Open Access
{"created":"2022-01-31T16:26:08.915714+00:00","id":"lit32998","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Hoffmann, O.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 33: 144-147","fulltext":[{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nLiteraturb ericht.\na) dafs nach Herausnahme adenoider Vegetationen in geradezu \u00fcberraschender Weise die spontane Entwicklung der bei f\u00fcnf- und sechsj\u00e4hrigen Kindern noch gehemmten Sprache eingeleitet wurde; b) auch entferntere Beize k\u00f6nnen Hemmungen aus\u00fcben (fehlerhafte Di\u00e4t). Verf. empfiehlt, h\u00f6rstumme Kinder, sofern rein psychische Hemmungen vorliegen, den Taubstummenanstalten zu \u00fcberlassen, die ohne Schwierigkeiten auf dem Wege der Artikulations\u00fcbungen vielleicht in einem Jahre die Aufnahme in die normale Schule m\u00f6glich machen. \u2014 Genau dieselben \u00dfeize k\u00f6nnen auch zu spastischen Erscheinungen Veranlassung geben (W\u00fcrmer). Diese werden ferner veranlafst durch ein zu grofses Mifsverh\u00e4ltnis zwischen Perzeptionszentrum und dem motorischen in der Sprachentwicklung, das erstere eilt dem letzteren voran; ferner Pr\u00e4dispositionen zur Nachahmung von Fehlern ; endlich angeborenen Hemmungen des motorischen Zentrums, die im allgemeinen gleichzusetzen sind der allgemeinen Unlust des Kindes an der Bewegung.\nIII. Hemmungen endlich der peripher-expressiven Wege treten in den Hintergrund. Zu bemerken ist im besonderen, dafs das verk\u00fcrzte Zungenb\u00e4ndchen sehr selten ein Hemmnis der Sprachentwicklung ist. Verf. verurteilt das vielfach \u00fcbliche Zungenl\u00f6sen als einen Unfug.\nMarx Lobsien (Kiel).\nE. W. Scripture. The Elements of Experimental Phonetics. New York, Scribner\u2019s Sons; London, Arnold; 1902. XVI und 627 S., mit 26 Tafeln und 360 Fig. im Text. 21 Shill.\nDie experimentelle Phonetik ist ein Arbeitsfeld, das gemeinsam von der Physik, der Physiologie, der Psychologie und der Sprachwissenschaft beackert wird. Jede der vier Wissenschaften hat ein Interesse daran, mit ihren Schwestern F\u00fchlung zu behalten, und wird deshalb ein Werk, das diesem Ziele dient, mit Freude begr\u00fcfsen. Der Verf. hat es meisterhaft verstanden, in klarer Darstellung die Probleme, um die es sich handelt, die Apparate, die Untersuchungsmethoden und die bis jetzt gewonnenen Eesultate zu schildern. Auch der den naturwissenschaftlichen Untersuchungen ferner stehende Philologe vermag ihm ohne M\u00fche zu folgen. Besonders geschickt ist die Gruppierung des Stoffes. Die vier grofsen Abschnitte zerfallen in 37 Kapitel (von 3 bis zu 30 Seiten), deren jedes einen abgerundeten Stoff behandelt und sowohl in den Fufsnoten als auch am Ende mit reichlichen Literaturangaben versehen ist.\nDer erste Abschnitt S. 1\u201475 (curves of speech) besch\u00e4ftigt sich mit den verschiedenen Methoden, die man zur graphischen Fixierung der beim Sprechen hervorgebrachten Luftschwdngungen angewendet hat. Es werden die verschiedenen Phonautographen oder Sprachzeichner, die manometrischen Flammen, der Phonograph und endlich das Grammophon beschrieben. \u00dcber eigene Untersuchungen mit dem letzteren Apparate hatte Scripture schon in zwei Aufs\u00e4tzen in den Studies from the Yale Psychological Laboratory VII (1899) und X (1902) berichtet; der Inhalt dieser beiden Aufs\u00e4tze ist samt den Tafeln und Abbildungen in zusammengedr\u00e4ngter Form in die \u201eElements\u201c \u00fcbernommen worden. Den Schlufs von I bildet eine kurze Anleitung zur Analyse der Kurven, fortgesetzt in dem zweiten Appendix.","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n145\nDer zweite Abschnitt S. 76\u2014187 (perception of speech) h\u00e4tte stark gek\u00fcrzt werden k\u00f6nnen, da er zum grofsen Teil rein psychologische Probleme behandelt. Scripture fafst, w~ohl durch pers\u00f6nliche Neigung bewogen, den Begriff der experimentellen Phonetik allzu weit : der anatomische Bau des H\u00f6rorgans (S. 76\u201481), die Lokalisation der \u201eSprachzentren\u201c im Gehirne (S. 83\u201488), der allgemeine Charakter und die Wahrnehmung eines Tones (S. 89\u2014112), die Ideen-Assoziation im allgemeinen und beim Sprechen (S. 135\u2014174) sind Dinge, die in jeder Psychologie eingehend dargestellt werden und die mit dem Mechanismus der Sprache, dem Hauptgegenstande der experimentellen Phonetik, wenig zu tun haben. Auch scheint mir Scripture den Einflufs der Apperzeption der Laute auf den Wandel der Artikulation zu \u00fcbersch\u00e4tzen. Gewifs ist es m\u00f6glich, dafs ein Lautwandel seine Ursachen in der Arbeitsersparnis beim H\u00f6ren und Auffassen des Klanges (\u201eperceptive economy\u201c), nicht aber beim Artikulieren (\u201emotor economy\u201c) hat. Wie schwierig es aber ist, diese Erkl\u00e4rung praktisch anzuwenden, zeigt Scripture selbst: denn es wird ihm schwerlich jemand glauben, dafs die aus allen Sprachen bekannte Monophthongisierung eines Diphthongen (z. B. ags. \u00e4 aus ai) aus dem unbewufsten Wunsche, dem Ohre die Arbeit der Auffassung zweier Vokalkl\u00e4nge zu ersparen, entsprungen sei (S. 122).\nDer bedeutendste und umfangreichste Abschnitt ist der dritte S. 188\u2014398 (production of speech). Er handelt von den Bewegungen und Stellungen der Sprachorgane und den Mitteln, sie exakt zu messen und graphisch darzustellen : also von demjenigen Teile der Experimentalphonetik, der durch Rousselots Arbeiten in den Mittelpunkt des Interesses ger\u00fcckt ist. Nach einigen einleitenden Bemerkungen \u00fcber die Art der Muskelkontraktion folgt (S. 195 ff.) eine Schilderung der in der Physiologie allgemein angewendeten Methode Mareys, die Muskelbewegung in die Bewegung einer Lufts\u00e4ule umzusetzen und diese auf einen schreibenden Hebel wirken zu lassen. Die St\u00e4rke, Art und Dauer der Expiration (breathing, S. 212ff.) kann entweder durch den Pneumographen, der die Ausdehnung des Thorax und Abdomen mifst, oder durch den Spirometer, dessen Schalltrichter dicht vor Mund oder Nase angebracht wird und die einzelnen Expirationsst\u00f6fse auff\u00e4ngt, gemessen werden. In Kapitel XVII (227\u2014238) wird die gesamte Muskulatur der Sprachorgane, in Kapitel XVIII (239\u2014250) der Kehlkopf eingehend beschrieben. Das Kapitel XIX (251\u2014280) besch\u00e4ftigt sich mit dem Charakter der Stimmb\u00e4nderschwingungen. Die von Rousselot angewendete Methode, die Schwingungen von aufsen zu messen, wird nur kurz (S. 267) erw\u00e4hnt. Sie hat allerdings verschiedene M\u00e4ngel und l\u00e4fst sich mit der feinen Arbeit des Phonographen oder Grammophons nicht im entferntesten vergleichen. Leider ist sie nicht ganz zu entbehren, da die Stimmb\u00e4nder auch w\u00e4hrend des v\u00f6lligen Verschlusses der Mund- und Nasenh\u00f6hle schwingen k\u00f6nnen, wie z. B. im Franz\u00f6sischen beim b. In Kapitel XX (281\u2014295) wird der Rosonanzton oder \u201eFormant\u201c des Vokales besprochen, seine absolute H\u00f6he und seine Zusammensetzung aus mehreren Einzelresonanzen (Lloyd). Sehr eingehend behandeln die Kapitel XXI bis XXIII (S. 296\u2014324) die mit Hilfe des k\u00fcnstlichen Gaumens untersuchten Verschl\u00fcsse zwischen Zunge\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 33.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nLitera turberi ch t.\nund Gaumen: zahlreiche Abbildungen im Texte veranschaulichen die Ver-schlufsbildung im Amerikanischen, Irischen, Ungarischen, Deutschen, Franz\u00f6sischen und Italienischen. Die Zungenbewegung und Zungenstellung kann durch Apparate, die in den Mund eingef\u00fchrt werden (S. 330\u2014335), oder an den Bewegungen des Mundbodens (335\u2014337) gemessen werden: einwandsfrei sind aber beide Methoden nicht. Auch die direkte Messung der Bewegungen des Velum durch Apparate, die durch die Nase oder den Mund daran gelegt werden (344\u2014346), ist eine Qu\u00e4lerei ohne viel Nutzen: viel zweckm\u00e4fsiger erscheint es, das Auf steigen des Velum gegen die Schlundwand an dem Volumen des durch die Nase ausgehenden Luftstromes zu messen, wie das Rousselot und Josselyn mit Erfolg getan haben (S. 347\u2014352). Kurz wTird die Messung der Lippen- und Kinnladenbewegung abgemacht (353\u2014355). Das Neue der RoussELOTsehen Untersuchungen und Resultate kommt am deutlichsten in Kapitel XXVI (simultaneous and successive speech movements) zum Ausdruck. Der Charakter jedes Sprach-lautes ist nicht von der Stellung oder Bewegung eines einzigen Sprach-organes, sondern mehrerer zugleich abh\u00e4ngig und aufserdem wird jede Stellung oder Bewegung des einzelnen Organes durch die vorhergehenden und folgenden beeinflufst. Also mufs es das h\u00f6chste Ziel der experimentellen Phonetik sein, einen vollst\u00e4ndigen Satz graphisch so zu fixieren, dafs die Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge s\u00e4mtlicher von den verschiedenen Organen ausgef\u00fchrten Bewegungen deutlich zu erkennen ist. Wie wertvoll das ist, nicht allein f\u00fcr die genaue Bestimmung der Laute der modernen Sprachen, sondern auch f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis historischer Lautentwicklungen (\u00dfovxolos neben a\u00ceTtolos aus -qolos), f\u00fchrt Scripture an Aufnahmen von Rousselot, Rosapelly und Zwaardemaker aus. Freilich sind die technischen Schwierigkeiten hierbei grofs: vor allem d\u00fcrfen die verschiedenen Aufnahmeapparate die Versuchsperson am nat\u00fcrlichen Sprechen nicht behindern. Einen bedeutenden Fortschritt gegen\u00fcber Rousselot bedeutet in dieser Beziehung der von Zwaardemaker konstruierte Apparat (vgl. Neuere Sprachen 1900), den Scripture wohl h\u00e4tte abbilden und etwas ausf\u00fchrlicher besprechen k\u00f6nnen. Das Schlufskapitel XXVII des dritten Abschnittes (vocal control) z\u00e4hlt diejenigen physiologischen und psychologischen Einfl\u00fcsse auf, denen die Sprache im allgemeinen unterliegt und von denen daher das richtige und normale Funktionieren des Sprachapparates abh\u00e4ngt.\nDer vierte Abschnitt (factors of speech) behandelt die vom Ohre unterschiedenen Sprachlaute nach der Art und den Unterschieden ihrer Hervorbringung und ihre Zusammenf\u00fcgung im Worte und Satze. Ausf\u00fchrlich werden die verschiedenen Theorien \u00fcber die Natur der Vokale entwickelt. Dafs der Eigen- oder Resonanzton (Formant) des Vokales vom Stimmtone ganz unabh\u00e4ngig ist, dafs also der Vokalklang im ganzen nicht notwendig eine harmonische Tonverbindung ist, haben Hermanns Untersuchungen endg\u00fcltig gezeigt. Nat\u00fcrlich kann der Resonanzton im einzelnen Falle in bezug auf die absolute Tonh\u00f6he mit einem Obertone des Stimmtones zusammenfallen: aber das Wesen des Vokalklanges hat damit nichts zu tun. Scripture betrachtet die v\u00f6llige Unabh\u00e4ngigkeit des Formanten vom Stimmtone einerseits und sein Zusammenfallen mit einem Obertone des Stimm tones andererseits als die beiden Extreme: \u201ewhen the puffs (of the","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht*\n147\ncords) have infinitely sharp forms the former is necessarily correct; when they are sinusoidal the latter is also necessarily correct. Puffs of forms between these extremes will modify the waves from the vocal cavity according to their forms\u201c (S. 421). Eine kurze Definition von \u201ewhispered, sonant, surd vowel\u201c, die Einteilung der Vokale nach Lippen- und Zungenstellung (Sweet) und die Bestimmung eines Diphthongen schliefst das Kapitel. Die Ausf\u00fchrungen \u00fcber \u201eliquids and consonants\u201c (S. 432\u2014445) besch\u00e4ftigen sich fast ganz mit dem Wesen der \u201eMouillierung\u201c und \u201ePalatalisierung\u201c, besonders mit dem Unterschiede zwischen k und t. Allgemeine Bemerkungen \u00fcber die Zusammensetzung der Laute im Worte (sound fusion S. 446\u2014461) und den Lautwandel (progressive change, S. 462\u2014471) leiten die letzten sechs Kapitel ein, deren Inhalt die Gliederung der ununterbrochenen Lautfolge des Wortes oder Satzes bildet : ihr dient die Auf- und Abbewegung des Stimmtones (melody), die verschiedene L\u00e4nge (duration), die wechselnde Lautst\u00e4rke (loudness), der Akzent (accent) und endlich der Rhythmus (auditory and motor rhythm, speech rhythm). Scriptures \u00dcberblick \u00fcber das, was gerade auf diesen Gebieten die experimentelle Untersuchung des Franz\u00f6sischen, Deutschen, Ungarischen, Finnischen, Litauischen in den letzten Jahren geleistet hat, stellt den Wert der experimentellen Phonetik ins hellste Licht. Es ist f\u00fcr das Ohr ganz unm\u00f6glich, der Tonbewegung beim Sprechen zu folgen oder die L\u00e4nge und St\u00e4rke der Laute so scharf zu fassen, dafs eine sichere Vergleichung m\u00f6glich ist. Experimentell dagegen lassen sich diese wichtigen Faktoren der Sprache ver-h\u00e4ltnism\u00e4fsig leicht untersuchen.\nIm Appendix I (561\u2014573) wird die von Hermann zur Messung der Vokalkurven angewendete \u201eFourier analysis\u201c beschrieben; Appendix II enth\u00e4lt im Anschlufs an S. 62 die Analyse der Vokale einer mit dem Grammophon aufgenommenen Kurve eines Gedichtes (Cock Robin); der Appendix III (free rhythmic action, S. 602\u2014606) ist ohne Interesse f\u00fcr die Phonetik.\nScriptures Buch ist f\u00fcr phonetische Untersuchungen unentbehrlich und wird bei einer neuen Auflage noch gewinnen, wenn alles, was nicht streng zum Thema geh\u00f6rt, ausgeschieden wird. O. Hoeemann (Breslau).\n0. K\u00fclpe. Zur Frage nach der Beziehung der ehenmerklichen zu den \u00fcbermerklichen Unterschieden. Philos. Studien 18 (2), 328\u2014346. 1902.\nDer Verf. weist in dieser Abhandlung die Einw\u00fcrfe zur\u00fcck, die A. Lehmann (in seinem Buche \u201eDie k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen psychischer Zust\u00e4nde\u201c S. 105 f.) gegen eine unter des Verf. Leitung von Ament f\u00fcr Licht und Schallintensit\u00e4ten ausgef\u00fchrte und unter gleichem Titel in den Philos. Stud. 16, S. 135 f. erschienene Arbeit erhoben hat. Indem er dann weiter Lehmann nachzuweisen sucht, dafs er sich selbst in seiner Arbeit nicht unerhebliche Fehler zu schulden kommen liefs, spricht er diesem das Recht ab, einem Anf\u00e4nger auf diesem schwierigen Gebiete gegen\u00fcber Ausdr\u00fccke zu gebrauchen, wie sie sich in jener Kritik finden.\nKiesow (Turin).\n10*","page":147}],"identifier":"lit32998","issued":"1903","language":"de","pages":"144-147","startpages":"144","title":"E. W. Scripture: The Elements of Experimental Phonetics. New York, Scribner's Sons; London, Arnold; 1902. XVI und 627 S., mit 26 Tafeln und 360 Fig. im Text","type":"Journal Article","volume":"33"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:26:08.915720+00:00"}