgef\u00fchrten Gem\u00e4lden. Daher das Malerwort, dafs es die schwerste Kunst sei, im Gem\u00e4lde die Skizze zu erhalten.\nAuf der anderen Seite nun wird gerade die Verwischung der Mittel, die Gl\u00e4tte der Ausf\u00fchrung ger\u00fchmt. So Crowe und Cavaloaselle : \u201eIn Bezug auf das Colorit ist der Genter Altar\nunbedingt vollendet.....Von Pinselstrichen bemerkt man keine\nSpur; die Hand, das Gesicht, gl\u00e4nzen wie Bronce.\u201d \u2014 Wie l\u00f6st sich dieser Widerspruch? \u2014\nEs ist wahr : das Urph\u00e4nomen der k\u00fcnstlerischen Wirkung \u2014 die Discrepanz zwischen Mittel und Ergebnifs \u2014 tritt uns in der Skizze stark entgegen \u2014 aber auch nichts als das. Die Skizze verzichtet auf alle sinnliche Annehmlichkeit, Eindringlichkeit und Ausdrucksf\u00e4higkeit, und also auf die Wirkungen, die, wie wir sehen werden, aus diesen Factoren hervorgehen. Man denke z. B. an Ceivelll Durch die Gewalt der sinnlichen Eindr\u00fccke, aber auch allein schon durch ihre gr\u00f6fsere Complicirt-heit, durch das Interesse, welches den Formen, Farben, Helligkeiten und Linien noch aufserhalb ihrer wesentlich k\u00fcnstlerischen Function, ihrer Associativkraft, zukommt, \u2014 durch diese","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nEdith Kalischer.\nEigenwirkung der sinnlichen Eindr\u00fccke k\u00f6nnen decorative, ornamentale und Gef\u00fchlswirkungen erzielt werden. Neben den gegenst\u00e4ndlichen Inhalt des Kunstwerks und ihn in mannigfacher Weise beeinflussend tritt also hier sein decorativer oder ornamentaler Gehalt. Auch hier also geht mit der Steigerung der Mittel eine Steigerung des Resultates Hand in Hand. \u2014\nIst die \u00e4sthetische Contemplation durch das gegens\u00e4tzliche Verhalten der genannten psychischen \\ org\u00e4nge charakterisirt, so leuchtet ein, dafs innerhalb dieses Bewufstseinszustandes f\u00fcr ein Interesse an der Existenz des Objects oder f\u00fcr ein Bewufst-sein von der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit desselben kein Raum ist. So wenig man sich bei einer mathematischen Figur \u00fcber ihre Wirklichkeit oder Unwirklichkeit Rechenschaft giebt, so wenig kann dies bei Betrachtung der sinnlichen Eindr\u00fccke geschehen, auf welche die Aufmerksamkeit w\u00e4hrend der \u00e4sthetischen Contemplation concentr\u00e2t ist. Die Ausschaltung des Interesses ist ein allgemeines Merkmal der concentrirten Aufmerksamkeit, nicht der \u00e4sthetischen Contemplation.\nAber auch die Eigent\u00fcmlichkeit der Objecte, auf welche die Aufmerksamkeit concentrirt ist, tr\u00e4gt dazu bei, das W irk-lichkeitsbewufstsein w\u00e4hrend der \u00e4sthetischen Betrachtung auszuschalten. Jedes Kunstwerk wendet sich ausschliefslich \u2014 oder wenigstens vorwiegend, \u2014- an einen Sinn, die bildende Kunst an den Gesichtssinn. Man denke aber an den gespenstischen Eindruck, den lebhaft gesticulirende und die Lippen bewegende Menschen aus der Entfernung machen, \u2014 wenn man ihre Worte nicht mehr h\u00f6ren kann, \u2014 um die Bedeutung der Geh\u00f6rseindr\u00fccke f\u00fcr das Wirklichkeitsbewufstsein zu w\u00fcrdigen.1 Duich Lautlosigkeit wird dasselbe ebensosehr vermindert, wie es durch intensive Geh\u00f6rseindr\u00fccke (L\u00e4rm aller Art) gesteigert wird. Nun giebt es zwar Bilder, z. B. Jan SrEEx\u2019sche \u201eKinderfeste\u201d u. dgl., vor denen man sich die Ohren zuhalten m\u00f6chte. Aus dem Alterthum wird von einem Gem\u00e4lde des Aristides berichtet, das einen \u201e Flehendendarstellte, dessen Stimme man zu h\u00f6ren meinte. Aber diese \u2014 \u00fcberhaupt nicht mehr rein \u2014 k\u00fcnst-\n1 In diesem Beispiel liegt der ganze Sinn, die Ursache clei sichtbaren Erscheinung nur im H\u00f6rbaren. Daher geht hier neben dei Aufhebung des Wirklichkeitsbewufstseins auch das Bewufstsein dieser Aufhebung einher.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n221\nlerische \u2014 Wirkung (s. S. 228) kommt doch als solche nur insofern in Betracht, als aus dem Anblick der offenen M\u00fcnder die Vorstellung des Schreiens sich entwickelt; wobei der Contrast zwischen der Vorstellung und dem blos Gesehenen so grofs ist, dafs er deutlich \u2014 meist als l\u00e4cherlich \u2014 zum Be-wufstsein kommt.\nAus diesem Urph\u00e4nomen der Kunst : dafs sie sich nur an einen Sinn wendet \u2014 woraus sich alle k\u00fcnstlerischen Gesetze und Wirkungen beinahe rein deductiv ableiten liefsen \u2014 aus dieser Thatsache l\u00e4fst sich nicht nur psychologisch, sondern auch logisch die Ausschaltung des Wirklichkeitsbewufstseins in der \u00e4sthetischen Betrachtung erkl\u00e4ren. Es ist zu bedenken, dafs Wirklichkeit ein metaphysischer Begriff ist. Wir legen ihn den Gegenst\u00e4nden der Erfahrung bei, weil wir ihn, wie die \u201eGegenst\u00e4nde\u201c selbst, aus dem Zusammenwirken vieler und z. Th. disparater Sinneseindr\u00fccke gewinnen. Das Leben enth\u00e4lt hier eine Metaphysik, welche der Kunst, da sie rein anschaulich ist, fremd bleiben mufs.1\nAus dieser Thatsache des k\u00fcnstlerischen Jenseits der Wirklichkeit und Unwirklichkeit ergiebt sich die Forderung, die schon K\u00fclpe hervorhebt : \u201eAlle (k\u00fcnstlerischen) Gegenst\u00e4nde m\u00fcssen aus der Wirklichkeit so weit herausgehoben werden, dafs die Erinnerung an die Wirklichkeit ganz verschwindet.\u201c2 So wird die Statue durch ihren Sockel, das Bild durch seinen Rahmen aus der Sph\u00e4re der umgebenden Wirklichkeit herausgehoben. Dieselbe Absicht leitete Richard Wagner, wenn er das Theater w\u00e4hrend der Vorstellung verdunkeln, das Orchester unsichtbar machen liefs und den Schauspielern die naturalistischen Geb\u00e4rden untersagte. Im Portr\u00e4t, wo die Wiedergabe einer wirklichen Person zumeist der Zweck der Darstellung ist, wird doch das Bewufstsein der Wirklichkeit noch dadurch herabgemindert, dafs die Figur willk\u00fcrlich abgeschnitten, vor einen imagin\u00e4ren Hintergrund gesetzt, in der Beleuchtung unmotivirt gelassen wird.\n1\tDiesen Gedanken entnehme ich einer m\u00fcndlichen Aeufserung des Herrn Professor Simmel, der so freundlich ist, mir die Ver\u00f6ffentlichung zu gestatten.\n2\tDer associative Factor in der neueren Aesthetik. Vierteljahrsschrift f. wiss. Philos. 1899.","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nEdith Kalischar.\nIII.\nBei dieser Umschreibung der gegens\u00e4tzlichen Elemente in der \u00e4sthetischen Betrachtung haben wir der Analyse vorge-griften. Wir haben gefunden, dafs, was in der Kunst sinnlich gegeben ist, nur Theilinhalte der sinnlichen Eindr\u00fccke sind, aus denen wir im Leben Anschauungen und Vorstellungen gewinnen. Da nun aber die Kunst Gegenst\u00e4nde darstellt, so m\u00fcssen wir annehmen, dafs den in einem Kunstwerk gebotenen sinnlichen Eindr\u00fccken eine hohe Associativkraft innewohnt, deren Wirken in uns den charakteristisch \u00e4sthetischen Zustand hervorbringt. Nun handelt es sich darum, die Art der so hervorgerufenen Associationen zu bestimmen.\nNehmen wir zuerst den einfachsten Fall. Dafs uns das Portr\u00e4t an die Person erinnert, die es darstellt, gilt gew\u00f6hnlich als typisches Beispiel f\u00fcr die Reproduction durch Aehnlichkeit. Die Helligkeitsverh\u00e4ltnisse und die Formen sind denen des Originals \u00e4hnlich und sollen daher die wirklichen Formen reproduciren.\nDagegen bemerkt schon K\u00fclpe1, dafs wir durch das Portr\u00e4t durchaus nicht an das Aussehen der wirklichen Person erinnert werden, die es darstellt, noch erinnert werden k\u00f6nnen, weil beide Bewufstseinsinhalte sich gegenseitig hemmen. Keineswegs taucht unser fr\u00fcheres Erinnerungsbild der wirklichen Person auf. Im Gegentheil, es kostet dem Photogramm gegen\u00fcber, die gr\u00f6fste Anstrengung, das Erinnerungsbild an die Anschauung der Person festzuhalten. Durch die im Photogramm wiedergegebene Form, welche den wirklichen Formen gegen\u00fcber in Stellung, Ausdruck und Kleidung der Person durchaus zuf\u00e4llig und momentan ist, werden die m\u00f6glichen Reproductionen beschr\u00e4nkt und in bestimmte Bahnen gelenkt. Dies freilich gilt nur f\u00fcr die \u00e4sthetische, auf die Anschauung concentrirte Betrachtung der Photographie \u00ce Gew\u00f6hnlich dient diese nur als Anlafs, um \u201edie Erinnerung zu beleben\u201c. In diesem Falle wird in den anschaulich gegebenen festen Hauptformen nur ein \u00e4ufserer Anlafs gesucht, um alle Verschiebungen und Situationen, in denen diese Formen je gesehen wurden, wachzurufen. Dazu bedarf es aber stets einer bewufsten, unter der Herrschaft dei willk\u00fcrlichen Aufmerksamkeit ablaufenden Erinnerungsreihe.\n1 \u201ePsychologie\u201c.","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n223\nVon einer organischen Entwickelung dieser Reproductionen unter dem Einflufs der Anschauung (s. S. 224/5, 229) kann hier keine Rede sein. Jeder, der einmal sein Formenged\u00e4chtnifs gepr\u00fcft hat, weifs, dafs nichts so schwer ist, als bei genauer Betrachtung einer Form das Erinnerungsbild an die Anschauung einer \u00e4hnlichen wachzurufen. Wohl wird die \u00e4hnliche Form reproducirt; d. h. ihr Name, der Vorstellungscomplex, in den sie geh\u00f6rt. Keineswegs aber die Form ihrer Anschauung nach, und besonders nicht die Eigent\u00fcmlichkeiten, in denen sie von der gesehenen Form ab weicht, und die veranlassen, dafs sie dieser nur \u00e4hnlich, nicht gleich ist. Ganz Analoges findet sich auf musikalischem Gebiet, s. Otto Abraham, das absolute Tonbe-wufstsein, S. 50. \u201eEs fand eine fortw\u00e4hrende Beeinflussung des gesungenen und des vorgestellten Tons statt, sobald beide dicht bei einander lagen.\u201c Eine v\u00f6llig deutliche Vorstellung kann unter diesen Umst\u00e4nden verl\u00f6schen. So kann es in einem Kolleg von Kunsthistorikern Vorkommen, dafs der Docent zu wiederholten Malen ein korinthisches Capit\u00e4l anzeichnen mufs, weil die Fragestellung lautet: wodurch unterscheidet sich ein korinthisirendes Capit\u00e4l bei D\u00fcrer, das im Bilde vorliegt, von einem typisch korinthischen? Wenn dies bei relativ einfachen Anschauungen vorkommt, wie viel mehr bei einer so complicirten, fortw\u00e4hrend wechselnden Vorstellung, wie der eines Menschen. Die meisten Menschen wissen ja gar nicht, was die Personen, mit denen sie t\u00e4glich umgehen, f\u00fcr Augen haben.\nAber auch nicht etwa der Theil der Anschauung, der gegeben ist, reproducirt die ganze Anschauung, etwa so, dafs durch die R\u00fcckenansicht einer Gestalt ihre Vorderansicht, oder so, dafs durch eine einfarbige (farblose) Skulptur die Farbe der Haut, der Augen, der Haare reproducirt w\u00fcrde, sondern : in Haltung, Ausdruck, Beleuchtung und Farbenstimmung ruft das Portr\u00e4t zwingend die Vorstellung einer eben durch diese Merkmale bestimmt charakterisirten, Pers\u00f6nlichkeit hervor. Ob die so gewonnene Vorstellung ihrerseits Associationen von Namen, pers\u00f6nlichen Beziehungen u. s. w. hervorruft, d. h. ob sie die Qualit\u00e4t der \u201eBekanntheit\u201c besitzt, ist relativ gleichg\u00fcltig, hat mit der \u00e4sthetischen Contemplation nichts zu thun. Es fragt sich nur, wie kommt die Vorstellung der Pers\u00f6nlichkeit durch das Portr\u00e4t zu Stande.","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nEdith Kalischer.\nWie kommt es, dafs Teilinhalte der Anschauung vollkr\u00e4ftige Motive zur Reproduction der Vorstellung werden k\u00f6nnen?\nSolche Substitutionen sind auch im Leben h\u00e4ufig. Wir haben eine so ungeheure Erg\u00e4nzungsf\u00e4higkeit, dafs der sinnliche Eindruck eigentlich nur das ungef\u00e4hre Schema der Vorstellung liefert. Aber diese Erg\u00e4nzungen sind zuf\u00e4lliger Art, sie wachsen nicht organisch aus dem Eindruck hervor, sie entstammen mehr dem Wissen, als dem Sehen, und sie f\u00fchren eben so oft zur T\u00e4uschung, als zur Wahrheit. Wie abh\u00e4ngig diese Erg\u00e4nzungen von den zuf\u00e4lligen Bewusstseinsinhalten sind, geht aus den bekannten (freilich unter erschwerten Bedingungen ausgef\u00fchrten) Versuchen von M\u00fcnsterberg hervor, bei denen ,.Furcht\u201c und Triest\u201c als Frucht\u201c und \u201eTrost\u201c gelesen wurden unter dem Einflufs der Vorstellungen \u201eObst\u201c und \u201eVerzweiflung\u201c. Auf der Strafse erkennen wir aus ganz wenigen optischen Daten, auch im Nebel, Menschen, H\u00e4user, Wagen, weil wir erwarten, sie dort zu finden; begegneten wir dagegen auf der Strafse einem L\u00f6wen, so w\u00fcrden wir aus analog wenigen und fl\u00fcchtigen Eindr\u00fccken, aus denen wir ein Haus mit Sicherheit erkennen, die Vorstellung des L\u00f6wen noch nicht gewinnen. Ein bekanntes Wort erkennen wir aus dem undeutlichsten Laut. Dagegen ver-l\u00e4fst uns der Leitfaden des Sinneseindrucks bei jedei ungew\u00f6hnlichen V orstellung. Aufserge wohnliche Begleitumst\u00e4nde vermindern die Reproductionstendenz einer W ahrnehmung. Zu dem Kunstwerk nun kommen wir in ein ganz fremdes Land. Soll hier aus wenigen sinnlichen Eindr\u00fccken eine Vorstellung entstehen, so m\u00fcssen die Eindr\u00fccke ganz besonders gew\u00e4hlt sein, so, dafs ihnen eine hohe Associativkraft innewohnt, Em charakteristischer Theilinhalt der Vorstellung, eine bestimmte Verbindung solcher Elemente mufs gegeben sein. Im Leben werden die sinnlichen Eindr\u00fccke durch ein von i h n e n unabh\u00e4ngiges Wissen erg\u00e4nzt, in der Kunst lediglich durch solche Associationen, die sich aus den sinnlichen Eindi ticken selbst mit empirischer Regelm\u00e4fsigkeit um nicht zu sagen\nGesetzm\u00e4fsigkeit \u2014 entwickeln.\nDaraus geht ein zweites hervor : Ist im Leben die A orstellung das Resultat des Wissens eben so sehr wie des sinnlichen Eindrucks, so ist auch im Leben die Aufmerksamkeit auf den sinnlichen Eindruck nicht concentr\u00e2t. Er wird nur gebraucht wie ein Z\u00fcndholz, das wir wegwerfen, sobald es den Funken ge","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n225\ngeben hat. Beim Kunstwerk dagegen, an welches wir voraussetzungslos herantreten, dem gegen\u00fcber die Aufmerksamkeit auf die sinnlichen Eindr\u00fccke v\u00f6llig concentrirt ist, weil wir uns hier zur Bildung der Vorstellung an nichts anderes als an diese halten k\u00f6nnen, \u2014 im Kunstwerk geht die Vorstellung aus den sinnlichen Eindr\u00fccken in viel ernsterem, in eigentlicherem Sinne hervor als im Leben. Dafs dies m\u00f6glich ist, dafs diese Substitution, diese Entwickelung der Vorstellung aus dem sinnlichen Eindruck selbst sich in der Kunst so leicht vollzieht, dafs durch sie die Auffassung der Gegenst\u00e4nde dem Leben gegen\u00fcber nicht nur nicht erschwert, sondern bedeutend erleichtert wird \u2014 das ist einestheils das Geheimnifs der K\u00fcnstler, welche den Complex unserer Anschauungen analysiren und die associativ - kr\u00e4ftigen Einzelmomente herausfinden \u2014 andererseits ist es nur deshalb m\u00f6glich, weil die Kunst es lediglich mit Anschauungselementen zu thun hat, die Reproduetionen aber, die zur Bildung einer Anschauung und Vorstellung f\u00fchren, nicht beliebig eintreten oder ausbleiben und nicht individuell verschieden sein k\u00f6nnen, sondern nothwendig und allgemein sind.\nDiese Nothwendigkeit und Allgemeinheit ist nun freilich keine KvxT\u2019sche, aprioristische ; sie verdankt ihr Dasein nur empirischen Regeln, aber f\u00fcr die Sicherheit der Reproduction ist auch eine Gesetzm\u00e4fsigkeit im strengen Sinne nicht erforderlich. Die Erfahrung tr\u00e4gt f\u00fcr alle Menschen gen\u00fcgend viel gemeinsamer Merkmale in sich, um die M\u00f6glichkeit zu begr\u00fcnden, dafs bestimmte Reproduetionen unter bestimmten Umst\u00e4nden bei allen Menschen gleichm\u00e4fsig angeregt werden. Damit ist aber nicht gesagt, dafs die Kunst auf die Anregung nur solcher \u2014 inhaltlich allgemeiner \u2014 Reproduetionen beschr\u00e4nkt ist. Auch Reproduetionen, die ihrem Inhalt nach auf nationalen oder culturellen Besonderheiten beruhen, ja solche, die sich auf Tagesereignisse oder Familieneigenth\u00fcmlichkeiten beziehen (Com\u00f6dien, Carricaturen), k\u00f6nnen zum zu Stande kommen der \u00e4sthetischen Contemplation mitwirken \u2014 nur eben bei einem beschr\u00e4nkteren Kreise von Menschen. Aber wer a priori Allgemeinheit der Kunstwirkung verlangt, m\u00fcfste auch fordern, dafs die Dichter in der Sprache des Volap\u00fck dichteten. Er w\u00fcrde an Intensit\u00e4t der Kunst Wirkung verlieren, was er an Extensit\u00e4t gewinnen w\u00fcrde. F\u00fcr die \u00e4sthetisch erforderliche Sicherheit der Reproduction kommt nicht der mehr oder minder individuelle Inhalt der\n15\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 23","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nEdith Kalischer.\nreproducirten Vorstellung, sondern nur das \"Y erli\u00e4ltnifs des Theil-inhaltes der Vorstellung zur ganzen Vorstellung in Betracht.\nPr\u00fcft man die Pegeln, die f\u00fcr die Sicherheit und Pegel-m\u00e4fsigkeit der Reproductionen angegeben werden1, so entdeckt man, dafs sie s\u00e4mmtlich bei der Bildung von Anschauungen und Vorstellungen und in erh\u00f6htem Grade bei Betrachtung von\nKunstwerken zur Anwendung kommen.\nIn der bildenden Kunst handelt es sich um Darstellung von Gegenst\u00e4nden. Nun sind fast alle unsere Vorstellungen 'von Gegenst\u00e4nden Complicationen, d. h. Verbindungen disparater Sinnesvorstellungen. Da nun diese je nach der zuf\u00e4lligen Wahrnehmung, in verschiedener Combination und so, dafs bald die eine, bald die andere mehr hervortrat, unz\u00e4hlige Mal im t\u00e4glichen Leben mit der begrifflichen Vorstellung des Gegenstandes vereint auf treten, so ist klar, dafs auch die Reproduction stendenz zwischen einzelnen sinnlichen Eindr\u00fccken auf der einen, und Vorstellungen auf der anderen Seite aufserordentlich stark sein mufs. Und nicht nur wegen der H\u00e4ufigkeit ihrer Verbindung, sondern auch wegen ihrer engen A er Schmelz un g im Bewufstsein. Es giebt keine Bewufstseinsinhalte, die so eng miteinander verschmolzen sind, wie die Empfindungen, aus denen sich eine Anschauung zusammensetzt. Die K\u00fcnstler sind die einzigen Menschen, welche die sinnlichen Eindr\u00fccke zu unterscheiden, aus ihrer Verschmelzung mit den anderen und mit dem Ganzen herauszul\u00f6sen und den \u201eEindruckspunkt (Dilthey) zu gewinnen verm\u00f6gen. (Analog verh\u00e4lt sich s mit dem Musikei\n__ wenn anders Helmholtz darin recht hat, dafs die Harmonie\nauf der Heraushebung der Obert\u00f6ne beruht, die mit jedem Grundton verschmolzen sind.) Diese enge Verschmelzung beruht auf der selbst\u00e4ndigen Reproductionsf\u00e4higkeit des Complexes. (Name des Gegenstandes.) Weiter begr\u00fcndet die Unmittelbarkeit des Nach- und Nebeneinander der Eindr\u00fccke eine feste Reproductionstendenz zwischen ihnen. Die Wichtigkeit der r\u00e4umlichen und zeitlichen Contiguit\u00e4t f\u00fcr die Reproduction ist so grofs, dafs man bekanntlich alle Reproductionen auf dieselbe hat zur\u00fcckf\u00fchren wollen. Die r\u00e4umliche Anordnung der Eindr\u00fccke ist f\u00fcr ihre Deutung schon im Leben\n1 Im Folgenden entnehmen wir diese Regeln der \u201ePsychologie von\nK\u00fclpe.","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n227\nvon gr\u00f6fster Wichtigkeit. Sie spielt daher in der Kunst eine besondere Rolle. Raumgestaltung ist auch als Forderng der Deutlichkeit und Eindeutigkeit ein wesentliches Erfordernde der k\u00fcnstlerischen Darstellung. \u2014 Die Eindeutigkeit der repro-ducirenden Elemente wird von K\u00fclpe ganz besonders als Bedingung einer starken Reproductionstendenz hervorgehoben (seine Versuche \u00fcber die .. gezwungenen\u201c Associationen). Eindeutig nun werden sinnliche Eindr\u00fccke in zwei F\u00e4llen: entweder wenn die Zahl der Vorstellungen, mit denen sich das reproducirende Element bei verschiedenen Gelegenheiten schon associirt hat, gering ist, oder wenn eine grofse Zahl selbst\u00e4ndig reproducirender Elemente zu einer einheitlichen Reproduction zusammenwirkt. Es ist der zweite Fall, der im Kunstwerk verwirklicht ist. Jedes Auffassen eines Kunstwerkes besteht wesentlich in dem Erfassen der Beziehungen, in denen seine Elemente zu einander stehen; die grofse Zahl der selbst\u00e4ndig reproducirenden Elemente, wie ihr Verh\u00e4ltnis zu einander, schliefst die Vieldeutigkeit, die durch die mannigfaltigen Associationsm\u00f6glichkeiten der einzelnen Elemente eintreten k\u00f6nnte, aus. Durch das charakteristische Verh\u00e4ltnifs weniger Elemente zu einander werden Skizzen und impressionistisch behandelte Kunstwerke, durch die gr\u00f6fsere Zahl selbst\u00e4ndig reproducirender Elemente detaillirt ausgef\u00fchrte Werke Eindeutigkeit erreichen. Dies aber seht unverr\u00fcckt fest : in einem Kunstwerk, das einen Gegenstand darstellt, mufs dieser Gegenstand eindeutig klar erkennbar sein. Jede, z. B. r\u00e4umliche Unklarheit wird als ein grober \u00e4sthetischer Mangel ger\u00fcgt. \u2014 Weiter: ..je gr\u00f6fsere Verschiedenheit die Umgebung von den gemeinsam aufgefafsten Inhalten besitzt, um so leichter wird deren Vereinigung und damit die dadurch entstehende Reproductionstendenz um so fester\u201c. Dies Sichabheben einer Vorstellung geschieht erstens dadurch, dafs eine Vorstellung als aufserordentlich und ungew\u00f6hnlich die Aufmerksamkeit in h\u00f6herem Grade auf sich lenkt. Nun bevorzugt die Kunst im Beginn ihrer Entwickelung immer das Auffallende in ihren Gegenst\u00e4nden. Gewitter und Sturm ist viel eher gemalt worden, als ein ruhiges, sonniges Wetter. Die Landschafter malten h\u00e4ufig italienische und morgenl\u00e4ndische Landschaften lieber als die ihrer Heimat. Hier kommt schon dies in Betracht, was als zweites Element zum Herausheben einer Vorstellung aus dem gleichm\u00e4fsigen\nFlufs des Bewufstseins hinzukommt: Vorstellungen, an die sich\n15*","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nEdith Kalischer.\nein besonders lebhaftes Gef\u00fchl kn\u00fcpft, sind eben dadurch von ihrer Umgebung losgel\u00f6st. Diese Losl\u00f6sung eines stark gef\u00fchlsbetonten Inhaltes aus allen Bedingungen r\u00e4umlich zeitlicher Ein-\nordnung, aus allem Erfahrungszusammenhang und gew\u00f6hnlichen Lebensbedingungen ist eine psychologische Erfahrung, die bei jeder heftigen Gem\u00fcthsbewegung gemacht wird. Nun hat die Kunst von jeher gef\u00fchlsbetonte Vorstellungen als Inhalt ihrer Darstellungen bevorzugt. Noch lange, bevor sie technisch so weit war, eine ruhig dastehende Figur darstellen zu k\u00f6nnen, hat sie auf die naivste Weise die complicirtesten Kampfscenen, phantastische Gesch\u00f6pfe und Situationen der Mythen dargestellt. Dadurch, dafs die Kunst das \u201eMenschlich-Bedeutungsvolle\u201d (Volkelt) darstellt, wird die Eindringlichkeit, mit der die Reproductionen angeregt werden, verst\u00e4rkt. Das H\u00e4fsliche spielt hierbei eine fast ebenso grofse Rolle, wie das Sch\u00f6ne. Man denke nur an die Darstellung der Medusen. \u2014 Ferner f\u00fchrt K\u00fclve an, dafs homogene Eindr\u00fccke eine st\u00e4rkere Reproductionstendenz haben, als disparate. Es ist bekanntlich immer eine bedenkliche Sache, wenn gemalte Blumen die Vorstellung ihres Duftes, ein gemalter Violinspieler die Vorstellung der T\u00f6ne oder gar eine gemalte Frucht die Vorstellung ihres Geschmackes reproduciren soll. Die Reproductionstendenz zwischen dem Anblick eines St\u00fcckes Zucker und der Empfindung der S\u00fcfse ist nicht stark genug,\num \u00e4sthetisch verwerthbar zu sein. \u2014 Eine weitere Bedingung : Die Reproductionstendenz zweier Eindr\u00fccke ist um so st\u00e4rker, je intensiver sie waren, und dementsprechend : die Associativ-kraft des einen Eindrucks ist um so gr\u00f6fser, je intensiver er ist. Die Intensit\u00e4t der verkn\u00fcpften Elemente f\u00e4llt mit dem zusammen, was \u00fcber die Verschiedenheit der Umgebung von den gemeinsam aufgefafsten Inhalten bereits gesagt worden ist. Hier kommt hinzu, dafs f\u00fcr die Associations kraft des einen Eindrucks die Intensit\u00e4t steigernd wirkt. Dies ist den K\u00fcnstlern wohlbekannt. Wir haben fr\u00fcher schon gesehen, dafs die Maler die Helligkeit des wirklichen Lichtes nur in einem ganz geringen Bruchtheil erreichen, und um die Illusion des Lichtes hervorzurufen, auch nicht zu erreichen brauchen. Dennoch wird die Leuchtkraft in\nden Farben eines Bildes (die alten Niederl\u00e4nder, die Sienesen, Gr\u00fcne wall, B\u00f6cklin), besonders ger\u00fchmt und das Streben nach gr\u00f6fserer Helligkeit der Farben zieht sich durch die malerischen Bestrebungen des ganzen 19. Jahrhunderts. Die Gem\u00e4lde eines","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n229\nRyssel beruhe sind beinahe blendend hell. Durch gr\u00f6fstm\u00f6gliche S\u00e4ttigung der Farben sowohl wie durch Steigerung ihrer Helligkeit suchte man so die Eindruckskraft der Farbe zu heben. \u2014 Die Bedeutung der Intensit\u00e4t des Eindrucks f\u00fcr seine Associativ-kraft und die Bedeutung dieser Associativkraft f\u00fcr die Wirkung des Kunstwerks geht auch daraus hervor, dafs die Vorstellung eines Bildes, auch wenn sie bis zu v\u00f6lliger Deutlichkeit gesteigert ist, so viel weniger stark wirkt, als das wirkliche Bild. \u2014 Dafs die H\u00e4ufigkeit, mit der Elemente zusammen aufgefafst waren, ihrer Reproductionstendenz g\u00fcnstig ist, und dafs diese Bedingung in der gew\u00f6hnlichen Anschauung erf\u00fcllt ist, wurde schon erw\u00e4hnt. Wichtig ist, dafs ebenso, wie bei der Intensit\u00e4t, die H\u00e4ufigkeit des einen Eindrucks auch f\u00fcr seine Associativkraft in Betracht kommt. Je l\u00e4nger ich ein Bild betrachte, je h\u00e4ufiger ich dazu zur\u00fcckkehre, desto klarer wird es, desto deutlicher spricht es zu mir. Freilich giebt es hier eine Grenze. Auch das sch\u00f6nste Bild wird bei immerw\u00e4hrender, immerwiederholter Betrachtung gleichg\u00fcltig. Dies Gleichg\u00fcltig wer den tritt dann ein, wenn durch die sinnlich gebotenen Eindr\u00fccke die entsprechenden Vorstellungen als ein fertiges AVissen sogleich reproducirt werden, ohne dafs sich diese Reproductionen aus den sinnlichen Eindr\u00fccken noch organisch entwickeln. Die Farben und Formen des Bildes sind dann feste Zeichen geworden f\u00fcr bestimmte Vorstellungen und Gef\u00fchle, eine gangbare M\u00fcnze, deren Bedeutung man kennt, ohne sie noch zu betrachten, ein Wort einer fremden Sprache, dessen Sinn so gel\u00e4ufig ist, dafs es nicht mehr als fremd empfunden wird. Umgekehrt gleicht nichts dem Eindruck, den ein Meisterwerk der Kunst \u2014 wenn es uns zum ersten Mal \u201eaufgehU, wie man zu sagen pflegt \u2014 auf uns aus\u00fcbt : w\u00e4hrend das Auge mit der Auffassung der sinnlichen Eindr\u00fccke noch ganz besch\u00e4ftigt ist, entwickeln sich zugleich mit unabweisbarer Eindringlichkeit alle Processe der Deutung und Einf\u00fchlung und treiben die Spannung der Gegens\u00e4tze im Bewufstsein aufs Aeufserste. \u2014 Wie oft und eindringlich ein Kunstwerk betrachtet werden kann, das h\u00e4ngt wesentlich von der Einfachheit oder Complicirtheit des gew\u00e4hlten Motivs ab. Eine complicirt bewegte Figur wird noch anregend wirken, wenn eine ruhig dastehende trotz gr\u00f6fster Vollendung ihre Anregungskraft schon verloren hat. Es giebt Grenzen f\u00fcr die Dar-stellbarkeit der Dinge, die in ihrer Einfachheit liegen. Ein Tisch,","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nEdith Kalischer.\nein W\u00fcrfel ist kein \u00e4sthetisches Object, weil er zu einfach ist. Es ergiebt sich aus dieser Betrachtung die Unterscheidung zweier Entwickelungsreihen in der \u00e4sthetischen Beurtheilung der Kunstgeschichte. Die eine durchl\u00e4uft alle Darstellungsarten eines Motivs, z. B. die stehende J\u00fcngslingsfigur der griechischen Plastik. In diese Reihe f\u00e4llt die Entwickelung der Stilarten sowohl wie die Entwickelung der handwerklichen oder dilettantischen zur k\u00fcnstlerischen Arbeit. Die andere Reihe geht von den einfachen zu den complicirteren Motiven und sie ist es, welche allein daf\u00fcr in Betracht kommt, wie oft ein Kunstwerk, ohne langweilig zu werden, betrachtet werden kann. Den Beginn dieser Reihe in der griechischen Plastik bezeichnet das Lob, das man \u2014 nach Plinius \u2014 dem Myron spendete : multiplicasse dicitur veritatein. F\u00fcr die Eigenart sowohl wie f\u00fcr die k\u00fcnstlerische H\u00f6he eines Kunstwerks ist es gleichg\u00fcltig, auf welcher Stufe in dieser zweiten Reihe es steht. Dagegen ist von seiner Stelle innerhalb dieser die Gr\u00f6fse und der Reicht hum eines Kunstwerks abh\u00e4ngig. Die vollendetste ruhig-stehende Figur \u2014 man denke an den Delphischen Wagenlenker \u2014 erscheint arm, der anregenden Kraft gegen\u00fcber, die von einer Sklavenfigur Michelangelo\u2019s oder von einer RoniVschen Gruppe ausgeht. So, wie ein Gedicht mehr giebt als ein Vers, ein Vers mehr, als ein poetisches Bild in einer Zeile. \u2014 Endlich wird auch gerade das Moment, was wir als ein Hauptmerkmal der \u00e4sthetischen Contemplation hervorgehoben haben : die Concentration der Aufmerksamkeit auf den sinnlichen Eindruck als eine Bedingung starker Repro-ductionstendenz angef\u00fchrt. Die Aufmerksamkeit, besonders die willk\u00fcrliche, mufs dem reproductiven Moment zugewandt sein.\nSind also alle Bedingungen f\u00fcr starke und sichere Reproduktionen in der Kunstbetrachtung erf\u00fcllt, so k\u00f6nnen diese Reproduktionen f\u00fcr die \u00e4sthetische Betrachtung nicht ohne Bedeutung sein. Wenn Fiedler s 1 Behauptung richtig w\u00e4re, wenn es wahr w7\u00e4re, dafs unser Bewufstsein bei der Betrachtung von Kunstwerken in striktem Gegensatz zu all unserem sonstigen Verhalten \u2014 an die sinnlichen Eindr\u00fccke festgebannt, nichts anderes als diese enthielte, so k\u00f6nnten nicht die Bedingungen f\u00fcr die Sicherheit der Reproduction gerade bei der Betrachtung von Kunstwerken alle in so hohem Grade erf\u00fcllt sein.\n1 s. Conrad Fiedler\u2019s \u201eSchriften \u00fcber Kunst\".","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n231\nNachdem K\u00fclpe die Bedingungen f\u00fcr die Sicherheit der Reproduction aufgez\u00e4hlt hat, macht er eine scheinbar nebens\u00e4chliche, doch wie mir scheint, wichtige Bemerkung. \u201eBei all diesen empirisch motivirten Reproductionen braucht weder die reproducirende noch die reproducirte Empfindung ihren empirischen Bedingungen zu gleichen. Es wird nur eine Aehnlichkeit im Sinne einer partiellen Gleichartigkeit oder im Sinne einer geringen Verschiedenheit f\u00fcr ihr Verh\u00e4ltnifs zu der fr\u00fcheren Empfindung gefordert.\u201c Wir haben schon gesehen, dafs die Farben des Malers den wirklichen Farben der Landschaft, die er darstellt, nicht gleichen. Die Kunst giebt nicht nur Theilinhalte der wirklichen Anschauungen, sondern auch diese Theilinhalte nur in \u00e4hnlicher Form. In der Art nun, wie sie von den wirklichen Theilinhalten ab weicht, m\u00f6gen wichtige Unterschiede der Kunstarten und der Kunstwerke liegen. Ich versuchte zu zeigen, dafs sich daraus, dafs die Kunst nur Theilinhalte giebt, dafs sie eine Analyse der Anschauungen bietet, Aufschl\u00fcsse \u00fcber den Vorgang der \u00e4sthetischen Betrachtung gewinnen lassen, es ist mehr als blos m\u00f6glich, dafs daraus, dafs die Kunst diese Theilinhalte nur \u00e4hnlich giebt, ebenso wichtige Aufschl\u00fcsse \u00fcber die Beziehung des k\u00fcnstlerischen Sehens zu anderen psychischen Vorg\u00e4ngen gewonnen werden k\u00f6nnen. Es scheint, dafs die Farben und Formen im Kunstwerk die analoge Ver\u00e4nderung gegen die wirklichen Farben und Formen aufweisen, wie die Erinnerungsvorstellungen sie gegen\u00fcber den peripher erregten Empfindungen zeigen. Ich kann dies nur vermuthungsweise aussprechen, weil die Untersuchungen \u00fcber die wahrscheinlich gesetzm\u00e4fsige, qualitative Verschiebung des Erinnerungsbildes gegen das Wahrnehmungsbild, wie sie von Feciinee, Galton, Titchenee angebahnt wurden, zu allgemeinen Resultaten noch nicht gef\u00fchrt haben. Ich kann also die Parallele, die ich zwischen den Bedingungen, welchen die Betrachtung der Kunstwerke, und denen, welchen die st\u00e4rkste Reproductionstendenz zweier Empfindungen untersteht, zu ziehen versuchte, f\u00fcr das Verh\u00e4ltnifs von Kunst-undwirk\u00fcchen Formen auf der einen -\u2014 peripher und central erregten Empfindungen auf der anderen Seite, vorl\u00e4ufig noch nicht durchf\u00fchren.\nIV.\nSind, wie wir nachzuweisen versuchten, bei der Betrachtung von Kunstwerken wirklich die psychologischen Bedingungen vor-","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nEdith Kalischer.\nhanden, unter denen sich zwingende und eindeutige Reproduc-tionen entwickeln k\u00f6nnen, welcher Art ist nun das Resultat dieser Reproductionen? Hier sind zwei F\u00e4lle zu unterscheiden: was durch das Bild oder eine Skulptur reproducirt wird, ist entweder die Vorstellung des dargestellten Gegenstandes, oder die Vorstellung eines Seelenzustandes. (Als dritte M\u00f6glichkeit k\u00f6nnte man noch anf\u00fchren: die Vorstellung von der k\u00fcnstlerischen Leistung als solcher. Diese aber setzt die beiden vorhergenannten Vorstellungen (oder eine von beiden) voraus. Denn sie kann nur entstehen durch einen Vergleich zwischen dem sinnlich Gegebenen und den dadurch angeregten Vorstellungen. Sie enth\u00e4lt also ein Urtheil, das den Procefs der \u00e4sthetischen Contemplation bereits voraussetzt und ist somit kein Glied innerhalb dieses Processes.) Es kann eine menschliche Figur dargestellt sein, die nichts als die Vorstellung des Gegenstandes, seiner k\u00f6rperlichen Gestalt nach, reproducirt \u2014 der Doryphokos \u2014 oder es k\u00f6nnen, umgekehrt, Gegenst\u00e4nde dargestellt werden, die nichts als die Vorstellung eines seelischen Zustandes reprodueiren ; Stimmungsland-schaften, Interieurs. Freilich, da sich alles Lebendige uns als beseelt darstellt, und wir auch die leblosen Formen als \u201eanaloga personali-tatis\u201c (Siebeck) vorstellen, so werden Vorstellungen eines Gegenstandes und Vorstellungen seelischer Bewegungen gew\u00f6hnlich als mit einander verkn\u00fcpft auftreten. Dennoch m\u00fcssen wir der begrifflichen Klarheit halber und auch, weil ganze Epochen der Kunstgeschichte vorwiegend die einen oder die anderen darstellen, die Unterscheidung durchf\u00fchren.\nWir betrachten zun\u00e4chst die Reproductionen von Vorstellungen eines Gegenstandes. Den modernen Lehren der Einf\u00fchlung gegen\u00fcber, die alle \u00e4sthetische Betrachtung als beseelte Anschauung definiren, ist es wichtig zu betonen, dafs von jeher eine selbst\u00e4ndige Freude an der bildlichen Wiederholung von bekannten Gegenst\u00e4nden existirt hat. Auch wenn man die immer wieder auftauchenden naturalistischen Kunstrichtungen als unk\u00fcnstlerisch verdammt, so ist es doch kaum glaubhaft, dafs so viele Aesthetiker von Akistoteles bis Batteux, so unhaltbar ihre Lehre vom erkenntnifs-theoretischen Standpunkt aus auch sei, in ihrem Instinct, in dem, was sie zu erkl\u00e4ren suchten, vollst\u00e4ndig fehlgegangen seien. Nat\u00fcrlich ahmt der K\u00fcnstler das Naturobject nicht nach -\u2014 aus dem einfachen Grunde, weil dieses als ein Sichtbares noch gar nicht existirt","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n233\n(man denke an die Kinder und Naturv\u00f6lker, welche die Begriffe der Dinge zeichnen, z. B. ein Haus von aufsen mit Tischen etc. darin)1; sondern, indem er es nachbildet, schafft er es.2 Und dementsprechend ist das Object, das wir aus dem Kunstwerk gewinnen, nicht ein fr\u00fcher bekanntes, das wir wiedererkennen, sondern nur ein Theil, der sichtbare Theil, davon, mit dessen H\u00fclfe wir jenes wiedererkennen, das aber, als ein Neues, mit jenem nur durch Associationen von Namen etc. zusammenh\u00e4ngt. Dennoch kann man von einer k\u00fcnstlerischen ,, Wiedergabevon Gegenst\u00e4nden sehr wohl sprechen, in dem Sinne n\u00e4mlich, dafs Vorstellungen von Gegenst\u00e4nden (durch die Darstellung) in uns angeregt werden, die associativ mit Vorstellungen von Naturobjecten verkn\u00fcpft sind. \u2014 Es war daher falsch, wenn, was wir durch Wiedergabe eines Gegenstandes im Kunstwerk gewinnen, h\u00e4ufig die harmlose Freude am Wiedererkennen genannt worden ist. Diese Auffassung mag daher kommen, dafs dargestellten Gegenst\u00e4nden gegen\u00fcber so h\u00e4ufig aufser\u00e4sthetische Standpunkte eingenommen werden, und dafs das Dargestellte f\u00fcr ein Wirkliches genommen wird. Dieser Standpunkt ist deshalb aufser\u00e4sthetisch, weil er die Grundbedingung alles \u00e4sthetischen Verhaltens: das Ueberwiegen der Concentration auf das Sinnlich-Gegebene aufser Acht l\u00e4fst. \u2014\nDie Erf\u00fcllung dieser Grundbedingung ergiebt f\u00fcr die repro-ducirte Vorstellung als erste Bestimmung dies, dafs sie nicht im Vordergrund des Bewusstseins ist, sondern dafs sie, sozusagen, im indirecten Sehen erscheint. Es ist ein Theilinhalt gegeben, und von ihm aus wird eine relativ complexe Vorstellung reproducirt. Da sich die Vorstellung immer aus diesem Theilinhalt entwickelt, und dieser w\u00e4hrend der \u00e4sthetischen Betrachtung nie aus dem Auge verloren wird, so treten in der Vorstellung diejenigen Complexe in den Vordergrund, die durch die Theilinhalte betont sind. So erkl\u00e4rt sich vielleicht die doppelte Eigent\u00fcmlichkeit der \u00e4sthetischen Associationen: ihre F\u00fclle und ihre Bestimmtheit. Der Theilinhalt, der immer festgehalten wird, bestimmt die Physiognomie des Ganzen. Er leistet f\u00fcr die \u00e4sthetische Betrachtung, was der centrale Gedanke f\u00fcr die wissenschaftliche. Er bringt \u2014 um\n! s. Sully, Kinderpsychologie.\n2 Siehe hier\u00fcber die Ausf\u00fchrungen von Conrad Fiedler, Schriften \u00fcber Kunst.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nEdith Kalischer.\nmit Baumgarten zu reden \u2014 die Vorstellung nicht zur intensiven\u201c, sondern zur \u201eextensiven Klarheit\u201d. Die k\u00fcnstlerische Darstellung giebt nicht alle die Merkmale der Vorstellung, die sie von anderen Vorstellungen unterscheiden, und die eine begriffliche Analyse in ihr finden w\u00fcrde, sondern durch die Einseitigkeit, mit der sie nur eines ihrer charakteristischen Merkmale hervorhebt und alle anderen verschwinden l\u00e4fst, giebt sie der Vorstellung eine ganz neue specifisch \u00e4sthetische Klarheit, die sich durch eine logische Kategorie nicht umschreiben l\u00e4fst. Jedes Kunstwerk \u2014 mit Ausnahme eines eklektischen, das aber diesen Namen nicht verdient \u2014 hebt aus der Sichtbarkeit der Dinge eines oder eine Gruppe von Merkmalen heraus und l\u00e4fst den Gegenstand von diesem \u201eEindruckspunkt\u201c aus entstehen. So kann die Vorstellung eines K\u00f6rpers aus Umrifslinien, aus der Silhouette, aus Schattirungen, aus grofsen Farbenfl\u00e4chen oder aus einem Gewirr von farbigen Tupfen sich entwickeln. Nur diese Gruppe von Merkmalen ist an der Vorstellung deutlich, und das Hervortreten dieser und Zur\u00fccktreten aller anderen Merkmale macht die Allgemeinheit der Vorstellung aus. Die \u00e4sthetische Vorstellung hat mit der begrifflichen die wenigen Merkmale, mit der concreten die Deutlichkeit, Intensit\u00e4t und individuelle Form dieser Merkmale gemein.\nEs wird also eine allgemeine Vorstellung reproducirt, die doch dadurch, dafs sie in indirectem Sehen unter dem steten Einflufs des sinnlich Gegebenen sich entwickelt, concrete Bestimmtheit erh\u00e4lt. Zu dem Gegens\u00e4tze, der uns in der \u00e4sthetischen Contemplation bisher begegnet ist, dem Gegensatz zwischen dem gegebenen Theilinhalt und der Vorstellung eines Ganzen, tritt hier ein neuer Gegensatz : der zwischen der concreten F\u00e4rbung und der Allgemeinheit der reproducirten Vorstellung. Dieser Gegensatz tritt nicht in allen Kunstwerken mit gleicher Sch\u00e4rfe hervor. Die Bestimmtheit der Vorstellung kann gr\u00f6fser oder kleiner sein, je nach der mehr oder minder typischen Geltung der Theilinhalte, die gew\u00e4hlt werden. Die vollendet typische Darstellung giebt \u201eGestalten, die weder dieser noch jener Person eigen sind, noch irgend einen Zustand des Gem\u00fcthes oder eine Empfindung der Leidenschaft ausdr\u00fccken, gleich dem vollkommensten Wasser, aus dem Schofse der Quelle gesch\u00f6pft, von allen fremden Theilen gel\u00e4utert.\u201d1\n1 Winkelmann, citirt nach Lotze , Geschichte der Aesthetik in Deutschland.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n235\nDiese \u201eUnbezeichnung\u201c, die Winckelmann in der griechischen Kunst findet, und deren reinstes Beispiel wohl der Appollo des Ostgiebels von Olympia bietet, stellt das Bild des Begriffs, der condensirtesten Erinnerungsvorstellung concret dar. Aus der ungeheuren Abstraction, die in der Reducirung eines Gesichtes auf seine allgemeinsten Formen liegt, entwickelt sich die Vorstellung eines menschlichen Gesichts ohne irgend eine individuelle Bestimmtheit und, dadurch bedingt, zugleich das Gef\u00fchl einer grofsen Lebensferne. Der Stein oder die Farbe und das Leben, das sich in der Vorstellung aus ihnen entwickelt, gehen durch dies Gef\u00fchl einer Lebensferne geeint, zur Einheit zusammen. Zugleich aber treten die Gegens\u00e4tze zwischen dem concreten, sinnlich Gegebenen und der Allgemeinvorstellung, die dadurch vermittelt wird, scharf hervor. Das Typische, der Niederschlag unz\u00e4hliger sinnlicher Eindr\u00fccke ist hier concret gegeben. Die Abstraction, die wir sonst an der Anschauung erst vollziehen m\u00fcssen, tritt uns hier schon in der Anschauung entgegen und giebt ihr etwas r\u00e4thselvoll L\u00f6sendes. \u2014 Die Darstellung des Individuellen dagegen spannt diesen Gegensatz weniger scharf. Das concret Gegebene reproducirt auch eine relativ concrete Vorstellung, d. h. eine solche, welche eine bunte Vielheit und Zuf\u00e4lligkeit der Merkmale in sich enth\u00e4lt. Dafs aber der Gegensatz zwischen conereter und begrifflicher Vorstellung ein wesentliches Ingredienz der Kunstbetrachtung ist, geht daraus hervor, dafs wir gerade bei der treuesten Wiedergabe des Individuellen die Hervorhebung des Wesentlichen fordern und r\u00fchmen. So ordneten die Griechen, wo sie individuelles Detail geben wollten, dieses dem feststehenden Schema (des Gesichts z. B.) stets und durchaus ein.\nNun lassen sich aus einer Vorstellung verschiedene Theil-inhalte herausheben. Darauf, dafs er einen neuen Theilinhalt an einer Vorstellung heraushebt, beruht die Originalit\u00e4t, die Bedeutung eines K\u00fcnstlers. Solange einen Gegenstand betrachten, bis man an ihm etwas sieht, was noch kein anderer entdeckt hat, \u2014 so lautet die Kunstregel Flaubert\u2019s. Aber wie es gleichg\u00fcltig ist, was dargestellt wird, ob ein Ochse oder ein Appollon, so ist es auch f\u00fcr die charakterisirte, specifisch \u00e4sthetische Betrachtung gleichg\u00fcltig, ob dieser Ochse auf impressionistische Art oder auf die Weise der alten Schule gemalt ist. Es kann ein gemusterter Stoff so gemalt sein, dafs jedes T\u00fcpfelchen in","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nEdith Kalischer.\nihm erkennbar ist und so, dafs alles in einem Gesammtton verschwindet; genau genommen, ist da nur der Gegenstand unterschieden. In einem Falle wird der Stoff isolirt dargestellt, im anderen, wenn volles Sonnenlicht sich \u00fcber ihn ergiefst. Ebenso ist es mit der sogenannten Auffassung einer Figur. Die Vorstellung eines K\u00f6rpers, die durch den David des Michel Aeg-elo angeregt wird, ist total verschieden von der, die durch eine seiner Sklavenfiguren etw7a, ins Bewufstsein tritt. Aber das f\u00fcr die \u00e4sthetische Contemplation Charakteristische : dafs aus bestimmten sinnlichen Eindr\u00fccken zwingend eine bestimmte Vorstellung angeregt wird, ist in beiden F\u00e4llen dasselbe. Wohlgemerkt: ..das f\u00fcr die \u00e4sthetische Contemplation Charakteristische\u201c, der typische Verlauf der Contemplation, der uns bei der Analyse dieses Vorgangs allein interessiren kann. Dagegen sind ganz wesentliche stilistische Unterschiede gerade in den erw\u00e4hnten m\u00f6glichen Verschiedenheiten begr\u00fcndet. Nur insoweit als sie deutlich machen, wie der typische Verlauf der Contemplation bei aller Verschiedenheit seiner Inhalte sich selbst gleich bleibt, k\u00f6nnen wir die weitgehenden Fragen ber\u00fchren, die sich hier anschliefsen, aber eine eigene Untersuchung erfordern w\u00fcrden: die Fragen n\u00e4mlich, woraus die Wandlungen des Stiles : die Verschiedenheiten in der Wahl der Stoffe und der Eindruckspunkte hervorgehen, ob und inwiefern sie die \u00e4sthetische Contemplation modificiren, und ob \u2014 demnach \u2014 \u201eAllgemeing\u00fcltigkeit oder geschichtlicher Wechsel im Schaffen und Geniefsen der Kunst herrsche\u201c \u2014 \u201edie eine Grundfrage der Aesthetik\u201c, wie sie Dessoir nennt.\nIm Zeitgeschmack und in der individuellen Liebhaberei, ja sogar je nach momentanen Stimmungen, wird immer dasjenige Kunstwerk bevorzugt werden, welches interessiren de Vorstellungen reproducirt. Das Interesse, welches wir an allem Gewohnten, und das, welches wir an allem Ungewohnten nehmen, ethische, religi\u00f6se, sociale und philosophische Interessen kommen hier in Betracht. Von der Richtung des Interesses wird es abh\u00e4ngen, ob ein Gott oder ein Arbeiter dargestellt wird, aber auch, ob an einer Figur das Knochenger\u00fcst oder mehr die Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers hervorgehoben, ob ein Gegenstand im Atelier oder im Freien, bei Lampen- oder Sonnenbeleuchtung gemalt wird. Die Verschiedenheit in der Wahl des Stoffes sowohl, wie in der Wahl der Eindruckspunkte bekundet","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n237\ndie Verschiedenheit in der Richtung des Interesses und die psychologische Eigent\u00fcmlichkeit oder Grundstimmung einer Epoche oder eines K\u00fcnstlers. In dieser Verschiedenheit sind die Verschiedenheiten der Stilarten begr\u00fcndet. Der charakteristische Zustand der Contemplation kann allen Stilen gegen\u00fcber ein-treten, aber je nach der Art der Vorstellungen, die reprodocirt werden, wird der \u00e4sthetische Zustand nach irgend einer Richtung hin bestimmt sein. Die reproducirte Vorstellung wird das Be-wufstsein in irgend einerWeise \u201estimmen\u201c, und diese Stimmung wird mit derjenigen, welche durch die formale Eigenth\u00fcmlichkeit der \u00e4sthetischen Contemplation erregt wird, eine complicirte, hier nicht n\u00e4her zu untersuchende Verbindung ein gehen. Der \u00e4sthetische Zustand, wie ihn Schiller malt: die hohe Gleichm\u00fctigkeit und Freiheit des Geistes bei Abwesenheit jeder besonderen Determination, der Zustand der \u201eh\u00f6chsten Realit\u00e4t\u201c findet sich wohl in Wirklichkeit niemals rein. Am ehesten noch in aller \u201eklassischen\u201c Kunst, die bewufst den Eindruck \u201eruhigen Seins\u201c (W\u00f6lflin) erstrebt, indem sie alles Dargestellte einem sinnlich - wohlgef\u00e4lligen Farben- und Linienschema einordnet. Den allgemeinen Gegensatz zur klassischen w\u00fcrde die Ausdruckskunst bilden, in der das Kunstwerk auch im Ganzen seiner Erscheinung ein Gef\u00fchl oder eine Stimmung zum Ausdruck bringt. Dieser Gegensatz liegt den verschiedenen Gegen\u00fcberstellungen zu Grunde, als : Klassik und Romantik, Renaissance und Barock, romanische und germanische Kunst, griechische und gotische Architectur. Es ist klar, dafs die Ausdrucks- mehr als die klassische Kunst der Gefahr ausgesetzt ist, von aufser-\u00e4sthetischen Standpunkten aus betrachtet zu werden.\nDie Darstellung des Seelischen durch die Kunst kann auf zwei verschiedene Arten erfolgen, sie kann dem Leben folgen, also durch Gesichtsausdruck und Geb\u00e4rde, K\u00f6rperhaltung u. s. w. ein Seelisches zur Erscheinung bringen, sie kann es aber auch auf ganz anderem Wege, indem sie den Gef\u00fchlswerth, den Farben und Formen als solche f\u00fcr uns haben, zum Ausdruck einer Stimmung verwerthet. (Und hier wieder kann sie den Gef\u00fchlswerth der Farben und Formen entweder selbst\u00e4ndig ver-werthen \u2014 im Compositionsschema, in der Landschaft etc. \u2014 oder an der dargestellten Figur selbst, indem sie \u2014 sozusagen \u2014 den augenblicklichen Gem\u00fcthszustand der Gestalt zu ihrem Charakter erhebt. Man denke an Botticellis, an B\u00fcrne Jones","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nEdith Kalischer.\nvergeistigte Gestalten.) Wieder ist diese Unterscheidung eine begriffliche, denn in fast jedem Gem\u00e4lde werden beide Ausdrucksmittel verwendet sein. Die B\u00f6cKLiN\u2019sche Pieta wirkt ergreifend nicht nur durch die verzweifelnde Geb\u00e4rde, mit der Maria \u00fcber den Leichnam hingestreckt ist, sondern auch durch die Farbe des Mantels, der ihre Gestalt umh\u00fcllt: ein Blau, das an sich selbst die Vorstellung verz weif lungs vollen Wehes erwecken w\u00fcrde. In der Kling er\u2019sehen Piet\u00e4 wiederum wird durch die Composition, durch die ruhigen, dreimal wiederholten Horizontalen, der Verzweiflung, die in der Geb\u00e4rde des Johannes und der Maria ausgedr\u00fcckt ist, eine friedevolle Weihe und eine grofse Vers\u00f6hnung hinzugef\u00fcgt, die den Schmerz der beiden Gestalten \u00fcber menschliche Affecte hinaushebt. Oder man denke an Lechter\u2019s Pr\u00e4ludium oder sein Tristanfenster, wo Farbe, Linien, Composition des Ganzen und Ausdruck der Figur in jedem einzelnen Gliede alle auf ein Ziel, den Ausdruck eines leidenschaftlichen Gef\u00fchls zusammen wirken.\nDie beiden Mittel in der Darstellung des Seelischen sind aber in der Wirkung nicht identisch. Man kann vielleicht sagen : durch Geb\u00e4rde, Bewegung und Gesichtsausdruck einer Figur wird die Vorstellung eines Seelischen, durch Farbe und Linie die seelische Stimmung selbst direct und unmittelbar ausgel\u00f6st; das Bewufst-sein eines Tr\u00e4gers der seelischen Bewegung ist hier ausgeschaltet. Im Portrait kommen diese verschiedenen W irkungen in der Gegen\u00fcberstellung: Lenbach\u2014Lepsius zur Erscheinung. \u2014 Beruht der Ausdruck des Seelischen durch Geb\u00e4rde darauf, dafs ein Theilinhalt jener sinnlichen Eindr\u00fccke, aus denen wir auch Leben die Vorstellung eines seelischen Geschehens gewinnen, an Stelle dieser vielen disparaten Eindr\u00fccke tritt, und gewinnen wir daher auf diese Weise, analog wie bei der Repioduction dei Vorstellung eines Gegenstandes, die Vorstellung des Seelischen in reinerer, bestimmterer Gestalt, so beruht die Reproduction des Seelischen durch Farben und Linien scheinbar auf einem ganz neuen Princip; denn Farben und Linien sind keine Pheil-inhalte von Eindr\u00fccken, aus denen wir auch im Leben ein seelisches Geschehen erschliefsen. Sie stehen mit der Natur unserer Wahrnehmung in keinem Zusammenhang. V as hier vor sich geht, scheint also keine Reproduction zu sein, und was reproducirt bezw. durch den sinnlichen Eindruck erregt wild, ist vielleicht keine Vorstellung, sondern ein Gef\u00fchl. Doch kann auf","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n239\ndiese Art der Darstellung des Seelischen hier nicht eingegangen werden, weil sie eine Untersuchung dar\u00fcber voraussetzt, wie Formen, Farben und Linien zu Tr\u00e4gern seelischen Ausdrucks werden k\u00f6nnen. Unsere Vermuthung, dafs die \u00e4sthetische Wirkung auch von Farben und Formen, auf ihrer Reproductionen anregenden Kraft beruht \u2014 wenn es auch vorl\u00e4ufig noch unbestimmt bleibt, auf welche Weise die Reproductionen hier zu Stande kommen \u2014 wird best\u00e4tigt von K\u00fclpe, der in seiner \u201ePsychologie\u201c zu dem Resultat kommt, dafs das \u00e4sthetische Elementargef\u00fchl aus einer Beziehung des wahrgenommenen Eindrucks zu der Reproduction, die er anregt, entspringt. K\u00fclpe steht drei Gesichtspunkte auf, die f\u00fcr die \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchle in Betracht kommen: die Bestimmtheit der reproducirenden Wirkung eines Eindrucks, die Leichtigkeit, mit der die Reproduction erfolgt, und das Ver-h\u00e4ltnifs der reproducirenden Wirkung des Gesammteindrucks zu der der Einzelbestandtheile.\nWie nun bei der Reproduction der Vorstellungen dies, dafs sie aus irgend einem Grunde lust- oder unlustbetont waren, f\u00fcr die \u00e4sthetische Betrachtung nicht in Frage kam, so ist es nat\u00fcrlich auch v\u00f6llig gleichg\u00fcltig, ob die durch die Kunst dargestellten Seelenbewegungen der Lust- oder Unlustscala angeh\u00f6ren. Im Allgemeinen werden Vorstellungen mit starkem Gef\u00fchlston und intensive Gef\u00fchle \u00fcberhaupt, abgesehen von ihrer menschlichen Bedeutung, auch aus den schon angef\u00fchrten Gr\u00fcnden f\u00fcr die Darstellung bevorzugt ; sie werden, da sie im Bewufstsein eine ausgezeichnete Stelle einnehmen, leichter reproducirt. Dafs daher auch das Tragische als Gegenstand der k\u00fcnstlerischen Darstellung eine Rohe spielt, ist so selbstverst\u00e4ndlich, dafs statt der Frage, wie es dazu kommt, eher die Frage am Platze w\u00e4re, wenn es etwa ausgeschlossen w\u00e4re. Aesthetische Freude ist von der Lust oder Unlust, welche die reproducirten Vorstellungen erregen, unabh\u00e4ngig, weil sie nur auf dem Verh\u00e4ltnifs der sinnlichen Eindr\u00fccke zu diesen Vorstellungen beruht.\nV.\nEs er\u00fcbrigt noch die Verschiedenheit in der \u00e4sthetischen Contemplation anzudeuten, welche aus der Verschiedenheit der Mittel hervorgeht, die der Plastik und Malerei angeh\u00f6ren.\nGanz analog wie zum Verst\u00e4ndnifs der verschiedenen Stile, der verschiedenen Darstellungsarten innerhalb einer Kunstart,","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nEdith Kalischer.\nhaben wir auch hier, wenn wir die Verschiedenheit der Kunstarten in ihrem Wesen erfassen wollen, nach den \u201eEindruckspunkten\" zu fragen. Die darstellenden K\u00fcnste greifen einen Theilinhalt aus der Gesichts Vorstellung eines Gegenstandes hei aus, und suchen von diesem Theilinhalt aus die Vorstellung neu erstehen zu lassen. Wenn wir die verschiedenen Kunstarten betrachten, so m\u00fcssen wir daher den Theilinhalt bestimmen, den hervorzuheben, von dem auszugehen, einer jeden eigen-th\u00fcmlich ist. Wie ein Augenarzt bei jedem Menschen zun\u00e4chst die Augen, ein Schneider seine Kleider, ein Schuster seine Stiefel, so betrachtet auch der Plastiker zun\u00e4chst die festen Formen, der Maler den Farbeneinklang, der Zeichner die Linien oder die Lichter und Schatten, der Reliefbildner die Silhouette etc. Und analog ist der Procefs der \u00e4sthetischen Contemplation verschieden, je nachdem er vom K\u00f6rper, von der Fl\u00e4che oder von der Silhouette, von Form, Farbe oder Helligkeitswerthen ausgeht. Ob und welche wesentlichen Verschiedenheiten zwischen der\nBetrachtung der Plastik und der der Malerei bestehen, m\u00fcssen wir pr\u00fcfen, indem wir die vorliegenden Kunstwerke der Malerei und Plastik daraufhin untersuchen, von welchem Element der Anschauung sie ausgehen. \u2014\nUm die Verschiedenheiten zwischen Plastik und Malerei herauszufinden, bedienen wir uns einer Methode, die analog dei ist, welche uns bei der Untersuchung \u00fcber die Unterscheidung der \u00e4sthetischen Contemplation von anderen Beti achtungsarten geleitet hat. Wir w\u00e4hlen einen Fall, in dem Plastik und Malerei vor die gleiche Aufgabe gestellt sind und untersuchen die \\ er-schiedenheit ihrer Mittel. Eine gleiche Aufgabe ist f\u00fcr beide K\u00fcnste die Darstellung einer menschlichen, bewegten Figur.\nObgleich das Streben nach m\u00f6glichst plastischer Darstellung der k\u00f6rperlichen Form nicht die einzige Aufgabe dei Malerei ist, so hat es doch f\u00fcr die Entwickelung der Malerei als einei darstellenden Kunst eine grofse Bedeutung: der Fortschritt in der Modellirung, in der Herausarbeitung und Rundung der Foim bildet in der Hauptentwickelungszeit der Malerei das treibende Moment.1 Die Fortschritte in dieser Beziehung lassen sich sowohl von van Eyk bis Rubens, als auch in der gleichzeitigen italienischen Malerei Schritt f\u00fcr Schritt verfolgen. Bebenson\ni\ns. Berenson, Die Florentinisclie Kunst.","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n241\nbezeichnet es geradezu als Aufgabe der Figurenmalerei, tactile values (Tastwerthe) d. h. also die Vorstellung voller K\u00f6rperlichkeit zu geben. Eine Hauptunterscheidung der Renaissance dem Byzantinismus gegen\u00fcber ist die K\u00f6rperlichkeit der Gestalten. Was wir an Lionardo bewundern, ist vornehmlich die wundervolle Zartheit der Modellirung. In einem relativ kurzen Zeitraum steigerte sich die Herausarbeitung der Form und das Empfinden daf\u00fcr derart, dafs einem Annibale Caracci eine Figur Rafael\u2019s als \u201eschneidend hart\" erscheinen konnte. (\u201eUna cosa di legno, tanto dura e taglienteA) \u2014 Die Mittel nun, welche der Malerei zur Herausarbeitung der Form zu Gebote stehen, sind Farben und Lichtwerthe: die Abgrenzung der verschiedenen Farbent\u00f6ne gegen einander und die Vertheilung der Lichter und Schatten.\nDie Plastik ist der Malerei gegen\u00fcber die abstractere Kunst. Aus dem Vorstellungscomplex einer menschlichen Gestalt l\u00f6st die Malerei die sinnlichen Eindr\u00fccke, die Plastik das aus diesen Eindr\u00fccken erst Erschlossene : die Form, als Eindruckspunkt heraus. An Farben und Helligkeiten entwickelt sich dort, an den abstracteren Formen hier der Vorgang der \u00e4sthetischen Contemplation. Hiermit ist der erste fundamentale Unterschied in der Betrachtung der beiden K\u00fcnste bereits gegeben. Die abstractere Natur des Eindruckspunktes giebt auch der reproducirten Vorstellung von vorneherein mehr abstracten Charakter. Die Richtung auf das Abstracte zeigt sich in der Plastik nicht nur darin, dafs sie alles Sinnliche in der Erscheinung ausschaltet und lediglich aus der Form den lebenden K\u00f6rper erstehen l\u00e4fst, sondern auch darin, wie sie die Formen behandelt. Bei der nackten Figur tritt das Interesse an der inneren Structur des K\u00f6rpers, bei der bekleideten der darunter liegende K\u00f6rper viel st\u00e4rker hervor, als sich aus der Erscheinung der Form rechtfertigen liefse. Die griechische Plastik giebt diese abstracte Formenbehandlung bis in die sp\u00e4teste Zeit ihrer Entwickelung im Wesentlichen nicht auf.\nDaraus ergiebt sich ein Weiteres: Es ist ja klar, dafs wir zu diesen Formen auch in der Plastik erst auf Grund elementarerer sinnlicher Eindr\u00fccke kommen k\u00f6nnen. W\u00e4hrend nun diese Gewinnung der Form f\u00fcr die darstellende Malerei \u2014 wie wir sahen \u2014 eine Hauptaufgabe ist, ist sie f\u00fcr die Plastik ein secund\u00e4rer, vorbereitender Procefs, jenseits dessen die hier\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 28.\t16","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nEdith Kalischer.\nentscheidende \u00e4sthetische Contemplation erst einsetzt. Nicht in jeder Kunst ist der Angriffspunkt des Contemplationsprocesses so unmittelbar gegeben wie in der Malerei. Wie complicirt u. A. die psychischen Vorg\u00e4nge sein k\u00f6nnen, welche den \u00e4sthetischen Procefs erst vorbereiten, kann man sich am Deutlichsten vergegenw\u00e4rtigen an der Lect\u00fcre eines Dramas. Was wir vor uns haben, sind gedruckte Buchstaben. Erst wenn der Associations-procefs so weit vorgeschritten ist, dafs aus den Buchstaben Worte, S\u00e4tze, Gedanken, Gestalten und Situationen geworden sind, erst dann setzen die eigentlichen \u00e4sthetischen Reproductionen, die Contemplationsprocesse dem Drama gegen\u00fcber, ein. Der directe Factor wandert hier, um uns eines Ausdrucks von Kulpe zu bedienen, in den associativen hin\u00fcber.1 2 Und ganz \u00e4hnlich verh\u00e4lt es sich hei Betrachtung einer Skulptur. Erst^ verm\u00f6ge der Licht- und Schattenwirkungen werden uns alle Feinheiten der Form deutlich-, aber erst von dieser geht die Contemplation des Plastischen aus. Wenn daher auf die Abt\u00f6nung der Statue, auf die Behandlung ihrer Oberfl\u00e4che der gr\u00f6fste Werth gelegt, ja, wenn in der Gesammtcomposition der Figur, in der Bewegung und der Behandlung der Emzelformen auf den Schattenschlag, der sich dadurch ergiebt, von vorneherein R\u00fccksicht genommen wird \u2014 so kann man hierin allerdings ein malerisches Element finden, aber eines,. das dem plastischen Interesse entgegenkommt. Es ist dies eine Unterst\u00fctzung der nat\u00fcrlichen Beleuchtung; wie eine ung\u00fcnstig beleuchtete, so kann auch eine schlecht get\u00f6nte Statue um die Wirkung ihrer besten Formen kommen, weil sich Schatten ei-gehen, welche der Auffassung der Form entgegenwirken. \u2014 Diese malerischen Abt\u00f6nungen also dienen dem plastischen Interesse. Von einer naturalistischen Wiedergabe \u00e4hnlicher Ab-t\u00f6nungen, wie sie am Modell sichtbar sein m\u00f6gen, kann nat\u00fcr lieh nicht die Rede sein. Kein Plastiker hat jemals die Farben-schattirungen darzustellen versucht, die sich an jeder Flache des K\u00f6rpers, in jedem Uebergang von der einen zur anderen\n1\tKulpe. Der associative Factor in der neueren Aesthetik. Viertel-\njahrsschrift f\u00fcr wissenschaftliche Philos. 1899.\n2\tWie hoch man auch vom nativistischen Standpunkte aus \u00eee i gi des unmittelbaren r\u00e4umlichen Sehens ansetzen m\u00f6ge - dafs Licht- und Schattenwirkungen uns bei der Auffassung der Form wesentlich unter-st\u00fctzen, wird man nicht bestreiten k\u00f6nnen.","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n243\nund in den verschiedenen Theilen des K\u00f6rpers finden. Kein Maler, es sei denn ein classicistisch g\u00e4nzlich Verbildeter, k\u00f6nnte diese oder die durch Beleuchtung hervorgerufenen Farbenunterschiede bei Wiedergabe eines K\u00f6rpers ganz aufser Acht lassen.\nWas den Gesammtfarbenton der Statue betrifft, so spielt er \u2014 soweit er nicht direct decorativen Interessen dient \u2014 in der Plastik dieselbe Polle, wie der ornamentale Factor in der Malerei. Er giebt einen bestimmten Grad der Annehmlichkeit, einen bestimmten Ausdruck, der mit dem plastischen Inhalt verschmilzt, ihn verst\u00e4rken, modificiren oder abschw\u00e4chen kann. . . . Von einem naturalistischen Interesse kann auch hier keine Rede sein. Obgleich jede Form in einer bestimmten Farbe erscheinen mufs, so ist doch in der Plastik die Farbe als Farbe g\u00e4nzlich aufgehoben. Dies Aufheben der Farbe wird in der Skulptur erstens dadurch geleistet, dafs die Farbe als durch das Material bedingt erscheint; Holz, Marmor, Bronce; ferner dadurch, dafs man die Spectralfarben und solche Farben, an denen ein lebhafterer Gef\u00fchlswerth haftet, meidet; schliefslich bei der gegen jede naturalistische Wahrscheinlichkeit einfarbigen Plastik, eben durch diese Einfarbigkeit. \u2014\nIn der Darstellung der Bewegung ist die Malerei unbeschr\u00e4nkter. Sie kann das Gleichgewicht der Bewegung durch Gruppenbildung, durch Bewegung und Gegenbewegung hersteilen. Die Plastik mufs jede Bewegung der Figur in ihr selbst ausgleichen. Taumelnde Gestalten sind bei ihr unm\u00f6glich. Der \u201eBacchus\" des Michel Angelo giebt nur eine Andeutung davon; der Schwerpunkt jeder Figur mufs in ihre Unterst\u00fctzungsfl\u00e4che fallen. In der Malerei dagegen sind fallende, taumelnde, ganz nach einer Richtung hinst\u00fcrmende Figuren an der Tagesordnung. \u2014 Ferner ist die Malerei in der Darstellung der Bewegung deshalb unbeschr\u00e4nkter, weil sie die Glieder der Figur nach allen Richtungen hin ausstrecken lassen kann, ohne Gefahr, die Raumeinheit zu zerst\u00f6ren. Der Plastiker dagegen ist darauf bedacht, den Polykletischen Kreis, in den die Glieder des K\u00f6rpers sich einordnen, nicht zu \u00fcberschreiten. Auch die freieren Bronceskulpturen gelangen nicht zu der Bewegungswillk\u00fcr gemalter Figuren. Es kann also die Bewegung in der Plastik nur innerhalb des ruhigen Gleichgewichtes bei straffer Geschlossenheit der Figur gegeben werden. Daher wirkt der dennoch er-\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nEdith Kalischer.\nzielte Eindruck der Bewegung in der Plastik st\u00e4rker, triumphiren-der, als in der Malerei.\nAber auch wrenn die Malerei die Bewegung einer Figur in plastischer Geschlossenheit gieht, so kommt dennoch der Ein druck dem der plastischen Bewegung nicht gleich. Es scheint, dafs hier der Contrast zwischen der todten, unorganischen Masse des Steins (Metall, Holz) und der belebten organischen Bewegung in Betracht kommt. Es ist wohl wunderbar, wie aus der farbigen Fl\u00e4che ein bewegter K\u00f6rper entsteht, aber diese Incongruenz zwischen Mittel und Ergebnifs ist in der Plastik bis zum directen Gegensatz gesteigert. Und dieser Gegensatz kommt auch f\u00fcr die unbewegte Form in Betracht. In der Malerei entsteht die Form anders, aber doch \u00e4hnlich so, wie sie uns im Leben entsteht : aus Farbe und Licht. In der Plastik erscheint sie als das Resultat eines Kampfes. Das Leben, das aus ihr quillt, ist ein Triumph \u00fcber den spr\u00f6den Stoff, an dem es erscheint. Das Bewufstsein dieses Contrastes giebt das unvergleichlich intensive Lebensgef\u00fchl. In keiner anderen Kunst ist es st\u00e4rker. In der Architectur, in der der Stein ebenfalls als geformt und belebt erscheint, gelangt er doch nicht bis zu organischem Leben. Daher mag es kommen, dafs die Plastik in ihrer ganzen Geschichte mehr formalen Charakter tr\u00e4gt, als die Malerei. Organische Form und Bewegung ist ihr \u00e4ltestes und immer wiederkehrendes Problem, hinter dem der Versuch der Beseelung im engeren Sinne: der Ausdruck der Affecte v\u00f6llig zur\u00fccktritt. Der Malerei dagegen hat die Darstellung von Form und Bewegung selten gen\u00fcgt. Sie errang in der L\u00f6sung dieser Aufgabe die Meisterschaft meist nur, um mit ihrer H\u00fclfe Affecte und Stimmungen darzustellen, wie denn auch der speciell malerische Stil \u2014 da das Licht dem Zufall unterworfen ist und schrankenlose Freiheit in der Composition gestattet \u2014 als ad\u00e4quates Ausdrucksmittel f\u00fcr den Ausdruck subjectiver Stimmungen erscheint.1\nVL\nFassen wir nun das Resultat dieser Untersuchungen kurz zusammen :\nUnter \u00e4sthetischer Contemplation verstanden wir denjenigen\n1 Siehe H. A. Schmid, M. Gr\u00fcnewald, Festbuch zur Er\u00f6ffnung des historischen Museums. Basel 1894.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n245\npsychischen Vorgang, der als specifisch \u00e4sthetisch bezeichnet werden kann.\nWir fanden das specifisch \u00e4sthetische Verhalten in einer psychischen Anomalie : w\u00e4hrend strenger Concentration der Aufmerksamkeit schien doch die Enge des Bewufstseins gesprengt zu sein. In der \u00e4sthetischen Contemplation \u2014 so fanden wir \u2014 ist die Aufmerksamkeit auf sinnliche Eindr\u00fccke concentrirt, denen, als Theilinhalten sehr complexer Vorstellungen, eine so grofse Reproductionskraft innewohnt, dafs durch ein Minimum sinnlicher Daten ein Maximum geistiger Vorg\u00e4nge ausgel\u00f6st wird. Es findet sich hier ein eigenth\u00fcmliches Verh\u00e4ltnis zwischen den Elementen des Bewufstseins und den Complexen, deren Theile sie bilden ; zwischen der psychischen Kraft und dem psychischen Geschehen. Alle geistige Kraft ist in der Concentration auf die sinnlichen Eindr\u00fccke gesammelt; was aber die Sinne empfangen, ist ein Minimum im Vergleich zu dem Umfang und der Zahl der Vorstellungen, die sie anregen, und die sich doch, wie unter einem mechanischen Reiz \u2014 ohne dafs die Seele activ daran betheiligt w\u00e4re \u2014 entwickeln. Sie schnellen empor, gleichsam, wie eine von ihrem Drucke befreite Feder.\nWie dies m\u00f6glich ist, suchten wir durch eine Parallele zu erl\u00e4utern, die wir zwischen den Bedingungen, denen die Sicherheit und Regelm\u00e4fsigkeit der Reproductionen und denen, welchen die Kunstbetrachtung untersteht, zu ziehen versuchten.\nAus dem eigenth\u00fcmlichen Verh\u00e4ltnifs der reproducirten Vorstellungen zu den sinnlichen Eindr\u00fccken ergab sich f\u00fcr die reproducirten Vorstellungen zweierlei :\ndas erste f\u00fcr ihre Stellung im Bewufstsein; sie erscheinen nur im indirecten Sehen;\ndas zweite f\u00fcr ihren logischen Gehalt;\nes kommt ihnen concrete Allgemeinheit zu.\nWir haben die Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation an der bildenden Kunst zu vollziehen gesucht. Ihr allgemeines Resultat: das eigenth\u00fcmliche Verh\u00e4ltnifs zwischen den sinnlichen Eindr\u00fccken und den durch sie angeregten Vorstellungen ist f\u00fcr die \u00e4sthetische Contemplation auch der \u00fcbrigen K\u00fcnste charakteristisch. Wie es sich indefs im Einzelnen, in Architectur, Musik und Poesie gestaltet, mufs den Gegenstand weiterer Untersuchungen bilden. \u2014","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nEdith Kalischer.\nVII.\nZum Schl\u00fcsse haben wir noch das Verh\u00e4ltnis der hier vorgetragenen Anschauungen zu einigen neuerdings vertretenen Theorien des \u00e4sthetischen Eindrucks kurz auseinanderzusetzen. Es sei ausdr\u00fccklich erw\u00e4hnt, dafs auf die Bedeutung dieser Theorien hier nicht eingegangen werden kann. Nur dies, wie weit sie dem specifisch Aesthetischen gerecht werden, haben wir hier kurz zu betrachten. \u2014 Ueber der Analyse des \u00e4sthetischen Eindrucks hat bei den neueren \u00e4sthetischen Arbeiten ein eigenth\u00fcmliches Schicksal gewaltet. Die einen suchten s\u00e4mmtliche psychischen Vorg\u00e4nge, die in den \u00e4sthetischen Eindruck eingehen, zu beschreiben (Dessoir, Volkelt), und einen specifisch \u00e4sthetischen Vorgang herauszustellen ist weder ihre Absicht noch ein m\u00f6gliches Resultat ihrer Methode. Die Anderen (Lipps, Groos) gehen darauf aus, den \u00e4sthetischen Genufs zu erkl\u00e4ren. Damit ist gleich ihre Tendenz gekennzeichnet. Ein Gef\u00fchl erkl\u00e4ren heifst aufzeigen, dafs innerhalb des complexen Gef\u00fchls Gef\u00fchle enthalten sind, oder dafs es als Ganzes an Vorstellungsinhalte gekn\u00fcpft ist, welche auch sonst schon als begl\u00fcckende betrachtet wurden. Eine solche Tendenz mufs also dahin gehen, den \u00e4sthetischen Eindruck in Zusammenhang mit anderen Eindr\u00fccken zu bringen. Der Fortschritt der Erkenntnifs liegt hier gerade in der Aufl\u00f6sung des Specifischen. Es wird daher hei Lipps der Zusammenhang der \u00e4sthetischen Werthe mit den ethischen bewufst hervorgehoben, und bei Groos (neuerdings auch bei Lange) wird der Zusammenhang des Kunstgenusses mit dem Spiel und seiner entwickelungsgeschichtlichen Bedeutung betont. Zur Illustrirung dieser Tendenz, der Tendenz, das specifisch Aesthetische zu verfl\u00fcchtigen, diene die Anf\u00fchrung einer besonders charakteristischen Stelle bei Lipps 1 : \u201eK\u00fcnstlerische Ausgestaltung oder k\u00fcnstlerische Form ist die Weise, wie der Inhalt des Kunstwerks uns dargeboten, der Inbegriff der Mittel, durch die uns eine leichte, sichere, klare, von m\u00f6glichst intensiver Wirkung begleitete Auffassung dieses Inhalts erm\u00f6glicht wird. Der Werth der Form ist der Werth, den diese Darbietung des Inhalts f\u00fcr uns hat, oder, was dasselbe sagt, es ist der Werth, den der Inhalt\n1 III. \u00e4sthetischer Literaturbericht. II. Archiv f\u00fcr systemat. Philosophie\n5, 112.","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n247\nf\u00fcr uns besitzt, sofern er in solcher Weise, leicht, sicher, klar von uns erfafst wird, also m\u00f6glichst vollst\u00e4ndig die ihm eigent\u00fcmliche Wirkung \u00fcbt. Oder welchen \u00e4sthetischen Werth einer k\u00fcnstlerischen Form glaubt man aufzeigen zu k\u00f6nnen, aufser diesem Werth des zur vollen Geltung gebrachten Inhalts?\u201c\nZugestanden, dafs die k\u00fcnstlerische Form diesen Werth habe, so kann doch eine einfache Betrachtung lehren, dafs ihr specifisch \u00e4sthetischer Werth hierin nicht liegen kann. Lifps n\u00e4mlich setzt das Verh\u00e4ltnis von Form und Inhalt zu einander in das Verh\u00e4ltnis von Mittel und Erfolg. Auch dieses zugestanden \u2014 kann dann das Mittel in dem Resultat so aufgehen, so in ihm verschwinden, wie Lifps es will? Von einem Mittel, das in dem erreichten Erfolg verschwindet, kann man doch nur dann sprechen, wenn genau dasselbe Resultat durch verschiedene Mittel erreicht werden kann. F\u00fcr die Drehung eines Rades z. B. ist es gleichg\u00fcltig, ob sie durch Wasser, Dampf oder Elektricit\u00e4t erreicht wurde. Im Psychischen aber kann von solchen Mitteln nicht die Rede sein. Ein psychisches Mittel, das nichts als Mittel w\u00e4re, giebt es nicht. Da alle psychischen Erscheinungen mit einander in Zusammenhang stehen, so wird hier der Zweck durch die Eigennatur des Mittels so sehr und so innerlichst modificirt, dafs das Resultat sich selbst nicht gleich bleibt. So kann es auch f\u00fcr den Inhalt eines Kunstwerks nicht gleichg\u00fcltig sein, durch welche Form er zum Ausdruck gebracht wird. Stets wird der Inhalt eine besondere, nicht nur seine eigene Wirksamkeit entfalten, je nach der Besonderheit der Form, durch welche er dargestellt wird. Wenn demnach die Form den Inhalt nothwendig modificirt, so kann auch ihr Werth nicht blos darin liegen, dafs sie ihn zur Geltung bringt. Was sie dem Inhalt hinzuf\u00fcgt, mufs irgend etwas \u00fcber den Inhalt Hinausgehendes, es mufs ein Werth der Form sein, ein \u00e4sthetischer Werth.\nGehen wir nun zur Betrachtung der Einf\u00fchrungslehre \u00fcber, so haben wir zweierlei zu unterscheiden, was unter dem Begriff der Einf\u00fchlung zusammengefafst wird. Einf\u00fchlung ist erstens der Procefs der Einf\u00fcllung unserer Gef\u00fchle in das Object und zweitens das Resultat dieses Vorgangs, die Einsf\u00fchlung des betrachtenden Subjects mit dem Object.1 Lipps selbst legt\n1 s. Paul Steen, Einf\u00fchlung und Association in der neueren Aesthetik. Hamburg u. Leipzig, Vofs, 1898. S. 5, 6.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nEdith Kalischer.\nden Ton durchaus auf das Resultat des Processes, die Einsf\u00fchlung. Schon Gboos und Witasek haben hervorgehoben, dafs hierin kein specifisch \u00e4sthetisches, sondern ein Verhalten vorliegt, welches innerhalb des ethischen Gebietes eine mindestens ebenso grofse Rolle spielt wie innerhalb des \u00e4sthetischen. Lipps selbst hat einmal den Versuch gemacht zwischen beiden Gebieten zu trennen. In seinem Aufsatz \u00fcber \u201eAesthetische Einf\u00fchlung\u201c 1 sucht er zwischen \u201epraktischer\u201c und \u201evoller\u201c \u201eeinfacher\u201c und \u201evollkommener\u201c oder \u201esympatiseher\u201c Einf\u00fchlung zu unterscheiden. Mit Recht hat Witasek auch hiergegen geltend gemacht, dafs derselbe Unterschied sich innerhalb des Gebietes der praktischen Einf\u00fchlung finde.\nAber, selbst angenommen, dafs diese Unterscheidung zutreffend sei, so erscheint der Weg, den Lipps einschl\u00e4gt, um das Zustandekommen der \u00e4sthetischen Einf\u00fchlung begreiflich zu machen, doch bedenklich. Die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung soll n\u00e4mlich zu st\u00e4nde kommen mit H\u00fclfe der \u201e\u00e4sthetischen Realit\u00e4t\u201c. Die mit dem Charakter der \u201e\u00e4sthetischen Realit\u00e4t\u201c ausgestattete Reproduction soll eine Gef\u00fchlsanlage oder -M\u00f6glichkeit in Wort und That Umsetzern Nun ist aber die \u201e\u00e4sthetische Realit\u00e4t\u201c bei Lipps \u2014 \u00fcbereinstimmend mit dem Resultat unserer Er\u00f6rterungen \u2014 rein negativ bestimmt. (Eine Vorstellung \u201ewirkt \u00e4sthetisch oder wirkt auf das Gem\u00fcth, als ob ihr Inhalt wirklich w\u00e4re, ohne dafs doch dieser Inhalt als wirklich angesehen oder geglaubt w\u00fcrde.\u201c) Es wird also hier etwas Negatives, das Fehlen des Wirklichkeitsbewufstseins, zu einem psychisch Wirkenden gemacht; es wird eine causa deficiens angenommen.\nWir kommen nun zu dem zweiten Merkmal des Begriffs der Einf\u00fchlung, dem Procefs der Einf\u00fcllung. Ohne dafs man ausdr\u00fccklich in diesen Procefs das specifisch Aesthetische verlegt h\u00e4tte, ist doch neuerdings die Untersuchung gerade dieses Processes in den Vordergrund getreten (s. Steen und Volkelt, Witasek und Lipps). \u201eEinf\u00fcllung\u201c soll die Uebertragung des durch das Object erregten Gef\u00fchls auf dieses Object sein. Nun aber leihen wir dem Object \u201eseelischen Inhalt\u201c nicht anders als wir ihm K\u00f6rper, Bewegung etc. leihen. Oder vielmehr: wir k\u00f6nnen ihm seelischen Inhalt so wenig leihen wie K\u00f6rper, Bewegung etc. Die gesammte Einf\u00fchlungslehre geht von dem\n1 s. diese Zeitschrift 22.","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n249\nGegensatz Subject-Object aus. Aber das Object \u2014 als ein \u00e4sthetisches \u2014 wird ja nach ihrer eigenen Theorie durch diesen Vorgang des \u201eLeihens\u201c erst geschaffen! Mit Recht fragt Witasek 3 nach der Vorstellung, an welche sich \u2014 complicirteren Gegenst\u00e4nden gegen\u00fcber \u2014 das Gef\u00fchl kn\u00fcpfen soll. Weil die Einf\u00fchlungslehre nur die Uebertragung der Gef\u00fchle einfachen Formen und Farben gegen\u00fcber betrachtete, konnte der Schein entstehen, als w\u00fcrde in das fertige Object noch ein \u2014 sozusagen \u2014 Uebriges, das Gef\u00fchl, hineingetragen, w\u00e4hrend doch durch die Uebertragung des Gef\u00fchls sowohl wie der K\u00f6rperlichkeit etc. das \u00e4sthetische Object erst entsteht. Es mufs also die Analyse zu der Frage Vordringen, wie die sinnlich gegebenen Eindr\u00fccke die Vorstellung eines Gegenstandes oder eines seelischen Inhalts in uns entwickeln. Einer solchen Untersuchung kann sich die Einf\u00fchlung, so entscheidend sie in einzelnen F\u00e4llen auch sei, doch stets nur als ein Theilprocefs innerhalb des Ge-sammtvorgangs der \u00e4sthetischen Contemplation darstellen. Einf\u00fchlung ist Einf\u00fcgung des Gef\u00fchls in das Gesammtbild des \u00e4sthetischen Objects. Den einfachen Formen und Farben gegen\u00fcber ist allerdings Einf\u00fchlung resp. Beseelung der \u00e4sthetische Vorgang schlechthin, aber das Aesthetische daran ist dasselbe wie bei den \u00fcbrigen Vorg\u00e4ngen der Contemplation. Der \u00e4sthetische Werth der beseelten Formen haftet weder an den Formen, noch an dem seelischen Gehalt, sondern, gem\u00e4fs unserer fr\u00fcheren Ausf\u00fchrung, an einem bestimmten Verh\u00e4ltnifs beider zu einander.\nF\u00fcr Guoos\u20192 Illusionstheorie ist es charakteristisch, dafs sie das Kind mit der Puppe, und den Knaben mit dem Steckenpferd , mit dem Theaterbesucher und dem Betrachter eines bildenden Kunstwerks gem\u00e4chlich in eine Reihe stellt. \u201eDas kleine M\u00e4dchen, dem die unf\u00f6rmigste Puppe, ein zusammengekn\u00fcpftes Taschentuch zum geliebten Baby wird, der Knabe, der einen zwischen die Beine genommenen Stock als Pferd, einen Sandhaufen als Berg, einige zusammengestellte St\u00fchle als Bahnzug betrachtet, aber auch der Erwachsene, der in die Dar-\n1\tDiese Zeitschrift 25 (1 u. 2), 14ff. \u201eZur psychol. Analyse der \u00e4sthetischen Einf\u00fchlung\u201c.\n2\tDas neue Buch von Gnoos: \u201eDer \u00e4sthetische Genufs\u201c, ist hierbei noch nicht ber\u00fccksichtigt.","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nEdith Kalischer.\nStellungen des bildenden K\u00fcnstlers und in die Vorg\u00e4nge auf der B\u00fchne sich so zu versenken bestrebt ist, dafs er sie aus seinem Ged\u00e4chtnifsmaterial heraus zum Schein der vollen Wirklichkeit erg\u00e4nzt, sie alle \u00fcben spielend ihre Illusionsf\u00e4higkeit und sind gl\u00fccklich in diesem Spiel.\u201c Mit solcher Gleichsetzung richtet diese Theorie sich selbst. Denn das, was als differentia specifica das eigentlich Aesthetische heraussteilen sollte, wird gerade in das Aufser\u00e4sthetische verlegt. \u201eNur soweit das Kunstwerk Wahrheits- oder sittlichen Gehalt besitzt, weist der \u00e4sthetische Genufs \u00fcber die Spielsph\u00e4re hinaus, wird ihr aber nicht entzogen.\u201c Es wird also der \u00e4sthetische Genufs in die n\u00e4chsth\u00f6here Gattung, \u2014 das Illusionsspiel \u2014 eingeordnet und das unterscheidende Merkmal der Art ins Intellectuelle und Moralische verlegt.\nNeuere Arbeiten, die ausdr\u00fccklich das specifisch Aesthetische zu umschreiben suchen, sind die von K\u00fclpe und Konrad Lange.\nK\u00fclpe 1 sieht das allen \u00e4sthetischen Eindr\u00fccken Gemeinsame in der Wirkung, die sie auf den Beschauer aus\u00fcben, dem Lustgef\u00fchl; und bestimmt dieses als ein solches, das nur auf den Vorstellungsinhalt nach seiner blofsen Beschaffenheit sich bezieht. Den Zustand, in dem wir uns in den Vorstellungsinhalt als solchen versenken, nennt er \u201eContemplation\". In dieser Bestimmung ist der positive Sinn des Kant\u2019sehen Contemplations-begriffs herausgesch\u00e4lt. Es wird aber bei K\u00fclpe nicht deutlich, wie diese Bestimmung den specifisch \u00e4sthetischen Zustand charakterisiren soll. Das \u201eallen \u00e4sthetischen Eindr\u00fccken Gemeinsame\u201c ist schliefslich von diesen Eindr\u00fccken selbst ganz unabh\u00e4ngig. Daher stehen die sp\u00e4teren Ausf\u00fchrungen der Abhandlung in einem, wie es scheint, nicht ganz klaren V erh\u00e4ltnifs zu der ersten Bestimmung. Nehmen wir n\u00e4mlich an, das specifisch \u00e4sthetische Verhalten liege wirklich in der Versenkung in den Vorstellungsinhalt als solchen, dann h\u00e4ngt es lediglich von uns ab, ob wir uns \u00e4sthetisch verhalten wollen oder nicht. Es ist dann ganz gleichg\u00fcltig, in welchen Vorstellungsinhalt wir uns vertiefen. Der \u00e4sthetische Eindruck selbst w\u00e4re dann \u00e4sthetisch indifferent. Wollte K\u00fclpe aber von der Eigenth\u00fcmlichkeit dieses Eindrucks\n1 Der associative Factor in der neueren Aestlietik. iviss. Philos. 1899.\nVierteljahrsschrift f.","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation.\n251\n(innerhalb der Contemplation) Gefallen und Mifsfallen, Sch\u00f6nheit und H\u00e4fslichkeit abh\u00e4ngig machen, so w\u00e4re das \u00e4sthetisch Wesentliche eben in dem Eindruck, und nicht in dem con-templativen Zustand selbst. \u2014 Gehen wir dagegen von den sp\u00e4teren Ausf\u00fchrungen K\u00fclpe\u2019s, von der Analyse des \u00e4sthetischen Eindrucks aus, so wird dessen Beziehung zum contemplativen Zustand wiederum nicht klar. Es bleibt ungewifs, welches denn \u201eder Vorstellungsinhalt als solcher\u201d sei, in welchen sich das Be-wufstsein beim \u00e4sthetischen Verhalten versenken soll. Man weifs nicht, soll es der directe, soll es der associative Factor sein, oder das Verh\u00e4ltnis beider zueinander? Dafs diese Factoren etwa nur der eingehenden Analyse sich erg\u00e4ben, und das \u00e4sthetische Object eine in sich ganz einheitliche Vorstellung sei, \u2014 diese Annahme scheint der Erfahrung zu widersprechen, nach der bald der eine, bald der andere Factor im individuellen Geniefsen sowohl (bei l\u00e4ngerer wie k\u00fcrzerer Betrachtung) wie in der Kunstgeschichte als besonders betont erscheint. Wollte man aber die Einheitlichkeit des \u00e4sthetischen Objects doch aufrecht erhalten (und K\u00fclpe legt beim associativen Factor gerade hierauf den gr\u00f6fsten Nachdruck), so wird man doch dies zugeben m\u00fcssen, dafs diese Einheit w\u00e4hrend des \u00e4sthetischen Geniefsens immer neu entsteht. Bei den sog. Zeitk\u00fcnsten ist dies ja der Natur der Sache nach gar nicht anders m\u00f6glich, bei den Raumk\u00fcnsten w\u00fcrde andernfalls sofort Langeweile entstehen. Es w\u00fcrde aber eine ganz hervorragende Geisteskraft \u2014 und eigentlich eine Art Selbstbeobachtung \u2014 bedeuten, wollte man in diesen complexen, immer neu entstehenden Vorstellungsinhalt sich noch contemplativ versenken.\nDiejenige Theorie, welcher sich die in dieser Abhandlung vorgetragenen Anschauungen vielleicht am meisten n\u00e4hern, ist diejenige, wrelche der Formulirung nach in schroffstem Widerspruch zu ihnen steht: es ist die Theorie von Konrad Lange.1 Lange hat offenbar den von uns beschriebenen Zustand im Auge, wenn er den \u00e4sthetischen Genufs in \u201eeiner gef\u00fchlsm\u00e4fsigen Erzeugung einer nicht vorhandenen Sache auf Grund eines sinnlich wahrnehmbaren Objects\u201c (S. 17) bestehen l\u00e4fst, wenn er ihn als \u201eeine Art schwankenden, schwebenden Zustands\u201c beschreibt\n1 Die bewufste Selbstt\u00e4uschung als Kern des \u00e4sthetischen Genusses. Leipzig, Veit u. Co., 1895.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nEdith Kalischer.\nund den Kern des Kunstgenusses weder in den Gehalt, noch in der Form, \u201esondern in einem dazwischen liegenden Dritten\u201c (S. 28) sucht. Wenn er aber diese Erzeugung eines nicht vorhandenen Objects als eine T\u00e4uschung auffafst, deren man sich immerfort bewufst sein soll, wenn er den k\u00fcnstlerischen Genufs in einem fortw\u00e4hrenden Hin- und Herpendeln zwischen Realit\u00e4t und Schein, zwischen Ernst und Spiel\u201c \u2014 (S. 22) Producten der Reflexion ! \u2014 bestehen l\u00e4fst, so haben wir schon im II. Abschnitt auf die Gr\u00fcnde und Thatsachen hingewiesen, die uns zwingen, diese Anschauung zur\u00fcckzuweisen.\n(.Eingegangen am 19. Januar 1902.)","page":252}],"identifier":"lit32964","issued":"1902","language":"de","pages":"199-252","startpages":"199","title":"Analyse der \u00e4sthetischen Contemplation. (Plastik und Malerei)","type":"Journal Article","volume":"28"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:56:27.451268+00:00"}