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{"created":"2022-01-31T16:31:55.060135+00:00","id":"lit33048","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Piper, H.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 33: 372-382","fulltext":[{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nLiteraturbericht.\n\u201egr\u00f6fser\u201c, \u201ekleiner\u201c usw. ihren Ausdruck findet, komplizierte Prozesse einschiebt: Hand- und Armbewegungen oder doch die Bilder derselben sowie die motorischen Impulse zu den W\u00f6rtern \u201eoben\u201c, \u201eunten\u201c etc. sollen erst die Lokalisation erm\u00f6glichen. Als ob eine Bewegung oder der Impuls zu einer solchen oder gar der Antrieb zur Wortartikulation die Raumauffassung mit sich f\u00fchrte! Auch den Begriff Suggestion, den Verf. f\u00fcr die von ihm vorausgesetzte Erweckung sensorisch-motorischer Vorstellungen durch Reiz und Nebenreiz einf\u00fchrt, w\u00fcrde Referent lieber vermeiden, und die Versuche, welche Peaece \u00fcber den Zusammenhang zwischen Intelligenz und Neigung zu den beschriebenen Lokalisationst\u00e4uschungen an Schulkindern angestellt hat, d\u00fcrften sein allgemeines Urteil \u00fcber die Beziehung der Intelligenz zur Suggestibilit\u00e4t kaum rechtfertigen.\nD\u00fcee (W\u00fcrzburg).\nB. Bouedon. La perception visuelle de l\u2019espace. 442 S. 143 Fig, Biblioth\u00e8que de p\u00e9dagogie et de psychologie, publi\u00e9 sous la direction de Alfeed Binet, 4. Paris, Schleicher fr\u00e8res, 1902.\nDas Buch ist zweifellos als eine literarische Erscheinung von hervorragender Bedeutung auf dem Gebiete der Gesichtswahrnehmungen zu betrachten: es ist zun\u00e4chst ein aufserordentlich verdienstliches Werk, das verwickelte und in zahllosen Einzelarbeiten zerstreute Literaturmaterial \u00fcber die visuelle Raumwahrnehmung einer kritischen Bearbeitung und monographischen Darstellung unterzogen zu haben, und das um so mehr, als diese Darstellung an Klarheit der Auffassung und Eleganz des Stiles nichts zu w\u00fcnschen \u00fcbrig l\u00e4fst; dann aber bedeutet das Buch in allen m\u00f6glichen Einzelfragen des behandelten Gebietes einen sehr wesentlichen Fortschritt, sei es dafs die Fragestellung klarer als bisher geschehen pr\u00e4zisiert und Anregung zu neuen Untersuchungen gegeben wurde, sei es dafs durch Ausf\u00fchrung ausgedehnter Reihen eigener Experimentaluntersuchungen wertvolle Ergebnisse erzielt oder L\u00f6sungen alter Probleme angebahnt wurden. Und das letztere ist in jedem Kapitel, ja fast in jedem Abschnitt des Buches des Fall. Es wird also, wie ich annehme, den Lesern dieser Zeitschrift, welche auf gleichem Gebiete arbeiten oder sich interessieren, willkommen sein, das Buch B.s hier durch eingehende Besprechung ber\u00fccksichtigt zu finden.\nIm einleitenden Kapitel werden zun\u00e4chst in aller K\u00fcrze die wichtigsten Tatsachen aus der Anatomie des Auges und die Grundbegriffe der physiologischen Dioptrik rekapituliert; nachdem die Gesetze der Lichtbrechung in den brechenden Medien des Auges, die Berechnung des Strahlenganges mit Hilfe der optischen Kardinalpunkte nach Gauss, die Bestimmung der optischen Konstanten des Auges, die Funktion der Iris, die Entwicklung der von Helmholtz eingef\u00fchrten Begriffe der optischen Achse, der Gesichtslinie, der Visierlinien und der Richtungslinien, die sph\u00e4rische und chromatische Aberration des Lichtes im Sehorgan und endlich die Refraktions anomalien mit Einschlufs des physiologischen und pathologischen Kornealund Linsenastigmatismus in knappster Darstellung gestreift und durch Anf\u00fchrung weniger pr\u00e4gnanter Versuche illustriert sind, nachdem dann kurz die Berechnung der Gr\u00f6fse der Netzha\u00fctbilder an Listings reduziertem","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht,\n373\nAuge vorgef\u00fchrt worden ist, finden die f\u00fcr die Raumwahrnehmung wesentlichen peripherischen Werkzeuge des Sehorganes, der Akkommodationsapparat und die Augenbewegungen eingehendere Ber\u00fccksichtigung. Es werden die Begriffe der Akkommodationsbreite, des Punctum proximum und remotum an der Hand des ScHEiNERSchen und anderer Experimente vorgef\u00fchrt, dann werden die bisher wenig erfolgreichen Versuche besprochen, durch welche \u00fcber den zeitlichen Verlauf und die Geschwindigkeit des Akkommodationsvorganges Aufschlufs gesucht wurde ; es schliefsen sich weitere Bemerkungen an \u00fcber das Zusammenwirken von Akkommodation und Irisbewegung, \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit der Gr\u00f6fse der Zerstreuungskreise von der Weite der Pupille und die M\u00f6glichkeit ungenaue Linseneinstellung durch k\u00fcnstliche Verengerung der Pupille (stenop\u00e4ische Brille) zu kompensieren, und sehliefs-lich wird die Tatsache, dafs im emmetropischen Auge bei Einstellung auf Entfernungen von 4 m \u2014 oo ein Wechsel des Akkommodationszustandes nicht nachgewiesen werden kann (Bourdon), dazu benutzt, um die aufserordentlich geringe Rolle des Akkommodationsapparates f\u00fcr die Tiefenwahrnehmung zu demonstrieren, Als wesentlich wichtiger erweisen sich in dieser Beziehung die Augenbewegungen. Schon ein Auge f\u00fcr sich ist bis zu einem gewissen Grade f\u00e4hig, die Wahrnehmung von Entfernungsdifferenzen zu vermitteln; denn bei Bewegungen des Auges ver\u00e4ndert das Pupillenzentrum und der Knotenpunkt seinen Ort im Raume und die Gegenst\u00e4nde werden infolgedessen unter ver\u00e4nderter Parallaxe gesehen; viel gr\u00f6fser wird die parallaktische Verschiebung nat\u00fcrlich, wenn Bewegungen des Kopfes und des Rumpfes hinzukommen.\nDas wichtigste Mittel zur visuellen Tiefenwahrnehmung aber ist uns darin gegeben, dafs wir beim Binokularsehen die Gegenst\u00e4nde mit jedem Einzelauge von zwei verschiedenen Punkten im Raume aus \u201estereoskopisch\u201c sehen und die beiden differenten Netzhautbilder zu einer plastischen Wahrnehmung kombinieren k\u00f6nnen. F\u00fcr das Studium dieser Funktion ist die Kenntnis der Augenbewegungen Grundlage.\nDonders stellte zun\u00e4chst das Gesetz fest, dafs f\u00fcr eine jede bestimmte Stellung der Blicklinie auch das ganze Auge eine bestimmte Lage im Koordinatensystem des Kopfes einnimmt. Listing fand dann, dafs bei \u00dcbergang des Auges aus der Prim\u00e4rstellung in eine sekund\u00e4re (parallele Blicklinien) die Drehung des Bulbus um eine Achse erfolgt, welche zur Ausgangs- und Endlage der Blicklinie senkrecht ist. \u00dcber die Geschwindigkeit der Augenbewegungen und \u00fcber den Verlauf der Bewegung im einzelnen ist noch nichts Genaueres bekannt, da noch keine geeignete Registriermethode gefunden ist.\nDas LiSTiNGsche Gesetz beansprucht nur G\u00fcltigkeit, solange es sich um Bewegungen mit parallel bleibenden Sehachsen handelt. Bei Konvergenz der Sehachsen ist mit Blickhebung Divergenz der bei Prim\u00e4rstellung senkrechten Netzhautmeridiane nach oben, bei Blicksenkung Divergenz nach unten verkn\u00fcpft, d. h. es treten sog. Raddrehungen ein. Ebensolche und zwar im Sinne einer Kompensation der Drehung des Vertikal-meridianes der Netzhaut sind nachzuweisen, wenn der Kopf oder K\u00f6rper seitw\u00e4rts geneigt wird. Auch kann man zwei je einem Auge sichtbare Linien, welche leicht divergieren oder einen H\u00f6henunterschied aufweisen,","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nLiteraturbericht.\ndurch abnorme Augenbewegungen zur Vereinigung bringen, so dafs das Bild nur einer Linie wahrgenommen wird. Diese wie \u00fcberhaupt die meisten Feststellungen \u00fcber Augenbewegungen sind gr\u00f6fstenteils in der bekannten \"Weise durch Nachbildversuche gewonnen und vom Verf. ausgiebig kontrolliert.\nIn K\u00fcrze wird dann auf die bekannte Synergie von Akkommodation und Konvergenz und auf den Konvergenzspielraum bei bestimmter Einstellung des Akkommodationsapparates, der sich durch Wahrnehmung von Doppelbildern nachweisen l\u00e4fst, hingewiesen und einige abschliefsende Bemerkungen des Kapitels gelten der Ausdehnung des Gesichtsfeldes bei monokularer und binokularer Beobachtung, bei bewegtem und festgestelltem Auge, sowie der Gr\u00f6fse des Fixierfeldes, d. i. der Gr\u00f6fse des Feldes, welches bei festgestelltem Kopf, aber bewegtem Auge foveal gesehen werden kann.\nIm zweiten Kapitel werden in knapper \u00dcbersicht die wichtigsten physiologischen Funktionen hervorgehoben, welche f\u00fcr die visuelle Raumwahrnehmung in Betracht kommen. Die Sehsch\u00e4rfe im direkten und indirekten Sehen und ihre Bedeutung f\u00fcr die Richtungswahrnehmung findet Erw\u00e4hnung und auf die Rolle des zeitlichen Ablaufes der Netzhauterregung f\u00fcr die Wahrnehmung von Bewegungen wird an der Hand einige Versuche hingewiesen. Bemerkenswert ist die Wichtigkeit, welche Bourdon nach eigenen Versuchen den taktilen und Muskelempfindungen der Augenlider f\u00fcr die Beurteilung der Stellung des Auges zuzuerkennen geneigt ist. Nachdem dann die Bedeutung der Kopf- und K\u00f6rperbewegungen und der in deren Gefolge auftretenden parallaktischen Verschiebungen der Objekte und die fundamentale Wichtigkeit, welche die binokulare Vereinigung der beiden monokularen, inkongruenten Netzhautbilder (Stereoskopie) f\u00fcr die Tiefenwahrnehmung spielt, betont worden ist, werden einige mehr psychologische Faktoren, welche f\u00fcr unsere Raumauffassung wesentliche Bedeutung haben, n\u00e4her besprochen. Die Schl\u00fcsse, welche wir aus der wechselnden Gr\u00f6fse und Form der Netzhautbilder auf die Gr\u00f6fse, Richtung und Entfernung der Objekte unter Zuhilfenahme fr\u00fcherer Erfahrungen ziehen, werden nach diesen ihren Ursachen analysiert; f\u00fcr die Kenntnis der Stellung des Auges im Kopfe erkennt Bourdon den Innervationsgef\u00fchlen, welche von den Augenmuskeln zentripetal verlaufen m\u00fcfsten, nicht die Bedeutung zu, welche Helmholtz f\u00fcr dieselben in Anspruch nahm, vielmehr schliefst sich B. der Theorie Wundts an, nach welcher die Vorstellung der vorher willk\u00fcrlich ausgef\u00fchrten Augenbewegungen der Hauptsache nach die Kenntnis der Augenstellung vermittelt.\nMit Kapitel 3 beginnt die spezielle Besprechung der einzelnen f\u00fcr die Raumwahrnehmung wesentlichen physiologischen und psychologischen Faktoren, zuerst die der Sehsch\u00e4rfe. Nach kurzen kritischen Vorbemerkungen \u00fcber die \u00fcblichen Pr\u00fcfungsmethoden folgen quantitative Angaben \u00fcber die maximale Sehleistung der Netzhaut, d. h. \u00fcber den kleinsten Gesichtswinkel, unter dem zwei Punkte als zwei erkannt werden k\u00f6nnen, normale dioptrische Verh\u00e4ltnisse vorausgesetzt. Daran f\u00fcgen sich Er\u00f6rterungen \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit der Sehsch\u00e4rfe von der Helligkeit und Farbe des Objektes, \u00fcber die Bedeutung der Irradiation und des Kontrastes f\u00fcr die Sichtbarkeit kleinster Gegenst\u00e4nde und \u00fcber die Abnahme der Seh-","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht\n375\nsch\u00e4rfe mit dem Alter, die teils auf leichte Tr\u00fcbung der brechenden Medien, teils auf Ver\u00e4nderungen in der Netzhaut und im gesamten Nervenapparat zur\u00fcckgef\u00fchrt werden. Nachdem auch die geringere Sehsch\u00e4rfe im in-direkten Sehen Ber\u00fccksichtigung gefunden hat und besonders hervor* gehoben ist, dafs mit der Zunahme des Winkels zwischen Gesichtslinie und Richtungslinie des Objektes die Sehsch\u00e4rfe progressiv abnimmt, folgt die Diskussion \u00fcber die von Helmholtz und Hensen entwickelte Ansicht, dafs die quantitativen Verh\u00e4ltnisse der Sehsch\u00e4rfe in den anatomischen Feststellungen \u00fcber die Anordnung der Netzhautelemente, speziell der Zapfen, eine befriedigende Erkl\u00e4rung finden. Bourdon ist der Ansicht, dafs dies f\u00fcr die foveale Sehsch\u00e4rfe, wenn auch nicht einwandsfrei, so doch zutreffend, sein kann, dafs aber die Theorie f\u00fcr die Verh\u00e4ltnisse des indirekten Sehens kaum ausreicht. \u2014 Er\u00f6rterungen \u00fcber die Sehsch\u00e4rfe bei Dunkeladaptation (St\u00e4bchensehsch\u00e4rfe) fehlen.\nKapitel 4 besch\u00e4ftigt sich mit der Formwahrnehmung, f\u00fcr deren Zustandekommen als wesentlichster Faktor die Qualit\u00e4t der Netzhautbilder der Objekte in Betracht kommt. Zwar spielen zweifellos auch Kopf- und Augenbewegungen eine gewisse Rolle, doch haben dieselben wohl nur den Zweck, bei gr\u00f6fseren Objekten der Netzhaut resp. der Fovea centralis eine geschlossene Reihe von Netzhautbildern zuzuf\u00fchren, aus deren Kombination die Wahrnehmungen der Formen des Objektes dann erm\u00f6glicht ist. Die analytische Untersuchung beschr\u00e4nkt sich auf den einfachsten Fall, n\u00e4mlich den festzustellen, mit welcher Genauigkeit eine Linie als gerade resp. gebrochen erkannt werden kann. Die Aufgabe war, 3 Lichtpunkte im sonst dunkeln Gesichtsfeld so einzustellen, dafs ihre Verbindung eine Gerade bildet; bei einigen Versuchen wurde der mittlere Punkt fixiert, bei anderen wurde die Strecke zwischen den beiden \u00e4ufseren Punkten beliebig mit dem Blick durchlaufen. Es zeigte sich, dafs in beiden F\u00e4llen die Fehler sehr gering waren, im letzten noch geringer als im ersten. Die gleichen Versuche, bei indirektem Sehen wiederholt, ergaben das bekannte Resultat, dafs eine Gerade als konkav zur Fovea gekr\u00fcmmte Kurve erscheint und dafs Kurven, deren Bilder eine gewisse Konvexit\u00e4t zur Fovea hin auf weisen, als Gerade gesehen werden. Als wahrscheinlich richtige mathematische Formulierung und Erkl\u00e4rung dieser Erscheinung betrachtet Bourdon die folgende : Indirekt gesehene krumme Linien erscheinen gerade, wenn sie auf solchen kleinen Netzhautkreisen abgebildet werden, welche grofsen durch die Fovea gehenden parallel sind. Mit dieser Ansicht tritt B. in Gegensatz zu der von Helmholtz entwickelten Theorie, nach welcher f\u00fcr die Beurteilung der geraden Linie den Augenbewegungen ausschlaggebende Bedeutung zuerkannt wird und welche eine mathematische Formulierung in der bekannten Konstruktion der durch den Occipitalpunkt ziehenden \u201eRichtkreise\u201c gefunden hat.\nBei Untersuchung der Gr\u00f6fsenwahrnehmung, welche im 5. Kapitel folgt, werden wiederum die in Betracht kommenden physiologischen Hilfsmittel der Reihe nach besprochen. Den Augen-, Kopf- und K\u00f6rperbewegungen wdrd, wie f\u00fcr die Formwahrnehmung, auch hier eine nur sekund\u00e4re Bedeutung zuerkannt, die Gr\u00f6fse der Netzhautbilder dagegen als von hervorragender Wichtigkeit f\u00fcr das Gr\u00f6fsenurteil aufgefafst, ebenso die durch Erfahrung ge-","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nLi teraturberich t.\nwonnene F\u00e4higkeit, die bei verschiedenem Abstand der Objekte wechselnden Bildgr\u00f6fsen zu einem Urteil \u00fcber die absolute Gr\u00f6fse zu verwerten. Dafs die Gr\u00f6fse des Netzhautbildes allein keine Garantie f\u00fcr ein sicheres Gr\u00f6fsen-urteil gibt, wird durch verschiedene Tatsachen bewiesen: Der Mond erscheint uns am Horizont gr\u00f6fser als im Zenith, obwohl sein Netzhautbild seine Gr\u00f6fse nicht ge\u00e4ndert hat; die Gr\u00f6fse von Nachbildern erscheint verschieden, je nach der Entfernung, in welche unsere Vorstellung sie projiziert; beim Gr\u00f6fsenvergleich geometrisch \u00e4hnlicher Objekte von unbekannter Gr\u00f6fse und von unbekanntem Abstande kommen regelm\u00e4fsig grobe Irrt\u00fcmer vor, namentlich bei unokularer Beobachtung (Versuch, \u00fcber die Gr\u00f6fsenrelation zweier leuchtender Kreise in der Dunkelheit zu urteilen). Es folgen Versuche, welche durch Gr\u00f6fsenvergleich dreier F\u00e4den \u00fcber die Wahrnehmbarkeit geringster Gr\u00f6fsenunterschiede Aufschlufs geben. Es zeigte sich, dafs die Empfindlichkeit daf\u00fcr nicht besonders grofs ist, geringer bei feststehendem als bei freibeweglichem Auge, genauer f\u00fcr vertikale als f\u00fcr horizontale ausgedehnte Objekte. Was dann die Versuche \u00fcber Gr\u00f6fsenschwellen betrifft, so ergaben diese keine eindeutigen Resultate, da mit der Winkelgr\u00f6fse auch die Helligkeitsempfindung zunimmt, da ferner die Helligkeit \u00fcberhaupt sowie der Kontrast eine wesentliche Rolle spielt und da endlich bei Untersuchung minimaler Objektgr\u00f6fsen die Irradiation sich sehr st\u00f6rend geltend macht. Die Gr\u00f6fsensch\u00e4tzung im indirekten Sehen erwies sich, wie zu erwarten, als sehr ungenau. Der Gr\u00f6fsenvergleich geometrisch \u00e4hnlicher Fl\u00e4chen von einfacher Konfiguration erfolgte mit ziemlich grofser Genauigkeit, doch machte sich hier die Tendenz geltend, lineare Distanzen, nicht die unmittelbare Fl\u00e4chenanschauung f\u00fcr das Urteil zu verwerten. Das Kapitel bringt dann noch einige Bemerkungen \u00fcber Mikropsie bei Akkommodationsl\u00e4hmung; dieselbe wird als eine Urteilst\u00e4uschung aufgefafst, welche im Gefolge exzessiver Akkommo.dations- und Konvergenzanstrengungen sich einstellt. Endlich wird darauf hingewiesen, dafs die exakte Gr\u00f6fsensch\u00e4tzung als eine durch psychische Faktoren, Erinnerungsbilder etc. h\u00f6chst komplizierte Funktion zu betrachten ist, wie sich insbesondere aus der Tatsache ergibt, dafs Kinder es langsam erlernen m\u00fcssen, aus den Gr\u00f6fsen der Netzhautbilder richtige Schl\u00fcsse auf die absoluten Objektgr\u00f6fsen zu ziehen.\nIm 6. Kapitel geht der Verf. dazu \u00fcber, die Wahrnehmung von Lage und Richtung der Objekte zu untersuchen. Hier spielen nun die Netzhauterregungen nicht mehr die ausschliefslich mafsgebende Rolle wie bei den bisher besprochenen Funktionen des Raumsinnes: Von einer bestimmten Netzhautstelle aus, z. B. von der Fovea k\u00f6nnen alle m\u00f6glichen Lagen, so gut rechts wie links, oben wie unten, zur Wahrnehmung kommen, auch erhalten Nachbilder bei Kopf- und Augenbewegungen andere Richtungen und Lagen, als den Originalobjekten entspricht etc., alles Beweise f\u00fcr die Unzuverl\u00e4ssigkeit der reinen Netzhauterregungen als Indikatoren f\u00fcr Lage und Richtung. Wesentlich sind f\u00fcr diese Wahrnehmungen vielmehr die Gef\u00fchle f\u00fcr die Augen-, Kopf- und K\u00f6rperstellung im Raume und ferner die komplexen Schl\u00fcsse aus fr\u00fcheren Erfahrungen. Dabei zeigt sich, dafs die Augen-, Kopf-und K\u00f6rperbewegungen sich gegenseitig bis zu einem gewissen Grade kompensieren resp. vertreten k\u00f6nnen. Es wird dann speziell die Sch\u00e4tzung","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Li ter a turberich t.\n377\nder medianen Lage bei unokularer und binokularer Beobachtung untersucht; es zeigt sich bei Versuchen, einen Lichtpunkt im Dunkeln median einzustellen, dafs dieses bei symmetrischer Kopf-, K\u00f6rper- und Augenstellung am exaktesten erfolgt, dafs aber mit dem Wechsel dieser Stellungen sich auch die Vorstellung der Medianen \u00e4ndert und schwankend wird, ferner dafs f\u00fcr diese Wahrnehmung das Binokularsehen wesentlich ist, indem bei ein\u00e4ugiger Beobachtung fehlerhaft und unsicher eingestellt wird ; im Dunkeln erfolgten die Einstellungen viel ungenauer als im hellen. Bei Versuchen, den Lichtpunkt in die Horizontallinie zu bringen, erwies sich der Unterschied zwischen binokular und monokular gemachten Einstellungen viel geringer. Bei manchen Beobachtern war f\u00fcr die Vorstellung der horizontalen die Augenh\u00f6he, f\u00fcr andere die mittlere Kopfh\u00f6he mafsgebend.\nAuch f\u00fcr die Richtungswahrnehmungen spielen ebenfalls die Netzhauterregungen keine hervorragend wichtige Rolle. Die Urteile \u00fcber vertikale und horizontale Richtung (Einstellung einer Lichtlinie im Dunkeln) erfolgen bei symmetrischer Kopf- und K\u00f6rperhaltung ziemlich genau, sowohl bei prim\u00e4rer Blicklage, wie beim Blick nach oben, unten, rechts und links; schwieriger wird die Sachlage, wenn der Blick nach oben oder unten und zugleich seitw\u00e4rts gewendet wird; aber auch hier sind die Fehler gering. Ganz anders bei Neigung des Kopfes oder K\u00f6rpers nach einer Seite. Hier entwickelt sich das bekannte AuBERTSche Ph\u00e4nomen, darin bestehend, dafs eine tats\u00e4chlich senkrechte Lichtlinie geneigt erscheint und zwar nach der der Kopfneigung entgegengesetzten Richtung (bei geringen Kopfneigungen findet B. wie Nagel gleichsinnige Neigung der Linie, welche bei st\u00e4rkerer Kopfneigung (40\u201465\u00b0) in entgegengesetzte Richtung umschl\u00e4gt). Erhellt man das Zimmer, so verschwindet das Ph\u00e4nomen, ein Beweis daf\u00fcr, dafs das Urteil \u00fcber Richtungen in hohem Grade durch die Sichtbarkeit von Gegenst\u00e4nden bekannter Richtung beeinflufst wird. B. erkl\u00e4rt die Erscheinung 1. aus kompensatorischen Raddrehungen der Augen und 2. aus Urteilst\u00e4uschungen \u00fcber den Grad der Kopfneigung (Versuch: Kopfneigung betrug 90\u00b0 nach rechts, die Lichtlinie mufste um 26\u00b0 nach rechts geneigt werden um vertikal zu erscheinen, Nachbildversuche ergaben die Raddrehung = 8 \u2014 9\u00b0; die Sch\u00e4tzung der Kopfneigung erfolgte durchschnittlich um 18\u00b0 falsch; 18 -f- 8 = 26).\nVon den Lageempfindungen geht B. im 7. Kapitel zur Besprechung der Wahrnehmung von Lagever\u00e4nderungen, also von Bewegungen \u00fcber. Die Bedeutung der Augenbewegungen wird hier durch die Tatsache illu-. striert, dafs die Bewegung isolierter Lichtpunkte beim Verfolgen mit dem Blick (Fovea), wenn also das Bild seinen Ort auf der Retina nicht wechselt, wahrgenommen werden kann; allerdings erscheint die Bewegung dann langsamer, auch hat die Schwelle dementsprechend einen gr\u00f6fseren Geschwindigkeitswert, als bei Beobachtung mit immobilem Auge. Sind unbewegliche Objekte im Gesichtsfeld, so k\u00f6nnen 15\u201420 mal geringere Bewegungsgeschwindigkeiten wahrgenommen wTerden, als bei ausschliefslicher Sichtbarkeit eines isolierten bewegten Lichtobjektes. An die Besprechung dieser Versuche schliefsen sich dann einige Bemerkungen \u00fcber die maximale Bewegung an, welche als solche wahrgenommen werden kann. Bei gr\u00f6fseren Geschwindigkeiten w\u00fcrde ein bewegter Lichtpunkt als Licht-","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nLiteraturb erichl.\nlinie erscheinen. Die Zeit, welche zwischen zwei am gleichen Orte erscheinenden Lichtreizen (Flimmern, Versuche am Episkotister) verstreichen mufs, damit sie getrennt wahrgenommen werden k\u00f6nnen, und das zur Wahrnehmung \u00f6rtlich und zeitlich getrennter Lichtreize (Bewegung) n\u00f6tige Zeitintervall, sind ann\u00e4hernd gleich.\nDer Successivvergleich zwischen zwei Bewegungsgeschwindigkeiten, besonders wenn diese langsam ablaufen, ergibt sehr ungenaue Resultate. F\u00fcr das Studium schneller Bewegungen und der Verschmelzung von aufeinander folgenden Reizen zum Gef\u00fchl der Bewegung (Kinematograph) ist die Kenntnis des zeitlichen Ablaufes der Netzhauterregung, der Nachbilderscheinungen etc. Grundlage. Eine optische T\u00e4uschung von Interesse im Gebiete der Bewegungslehre besteht darin, dafs ruhende Objekte, besonders wenn man sie fixiert, bei Anwesenheit bewegter sich ebenfalls scheinbar bewegen. Beim Sehen mit stark peripheren Netzhautteilen wird Bewegung vielleicht bei etwas gr\u00f6fseren Minimalgeschwindigkeiten wahrgenommen als bei direktem Beobachten des Objektes.\nIm 8. Kapitel beginnt mit Vorf\u00fchrung der Theorie der korrespondierenden Punkte der Netzhaut die Besprechung des Binokularsehens und der Tiefenwahrnehmung. Nach allgemeinen Vorbemerkungen \u00fcber gekreuzte und ungekreuzte Doppelbilder und Entwicklung des Begriffes der identischen oder korrespondierenden Netzhautpunkte wird die Frage er\u00f6rtert, ob es m\u00f6glich ist, dafs mit korrespondierenden Netzhautpunkten doppelt und mit nicht korrespondierenden einfach gesehen werden kann. B. vertritt mit Hering- gegen Wheatitone und Helmholtz die Ansicht, dafs beides nicht m\u00f6glich sei, und dafs die entgegengesetzt aufgefafsten Erscheinungen, namentlich die Beobachtungen an Schielenden durch Unterdr\u00fcckung des Inhaltes eines Sehfeldes zu st\u00e4nde gekommen sind. Nachdem die von Volkmann, Donders, Helmholtz und Hering angegebenen Versuche, nach welchen zwei von je einem Auge gesehene Linien scheinbar parallel eingestellt stets nach oben divergieren, er\u00f6rtert worden sind, folgen kurze Angaben \u00fcber die mathematische Berechnung des Horopters und das Kapitel schliefst mit der Vorf\u00fchrung gr\u00f6fserer Versuchsreihen, welche beweisen, dafs die Empfindungen korrespondierender Netzhautpunkte sich nicht nur dadurch unterscheiden, dafs jedes Auge das Objekt in etwas differenter Lage sieht, sondern dafs auch ein subjektives Organgef\u00fchl von Bedeutung ist, welches uns z. B. mit grofser Sicherheit, auch wenn wir dar\u00fcber durch keine anderen Mittel Kenntnis gewinnen k\u00f6nnen, anzeigt, welches von beiden Augen von einem Lichtreiz betroffen ist.\nF\u00fcr die binokulare Tiefen Wahrnehmung, deren Besprechung im 9. Kapitel folgt, bilden die Konvergenz der Augen und die in jedem Auge verschiedenen Netzhauterregungen die wesentlichsten Hilfsmittel. Durch eine geeignete Versuchsanordnung gelang es B., zun\u00e4chst die Konvergenz f\u00fcr sich zu untersuchen und die Verschiedenheit der beiden Netzhauterregungen so gut wie vollst\u00e4ndig auszuschliefsen. Es zeigte sich, dafs eine \u00c4nderung des Konvergenzgrades jedes Auges um 7 Minuten gen\u00fcgte, um einen Unterschied im Abstand verh\u00e4ltnism\u00e4fsig entfernter Objekte (10 und 25 m) zur Wahrnehmung zu bringen, dafs dagegen 20 Minuten Konvergenzdrehung jedes Auges n\u00f6tig waren, um bei n\u00e4heren Objekten","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n379\n(1\u20142 m) Tiefenunterschiede kenntlich erscheinen zu lassen. Immerhin fand B. das Muskelgef\u00fchl f\u00fcr den Konvergenzgrad hei weitem nicht so fein differenziert, wie Wundt angibt. Versuche, die absolute Entfernung nur aus dem Konvergenzgrad zu beurteilen, lehrten vielmehr, dafs schon bei 2 m Objektabstand sehr grobe Fehler gemacht werden. Sehr viel wichtiger f\u00fcr die Tiefenwahrnehmung erscheint die Differenz der beiden Netzhautbilder ; Versuche, bei welchen drei Nadeln in eine frontale Ebene einzustellen waren, zeigten in der Tat, dafs dieses beim Binokularsehen mit aufser-ordentlicher Exaktheit, namentlich bei geringen Abst\u00e4nden der Objekte vom Auge (30\u201460 cm) m\u00f6glich ist; die Empfindlichkeit f\u00fcr Tiefenunterschiede erwies sich erheblich gr\u00f6fser, als nach den Verh\u00e4ltnissen der Sehsch\u00e4rfe (monokularen) zu erwarten war, ein Resultat, durch welches sich B. zu Helmholtz in. Kontroverse setzt. Wie die erfolgreichen Versuche, Tiefenwahrnehmungen bei Momentanbeleuchtung zu erzielen und die Experimente an Herings Fallapparat lehren, kommt den Augenbewegungen f\u00fcr die Tiefenwahrnehmung nur nebens\u00e4chliche Bedeutung zu. B. fand weiter, dafs mit Abnahme der Beleuchtung das k\u00f6rperliche Sehen wesentlich beeintr\u00e4chtigt werde, gibt aber nichts N\u00e4heres \u00fcber die Verh\u00e4ltnisse der Adaptation bei diesen Versuchen an. Es folgen dann Bemerkungen \u00fcber Wahrnehmbarkeit der Gestaltung gerader und krummer Linien, deren einzelne Punkte verschiedenen Abstand von den Augen aufweisen, und \u00fcber den Einflufs, den Teilungen auf Fl\u00e4chen und Linien f\u00fcr das Tiefenurteil besitzen. Die detaillierte Analyse der f\u00fcr die Wahrnehmung medianer, vertikaler und horizontaler Linien in Betracht kommenden Faktoren, zeigt, dafs den Netzhautmeridianen, auf welche die Bilder fallen, eine gewisse, aber nicht ausschlaggebende Bedeutung zukommt, denn dieselben wechseln je nach Abstand, Konvergenzgrad und Blickhebung, daneben kommen jedenfalls in hohem Grade die Urteile \u00fcber den Abstand des Objektes, ferner die durch die Augen- und Kopfstellung ausgel\u00f6sten Raumempfindungen und endlich die komplizierten Vorstellungen, welche sich an die Sichtbarkeit anderer bekannter Gegenst\u00e4nde des Gesichtsfeldes ankn\u00fcpfen, in Betracht. Das Kapitel schliefst mit der Besprechung der bekannten stereoskopischen Apparate.\nBei der monokularen Tiefenwahrnehmung (Kapitel 10) spielt die Akkommodation und das Akkommodationsgef\u00fchl, falls ein solches existiert, eine ganz minimale Rolle, viel geringer nach Versuchen von Hillebrandt und B., als Wundt und Arrer angeben. Auch der Konvergenz kommt kaum Bedeutung zu, denn 1. ist die Akkommodation, mit welcher die Konvergenz ja synergisch verkn\u00fcpft ist, ungenau und 2. besteht f\u00fcr einen bestimmten Accommodationszustand ein Spielraum des zugeh\u00f6rigen Konvergenzgrades. In der Tat sieht man bei pl\u00f6tzlicher Mitbenutzung des zweiten Auges trotz scharfer akkommodativer Einstellung des ersten Doppelbilder, ein Zeichen f\u00fcr die Unexaktheit der Konvergenz. Ebensowenig d\u00fcrfte die parallaktische Verschiebung der Gegenst\u00e4nde wesentlich in Betracht kommen, welche bei Bewegungen eines Auges durch Verlagerung des Pupillenzentrums und des Knotenpunktes im Raume erfolgt, zumal hier der Sehsch\u00e4rfe der Netzhautperipherie mehr zuzumuten w\u00e4re, als sie leisten kann. Gr\u00f6fsere Wichtigkeit haben die bei Kopfbewegungen ablaufenden","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nLiteraturbericht.\nParallaxenver\u00e4nderungen. Aber auch dieses Hilfsmittel der monokularen Tiefenwahrnehmung versagt fast vollst\u00e4ndig, wenn der Abstand unbekannter Objekte, zumal isolierter, etwa eines einzigen Lichtpunktes im Dunkeln, gesch\u00e4tzt werden soll. Sind mehrere solcher Punkte vorhanden, so ist ein relatives Tiefenurteil m\u00f6glich, f\u00e4llt aber sehr h\u00e4ufig ganz ungenau aus. \u00dcberhaupt spielen bei der monokularen Tiefensch\u00e4tzung die Kenntnis der wirklichen Gr\u00f6fse des Objektes und die Schl\u00fcsse aus der Gr\u00f6fse seines Netzhautbildes sowie der Vergleich des zu beurteilenden Objektes mit anderen im Gesichtsfeld vorhandenen bekannten Gegenst\u00e4nden die wichtigste Bolle.\nDas 11. Kapitel besch\u00e4ftigt sich mit den optischen T\u00e4uschungen, welche in grofser Zahl vorgef\u00fchrt werden und deren Erkl\u00e4rung unter eingehender Ber\u00fccksichtigung der zahlreichen sich widersprechenden Ansichten fr\u00fcherer Forscher zum Teil von neuem versucht wird. Das meiste physiologische Interesse d\u00fcrfte die Diskussion \u00fcber die Erscheinung der Irradiation (Akkommodationserscheinung oder reines Netzhautph\u00e4nomen?) und die Begr\u00fcndung der autokinetischen Bewegungen durch unbewufste Augenbewegungen beanspruchen (contra Exner).\nIm 12. Kapitel ist von den r\u00e4umlichen Eigenschaften der Nachbilder die Bede. Es wird gezeigt, dafs die scheinbare Gr\u00f6fse der Nachbilder wechselt, je nach der Entfernung, in welche unsere Vorstellung sie projiziert, ebenso im allgemeinen ihre Bichtung und Lage (Ausnahme: A\u00fcBERTSches Ph\u00e4nomen). Die Form wechselt je nach dem Belief der Gegenst\u00e4nde, auf welche das Bild projiziert wird, doch ist dies keine allgemein g\u00fcltige Begel; vielmehr behalten komplizierte Nachbilder h\u00e4ufig die Kaumcharaktere des Originals und scheinen dann vor den Gegenst\u00e4nden, auf welche der Blick gerichtet wird, zu schweben; von Interesse ist das Experiment Booers, welchem es gelang, je einem Auge ein Nachbild derselben Gegenst\u00e4nde nacheinander zu impr\u00e4gnieren und diese Bilder dann zu vereinigen unter Erzielung eines stereoskopischen Effektes. B. ist es im Gegensatz zu Wundt nicht gelungen, auf identische Netzhautpunkte aufgenommene Nachbilder durch irgendwelche Manipulationen doppelt zu sehen. Die Bewegungen von Nachbildern als Folge von Augenbewegungen studierte B. eingehend, unter anderem auch in der Weise, dafs er Drehschwindel erzeugte.\nSehr wichtig f\u00fcr die Baumlehre ist das Studium der Entwicklung der Kaumauffassung beim Kinde und noch mehr bei Personen, deren Augen mit angeborener Katarakt behaftet waren und welche im Alter entwickelter Intelligenz operiert wmrden (Kapitel 13). Bekanntlich laufen beim Neugeborenen die Augenbewegungen ganz regellos und unkoordiniert ab; erst nach Verlauf mehrerer Wochen lernt das Kind Objektbewegungen mit dem Auge zu folgen und noch monatelang scheint es den gr\u00f6bsten T\u00e4uschungen \u00fcber Gr\u00f6fse, Tiefendimension und Abstand der Objekte zu unterliegen. \u2014 Blindgeborene gewinnen durch Tastempfindungen und Muskelgef\u00fchle ziemlich pr\u00e4zise Baumvorstellungen, die nat\u00fcrlich mit visuellen Baumbegriffen so gut wie nichts gemein haben. Da quantitatives Sehen stets erhalten ist, so sind einige visuelle Baumempfindungen, wenn auch in \u00e4ufserst reduziertem Mafse m\u00f6glich, z. B. die f\u00fcr","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Literatur bericht.\n381\nRichtung und Lage eines Lichtobjektes; dagegen fehlt Sehsch\u00e4rfe, Formsinn, Gr\u00f6fsenwalirnehmung und Auffassung der Tiefendimension durch den Gesichtssinn vollst\u00e4ndig. Nach der Operation kann die Sehsch\u00e4rfe normal werden, indessen ist die Verwertung der Seheindr\u00fccke dadurch anfangs sehr beschr\u00e4nkt, dafs die Augenbewegungen unkoordiniert ablaufen und die Fixierung der Objekte, \u00fcberhaupt die willk\u00fcrliche Beherrschung der Blickrichtung nicht gelingt. Die Operierten wissen zun\u00e4chst nichts mit ihrem neuen Sinn anzufangen; die visuelle Wahrnehmung von Lage, Richtung, Form, Gr\u00f6fse, Bewegung und namentlich der Tiefenausdehnung erfolgt zuerst noch \u00e4ufserst ungenau und es bedarf m\u00fchsamer Erziehung und langer \u00dcbung, um die fr\u00fcher durch Gef\u00fchl etc. gewonnenen Raumvorstellungen mit den Empfindungen in Konnex zu bringen und begrifflich zu identifizieren, welche nach der Operation durch das Sehorgan vermittelt werden.\nIm 14. Kapitel wird die vielumstrittene Frage kritisch und experimentell er\u00f6rtert, aus welchem Grunde uns der Himmel ein abgeplattetes Gew\u00f6lbe zu sein, die Gestirne den bestimmten Abstand von etwa 100 m zu haben scheinen und warum Sonne und Mond am Horizont gr\u00f6fser als am Zenith erscheinen. Auf keine dieser Fragen wird eine vollst\u00e4ndige Antwort gegeben, wohl aber interessante Beitr\u00e4ge zu ihrer L\u00f6sung geliefert. B. stellt fest, dafs der scheinbare Abstand der Gestirne wechselt je nachdem, welche bekannten irdischen Gegenst\u00e4nde gleichzeitig im Gesichtsfeld sich befinden und durch unwillk\u00fcrlichen Vergleich das Urteil \u00fcber den Abstand beeinflussen ; auch \u00e4ndert sich der scheinbare Abstand mit der Tageszeit und vor allem mit der H\u00f6he des Gestirnes \u00fcber dem Horizont. Damit der Himmel gew\u00f6lbt erscheine, m\u00fcssen Objekte von bestimmtem scheinbaren Abstand (Sterne, Wolken) denselben bedecken oder am Horizont sichtbar sein; anderenfalls, z. B. in sehr dunklen N\u00e4chten und bei Betrachtung des Himmels in R\u00fcckenlage, also bei Ausschlufs der irdischen Objekte aus dem Gesichtsfeld, bleibt die Erscheinung aus. F\u00fcr das Problem des scheinbaren Gr\u00f6fsenwechsels von Mond und Sonne, wenn sie vom Horizont sich zum Zenith erheben, ist zun\u00e4chst die Feststellung wesentlich, dafs die Gr\u00f6fse des Netzhautbildes diesen Wechsel nicht mitmacht, vielmehr fast konstant bleibt. Als Erkl\u00e4rungsursache kommt also nur eine scheinbare \u00c4nderung des Abstandes in Frage. Messungen ergeben nun, dafs alle frontalen Abst\u00e4nde am Zenith kleiner erscheinen als am Horizont und dafs Gestirne vom Zenith zum Horizont durch Spiegel projiziert ebenfalls eine scheinbare Vergr\u00f6fserung erfahren. Der bekannte Erkl\u00e4rungsversuch von Helmholtz, der die Beeinflussung des Urteils durch die Wahrnehmung der bekannten Abst\u00e4nde der irdischen Objekte bei Betrachtung der Gestirne am Horizont und deren Dunklererscheinen f\u00fcr wesentlich hielt, wdrd bem\u00e4ngelt; ebensowenig kann sich B. der Argumentation Stroobants anschliefsen, welcher fand, dafs mit der Blickhebung stets eine scheinbare Verkleinerung der Abst\u00e4nde verkn\u00fcpft sei, denn eigene Messungen best\u00e4tigten diese Angaben f\u00fcr die Augen B.s und anderer nicht. Wie f\u00fcr dieses Ph\u00e4nomen bleibt B. auch f\u00fcr die scheinbare gewT\u00f6lbte Gestalt des Himmels eine eigene Erkl\u00e4rung schuldig; auch hier werden Be-Einw\u00e4nde gegen die Ansichten Helmholtz, Zehnder, Hering und Wtjndt","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nLiteraturbericht.\ngeltend gemacht, welche B. den Anschlufs an eine dieser Theorien bedenklich erscheinen lassen.\nDas Schlufskapitel bringt in K\u00fcrze einige Daten \u00fcber den assoziativen Zusammenhang zwischen visuellen Raumvorstellungen und solchen, welche auf sensible Erregungen und auf Wahrnehmung und Beurteilung von Bewegungen der H\u00e4nde, der Beine und des K\u00f6rpers etc. basiert sind. Von Interesse ist es da, dafs Blindgeborene die Geometrie lernen k\u00f6nnen, ohne eine visuelle Vorstellung von den planimetrischen Figuren zu besitzen und dafs andererseits Menschen, welche jegliches Muskelgef\u00fchl, \u00fcberhaupt die Sensibilit\u00e4t verloren haben, unter Kontrolle der Augen einigermafsen korrekte Bewegungen im Raume ausf\u00fchren k\u00f6nnen. Wie mannigfache Experimente lehren, sind Modifikationen im assoziativen Zusammenhang gewisser visueller Raumvorstellungen, z. B. der Richtungsempfindung und normalerweise daran gekn\u00fcpfter sensibler und Bewegungsvorstellungen ohne Schwierigkeiten zu bewirken.\nMan wird aus dieser \u00dcbersicht ersehen, dafs das Buch eine F\u00fclle neuer Experimente bringt und dafs der Verf. w\u00e4hrend er einerseits mit grofser Umsicht und Kritik die Ergebnisse fr\u00fcherer Forscher w\u00fcrdigt, auf der anderen Seite fast in jeder Frage sehr beachtenswerte originelle Ansichten vortr\u00e4gt. Da B. es verstanden hat, mit einer knappen und \u00fcbersichtlichen Darstellung die angenehme Eleganz des Stiles, welche die franz\u00f6sischen B\u00fccher fast typisch auszeichnet, zu verbinden, so kann das Buch zu eingehendem Studium nicht genug empfohlen werden. Jeder aber, der selbst auf dem Gebiete der visuellen Raumwahrnehmung zu arbeiten beabsichtigt, wird die experimentellen Ergebnisse B.s und seine theoretischen Folgerungen aufs genaueste zu ber\u00fccksichtigen haben.\tH. Piper (Berlin).\nR. MacDougall. The Subjective Horizon. Psychol. Rev., Mon. Sup. 4; Harvard Psych. Studies 1, 145\u2014166. 1903.\nDer Beobachter safs vor einem senkrechten Streifen schwarzen Holzes, 7 Fufs hoch und V2 Fufs breit und bewegte eine weifse Scheibe von 1 cm Durchmesser auf und ab, bis er sie genau in Augenh\u00f6he glaubte. In diesem Falle war eine Abweichung nach unten zu bemerken. Um die Wirkung des Gesichtsbildes des Zimmers auszuschliefsen, wurden die Versuche im Dunkelzimmer wiederholt, wo nichts als die weifse Scheibe sichtbar war. In diesem Falle waren gr\u00f6fsere Schwankungen des Urteils bemerkbar als im vorhergehenden Fall. Die konstante Abweichung nach unten war bedeutend gr\u00f6fser. Verf. weist darauf hin, dafs Signallichter auf hoher See gew\u00f6hnlich viel h\u00f6her erscheinen als sie in Wirklichkeit sind. In einer weiteren Versuchsreihe mufste der Beobachter im Dunkelzimmer zun\u00e4chst seine Augen horizontal einstellen, und dann an einer pl\u00f6tzlich erleuchteten Skala die H\u00f6he des subjektiven Horizonts ablesen. In diesem Falle wurde eine betr\u00e4chtliche Abweichung nach oben festgestellt. Verf. betont als einen wahrscheinlich wichtigen Faktor, dafs die Augenachsen unter diesen Umst\u00e4nden nahezu parallel gerichtet sind. Die stereoskopische Funktion der Augen scheint jedoch einflufslos zu sein, da die Ergebnisse dieselben waren, wenn nur ein Auge ge\u00f6ffnet war. Ferner wurde festgestellt, dafs ungew\u00f6hnliche Lagen des K\u00f6rpers das Urteil beeinflussen,","page":382}],"identifier":"lit33048","issued":"1903","language":"de","pages":"372-382","startpages":"372","title":"B. Bourdon: La perception visuelle de l'espace. 442 S. 143 Fig, Biblioth\u00e8que de p\u00e9dagogie et de psychologie, publi\u00e9 sous la direction de Alfred Binet, 4. Paris, Schleicher fr\u00e8res, 1902","type":"Journal Article","volume":"33"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:31:55.060140+00:00"}