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{"created":"2022-01-31T16:08:16.144310+00:00","id":"lit32988","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schultze, Ernst","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 28: 299-300","fulltext":[{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturberich t.\n299\nzwar viel weifs, aber nichts kann, wenn es nichts zu produciren und somit sein Wissen nicht f\u00fcr sein Handeln zu verwerthen vermag.\nDie Beurtheilung der Imbecillen, insbesondere der Grenzf\u00e4lle, mufs das gesammte Geistesleben des Exploranden in seiner Totalit\u00e4t ber\u00fccksichtigen, da es charakteristische Einzelsymptome nicht giebt.\nBeachtung verdient die Veranlagung, das Milieu, die Einwirkung fr\u00fcherer Krankheiten, der Einflufs der Schule, vor Allem in den h\u00f6heren Classen, das Gef\u00fchlsleben im Kindesalter, insbesondere zur Zeit der Pubert\u00e4t, im Berufsleben auf tretende M\u00e4ngel, die Reaction auf Alkohol, das Verhalten der Sexualsph\u00e4re, das strafrechtliche Vorleben.\nVon den Eigenschaften der Imbecillen seien erw\u00e4hnt und hervorgehoben Ungleichm\u00e4fsigkeit der geistigen Bildung in den verschiedenen Gebieten, Urtheilsunf\u00e4higkeit, Mangel des Unterscheidungsverm\u00f6gens f\u00fcr das Wesentliche und Unwesentliche, die Unf\u00e4higkeit der Bildung von Sammelbegriffen und abstracten Vorstellungen, Leichtgl\u00e4ubigkeit und Lenkbarkeit, die Neigung zum L\u00fcgen (besonders in der Form der sog. pseudologia phantastica), Mangel an Reproductionstreue, Arbeits- und Leistungsunf\u00e4higkeit, Vorwiegen des egocentrischen Standpunktes, der pathologische Egoismus mit Gem\u00fcthsstumpfheit, pathologische Reizbarkeit, erhebliche Schwankung der Stimmung und intellectuellen Leistungsf\u00e4higkeit.\nIn zutreffender und anschaulicher Weise wird geschildert, wie verschieden sich der Lebensweg der Imbecillen aus armen und aus reichen Kreisen gestaltet; gerade bei den letzteren wird erst, nachdem alle Versuche fehlgeschlagen sind, das Individuum zu erziehen und zu einer selbst\u00e4ndigen Lebensstellung zu bringen, nachdem es den Seinigen unendlich viel Sorgen und fast noch mehr Geldausgaben verursacht hat, an Krankheit gedacht. Das w^eifs der Irrenarzt nur zu wohl.\nZu ber\u00fccksichtigen ist auch das criminelle Vorleben. Nur zu h\u00e4ufig finden wir bei Imbecillen einmalige oder wiederholte Verurtheilung, die mit ihren Folgen nur noch zur Beschleunigung des gesellschaftlichen Niedergangs beitr\u00e4gt. Strafe vermag nichts weniger als bessernd zu wirken.\nAndere Imbecille fallen zum ersten Male in der Milit\u00e4rzeit mit deren so mannigfachen Anforderungen auf ; auch hier w\u2019erden sie nur zu oft verkannt.\nSchliefslich bespricht Verf. an der Hand der in Betracht zu ziehenden Paragraphen die straf- und civilrechtliche Beurtheilung Imbeciller.\nErnst Schultze (Andernach).\nH. Kielhorn. Die F\u00fcrsorge f\u00fcr geistig Minderwerthige. \u201eJugendf\u00fcrsorge\u201c\nHeft 7. 1901. 18 S.\nVerf., der sich seit 25 Jahren mit dem Unterricht schwachsinniger Kinder abgiebt, untersucht, wie die geistige Minderwerthigkeit mit ihren Folgen zu mildern ist.\nDie Hauptforderung, die er aufstellt, ist die, dafs die geistig minder-werthigen Kinder einer sorgf\u00e4ltigen, streng individualisirenden Erziehung bed\u00fcrfen, welche je nach dem Alter der Kinder und dem Grade der geistigen Schw\u00e4che in der Familie, in der Gemeindeschule, in der H\u00fclfs schule oder in der Anstalt zu geschehen hat.","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nLiteraturbericht.\nHinsichtlich des Grades unterscheidet er drei Hauptgruppen, die Schwachbef\u00e4higten, die Schwachsinnigen und die Bl\u00f6dsinnigen, welche Gruppen nat\u00fcrlich nicht scharf von einander getrennt sind. Ein wie warmes -Herz Verf. f\u00fcr diese bedauernswerthen Individuen schl\u00e4gt, zeigen seine Ausf\u00fchrungen \u00fcber die Erziehung minderwerthiger Kinder in ethischer und intellectueller Beziehung. Vor Allem legt er und durchaus mit Recht darauf grofsen Werth, dafs eine saehgem\u00e4fse Behandlung durch den Lehrer den \u00fcbrigen geistig gesunden Kindern eine zutreffende Beurtheilung ihrer minder gut situirten Kameraden und Mitleid mit ihnen einfl\u00f6fst.\nMit der Schule allein ist es nicht gethan ; das beweist schon die st\u00e4ndige Zunahme der Zahl jugendlicher Verbrecher. Mit R\u00fccksicht darauf verlangt Verf., dafs f\u00fcr die Schwachbef\u00e4higten und Schwachsinnigen die Schulpflicht um 2 Jahre hinausgeschoben wird, dafs die H\u00fclfsschule auch Handfertigkeitsunterricht mit Zuh\u00fclfenahme von Werkst\u00e4tten in ihren Lehrplan aufnimmt; so kann festgestellt werden, welcher Beruf den jeweiligen F\u00e4higkeiten am meisten entspricht. Darnach kommen sie zu einem Lehrmeister, dem f\u00fcr .gute Ausbildung der Staat eine Pr\u00e4mie zahlen sollte, unter st\u00e4ndiger Ueberwachung durch die Anstaltsbeamten. Dafs sich f\u00fcr die genannten Kategorien landwirtschaftliche Arbeiten sehr wohl eignen, wird den Psychiater nicht Wunder nehmen; auch hier hat die H\u00fclfsschule den Boden zu ebnen. Jedenfalls bed\u00fcrfen diese Minderwertigen auch sp\u00e4terhin der F\u00fcrsorge und Beaufsichtigung, f\u00fcr die, falls Eltern nicht ein-treten k\u00f6nnen, besondere Veranstaltungen zu treffen sind.\nSchliefslich bringt Verf. noch einige Bemerkungen \u00fcber die civil-reehtliche Behandlung, die, jedenfalls was die Pflegschaft angeht, weniger zutreffen. Verf. h\u00e4lt es ferner f\u00fcr geboten, bei den Schwachsinnigen den Nacheid einzuf\u00fchren. Wenn Verf. schliefslich behauptet, dafs viele geistig Minderwertige zu Unrecht beim Milit\u00e4r eingestellt, und dafs diese gerade so viele milit\u00e4rische Vergehen sich zu Schulden kommen lassen, so kann man dem nur beistimmen. Auch nach der Richtung hin soll der Lehrer auf kl\u00e4rend wflrken.\tErnst Schul tze (Andernach).\nForel. Ueber die Zurechnungsf\u00e4higkeit des normalen Menschen. Vortr. 5. Aufl.\nM\u00fcnchen, Ernst Reinhardt, 1901. 27 S. Mk. 0,80.\nSo sehr jeder Mensch das Gef\u00fchl der Freiheit seiner Entschl\u00fcsse hat, so ist die Willensfreiheit doch nur eine Illusion, die auf der Unkenntnifs der Motive unserer Handlungen beruht. Wir haben hier vielmehr zu rechnen mit der Plasticit\u00e4t der Seele oder des Gehirns d. h. mit der F\u00e4higkeit, neue Combinationen am alten zu bilden, sich neuen Verh\u00e4ltnissen anzuschmiegen. Andererseits giebt es instinctive oder automatische Triebe von verschiedener Intensit\u00e4t, die den Eindruck der Gebundenheit hervor-rufen. Indefs ist der Gegensatz nur ein relativer. Phylogenetisch betrachtet sind die Instincte nichts anderes als der Ausdruck der alten, vererbten Eigenschaften unserer Ahnen, w\u00e4hrend umgekehrt die plastische Seelenarbeit j\u00fcngsten Datums ist.\nDer Begriff der Willensfreiheit d. i. der F\u00e4higkeit, unser Denken, F\u00fchlen, Handeln an alle \u00e4ufseren und inneren Verh\u00e4ltnisse m\u00f6glichst entsprechend und geordnet anzupassen, ist ein relativer, und ebenso auch der","page":300}],"identifier":"lit32988","issued":"1902","language":"de","pages":"299-300","startpages":"299","title":"H. Kielhorn: Die F\u00fcrsorge f\u00fcr geistig Minderwerthige. \"Jugendf\u00fcrsorge\" Heft 7. 1901. 18 S.","type":"Journal Article","volume":"28"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:08:16.144316+00:00"}