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Die entwickelungsgeschichtliche Betrachtungsweise in der Aesthetik

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{"created":"2022-01-31T16:31:42.689737+00:00","id":"lit33079","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Volkelt, Johannes","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 29: 1-21","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"1\nDie entwickelungsgeschichtliche Betrachtungsweise\nin der Aesthetik.\nVon\nJohannes Volkelt.\n1. Neben dem Rufe nach einer normenlosen, rein beschreibenden Aesthetik wird gegenw\u00e4rtig auch das Verlangen nach einer entwickelungsgeschichtlichen Grundlegung dieser Wissenschaft von verschiedenen Seiten laut. Besonders entschieden hat diese Forderung Konead Lange in seiner Abhandlung \u201eGedanken zu einer Aesthetik auf entwickelungsgeschichtlicher Grundlage\u201c1 gestellt. In seinem grofsen Werke hat er dann in genauerer und vorsichtigerer Weise dargelegt, in welchem Sinn er die vorgeschichtliche und geschichtliche, die menschheitliche und die individuelle Entwickelung der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle in der Aesthetik behandelt zu sehen w\u00fcnscht.2 Von den zahlreichen sonstigen Versuchen, \u00e4sthetischen Fragen mit entwickelungsgeschichtlicher Methode beizukommen, nenne ich hier nur Kael B\u00fcchee\u2019s hervorragende Schrift \u201eArbeit und Rhythmus\u201c,3 Er sucht die Entstehung der Tonkunst und Dichtung dadurch aufzuhellen, dafs er, unter Zugrundelegung einer erstaunlichen F\u00fclle h\u00f6chst lehrreicher Thatsachen aus der V\u00f6lkerkunde, auf die Verkn\u00fcpfung von rhythmischer K\u00f6rperbewegung, Gesang und Dichtung insbesondere bei den Naturv\u00f6lkern eingeht.\nSchon angesichts solcher Bestrebungen ergiebt sich f\u00fcr die Aesthetik die Aufgabe, zu der entwickelungsgeschichtlichen Betrachtungsweise Stellung zu nehmen. In welchem Sinne, in\n1\tIn dieser Zeitschrift 14-, S. 242 ff.\n2\tKonead Lange, Das Wesen der Kunst. Berlin 1901. Bd. 1, S. 37ff.\n3\tKael B\u00fcchee, Arbeit und Rhythmus. 3. AufL. Leipzig 1902. S. 342 ff..\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 29\t1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nJohannes Volkelt.\nwelchem Umfange, mit welcher Tragweite darf der entwickelungsgeschichtliche Gedanke in die Aesthetik eingef\u00fchrt werden ? Hat es einen guten Sinn, zu verlangen, dafs der Aesthetik eine entwickelungsgeschichtliche Begr\u00fcndung gegeben oder in ihr eine entwickelungsgeschichtliche Methode gehandhabt werde? \u2014\n2. Wie Ethik und Religionsphilosophie, so steht auch die Aesthetik in wesentlichen Beziehungen unter dem Zeichen des entwickelungsgeschichtlichen Gedankens. Schon indem der Gegenstand der Aesthetik dem menschlichen Geistesleben angeh\u00f6rt, ist er mitten in Entwickelung hineingestellt. Aesthetisches F\u00fchlen, Vorstellen, Urtheilen, Schaffen ist \u00fcberhaupt nur insofern vorhanden, als es sich auf der einen oder anderen Entwickelungsstufe befindet. Selbst die \u00e4sthetischen Normen und Ideale sind nicht einfach aus dem Flufs der Entwickelung loszul\u00f6sen. Sie schweben nicht unbewegt und ein f\u00fcr allemal g\u00fcltig \u00fcber allem Wechsel der Zeiten und V\u00f6lker; sondern wenn auch anzunehmen ist, dafs ihr allgemeinster Kern, wenigstens von einer gewissen Stufe der Reife an, f\u00fcr alle absehbar folgende Entwickelung G\u00fcltigkeit besitzt, so sind sie doch nach anderen Seiten, und namentlich in ihren Besonderungen und Ausgestaltungen, eingreifenden Entwickelungen unterworfen. Es w\u00e4re unsinnig, zu verlangen, dafs f\u00fcr den heutigen Erz\u00e4hler die Weise Homer\u2019s oder auch Goethe\u2019s, f\u00fcr den heutigen Maler religi\u00f6ser Bilder etwa die Weise Ghirlandajo\u2019s oder Raefael\u2019s maafsgebend sein solle.\nAngesichts dieser Sachlage hat sich jeder Aesthetiker zu sagen, dafs er mit seinen Feststellungen und Beweisen an die \u00e4sthetische Entwickelungsstufe seiner Zeit gebunden ist. Zwar wird er bestrebt sein, besonders in den grundlegenden und weitesten Normen das \u00e4sthetische F\u00fchlen seiner Zeit in der Richtung auf das Allgemeing\u00fcltige zu \u00fcberschreiten und so dem Aesthetischen ann\u00e4herungsweise eine allgemeinmenschliche Grundlage zu geben. Andererseits aber wird er sich dessen bewufst bleiben, dafs er in vielen Beziehungen, namentlich in den f\u00fcr das Besondere geltenden Bestimmungen, nur den Anspruch erheben darf, die \u00e4sthetische Gef\u00fchlsweise, zu der sich die Kultur seiner Zeit in ihren reifsten und h\u00f6chststehenden Vertretern entwickelt hat, auf ihre Normen zu bringen.\nMan darf sonach sagen: der Gegenstand der Aesthetik ist von vornherein entwickelungsgeschichtlich einge-","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Die entivickelungsgeschichtliche Betrachtungsweise in der Aesthetik.\n3\nschr\u00e4nkt. Die Aufgabe der Aesthetik betrifft nur in gewissen Theilen, vorzugsweise in den allgemeinsten Zergliederungen und Normen, und nur ann\u00e4herungsweise das Allgemeinmenschliche. Je mehr sich die Zergliederungen und Feststellungen den besonderen Ausgestaltungen des Aesthetischen zuwenden, umsomehr mufs die Aesthetik auf den Anspruch der Allgemeing\u00fcltigkeit verzichten und ihre culturgeschichtliche Bedingtheit eingestehen.\n3. Noch in einer anderen Beziehung f\u00e4llt der Gegenstand der Aesthetik unter den Entwickelungsbegriff. Aesthetisches F\u00fchlen, Urtheilen, Schaffen geh\u00f6rt \u00fcberall auch einer individuell-menschlichen Entwickelung an. Das \u00e4sthetische Verhalten f\u00e4ngt schon in fr\u00fcher Kindheit an und erf\u00e4hrt dann mannigfaltige Steigerungen, Reinigungen, Verfeinerungen, Verwickelungen, bis es die Stufe der Reife erreicht.\nOhne Zweifel ist es nun Hauptaufgabe der Aesthetik, nicht etwa das rohe, oberfl\u00e4chliche, unge\u00fcbte, vermischende, einseitige, sondern das vollentwickelte \u00e4sthetische Verhalten in seinen Bestandteilen, Verkn\u00fcpfungen und Forderungen kennen zu lernen. Ob dies jedem Aesthetiker gelingt, ist eine andere Frage; aber der Aesthetiker wird sich wenigstens vorsetzen, seine Normen und Ideale in Angemessenheit zu dem ausgereiften \u00e4sthetischen F\u00fchlen aufzustellen. Es w\u00e4re widersinnig, wenn er die Erfordernisse des Lyrischen oder des Geschichtsgem\u00e4ldes oder des Oratoriums vom Standpunkte eines jugendlich unreifen oder b\u00e4urisch groben Geschmackes auseinandersetzen wollte.\nSo hebt die Aesthetik nicht nur in menschheitlich-, sondern auch in individuell - entwickelungsgeschichtlicher Hinsicht eine bestimmte Stufe heraus. Man darf auch in dieser Beziehung von einer entwickelungsgeschichtlichenEin-schr\u00e4nkung des Gegenstandes der Aesthetik sprechen. Nur ist dies hier in einem wesentlich anderen Sinne zu nehmen als vorhin. Die Heraushebung jener individuell-menschlichen Entwickelungsstufe hat den Sinn, dafs mit dieser Stufe die volle, abschliefsende Entwickelung des Individuums gegeben ist. Wenigstens will der Aesthetiker das \u00e4sthetische F\u00fchlen des Individuums in seiner vollen Reife zum Ausdruck bringen. Die vorausgehende \u00e4sthetische Entwickelung des Individuums gilt dementsprechend als blofse Vorstufe, als unvollkommen und\nunreif. Die Heraushebung jener menschheitlichen Ent-\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nJohannes Volkelt.\nwickelungsstufe dagegen bedeutet eine weit empfindlichere Einschr\u00e4nkung. Denn der Aesthetiker darf keineswegs annehmen, dafs die vorausliegenden menschheitlichen Entwickelungsstufen blos Ans\u00e4tze und Mittel seien, nur Vorbereitung und Unreife darstellen. Die griechische Kunst oder die Kunst der Renaissance als blofse Vorstufe f\u00fcr die Kunst der Gegenwart anzusehen, w\u00e4re l\u00e4cherlich. Und andererseits mufs der Aesthetiker es als ausgemacht betrachten, dafs \u00fcber die menschheitliche Stufe, der er selbst angeh\u00f6rt, hinaus es noch eine unabsehbare weitere \u00e4sthetische Entwickelung geben werde. Es schliefst daher jene \u00fcberragende Bedeutung, die die gegenw\u00e4rtige menschheitliche Stufe des \u00e4sthetischen F\u00fchlens f\u00fcr den Aesthetiker besitzt, eine viel st\u00e4rkere Entsagung in sich, als in der Bevorzugung liegt, die er der reifen Stufe der individuellen Entwickelung zu Theil werden l\u00e4fst.\n4. Wenn nun auch die Hauptaufgabe der Aesthetik darin besteht, dafs die f\u00fcr das hochentwickelte Gef\u00fchl der Gegenwart geltenden \u00e4sthetischen Normen aufgesucht werden und dabei zugleich nach M\u00f6glichkeit eine Erweiterung der Normen in der Richtung auf das Allgemeing\u00fcltige und Allgemeinmenschliche hin erstrebt wird, so kann sie sich doch auch der Aufgabe nicht entschlagen, das \u00e4sthetische F\u00fchlen, Urtheilen, Schaffen in seiner Entwickelung zu verfolgen. Ich fasse diese Erweiterung der Aufgabe der Aesthetik zuerst nach der Seite der menschheitlichen Entwickelung ins Auge.\nNat\u00fcrlich w\u00fcrde die Aesthetik g\u00e4nzlich aus ihrer Rolle fallen, wenn sie die Entwickelung der Kunst durch die Zeiten und V\u00f6lker in der Weise der Kunstgeschichte verzeichnen wollte. F\u00fcr die Aesthetik kommt es allein darauf an, die seelischen Wandlungen der Menschheit r\u00fccksichtlich der \u00e4sthetischen Werthe festzustellen. F\u00fcr sie lautet die Frage: wie hat sich das \u00e4sthetische Vorstellungs-, Gef\u00fchls- und Phantasieleben im Laufe der Zeiten entwickelt? Wie stellten sich die Menschen auf den verschiedenen Stufen ihrer Entwickelung in ihrem Inneren zu Natur und Kunst, wenn sie sich \u00e4sthetisch verhielten? Wie arbeitete in der Seele der Zeitgenossen des Phidias oder Vergils oder Wolframs von Eschenbach oder D\u00fcrer\u2019s oder Shakespeare\u2019s Anschauen, F\u00fchlen, Phantasie, Wollen und Denken zusammen, wenn sie \u00e4sthetisch genossen? Und nat\u00fcrlich wird die Aesthetik, wofern sie n\u00e4mlich Gesammt\u00e4sthetik sein will und nicht die","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Die entivickelungsgeschichtliche Betrachtungsweise in der Aesthetik. 5\nAbsicht hat, die entwickelungsgeschichtlichen Fragen in einer ausf\u00fchrlichen Sonderdarstellung zu bearbeiten, diese Wandlungen nur in grofsen Z\u00fcgen, nur im Ueberblick, nur in ihren entscheidenden Wendepunkten behandeln.\nDie Kunstgeschichte mufs die Kunstwerke, die Technik, den Stil auch nach ihren \u00e4ufserlichen Merkmalen beschreiben. Dies liegt der Aesthetik ferne. Die Trag\u00f6die der Griechen oder den romanischen Kirchenbau in ihren Eigent\u00fcmlichkeiten festzustellen, ist Sache der Kunstgeschichte, nicht der Aesthetik. Die Aesthetik hat lediglich daran ein Interesse, zu erfahren, wie es in der Seele der Griechen ausgesehen hat, wenn sie ihre Trag\u00f6dien auf sich wirken liefsen, und was in der Seele der mittelalterlichen Menschen vor sich gegangen ist, wenn sie ihre romanischen Kirchen betrachteten.\nAuch w\u00e4re es nat\u00fcrlich ganz verfehlt, wenn die Aesthetik die Art, wie wir Menschen der Gegenwart die Kunstwerke vergangener Zeiten aufnehmen, ohne Bedenken als maafsgebend auch f\u00fcr die Gef\u00fchls- und Phantasieweise jener vergangenen Zeiten ansehen wollte. Der Aesthetiker mufs sich vielmehr ausdr\u00fccklich die M\u00f6glichkeit gewaltiger Unterschiede zwischen dem \u00e4sthetischen Verhalten der Gegenwart und dem entlegener Zeiten vor Augen halten. Man denke beispielsweise an das Verh\u00e4ltnifs der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle zu den stofflichen, sinnlichen Regungen in uns, im Besonderen zu den geschlechtlichen; ferner an ihr Verh\u00e4ltnifs zu den sittlichen und den religi\u00f6sen Gef\u00fchlen und zu dem Gedankenm\u00e4fsigen. Ich glaube, dafs in allen diesen Beziehungen das \u00e4sthetische Gef\u00fchl auch der jeweilig H\u00f6chststehenden zu verschiedenen Zeiten tiefeingreifende Unterschiede aufweist.\n5. Diese Eigenth\u00fcmlichkeiten der entwickelungsgeschichtlichen Behandlung des \u00e4sthetischen F\u00fchlens einsehen und das \u00e4ufserst Schwierige und Unsichere dieser Behandlungsweise erkennen: ist ein und dasselbe. Schon das \u00e4sthetische Erleben zur Zeit Klopstock\u2019s oder etwa Racine\u2019s nachzuf\u00fchlen und begrifflich zu bestimmen, wird nicht ganz einfach sein. In welches Dunkel gelangt man nun aber gar, wenn man fragt, mit welchen Gef\u00fchlen wohl die alten Inder und Aegypter ihre Wunderbauten betrachtet haben !\nDie kunst- und \u00fcberhaupt culturgeschichtliche Methode hat mit derartigen Dunkelheiten und Unsicherheiten lange nicht in","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"Johannes Volkelt.\ndiesem Grade zu k\u00e4mpfen; schon weil hier die Feststellung \u00e4ufserer Thatsachen einen breiten Raum einnimmt. Die entwickelungsgeschichtlichen Betrachtungen der Aesthetik dagegen gehen lediglich auf innere Vorg\u00e4nge, und zwar auf solche innere Vorg\u00e4nge, die sich nach Zusammensetzung und Verlauf selbst an dem Menschen der Gegenwart nur mit M\u00fche und unter grofsen Schwierigkeiten feststellen lassen.\nHier f\u00e4llt ein grelles Licht auf die Bem\u00fchungen, in der Aesthetik die psychologische Methode zu Gunsten der geschichtlichen oder entwickelungsgeschichtlichen zur\u00fcckzudr\u00e4ngen; wie sie sich beispielsweise bei Konead Lange finden.1 Denn nicht einmal von den entwickelungsgeschichtlichen Abschnitten der Aesthetik darf man sagen, dafs sie zuh\u00f6chst nach geschichtlicher, cultur- oder entwickelungsgeschichtlicher Methode anzustellen seien, und dafs das Psychologische darin nur in untergeordnetem Grade maafsgebend sei. Allerdings bedarf man, wenn man die Entwickelung der Gef\u00fchle vom Erhabenen, Tragischen, Lyrischen, Malerischen oder des \u00e4sthetischen Gef\u00fchls im Allgemeinen verfolgen will, hierzu einer F\u00fclle kunst- und culturgeschichtlicher Kenntnisse. Allein die Verwerthung dieser Kenntnisse geschieht hier in erster Linie nach Maafsgabe psychologischer Erw\u00e4gungen und Intuitionen. Einmal hat die V\u00f6lkerpsychologie \u00fcberall einzugreifen. Will man sich beispielsweise \u00fcber das \u00e4sthetische Verhalten der alten Griechen zur Zeit ihrer grofsen Tragiker eine Vorstellung bilden, so wird man zun\u00e4chst bestrebt sein m\u00fcssen, nach v\u00f6lkerpsychologischen Gesichtspunkten und Begriffen sich ein Bild von der Beschaffenheit der griechischen Volksseele jener Zeit zu erzeugen. Sodann aber kommt es besonders darauf an, dafs man sich das moderne \u00e4sthetische F\u00fchlen theils durch psychologische Erw\u00e4gungen, theils mit H\u00fclfe psychologischen Blickes und Tactes umgestaltet denkt. Man mufs das gegenw\u00e4rtige \u00e4sthetische F\u00fchlen dem damaligen Zustande der in Frage stehenden Volksseele und dem Eindruck der aus ihr hervorgegangenen Kunstwerke anpassen. Und dieses Anpassen ist eine Arbeit, in der sich, wie gesagt, psychologische Einsicht und unmittelbares psychologisches Feingef\u00fchl mit einander vermischen. Und zwar scheint mir dieser zweite, intuitive Bestandtheil von ganz besonderer Wichtigkeit zu sein. Mag es sich um die alten Aegypter,\n1 Lange, Das Wesen der Kunst. Bd. 1, S. 40, 43, 49, 52 und sonst.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Die entwickelungsgeschichtliche Betrachtungsiceise in der Aesthetik.\n1\nGriechen, nm das Mittelalter oder die Aufkl\u00e4rungszeit handeln, \u00fcberall kommt es vor Allem auf das gef\u00fchls- und phantasie-m\u00e4fsige Sichhineinversetzen in die Seelenzust\u00e4nde vergangener Zeiten an. So ist also die Bearbeitung, welche die kunst- und culturgeschichtlichen Kenntnisse in den entwickelungsgeschichtlichen Theilen der Aesthetik erfahren, in entscheidender Weise von psychologischen Verfahrungsweisen abh\u00e4ngig.\n6. F\u00fcr die entwickelungsgeschichtlichen Betrachtungen der Aesthetik ist nun sicherlich keine Frage so wichtig wie die, welche Vorstellung man sich von den Urspr\u00fcngen und allerfr\u00fchesten Entwickelungsstufen des \u00e4sthetischen Verhaltens zu bilden habe. Es w\u00e4re f\u00fcr die Aesthetik von unsch\u00e4tzbarem Werth, \u00fcber diese ersten Anf\u00e4nge genauen und sicheren Auf-schlufs zu erlangen. Allein gerade f\u00fcr die hierauf sich richtenden Untersuchungen wachsen die angedeuteten Schwierigkeiten zu einem besonders hohen Grade an. Wenn man sich freilich begn\u00fcgt, beispielsweise mit Wilhelm Scherer auf das Tanzen und Springen, auf das Jubeln und Singen und endlich auf das Lachen bei dem Naturmenschen hinzu weisen und daraus den Schlufs zu ziehen, dafs die Dichtung in dem Triebe nach Unterhaltung und Vergn\u00fcgung wurzelt \\ so scheint die Untersuchung sehr einfach zu sein. Allein es gilt zu bedenken, dafs sich f\u00fcr die Beantwortung der Frage, was es heifse, sich zu den Dichtungen dichterisch, k\u00fcnstlerisch, \u00e4sthetisch verhalten, nur vom Standpunkte des gereiften gegenw\u00e4rtigen Menschen aus eine sichere Grundlage gewinnen l\u00e4fst. Also besteht die Aufgabe, zu pr\u00fcfen, ob und inwieweit die Eigent\u00fcmlichkeiten, durch die sich das \u00e4sthetische Verhalten des gegenw\u00e4rtigen Menschen gegen\u00fcber der Dichtkunst kennzeichnet, auch als in dem Seelenleben der Naturv\u00f6lker vorkommend angenommen werden d\u00fcrfen. Darnach wird es sich dann richten, ob und in welchem Sinne bei den Naturv\u00f6lkern von Anf\u00e4ngen des \u00e4sthetischen Verhaltens oder nur von Ann\u00e4herungen daran oder ob nicht einmal hiervon bei ihnen die Rede sein d\u00fcrfe. Es k\u00f6nnte ja z. B. so sein, dafs T\u00e4nze und Ges\u00e4nge der Wilden, die der moderne Zuschauer und Zuh\u00f6rer ganz wohl \u00e4sthetisch zu geniefsen im Stande ist, von den Wilden selbst mit kriegerisch oder geschlechtlich oder fanatisch-religi\u00f6s erregtem Gem\u00fcthsleben begleitet werden. Dann st\u00fcnden die diesen T\u00e4nzen und Ges\u00e4ngen entsprechenden Ge-\n1 Wilhelm Scherer, Poetik. Berlin 1888. S. 78ff.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nJohannes Volkelt.\nf\u00fchle vielmehr nach den entscheidenden Seiten im Gegensatz zn dem \u00e4sthetischen Typus des Seelenlebens. Und ist es ferner nicht, gem\u00e4fs den vorigen Er\u00f6rterungen, eine \u00fcberaus schwierige Sache, diese seelischen Vorg\u00e4nge, die sich bei den Naturv\u00f6lkern abspielen, wenn sie tanzen, singen oder ihren Leib oder ihre Gef\u00e4fse schm\u00fccken, in feinerer Weise festzustellen? Dies kann nur, wie ich vorhin dargelegt habe, nach Analogie mit unserem gegenw\u00e4rtigen Seelenleben durch mannigfaltig zusammenspielende psychologische Verfahrungsweisen geschehen. Alle diese Schwierigkeiten und Verwickelungen bleiben f\u00fcr Scherer v\u00f6llig abseits liegen; so l\u00e4uft denn Alles glatt und bequem. Aber auch bei Konrad Lange kommen die dargelegten Zusammenh\u00e4nge nicht zum Ausdruck. So erscheint denn bei ihm das Hereinziehen des \u00e4sthetischen Lebens der Naturv\u00f6lker und der vorgeschichtlichen Menschheit als ein dem psychologischen Verfahren mindestens ebenb\u00fcrtiges Mittel der Methode. In Wahrheit ist -\u2014 um diesen kurzen Ausdruck zu gebrauchen \u2014 die Aesthetik der Naturv\u00f6lker kein methodisches Mittel, sondern vielmehr eine der allerdunkelsten und unzug\u00e4nglichsten Sonderaufgaben der Gesammt\u00e4sthetik.1\nBis jetzt sonach erscheint es als irref\u00fchrend, in der Aesthetik von entwickelungsgeschichtlicher Methode zu sprechen. Wohl giebt es Theile der Aesthetik, in denen entwickelungsgeschichtliche Betrachtungen gepflogen werden. Aber diese entwickelungsgeschichtliche Betrachtungsweise wurzelt, wie sich gezeigt hat, in der Hauptsache in psychologischen Bed\u00fcrfnissen und Forderungen in psychologischen Begriffen und Fertigkeiten. Dadurch unterscheidet sie sich wesentlich von aller kunst- und \u00fcberhaupt kulturgeschichtlichen Methode, auch von der Methode der Erforschung des vorgeschichtlichen Lebens der Menschheit.\n7. Auch nach der individuell-entwickelungsgeschichtlichen Seite ergeben sich f\u00fcr die Aesthetik besondere Aufgaben. Wenn die Aesthetik auch ihr Hauptaugenmerk auf die Gef\u00fchle und Bed\u00fcrfnisse des \u00e4sthetisch ausgereiften Menschen richtet und ihre ganze Normengebung von diesem Boden aus unternimmt, so liegt ihr doch auch daneben die Aufgabe ob, der Entwickelung der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle und Bed\u00fcrfnisse vom Kindesalter\n1 In der allersorglosesten Weise wird von Kurt Bruchmann in seiner \u201ePoetik\u201c (Berlin 1898) ein Sammelsurium entwickelungsgeschichtlicher Notizen als eine \u201eNaturlekre der Dichtung\u201c ausgegeben.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Die eniwickelungsgeschichtliche Betrachtungsweise in der Aesthetik. 9\nan nachzugehen. Und da ist es f\u00fcr sie sicherlich am lehrreichsten, gerade die \u00e4sthetischen Regungen des Kindes zu studieren. Es ist zu begr\u00fcfsen, dafs sich gegenw\u00e4rtig der \u201eKunst im Leben des Kindes\u201c die Aufmerksamkeit weiterer Kreise zuwendet. Geschieht dies auch auf p\u00e4dagogischen Anstofs und in p\u00e4dagogischer Absicht, so kann doch auch der Aesthetiker sich hierdurch angetrieben f\u00fchlen, den kindlichen Aeufserungen \u00e4sthetischen Bed\u00fcrfens und K\u00f6nnens mehr Beachtung als bisher zu schenken.\nWenn nun aber auch die Entwickelung des \u00e4sthetischen Verhaltens im Kinde eine wichtige Aufgabe der Aesthetik bildet, so ist doch nicht zu vergessen, dafs f\u00fcr die Untersuchung des \u00e4sthetischen Lebens im Kinde grunds\u00e4tzlich dieselben Schwierigkeiten bestehen wie f\u00fcr die \u201eAesthetik der Naturv\u00f6lker\u201c. Nur ist der Grad der Schwierigkeiten weit geringer. Wie \u00fcberhaupt die seelischen Vorg\u00e4nge des Kindes, so k\u00f6nnen auch seine \u00e4sthetischen Regungen nur auf Grundlage der Kenntnifs vom Seelenleben des erwachsenen Menschen untersucht werden. Nur wenn ich durch Selbstbeobachtung und durch die Mittheilungen anderer \u00fcber ihr Inneres die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle und Bed\u00fcrfnisse des Erwachsenen kenne, bin ich in der Lage, den Aeufserungen des Kindes durch Mienen und Geberden, durch Auge, Mund und Hand, seinem Spielen, Singen, Zeichnen u. s. w. die richtige seelische Deutung zu geben. Auch hier freilich wird man vielfach nicht \u00fcber eine grobe und ungewisse Skizzirung der kindlichen Innenvorg\u00e4nge hinauskommen. Und auch hier wird die Frage, ob die Vorg\u00e4nge in der kindlichen Seele bereits Anf\u00e4nge des \u00e4sthetischen Verhaltens selber oder nur Ann\u00e4herungen an dieses seien oder vielleicht damit \u00fcberhaupt noch nichts zu schaffen haben, immer nur nach den Maafsst\u00e4ben zu beantworten sein, die an den \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen des Erwachsenen gewonnen sind. Man denke etwa nur: es wollte Jemand, weil die Kinder den M\u00e4rchen mit stofflicher Neugier und Ungeduld und mit moralischer Billigung und Mifsbilligung lauschen, eben hieraus den Maafsstab entnehmen, dafs Neugier, Ungeduld, moralisches Tadeln und Loben Merkmale des \u00e4sthetischen Verhaltens seien.\nEs braucht kaum hervorgehoben zu werden, dafs auch hier von einer eigenth\u00fcmlich entwickelungsgeschichtlichen Methode nicht die Rede sein kann. Die Methode, die hier angewandt","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nJohannes Volkelt.\nwird, ist die gleiche, wie sie der Psychologe \u00fcberall \u00fcbt, wo er das individuelle Werden der Seelen Vorg\u00e4nge untersucht.\n8.\tSowohl von menschheitlich-, wie von individuell-entwicke-lungsgeschichtlicher Betrachtung aus kann sich die Aesthetik auf die Thier weit hingewiesen sehen. Wie f\u00fcr die moralischen und sogar religi\u00f6sen, so kann auch f\u00fcr die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle nach den Vorstufen bis in die Thierwelt hinab gefragt werden.\nFreilich bestehen die Unsicherheiten und Dunkelheiten, die der \u201eAesthetik der Naturv\u00f6lker\u201c anhaften, f\u00fcr eine \u201eAesthetik der Thiere\u201c in einem noch ungleich sch\u00e4rferen Grade. Wie soll sich dar\u00fcber entscheiden lassen, von welcherlei Gef\u00fchlen und Vorstellungen V\u00f6gel, Fische, Schmetterlinge bewegt werden, wenn sie das farbenreiche, gl\u00e4nzende Kleid ihrer Artgenossen erblicken oder sich beim Liebeswerben in allerhand Spielen ergehen? Wie soll dar\u00fcber Aufschlufs gewonnen werden, in welcher N\u00e4he oder Ferne von dem, was uns am reifen Menschen als \u00e4sthetisches Verhalten bekannt ist, sich die entsprechenden seelischen Vorg\u00e4nge der Thiere befinden? Liest man freilich gewisse Aesthetiker, so scheint es eine h\u00f6chst einfache Sache zu sein, die \u00e4sthetischen Regungen im Thierreiche festzustellen. Gustav Naumann z. B. h\u00e4lt es ohne Weiteres f\u00fcr \u201esicher\u201c, dafs in den Liebest\u00e4nzen und Hochzeitsfl\u00fcgen gewisser Inseeten das Geschlechtliche zwar noch \u201edurchaus \u00fcberwiegt\u201c, das K\u00fcnstlerische dabei aber \u201emit unterl\u00e4uft\u201c. Auch zweifelt er nicht daran, dafs Grille und Heuschrecke an der Liebesmusik, die sie hervorbringen, eine Art Kunstgenufs empfinden.1 Und so macht er denn mit fr\u00f6hlicher Kritiklosigkeit seine Betrachtungen \u00fcber die Liebesspiele der Thiere zur Grundlage der ganzen Aesthetik! Mir will es vielmehr scheinen, dafs die \u201eAesthetik der Thiere\u201c bestenfalls eine sich ihrer Dunkelheit und Gewagtheit deutlich bewufste Nebenbetrachtung der auf die Psychologie vom modernen Menschen gegr\u00fcndeten Aesthetik bilden k\u00f6nne. Es ist daher auch bei Weitem zuviel gesagt, wenn Konbad Lange unter den methodischen Mitteln der Aesthetik neben Selbstbeobachtung und Geschichte der Kunst als nebengeordnet die Einsicht in die Spiele der Thiere auff\u00fchrt.\n9.\tWenn schon in den entwickelungsgeschichtlichen Betrachtungen der Aesthetik eine Methode herrscht, die durchaus\n1 Gustav Naumann, Geschlecht und Kunst. Prolegomena zu einer physiologischen Aesthetik. Leipzig 1899. S. 132 f.","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Die eniwickelung sgeschichtliche Betrach tun g sie eise in der Aesthetik. H\nvon psychologischen Gesichtspunkten aus bestimmt ist: um wieviel mehr wird dies von den anderen Theilen der Aesthetik \u2014 und sie bilden bei Weitem die Hauptsache \u2014 gelten! Ich will die Theile der Aesthetik, die nicht ausdr\u00fccklich entwickelungsgeschichtlichen Betrachtungen gewidmet sind, kurz als systematische Aesthetik bezeichnen. Hier wird das \u00e4sthetische Geniefsen und ebenso das k\u00fcnstlerische Schaffen zergliedert und in ihren gesetzm\u00e4fsigen Beziehungen untersucht; hier werden (was damit aufs Engste zusammenh\u00e4ngt) die allgemeinen und weiterhin die besonderen \u00e4sthetischen Normen gesucht und er\u00f6rtert. Es w\u00fcrde nach allem Vorangegangenen so verkehrt als m\u00f6glich sein, wenn man die systematische Aesthetik auf entwickelungsgeschichtliche Betrachtungen gr\u00fcnden wollte. Denn immer und immer wieder dr\u00e4ngte sich der Gedanke auf, dafs die \u00e4sthetischen Seelenvorg\u00e4nge vergangener Zeiten und zur\u00fcckliegender Entwickelungsstufen nur von der Einsicht in das \u00e4sthetische Verhalten des gereiften Menschen der Gegenwart aus erforscht werden k\u00f6nnen. Eine \u201eAesthetik auf entwickelungsgeschichtlicher Grundlage\u201c ist demnach eine Umkehrung des richtigen Verh\u00e4ltnisses.\n10. Hieraus folgt nun nat\u00fcrlich nicht im Mindesten, dafs der systematische Aesthetiker sich lediglich auf seine \u00e4sthetische Selbsterfahrung und auf die Mittheilungen anderer \u00fcber die ihrige zu berufen n\u00f6thig habe und der Kenntnifs der Kunstwerke und K\u00fcnstler der vergangenen Zeiten entrathen k\u00f6nne. Im Gegentheil bedarf die Aesthetik auch in ihren systematischen Theilen auf Schritt und Tritt der anschauenden Kenntnifs der Kunstgeschichte. Und zwar kommt die kunstgeschichtliche Anschauung in z weif a eher Form f\u00fcr die systematische Aesthetik in Betracht.\nErstens bedarf schon die \u00e4sthetische Selbsterfahrung \u2014 die eigene wie die fremde, durch Mittheilung kennen gelernte \u25a0\u2014 ununterbrochen der Anschauung von Kunstwerken. Diese braucht nat\u00fcrlich nicht immer wirklich ausge\u00fcbt zu werden; sie kann auch in der Erinnerung aufgefrischt sein. Will ich erfahren, worin das Gef\u00fchl des Erhabenen oder Grotesken, der Eindruck des Volksliedes oder des Stilllebens, das Eigenth\u00fcmliche des klassischen oder romantischen Stils bestehe, so mufs ich mir entsprechende Anschauungen vielfacher Art, sei es in Wirklichkeit oder in der Erinnerung, vor Augen f\u00fchren. Und da wird","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nJohannes Volkelt.\nes zweckm\u00e4fsig sein, wenn ich mich nicht nur an Beispiele aus der Natur und dem gegenw\u00e4rtigen Kunstleben halte, sondern auch aus m\u00f6glichst verschiedenartigen Abschnitten der vergangenen Kunstentwickelung eindrucksvolle F\u00e4lle heraushole. Hier bildet also der kunstgeschichtliche Stoff das Mittel, wodurch die \u00e4sthetische Selbsterfahrung zu Stande kommt Ein Aesthetiker beispielsweise, der \u00fcber das Komische arbeitet, wird seine Phantasie in lebendiger F\u00fchlung mit Aristophanes wie Rabelais, mit Cervantes wie Byron, mit Beaumarchais wie Freytao erhalten m\u00fcssen. Die Selbsterfahrung \u00fcber das Komische w\u00fcrde in ihm nur unvollkommen entbunden, wenn er sie nur an Beispielen aus dem Leben oder aus dem Schaffen gegenw\u00e4rtig lebender K\u00fcnstler nehmen wollte. Und das Gleiche mufs er von der Selbsterfahrung, die Andere \u00fcber das Komische gemacht haben, und die er durch Mittheilung kennt, voraussetzen. Es braucht kaum bemerkt zu werden, dafs diese Heranziehung der kunstgeschichtlichen Beispiele als eines Mittels f\u00fcr das Zustandekommen der \u00e4sthetischen Selbsterfahrung nicht im Entferntesten als kunstgeschichtliche Methode bezeichnet werden darf.\n11. Noch zu einem zweiten Zweck aber bedarf die svste-\ntj\nmatische Aesthetik der kunstgeschichtlichen Erfahrung. Wenn auch die von ihr aufgestellten Normen zun\u00e4chst nur von der jeweiligen Entwickelungsstufe des \u00e4sthetischen Bewufstseins gelten, so wird sie doch bestrebt sein, ihre G\u00fcltigkeit, so weit dies m\u00f6glich ist, nach der Richtung auf das Allgemeing\u00fcltige hin zu erh\u00f6hen. Bei dieser Arbeit nun eben ist die Kunstgeschichte zu wesentlichen Diensten berufen. Frage ich, ob und wieweit der Geltungsbereich irgend einer allgemeinen \u00e4sthetischen Norm oder einer etwa die besondere Gestalt des Tragischen betreffenden Vorschrift \u00fcber die gegenw\u00e4rtige Entwickelungsstufe nach r\u00fcckw\u00e4rts in die Vergangenheit hin ausgedehnt werden d\u00fcrfe, so werde ich in die fr\u00fchere Entwickelung der entsprechenden Kunst Blicke werfen m\u00fcssen. Nur so kann ich zu einer Ueberzeugung dar\u00fcber kommen, ob eine erhebliche Ausdehnung der G\u00fcltigkeit der in Rede stehenden Norm nach r\u00fcckw\u00e4rts hin mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden d\u00fcrfe. Hier wird also der kunstgeschichtliche Stoff nicht als Mittel f\u00fcr die Belebung der \u00e4sthetischen Selbsterfahrung herangezogen, sondern als Pr\u00fcfstein f\u00fcr die Beantwortung der Frage nach der Aus-","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Die entwickelungsgeschichtliche Betrachtungsweise in der Aesthetik. J3\ndehnung der G\u00fcltigkeit der \u00e4sthetischen Normen. L\u00e4fst sich eine gewisse Erweiterung des Geltungsbereiches nach r\u00fcckw\u00e4rts hin mit den Thatsachen der Kunstentwickelung in Einklang bringen? Oder machen die fr\u00fcheren Entwickelungsstufen auf irgend einem Kunstgebiete es unwahrscheinlich, dafs auch schon damals eine gewisse Norm, der heutigen Tages das \u00e4sthetische F\u00fchlen unterliegt, Geltung besessen hat?\nJetzt ist ersichtlich, dafs diese zweite Heranziehung der kunstgeschichtlichen Erfahrung die Bedeutung hat, dafs auf diesem Wege das \u00e4sthetische F\u00fchlen vergangener Zeiten wenigstens bis zu einem gewissen Grade deutlich werden soll. Der kunstgeschichtliche Stoff ist hier ein Mittel f\u00fcr die Er-schliefsung des \u00e4sthetischen F\u00fchlens vergangener Zeiten. Nat\u00fcrlich ist hier kein so weit als m\u00f6glich gehendes Erschliefsen gemeint; sondern es gen\u00fcgt, wenn \u00fcber das \u00e4sthetische F\u00fchlen vergangener Zeiten soviel Licht verbreitet ist, dafs eine Ausdehnung der G\u00fcltigkeit einer bestimmten \u00e4sthetischen Norm bis in diese Zeiten als m\u00f6glich oder unm\u00f6glich, als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich erscheint. Es wird sich also nur um ein Deuten vergangener Kunststufen auf das entsprechende \u00e4sthetische F\u00fchlen nach gewissen allgemeinsten Seiten handeln. Oft reicht schon ein ungef\u00e4hrer Blick auf die Kunstaus\u00fcbung vergangener Zeiten hin, um zu erkennen, dafs die Ausdehnung der G\u00fcltigkeit einer bestimmten Norm bis in diese Zeiten ausgeschlossen ist.\nMan hat es also auch nach dieser zweiten Seite hin in der systematischen Aesthetik nicht mit zusammenh\u00e4ngenden kunstgeschichtlichen Betrachtungen zu thun. Sondern die Sache liegt so, dafs nach Aufstellung einer \u00e4sthetischen Norm (die auf psychologischem Wege erfolgt) die Frage auftritt, ob und wieweit etwa nach r\u00fcckw\u00e4rts die G\u00fcltigkeit dieser Norm ausgedehnt werden d\u00fcrfe, und dafs zur Beantwortung dieser Frage pr\u00fcfende Blicke auf gewisse jeweilig lehrreiche und entscheidende Stellen der Entwickelung der Kunst geworfen werden m\u00fcssen, um zu ermessen, ob und in welchem Umfange etwa an eine Ausdehnung des Geltungsbereiches der bestimmten Norm nach der Vergangenheit gedacht werden d\u00fcrfe. So werden sich z. B. dem Aesthetiker der Trag\u00f6die die Zeit Goethe\u2019s, das Drama Shakespeare\u2019s , das altgriechische Drama vorzugsweise vor Augen stellen, wenn er sich fragt, ob er daran denken d\u00fcrfe, seinen","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nJohannes Volkelt.\nHormen eine Geltungsausdehnung in vergangene Zeiten hin zu geben. Uebrigens ist nicht zu vergessen, dafs alle diese Deutungen fr\u00fcherer Stufen der Kunstentwickelung auf das zu Grunde liegende \u00e4sthetische F\u00fchlen hin, wie wir l\u00e4ngst gesehen haben, selbst wieder nur durch psychologische Verfahrungsweisen m\u00f6glich sind. So kann also auch nach dieser zweiten Seite hin von kunstgeschichtlicher Methode der systematischen Aesthetik nicht die Rede sein. Wenn Lange von der \u201eUeberlegenheit der historischen Methode \u00fcber die der psychologischen Selbstbeobachtung\u201c spricht, so finde ich, wohin ich auch blicke, f\u00fcr diese Auffassung nicht nur nirgends Anhaltspunkte, sondern vielmehr \u00fcberall einen Sachverhalt, der ihr alle Berechtigung entzieht.\n12.\tWenn das ausschlaggebend Psychologische in der Bearbeitung der systematischen Aesthetik in vollem Umfang zu Tage treten soll, so hat man \u00fcbrigens nicht nur an die \u00e4sthetische Selbsterfahrung und an die Kenntnifs von den mitgetheilten \u00e4sthetischen Selbsterfahrungen anderer zu denken, sondern man mufs sich nat\u00fcrlich auch vor Augen halten, dafs die Psychologie mit ihren Thatsachen und Gesetzen \u00fcberall begr\u00fcndend, unterbauend, befestigend eingreift. Sollen die \u00e4sthetischen Selbsterfahrungen bearbeitet werden, so kann dies nur nach Maafs-gabe der Einsichten geschehen, \u00fcber die der Aesthetiker in der Psychologie des Empfindens, Vorstellens, F\u00fchlens, Wollens verf\u00fcgt. Die \u00e4sthetischen Selbsterfahrungen m\u00fcssen zergliedert, verkn\u00fcpft, eingeordnet, gedeutet werden. Hierzu sind auf Schritt und Tritt mannigfache Kenntnisse von Vorg\u00e4ngen und Zusammenh\u00e4ngen auf den verschiedensten Gebieten des seelischen Lebens n\u00f6thig. Sonst w\u00fcrden sich die \u00e4sthetischen Selbsterfahrungen \u00fcberhaupt nicht im Sinn einer systematischen Aesthetik ver-werthen lassen. Dieser best\u00e4ndige Beitrag von den Grundlagen und von verschiedenen Sondergebieten der Psychologie aus ist immer mit hinzuzudenken, wenn von der psychologischen Methode der Aesthetik die Rede ist.\n13.\tMan trifft h\u00e4ufig auf eine Ansicht von der Verwerthung der Kunstwerke und Kunstentwickelung f\u00fcr die Aesthetik, die nach allem Bisherigen das Gegentheil des Richtigen ist. Man brauche nur, so lautet die Meinung, auf eine m\u00f6glichst breite kunstgeschichtliche Grundlage hinzublicken, auf das Gemeinsame und Wesentliche in der F\u00fclle der Kunstwerke zu achten und nach der jeweilig geforderten Richtung hin dieses Gemeinsame","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Die entwickelungsgeschichtliche Betrachtungsweise in der Aesthetik. 15\nund Wesentliche herauszuheben und zusammenzufassen. Man kann diese Methode als Abstraktion von den Kunstwerken aus bezeichnen.\nWohin f\u00fchrt denn dieses Ablesen, Herausheben, Zusammenfassen des Gemeinsamen und Wesentlichen an den Kunstwerken? Doch immer nur zu \u00e4ufseren, sinnenf\u00e4lligen Merkmalen. Man kann \u00fcber die Marmortechnik, die Technik des Kupferstichs, die Behandlung der Oelfarbe, \u00fcber Linienf\u00fchrung, \u00fcber den Bau des Lustspiels, auch \u00fcber die Stoffe etwa der geschichtlichen Malerei oder der Ballade eine F\u00fclle von Abstractionen anstellen. Allein man kommt mit ihnen nie bis zu dem, was den eigentlichen Gegenstand der Aesthetik bildet. Die Aesthetik will die seelischen Vorg\u00e4nge, im Betrachter wie im schaffenden K\u00fcnstler, kennen lernen. Alles Abstrahiren aber f\u00fchrt uns nimmermehr dahin, zu erfahren, was die griechischen K\u00fcnstler f\u00fchlten, als sie ihre Trag\u00f6dien schufen, und was in dem griechischen Publikum an den grofsen Dionysien und den Len\u00e4en innerlich vorging. Um so tief vorzudringen, m\u00fcssen, wie wir gesehen haben, psychologische, von den Innenerfahrungen des modernen Menschen ausgehende, nach Analogie deutende Verfahrungs-weisen angewandt werden. Jenes \u201eAbstrahiren\u201c ist daher in der Kunstgeschichte an seinem Platz ; hier bildet es eine \u2019wesentliche Seite der Methode. In der Aesthetik dagegen kann ihm nur einer, der dem oberfl\u00e4chlichen Anschein folgt, eine grundlegende Bedeutung zuschreiben. Nur vorbereitende Schritte k\u00f6nnen in der Aesthetik durch Abstraction gethan wTerden.\n14. Aber noch aus einem anderen Grunde ist die abstra-hirende Methode ungen\u00fcgend. Alles \u00e4sthetische Abstrahiren mufs doch nach einer bestimmten \u00e4sthetischen Richtung, nach einem bestimmten \u00e4sthetischen Maafsstabe, schliefslich : gem\u00e4fs einem \u00e4sthetischen Werthurtheile erfolgen. Man will beispielsweise die Bestandtheile und Bedingungen des Gef\u00fchls vom Tragischen ermitteln. Darf man dabei das Drama der Inder heranziehen? In welchem Sinn ist die griechische Trag\u00f6die daf\u00fcr maafsgebend ? Darf man die Abstraction auch auf Calderon ausdehnen? Und auf Zola, Ibsen, d\u2019Annunzio, Maeterlinck? Hier\u00fcber kann durch die Methode der kunstgeschichtlichen Abstraction schlechtweg nichts bestimmt werden. Der Abstraction m\u00fcfste eine Untersuchung dar\u00fcber vorangehen, welcher charakteristische und menschlich werthvolle Gef\u00fchls- und Phantasie-","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nJohannes Volkelt.\ntypus ins Auge zu fassen sei, wenn vom Tragischen die Rede ist. Und diese Untersuchung kann offenbar nur auf psychologischem Wege gef\u00fchrt werden. Beobachtend, sichtend, zergliedernd, verkn\u00fcpfend mufs sich der Blick auf die in unserem Seelenleben vorkommenden charakteristischen und menschlich werthvollen Gef\u00fchls- und Phantasieverl\u00e4ufe richten und den entsprechenden herausheben. Oder es bestehe die Aufgabe, das Wesen des Anmuthigen festzustellen. Auch hier kommt es zun\u00e4chst darauf an, aus unserem Seelenleben dasjenige charakteristische und bedeutsame Gef\u00fchls- und Phantasiegebilde herauszuheben, dem man den Namen des Anmuthigen geben will. Wie will man ohne diese vorausgehende psychologische Untersuchung dar\u00fcber Gewifsheit erlangen, ob und in welchem Umfange etwa Raeeael\u2019s oder Correggio\u2019s Madonnen oder vieheicht Watteau und Boucher als Grundlagen f\u00fcr die \u201eAbstraction\u201c zur Gewinnung des Anmuthigen herangezogen werden d\u00fcrfen? oder ob die Abstraction ohne Weiteres an Boccaccio\u2019s Novellen, an Ovid\u2019s Ars amatoria, an Goethe\u2019s R\u00f6mischen Elegien vorgenommen werden darf? Ohne eine derartige vorausgegangene Untersuchung mufs man auf Schritt und Tritt f\u00fcrchten, mit der Abstraction in die Nachbargebiete des Reizenden, Zierlichen, Lieblichen, des Ueppigen, des Idealsch\u00f6nen u. s. w. abzugleiten. Oder es werde \u00fcber das Eigenth\u00fcmliche des Romans gehandelt. D\u00fcrfen der Abstraction auch der naturalistisch beschreibende und der psychologisch zergliedernde und der stimmungsvoll lyrische Roman der Gegenwart als gleichwerthig mit den Romanen etwa Goethe\u2019s, Scott\u2019s, Dickens\u2019 zu Grunde gelegt werden ? Auch hier\u00fcber liefse sich nur nach einer psychologischen Untersuchung \u00fcber die charakteristischen und bedeutsamen Gef\u00fchls- und Phantasie typ en, die sich r\u00fccksichtlich der erz\u00e4hlenden Dichtung ergeben, entscheiden.\nUnd so kann auch die allgemeine Frage, worin das \u00e4sthetisch Befriedigende \u00fcberhaupt bestehe, nicht durch kunstgeschichtliche Abstraction beantwortet werden. Lange ist der Ansicht, man solle dieser Ermittelung vorzugsweise die \u201eBl\u00fctheperioden der Kunst\u201c zu Grunde legen, \u201emoderne Kunsterscheinungen aber nur insoweit zum Beweise herbeiziehen, als sie mit klassischen Kunsterscheinungen \u00fcbereinstimmen\u201c.1 Allein warum sollte es von vornherein unm\u00f6glich sein, dafs sich das \u00e4sthetische F\u00fchlen\n1 Konkad Lange, Das Wesen der Kunst. S. 37 ff.","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Die entwickelungsgeschichtliche Betrachtungsweise in der Aesthetik.\nin wesentlichen St\u00fccken in der neueren Zeit verfeinert habe? Die Methode der Abstraction zum Mindesten kann hier\u00fcber nichts ausmachen. Ferner ist zu erw\u00e4gen, dafs den Kunstwerken der \u201eBl\u00fctheperioden\u201c ohne Zweifel auch in den damaligen Zeiten gar viel stoffliche, grobe, genufss\u00fcchtige, einseitig moralische, einseitig religi\u00f6se, einseitig auf Belehrung ausgehende Gef\u00fchle entsprochen haben. Die Methode der kunstgeschichtlichen Abstraction hat von sich aus nicht das mindeste Recht, diese \u00e4sthetisch unreinen Gef\u00fchle bei Seite zu lassen. Um sie als \u00e4sthetisch unrein zu erkennen, mufs man schon auf psychologischem Wege sich ein Wissen dar\u00fcber erworben haben, worin das eigent\u00fcmlich Aesthetische der Gef\u00fchle liege.1\n15. So kommen wir also zu dem Ergebnifs, dafs die systematische Aesthetik ihr Hauptaugenmerk zu richten habe auf die Aussonderung menschlich charakteristischer und menschlich werthvoller Gef\u00fchls- und Phantasietypen aus dem Verlaufe des seelischen Lebens. Diese Aussonderung betrifft zun\u00e4chst das allgemeine \u00e4sthetische Gef\u00fchl in seinen Abgrenzungen gegen die sinnlichen, stofflichen, moralischen und sonstigen benachbarten Gef\u00fchle; sodann aber die besonderen Gestalten der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle in ihren Abgrenzungen gegen einander. Hiermit ist die Richtung angegeben, in der sich das Heranziehen der \u00e4sthetischen Selbsterfahrungen des reifen modernen Menschen und ihre Bearbeitung im Zusammenhang mit den sonstigen Thatsachen und Gesetzen der Psychologie zu halten hat.\nSo hat jetzt die Verwerthung der \u00e4sthetischen Selbsterfahrungen des reifen modernen Menschen eine bestimmtere Form gewonnen. Sie geschieht im Zusammenhang mit verschiedenartigem, jeweilig in entsprechender Weise heranzuziehendem psychologischen Wissen. Dieses greift unterst\u00fctzend, kl\u00e4rend, ordnend, vor Abwegen sch\u00fctzend, begr\u00fcndend, unterbauend ein. Der Leitstern aber, wonach jene Selbsterfahrungen zu Grunde zu legen und psychologisch zu bearbeiten sind, liegt in der R\u00fccksicht auf die Heraushebung und Abgrenzung gewisser charakteristischer, bedeutsamer, werthvoller Gef\u00fchls- und Phantasietypen. In dem Hinblick auf diese ist der Kern und Ruhepunkt der psychologischen Methode enthalten.\n1 R\u00fccksichtlich des Tragischen habe ich die Abweisung der abstrahiren\u00ab den Methode bereits in meiner Aesthetik des Tragischen ausf\u00fchrlich dargelegt (S. 3 ff.).\nZeitschrift fiir Psychologie 29.\n2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nJohannes Volkelt.\n16. Eine gewisse H\u00fclfe k\u00f6nnen der psychologischen Methode die Wortbedeutungen gew\u00e4hren. Freilich w\u00fcrde sich die Aesthetik einem haltlosen Schwanken preisgeben, wenn sie sich in der Hauptsache oder auch nur in irgendwie maafsgebender Weise daran halten wollte. Die sprachlichen Bezeichnungen f\u00fcr \u00e4sthetische Begriffe haben eine so wenig feststehende Bedeutung, f\u00fchren so ungef\u00e4hre, vieldeutige und wechselnde Vorstellungen mit sich, dafs der Aesthetiker, der sich Sprachgebrauch und Sprachgef\u00fchl zur Richtschnur nehmen wollte, aus unsicherem Tappen nirgends herausk\u00e4me. Die Ausdr\u00fccke der Sprache f\u00fcr \u00e4sthetische Verh\u00e4ltnisse sind eben nicht im Entferntesten nach wissenschaftlichen Bed\u00fcrfnissen gebildet, gegliedert, abgegrenzt worden. Wie unglaublich unsicher ist das Sprachgef\u00fchl in dem Gebrauche sogar der W\u00f6rter \u201esch\u00f6n\u201c und \u201eh\u00e4fslich\u201c ! Wie taumeln und schillern nicht die Bedeutungen der Ausdr\u00fccke: anmuthig, lieblich, grazi\u00f6s, reizend, niedlich durcheinander ! Oder wie wollte man die Bedeutung solcher Begriffe wie : Symbol und Allegorie, Stil und Manier, Genie und Talent, idealistisch, realistisch, naturalistisch, nach dem mit diesen Worten verkn\u00fcpften Sprachgebrauch bestimmen!\nDie von dem Sprachgebrauch geleistete H\u00fclfe kann nur darin bestehen, dafs er f\u00fcr die zweckm\u00e4fsigste Benennung eines psychologisch gekennzeichneten Gef\u00fchls- und Phantasietypus herangezogen wird. Soll das Sch\u00f6ne, das Charakteristische, das Komische, das Groteske, das Lyrische, das Dekorative oder was es immer sei, \u00e4sthetisch bestimmt werden, so kommt es in der Hauptsache darauf an, dafs ein thats\u00e4chlich vorhandener, bedeutsamer, der Heraushebung werther Gef\u00fchls- und Phantasietypus psychologisch beschrieben wird. Erst eine zweite Frage ist es, ob f\u00fcr diesen Typus die zweckm\u00e4fsigste Bezeichnung gew\u00e4hlt wurde. Also nur f\u00fcr die Benennung der thats\u00e4chlich vorhandenen wichtigen Gef\u00fchls- und Phantasietypen ist der Sprachgebrauch maafsgebend. F\u00fcr die sachliche Untersuchung selbst kann er nur ungef\u00e4hr auf die Spur des Richtigen leiten. Es kann daher wohl die psychologische Zergliederung an ihn ankn\u00fcpfen, niemals ihn aber sachlich maafsgebend werden lassen.\nNebenbei bemerkt, ist es ein \u00fcberaus h\u00e4ufiger Fehler der \u00e4sthetischen Kritik, dafs sie Abweichungen in der Benennung ohne Weiteres als sachliche Unterschiede hinstellt. Wenn beispielsweise ein Kritiker an eine Aesthetik des Tragischen heran-","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Die entivickelungsgeschichtliche Betrachtungsweise in der Aesthetik.\n19\ntritt, so m\u00fcfste seine erste Aufgabe dahin gehen, zu fragen, oh in dem Buche wirklich vorhandene charakteristische und bedeut-same Gef\u00fchls- und Phantasieverl\u00e4ufe beschrieben und in das richtige Verh\u00e4ltnifs unter einander gebracht worden sind. Erst an zweiter Stelle h\u00e4tte er zu fragen, ob f\u00fcr die beschriebenen Gef\u00fchls- und Phantasietypen die sprachsgebrauchsm\u00e4fsig angemessensten zusammenfassenden und unterscheidenden Ausdr\u00fccke gew\u00e4hlt wurden. Gew\u00f6hnlich indessen verf\u00e4hrt der Kritiker anders : Abweichungen in der Namengebung verk\u00fcndet er sofort als sachliche Irrth\u00fcmer des Verfassers.\n17. Wie an alle Richtungen des Geisteslebens, so l\u00e4fst sich auch an die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle die Frage heranbringen, ob und inwieweit sie sich von darwinistischer Grundlage aus verstehen lassen. Nach allem Vorangehenden geh\u00f6rt freilich diese Frage nicht in die grundlegenden, \u00fcberhaupt nicht in die systematischen Theile der Aesthetik, sondern in ihre entwicke-lungsgeschichtlichen Betrachtungen. Hier darf, ja mufs vielleicht untersucht werden, welche Bedeutung die nat\u00fcrliche Auslese im Kampf ums Dasein f\u00fcr die Entstehung und Entwickelung der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle habe. Nat\u00fcrlich wird je nach dem Verh\u00e4ltnifs, in dem der Aesthetiker zum Darwinismus steht, diese Untersuchung eine breite und wichtige oder eine nebens\u00e4chliche Stelle im Ganzen der Betrachtung einnehmen. Dagegen darf selbst der \u00fcberzeugteste darwinistische Aesthetiker \u00abine derartige Untersuchung nicht in die Grundlagen der Aesthetik hereinziehen. Anstatt bestimmte Thatsachen und klare Zusammenh\u00e4nge zu erhalten, w\u00fcrde er sich in dunklen Vorstellungen und wilden Vermuthungen herumtreiben. Hier\u00fcber braucht nach allem Vorausgehenden kein Wort mehr verloren zu werden.1\nZu den darwinistischen Aesthetikern geh\u00f6rt auch Lange. Er setzt ohne Weiteres voraus, dafs die Kunst sich nur darum und nur insoweit entwickelt hat, weil und inwiefern sie die Menschheit im Kampf ums Dasein unterst\u00fctzte. Und so verk\u00fcndet er denn auch ohne Weiteres f\u00fcr die Aesthetik den darwinistischen Maafsstab ; jede Kunst ist gut, die der Gattung\n1 Der Aufsatz Max B\u00fcrckhard\u2019s \u201eDie Kunst und die nat\u00fcrliche Entwickelungsgeschichte\u201c (enthalten in seiner Schrift: \u201eAesthetik und Socialwissenschaft , Stuttgart 1895) zeigt an mehreren Stellen, auf welch einen Schwankenden Boden die Aesthetik gestellt w\u00fcrde, wenn sie sich auf darwinistische Erkl\u00e4rungen gr\u00fcnden wollte (S. 52, 57, 70).\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"Johannes Volkelt.\n20\nn\u00fctzt; jede Kunst ist schlecht, die ihr schadet.1 Wollte man mit diesem Maafsstab Ernst machen, so w\u00fcrde man damit die Rathlosigkeit zum Prinzip erheben. Fragt man, welche F\u00f6rde-rangen und Sch\u00e4digungen f\u00fcr die menschliche Gattung aus bestimmten Richtungen und ItVeisen der Kunst entspringen, so leitet man damit eine \u00fcberaus verwickelte, an Unsicherheit \u00fcberreiche, zu den verschiedensten Gesichtspunkten f\u00fcr und dawider f\u00fchrende Untersuchung ein. Wie wollte man beispielsweise entscheiden, ob der griechisch harmonisirende Stil unserer klassischen Dichter oder die musikalischen Neuerungen Wagneb\u2019s der Gattung im Kampfe ums Dasein mehr gen\u00fctzt oder mehr geschadet haben! Auf Grund dieses Maafsstabes k\u00f6nnte nur ein endloses Hin und Her zwischen den Freunden und Gegnern dieser beiden Richtungen entstehen. Aber auch ganz abgesehen von dieser Mifslichkeit ist das an die Spitze Stellen eines dar-winistischen \u00e4sthetischen Werthmessers schon darum vomUebel, weil er bestenfalls auf Untersuchungen beruht, die in hohem Grade dem Gebiet des Hypothetischen und Ungef\u00e4hren an-geh\u00f6ren.\n18. Das Ergebnifs dieser Betrachtungen l\u00e4fst sich in f\u00fcgenden S\u00e4tzen zusammenfassen. Der Gegenstand der Aesthetik ist in doppelter Richtung entwickelungsgeschichtlich eingeschr\u00e4nkt. Es ist eine bestimmte Stufe der menschheitliehen und eine bestimmte Stufe der individuellen \u00e4sthetischen Entwickelung, die den n\u00e4chsten, haupts\u00e4chlichen und maafsgebenden Untersuchungsgegenstand der Aesthetik bilden. Die Hauptaufgabe der Aesthetik besteht in der Aufsuchung der f\u00fcr das individuell ausgereifte Gef\u00fchl des modernen Menschen geltenden \u00e4sthetischen Normen. Eine allgemeing\u00fcltige, f\u00fcr alle Zeiten und V\u00f6lkei geltende Aesthetik ist ein Ideal, dem der Aesthetiker sich nur einigermaafsen ann\u00e4hern kann. Diese Ann\u00e4herung l\u00e4fst sich vorzugsweise in den grundlegenden Theilen der Aesthetik, weit weniger in den die besonderen \u00e4sthetischen Gestaltungen be handelnden Theilen erstreben. Trotz dieser entwickelungsgeschichtlichen Einschr\u00e4nkung kann nun aber doch von einer entwickelungsgeschichtlichen Grundlage oder Methode der Aesthetik keine Rede sein. Ohne Zweifel m\u00fcssen in jeder vollst\u00e4ndigen Aesthetik wichtige Betrachtungen entwickelungsgeschichtlicher Art Vorkommen. Allein diese lassen sich nur unter der Voiaus-\n1 Konrad Lange, Das Wesen der Kunst. Bd. 1, S. 14 f.","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Die entwickelungsgeschichtliche Betrachtung sic eise in der Aesthetik. 21\nSetzung einer bereits auf Grund der Erfahrungen des gereiften modernen Menschen geleisteten Aesthetik und mittelst durch und durch psychologisch bestimmter Verfahrungs weisen zu Stande bringen. Vollends nun die \u201esystematischen'\u201c Theile der Aesthetik auf entwickelungsgeschichtlicher Grundlage durchf\u00fchren wollen, w\u00e4re so verkehrt als m\u00f6glich. Diese Theile k\u00f6nnen nur in einer mittels der Thatsachen und Theorien der Psychologie geschehenden Bearbeitung der eigenen und fremden \u00e4sthetischen Selbsterfahrungen bestehen. Zu dieser Bearbeitung geh\u00f6rt auch das best\u00e4ndige Heranziehen von Gegenst\u00e4nden der Natur und der Kunst aus ihren verschiedenen Gebieten und Zeiten. Entwickelungsgeschichtliche Betrachtungen dienen dieser \u201esystematischen\u201c Arbeit der Aesthetik nur in gewisser Hinsicht zur H\u00fclfeleistung. Eine H\u00fclfeleistung nach anderer Richtung bieten die Wortbedeutungen. Fragen darwinistischer Art d\u00fcrfen nur in den entwickelungsgeschichtlichen Theilen der Aesthetik aufgeworfen werden.\nDer Vollst\u00e4ndigkeit halber sei endlich noch darauf hingewiesen, dafs meine Betrachtungen sich nicht auf die Frage erstreckten, wo \u00fcberall in der Aesthetik sich Beziehungen ihres Gegenstandes zur Culturgeschichte ergeben. Solcher Beziehungen giebt es insbesondere f\u00fcr die Kunst mancherlei. Ein besonders wichtiger derartiger Zusammenhang tritt beispielsweise dort auf, wo der Aesthetiker den Gem\u00fcthszustand, aus dem heraus der K\u00fcnstler seine Werke schafft, behandelt. Hier wird darzulegen sein, dafs sich der K\u00fcnstler nicht als vereinzeltes, culturgeschicht-\u00fcch losgetrenntes Individuum, sondern als Mitarbeiter an dem Gesammtgeistesleben der Gegenwart, als lebendiges Glied in dem Vervollkommnungsgange der Menschheit f\u00fchlen solle. Nur wenn das Bewufstsein des K\u00fcnstlers von vornherein als theilnehmend an dem geistigen Streben und Ringen der Zeit, also auch als erf\u00fcllt von dem sittlichen Veredlungs- und Vertiefungsstreben der Menschheit betrachtet wird, kann der Zusammenhang von Kunst und Moral in die geh\u00f6rige Beleuchtung ger\u00fcckt und insbesondere das Schlagwort ,,1\u2019art pour l\u2019art\u201c in seiner ganzen Haltlosigkeit erwiesen werden.\n(Eingegangen am 3. 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