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{"created":"2022-01-31T16:33:26.025748+00:00","id":"lit33080","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Storch, E.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 29: 22-43","fulltext":[{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nUeber das r\u00e4umliche Sehen.\nVon\nDr. E. Storch.\n(Mit 6 Fig.)\nWenn ich mich in meinem Zimmer umsehe, in welchem mir jeder Gegenstand bekannt ist, so nehme ich lauter k\u00f6rperliche Dinge wahr. Die Platte des Tisches erscheint mir als ein Rechteck, an dessen vier Ecken die Beine rechtwinklig einge-pflanzt sind, die Ecken des Zimmers werden von drei rechtwinklig aufeinanderstofsenden Ebenen gebildet, kurz alles was ich sehe, erscheint eine ganz bestimmte r\u00e4umliche Form und Gr\u00f6fse zu besitzen, dieselbe Form und Gr\u00f6fse, welche ich auch durch Tasten wahrnehmen kann.\nSchliefse ich nunmehr ein Auge, so bemerke ich, dafs in dem Bilde eine schwer zu beschreibende Ver\u00e4nderung stattgefunden hat, deren Wesen festzustellen der naiven Beobachtung kaum gelingen d\u00fcrfte. L\u00e4fst man von Kindern oder auch von unbefangenen Erwachsenen diesen Versuch ausf\u00fchren, so wird man auf die Frage, ob sie mit einem Auge anders s\u00e4hen als mit beiden, in der Regel eine verneinende Antwort erhalten. Ich selbst bemerke bei einseitigem Augenschlufs sofort, wie alle Entfernungen in der Tiefenausmessung des Raumes zusammenschrumpfen, dafs die Dinge gewissermaafsen auf dem Hintergr\u00fcnde zu kleben scheinen. Immerhin ist auch f\u00fcr mich, der ich gew\u00f6hnt hin, auf diese Verh\u00e4ltnisse zu achten, der Eindruck der Dinge zwingend k\u00f6rperlich, k\u00f6rperlicher als ihn ein Gem\u00e4lde aus bester K\u00fcnstlerhand erzeugt.\nErst das Experiment vermag uns \u00fcber das Wesen des nur unklar empfundenen Unterschiedes zwischen ein- und zwei\u00e4ugiger Sehwahrnehmung aufzukl\u00e4ren.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das r\u00e4umliche Sehen.\n23\nBetrachtet man drei senkrechte St\u00e4bchen, von denen das mittlere aus der Ebene der beiden anderen nach vorne und hinten verschoben werden kann, mit einem Auge allein, so kann man regelm\u00e4fsig angeben, ob die Verschiebung nach hinten oder vorne stattgefunden hat, so lange man die oberen und unteren Enden der St\u00e4bchen sehen kann. Sind diese aber durch einen Rahmen verdeckt, so ist es bei ein\u00e4ugiger Beobachtung ganz unm\u00f6glich, ein Urtheil \u00fcber die Lage des mittleren St\u00e4bchens zur Ebene der beiden seitlichen abzugeben, vorausgesetzt nat\u00fcrlich, dafs man nicht den Kopf bewegt und aus der parallactischen Verschiebung Schl\u00fcsse zieht. In dem Moment aber, wo man das zweite Auge \u00f6ffnet, sieht man mit voller Deutlichkeit, ob der mittlere Stab vorne oder hinten sich befindet. Zu dieser Wahrnehmung gen\u00fcgt ein kurzer Bruchtheil einer Secunde, das momentane Licht des elektrischen Funkens.\nL\u00e4fst man einen einfachen mathematischen K\u00f6rper, z. B. einen W\u00fcrfel, dessen W\u00e4nde mit weifsem Papier beklebt sind, und eine gute perspectivische Zeichnung desselben ein\u00e4ugig betrachten, so kann die Versuchsperson die Zeichnung von dem K\u00f6rper nicht unterscheiden. Noch sicherer gelingt der Versuch, wenn man sich einen W\u00fcrfel aus Draht zurechtbiegt.\nHieraus folgt die l\u00e4ngst bekannte Thatsache, dafs wir beim ein\u00e4ugigen Sehen unmittelbar nur ebene Gebilde wahrnehmen, dafs erst die mit den Sehwahrnehmungen verkn\u00fcpfte Erfahrung, welche wir durch die \u00fcbrigen r\u00e4umlichen Sinne besitzen, uns in den Stand setzt, diese ebenen Figuren k\u00f6rperlich auszulegen. Die perspectivische Form eines W\u00fcrfels, die \u201eSehform\u201c desselben, welche der Sehact unmittelbar liefert, steht in keiner einfachen Beziehung zu der r\u00e4umlichen W\u00fcrfelform, welche der Sehact bei dem Erwachsenen mittelbar ins Bewufstsein hebt. Kein Winkel, kein Richtungsverh\u00e4ltnifs der Sehform braucht mit irgend einem Richtungsverh\u00e4ltnifs der r\u00e4umlichen Form \u00fcbereinzustimmen, und doch wiegt in unserem Bewufstsein, jedesmal, wenn wir einen W\u00fcrfel sehen, die r\u00e4umliche Form, die Vorstellung des regul\u00e4ren Sechsfl\u00e4chners so vor, dafs wir das vermittelnde Glied, die Sehform, \u00fcberhaupt nicht wahrzunehmen vermeinen.\nIn der That hat die Menschheit es erst verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig sp\u00e4t gelernt, die Sehform von der wirklichen zu unterscheiden, perspectivisch richtige Zeichnungen herzustellen, und man kann","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nE. Storch.\nsich auch heute noch jeden Augenblick davon \u00fcberzeugen, dafs der unbefangene Mensch, dessen Aufmerksamkeit auf diese Dinge nicht besonders gelenkt wurde, beim Sehen immer nur die wirkliche Form wahrnimmt. Man fordere ein Kind oder auch einen Erwachsenen, der sich nicht viel mit Zeichnen abgegeben hat, auf, den Winkel zu zeichnen, unter welchem zwei Kanten in der Ecke eines Zimmers zusammenstofsen, genau so wie er es zu sehen vermeint, \u2014 es wird dann immer ein rechter Winkel gezeichnet werden.\nMacht man diesen Versuch mit Personen, die etwas zeichnen k\u00f6nnen, so wird in der Regel die Abweichung der Sehform vom rechten Winkel zu klein ausfallen, ja es kommt vor, dafs statt eines stumpfen Winkels ein spitzer gezeichnet wird und umgekehrt, wie man es auf architectonischen Zeichnungen fr\u00fcherer Jahrhunderte recht h\u00e4ufig findet. Es ist eben recht schwer von der im Bewufstsein vorherrschenden Vorstellung der wirklichen Form so abzusehen, dafs die Sehform mit allen Einzelheiten scharf wahrgenommen wird.\nNehmen wir nochmals die Beobachtungen am Dreist\u00e4bchen-gpparat auf. Wir haben gesehen, dafs in der Sehform desselben, so lange wir nur mit einem Auge sehen, kein Anhalt daf\u00fcr gegeben ist, ob das mittlere St\u00e4bchen vor oder hinter der Ebene der beiden seitlichen, der Bildebene, liegt. Ueberzeuge ich mich durch Oeffnen des anderen Auges davon, dafs es sich gerade vorne befindet, so glaube ich auch hinterher mit einem Auge diese Lage wahrzunehmen, selbst wenn inzwischen ohne mein Wissen die Stellung ver\u00e4ndert worden ist. In der ein\u00e4ugigen Sehform dieses Apparates liegt also die M\u00f6glichkeit jede beliebige Lage des mittleren St\u00e4bchens zur Bildebene wahrzunehmen. Liegt in den Versuchsbedingungen kein Grund, eine bestimmte dieser M\u00f6glichkeiten zu bevorzugen, so steht jeder Stellung des verschieblichen St\u00e4bchens vor der Bildebene eine solche hinter derselben gegen\u00fcber, und wir erblicken alle drei Senkrechten in einer Ebene. Liegen aber solche Versuchsbedingungen vor, so kann irgend eine andere r\u00e4umliche Vorstellung durch die Behform wachgerufen werden. Ist eine Vorrichtung getroffen, welche erlaubt, die L\u00e4nge der drei St\u00e4bchen nach Belieben zu ver\u00e4ndern, sind sie z. B. in Stopfb\u00fcchsen verschieblich, so wird man stets unabh\u00e4ngig von der wirklichen Lage, den Eindruck \u2022erhalten, dafs das k\u00fcrzeste St\u00e4bchen am weitesten entfernt ist.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das r\u00e4umliche Sehen.\n25\nW\u00e4hlt man f\u00fcr die drei St\u00e4be merklich verschiedene Dicken, so vermeint man stets, dafs der dickste am weitesten nach vorne liegt und dieselbe Raumvorstellung ruft auch die besonders helle Beleuchtung eines derselben hervor. Ja die einfache Suggestion, die Ueberzeugung, die ich durch zwei\u00e4ugiges Sehen gewonnen habe, gen\u00fcgt, eine der r\u00e4umlichen M\u00f6glichkeiten, welche eine bestimmte Sehform umfafst, ins Bewufstsein zu heben.\nDie ein\u00e4ugige Sehform an und f\u00fcr sich liefert also \u00fcberhaupt keine bestimmte r\u00e4umliche Formvorstellung, sie umfafst nur unz\u00e4hlige M\u00f6glichkeiten solcher. Sie steht in dieser Hinsicht auf einer Stufe mit dem logischen Begriff, z. B. dem der Kugel, welcher die M\u00f6glichkeit aller Kugeln \u00fcberhaupt umfafst. Erst die mannigfachen n\u00e4heren Bestimmungen, welche die Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse der einzelnen Theile der Sehform, die Farbe und die. Beleuchtung, vor Allem aber unsere durch den Tastsinn erworbenen Erfahrungen hinzubringen, bedingen es, dafs wir auch mit einem Auge die Gegenst\u00e4nde in ihrer r\u00e4umlichen Form richtig beurtheilen. Dafs es in der That vorwiegend diese aus einem anderen Sinnesgebiete stammenden Erfahrungen sind, k\u00f6nnen wir daraus entnehmen, dafs Leute, welche niemals zwei\u00e4ugig gesehen haben, die r\u00e4umlichen Formen durch den Gesichtssinn beinahe ebenso sicher auffassen, wie solche mit v\u00f6llig gesundem Sehverm\u00f6gen.\nIn F\u00e4llen von fr\u00fchzeitig entstandener Blindheit ist, wenn in reifem Alter eine pl\u00f6tzliche Heilung stattfindet, die Verkn\u00fcpfung der Sehwahrnehmung mit der wirklichen Form zun\u00e4chst unm\u00f6glich. In der K\u00f6nig!. Augenklinik hatte ich durch die g\u00fctige Erlaubnifs des Herrn Geh. Rath Uhthoff Gelegenheit, einschl\u00e4gige Beobachtungen zu machen. Eine gl\u00fcckliche Operation gab einem Kranken, welcher \u00fcber 20 Jahre blind gewesen war, jedenfalls in dieser Zeit keinerlei optische Formwahrnehmungen mehr gemacht hatte, und auch nur \u00fcber ein h\u00f6chst bescheidenes Maafs rein optisch zu erwerbender Formvorstellungen verf\u00fcgte, das Sehverm\u00f6gen auf einem Auge zur\u00fcck.\nBei den ersten Sehpr\u00fcfungen, welche nach Abnahme des Verbandes mit diesem Kranken vorgenommen wurden, zeigte sich nun auf das deutlichste, dafs er Formen gut wahrnehmen konnte, ja sogar ebene Figuren z. B. ein Strabometer kenntlich nachzuzeichnen vermochte, aber es zeigte sich auch, dafs ihm nur die Sehform ins Bewufstsein trat, ohne die Vorstellung der","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nE. Storch.\nwirklichen, r\u00e4umlichen Form zu erwecken. Eine Visitenkarte, die man seinem Auge n\u00e4herte, oder davon entfernte, wurde, wie er sagte, gr\u00f6fser oder kleiner, drehte man sie um die lange Seite, so wurde sie schm\u00e4ler und dann wieder breiter, eine vierseitige Schachtel wurde als Streifen bezeichnet, der ebenfalls seine Form ver\u00e4nderte, wenn er bewegt wurde.\nUns Vollsinnigen kommt es bekanntlich gar nicht zum Be-wufstsein, dafs die Sehform eines Dinges sich bei Bewegung desselben \u00e4ndert, sondern wir haben dabei die ganz unabweis-liche Vorstellung, dafs ein Gegenstand von unver\u00e4nderlicher wirklicher Form nach einander verschiedene Stellungen einnimmt. Der genannte Kranke lernte das sehr bald, konnte aber diese nur durch den Tastsinn m\u00f6gliche Erfahrung zun\u00e4chst noch nicht sicher verwerthen. Er \u00fcbertrug sie auf Verh\u00e4ltnisse, zu denen sie nicht pafste. Wurde er zu dieser Zeit vor einen Schirm gestellt, auf welchem das Schattenbild einer Hand mit gespreizten Fingern entworfen wurde, so erkannte er dieses als Hand, und meinte, dafs diese Hand sich ihm n\u00e4here, wenn der Schatten gr\u00f6fser, dafs sie sich entferne, wenn er kleiner wurde. Sobald er die Bedeutung des Schattens erkannt hatte, verfiel er nicht mehr in diesen Irrthum.\nLeider hatte ich zur Zeit, als jener Patient sehen lernte, die psychologische Bedeutung der Sehform nicht mit aller Sch\u00e4rfe erfafst. Ich h\u00e4tte sonst nicht vers\u00e4umt, ihm die bekanntesten Beispiele optischer T\u00e4uschungen, das Z\u00f6llner\u2019sehe Muster, das Pfeilmuster u. s. w., vorzulegen, so dafs meiner weiterhin zu entwickelnden Anschauung \u00fcber diese Erscheinungen eine recht \u00fcberzeugende St\u00fctze fehlt; doch zweifle ich nicht, dafs in Zukunft sich Gelegenheit finden wird, zu zeigen, dafs sehend gewordene fr\u00fchzeitig Erblindete diesen optischen T\u00e4uschungen zun\u00e4chst nicht unterliegen.\nWelche Sinnesgebiete es aber auch sein m\u00f6gen, die uns veranlassen, eine Sehform durch eine wirkliche Form zu ersetzen, dafs dieser Vorgang beim Erwachsenen stattfindet, und dafs ein und dieselbe Sehform, wie die Beobachtung am Dreist\u00e4bchenapparat lehrt, die M\u00f6glichkeit unendlich vieler r\u00e4umlicher Deutungen bietet, ist eine unbestreitbare Thatsache. Die Summe aller m\u00f6glichen r\u00e4umlichen Deutungen einer Sehform nenne ich den Sehbegriff; derselben. Wie eine n\u00e4here Bestimmung zum Begriff Dreieck, z. B. gleichseitiges Dreieck, die","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das r\u00e4umliche Sehen.\n27\nSumme aller m\u00f6glichen im Dreiecksbegriff gelegenen Gr\u00f6fsen einschr\u00e4nkt, und dadurch zu einer fafslicheren, bestimmteren, r\u00e4umlichen Vorstellung f\u00fchrt, so schr\u00e4nken die durch die Sehform miterregten Erinnerungsbilder anderweitiger Erfahrung die M\u00f6glichkeiten, welche im Sehbegriffe hegen, derartig ein, dafs auch die ein\u00e4ugige Sehwahrnehmung uns die Dinge einer bekannten Umgebung in bestimmter r\u00e4umlicher Ordnung zeigt. In unbekannter Umgebung freilich ist das in viel geringerem Maafse der Fall. Dafs \u00fcberhaupt hier eine k\u00f6rperliche Anschauung der Dinge durch ein\u00e4ugiges Sehen zu Stande kommt, hegt daran, dafs es gewisse allgemein g\u00fcltige Gesetze giebt, nach denen die Uebersetzung der Sehform in die Raumform erfolgt. Als erfahrungsm\u00e4fsig sind aber diese Gesetze Ausnahmen unterworfen, und solche Ausnahmen spielen bei den sogenannten optischen T\u00e4uschungen eine wichtige Rolle.\nDer Grund, aus welchem die Sehform, zun\u00e4chst immer nur die ein\u00e4ugige, niemals mit der r\u00e4umlichen Form der Objecte identisch sein kann, und uns an sich auch keinerlei r\u00e4umliche Vorstellung zu liefern vermag, ist leicht einzusehen. Jede beliebige Richtung im Raume vermag ich in zwei Componenten zu zerlegen, deren eine in die Bildebene f\u00e4llt, deren andere durch den Knotenpunkt des Auges geht. F\u00fcr die Sehform ist die letztere Componente ohne Bedeutung ; ob sie grofs oder klein ausf\u00e4llt, ist gleichg\u00fcltig, ihre Projection ist stets gleich 0. Diejenigen r\u00e4umlichen Gr\u00f6fsen, welche f\u00fcr die Tiefenausmessung der Objecte bestimmend sind, geben also bei der ein\u00e4ugigen Betrachtung einen optischen Reiz \u00fcberhaupt nicht ab, und es kann wohl nur auf einem Mifsverst\u00e4ndnisse von Prof. W. A. Nagel beruhen, wenn er in seiner Besprechung meines Vortrages \u201eUeber das r\u00e4umliche Sehen\u201c \u00e4ufsert: \u201eEntschieden zu weit gegangen ist es, wenn Verf. sagt, die wirkliche Form kennen wir nur aus unseren Tastwahrnehmungen ; thats\u00e4chlich rangiren hier Tast- und Gesichtsinn vollkommen mit einander.\u201c1 Nur f\u00fcr den Tastsinn existiren Ausdehnungen der Tiefe als Sinnesreize ; nur der Tastsinn allein vermag uns aus sich heraus r\u00e4umliche Vorstellungen zu vermitteln. Das best\u00e4tigt ja auch zur Gen\u00fcge die Erfahrung. Ein am Horizont auftauchendes Gebirge erscheint uns als ebene Wand, der Mond als Scheibe,\n1 Centralbl. f\u00fcr Nervenheilkunde und Psychiatrie (November 1901), S. 691.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nE. Storch.\nobgleich auch bei der Wahrnehmung dieser Objecte, welche f\u00fcr ein- und zwei\u00e4ugige Betrachtung identisch sind, die optische Wahrnehmung schon durch das Anklingen von Tasterinnerungen beeinflufst ist\nMein Kritiker k\u00f6nnte sagen: \u201eEs ist richtig, dafs wir den Richtungsunterschied zweier Linien, den Winkel, den sie mit einander bilden, aus der ein\u00e4ugigen Gesichts Wahrnehmung ohne Weiteres nicht erschliefsen k\u00f6nnen, wenigstens nicht momentan. Der rechte Winkel, in welchen die Begrenzungslinien einer Zimmer wand zusammenstofsen, sieht bald spitz, bald stumpf aus, aber es giebt eine Stellung f\u00fcr mich, in der er als rechter, d. h. in seiner wirklichen Form erscheint; und so vermag auch der Sehact als solcher mich \u00fcber die wirkliche Form eines Objectes zu belehren.\u201c Was aber, um alles in der Welt, sollte mich veranlassen, diese eine unter den unendlich vielen Sehformen so zu bevorzugen, dafs sie gerade unweigerlich mit \u00fcberw\u00e4ltigender Wucht ins Bewufstsein tritt, jedesmal, wenn ich die Zimmerecke sehe, wenn nicht der Umstand, dafs ich an die Wand anrenne, dafs diese eine Vorstellung des rechten Winkels vor allen anderen dadurch bevorzugt ist, dafs ich sie auch tasten kann ?\nWie ungeheuer wichtig diese Tastvorstellungen eines Objectes sind, bemerkt man, sobald man die Form eines dem Tastsinne unzug\u00e4nglichen Gegenstandes zu beurtheilen hat, z. B. bei Spiegeluntersuchung des Augenhintergrundes. Es kann nicht scharf genug betont werden, dafs die ein\u00e4ugige Sehwahrnehmung allein ohne Verbindung mit dem Tastsinne, niemals \u00fcber die wahre Form der Dinge aufkl\u00e4ren k\u00f6nnte.\nWie weit dazu der zwei\u00e4ugige Sehact an sich im Stande ist, werden wir sp\u00e4ter sehen.\nNur in einem Falle, wenn n\u00e4mlich, wie bei ebenen Objecten, die Tiefenausdehnung fehlt, k\u00f6nnen die Sehformen identisch mit den wirklichen sein.\nHalten wir daran fest, dafs die Sehform nur ein Symbol ist f\u00fcr das, was wir wirklich wahrnehmen, dafs die wirkliche Form, welche in unser Bewufstsein tritt, bei verschiedenen Sehformen die gleiche, und bei gleicher Sehform verschieden sein kann! Die Sehform eines rechten Winkels kann ein spitzer Winkel sein, und diese selbe Sehform kann unter anderen Umst\u00e4nden uns einen wirklich spitzen oder stumpfen Winkel wahr-","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das r\u00e4umliche Sehen.\n29;\nnehmen lassen. Jede Sehform umfafst unendlich viele M\u00f6glichkeiten wirklicher Objecte.\nDiese Rolle der Sehform d\u00fcrfte durch folgende Betrachtung: noch deutlicher werden. Es klingt trivial, wenn ich sage, dafs wir die Objecte in einer bestimmten Gr\u00f6fse sehen, einer Gr\u00f6fse, die in einem bestimmten L\u00e4ngenmaafs angebbar ist. Die Leute, welche ich auf der anderen Seite der Strafse gehen sehe, sind ebenso grofs wie der Begleiter, der sich unmittelbar an .meiner Seite befindet. Die Hand, welche ich 20 cm vor meine Augen halte, ist genau so grofs, wie wenn ich sie in 40 cm Entfernung anschaue, die Wanduhr in meiner Stube sieht nicht gr\u00f6fser aus, wenn ich dicht davorstehe, als wenn ich einige Meter davon entfernt bin. Das ist bei zwei\u00e4ugiger und ein\u00e4ugiger Betrachtung kein Unterschied.\nVersuche ich aber den Menschen, welcher 20 m von mir entfernt ist, dadurch zu messen, dafs ich ermittle, welche Strecke er an einem in 20 cm vom Auge gehaltenen Metermaafse bedeckt, so finde ich, dafs das nicht mehr als 1,5\u20142,0 cm sind. Seine Sehgr\u00f6fse ist also unter diesen Verh\u00e4ltnissen gleich der eines Maik\u00e4fers in 20 cm Entfernung vom Auge. Die Vorstellung von der Gr\u00f6fse eines Menschen, welche ich durch den Sehact erhalte, ist aber in sehr weiten Grenzen unabh\u00e4ngig von seiner Sehgr\u00f6fse. Diese ist immer nur das vermittelnde Glied, welches mir seine wirkliche Gr\u00f6fse ins Bewufstsein bringt. F ordert man einen, im Zeichnen nicht ausgebildeten Menschen auf, das Fenster des gegen\u00fcberliegenden Hauses genau so grofs zu zeichnen, wie er es sieht, so wird er regelm\u00e4fsig behaupten, dafs das Zeichenpapier zu klein sei, und verlangt man, dafs er eine Erbse aus einer Entfernung von 2 m zeichnet, so zeichnet er einen Kreis, der etwa den wahren Durchmesser der Erbse hat. Zwei Erbsen, die eine in 1l2-> die andere in 2 m Entfernung werden gleich grofs gezeichnet, und fr\u00e4gt man, sehen denn beide wirklich gleich grofs aus, so erh\u00e4lt man ein \u00fcberzeugtes \u201eJa\u201c zur Antwort.\nDie Sehgr\u00f6fse kann eben erst durch einen besonderen Act der Aufmerksamkeit ins Bewufstsein gehoben werden. Sie wird bei jedem Sehact mit Naturnothwendigkeit ersetzt durch die bewufste Vorstellung der wirklichen Gr\u00f6fse des Objectes. Zu dieser Uebertragung sind wir nicht nur bef\u00e4higt, sondern geradezu gezwungen. Sobald wir ein Object sehen, geben wir","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nE. Storch.\nihm eine bestimmte, am eigenen K\u00f6rper abmefsbare Gr\u00f6fse. Das gilt meinem verehrten Kritiker Prof. W. A. Nagel zum Trotz auch f\u00fcr Dinge, welche wir niemals am eigenen K\u00f6rper messen k\u00f6nnen, z. B. von den Gestirnen. Nagel behauptet, dafs ihm und anderen eine absolute Gr\u00f6fsensch\u00e4tzung des Mondes \u00fcberhaupt unm\u00f6glich sei. Ich kann dar\u00fcber ebensowenig urtheilen, wie dar\u00fcber, ob ihm Caviar besser schmeckt als mir. Aber er w\u00e4re der erste Mensch, der mir begegnet, und ich habe sehr viele dar\u00fcber befragt, welcher den Mond nicht in einer, wenn auch noch so ungenau anzugebenden absoluten Gr\u00f6fse sieht. Sollte er wirklich nicht zugeben k\u00f6nnen, dafs ihm, ganz abgesehen von den Entfernungen, eine Erbse kleiner erscheint und ein Wagenrad gr\u00f6fser als der hoch am Himmel stehende Mond? Sollte Nagel wirklich im Stande sein, ein Object in seiner relativen Gr\u00f6fse zu sehen? Ich weifs nat\u00fcrlich auch, dafs der Monddurchmesser unter einem Winkel von 1j2() von uns Erdbewohnern gesehen wird, und trotzdem halte ich ihn f\u00fcr gr\u00f6fser als 1 Pfennig, der in 1 m Entfernung den gleichen Sehwinkel hat. Ich mache Nagel den Vorschlag, einmal einigen unbefangenen Personen, Damen eignen sich dazu am besten, auseinanderzusetzen, dafs es falsch ist, f\u00fcr den Mond einen Vergleich zu brauchen, wie die Gr\u00f6fse eines Tellers oder eines Apfels, am Ende belehrt ihn der sehr lebhafte Widerspruch, auf den er st\u00f6fst, dafs ein solcher Vergleich, so wenig er f\u00fcr die messende Wissenschaft sich verwerthen l\u00e4fst, doch seine Begr\u00fcndung in der menschlichen Natur hat. Dafs es l\u00e4cherlich ist, wenn ein Laienastronom eine Beschreibung des Venus durchgange s mit den Worten beginnt: \u201eDie Sonne stand am westlichen Himmel als Scheibe von 18l/2 cm Durchmesser\u201c, wie ich es k\u00fcrzlich gelesen habe, darin stimme ich nat\u00fcrlich mit meinem Kritiker \u00fcberein, kann mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, wie er ein Object in rein relativer Gr\u00f6fse zu sehen vermag, d. h. ohne irgend ein bekanntes Object damit zu vergleichen.\nDiese absolute, in L\u00e4ngenmaafs angebbare Gr\u00f6fse der gesehenen Dinge, kann nat\u00fcrlich nur auf eine bei jedem Sehact stattfindende Beimischung von Tasterinnerungen bezogen werden. Die Sehgr\u00f6fse ein und desselben Objectes, wechselt mit den Umst\u00e4nden ; die durch den Sehact wahrgenommene Gr\u00f6fse eines Objectes ist immer die n\u00e4mliche, welche wir auch tasten k\u00f6nnen.","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"lieber das r\u00e4umliche Sehen.\n31\nDafs aber ein gesehener Gegenstand tastbar ist, davon sind wir \u00fcberzeugt, und wenn wir dem Mond eine absolute Gr\u00f6fse, die eines Markst\u00fcckes oder eines Wagenrades beilegen, so meinen wir damit, dafs, wenn wir ihn vom Himmel herunterlangen und betasten k\u00f6nnten, er uns in der Gr\u00f6fse dieser Dinge erscheinen w\u00fcrde.\nDie experimentelle Best\u00e4tigung, dafs weder der ein\u00e4ugige noch der zwei\u00e4ugige Sehact uns eine Vorstellung von der Gr\u00f6fse eines Objectes geben kann, ist sehr einfach. Es geh\u00f6rt dazu ein Dunkelzimmer, ein verschieblicher Schirm und ein Scheinwerfer, vermittelst dessen man nach Belieben verschieden gr\u00f6fse Kreisfl\u00e4chen des Schirmes gleichm\u00e4fsig beleuchten kann. L\u00e4fst man nun von einer Versuchsperson durch ein Loch in der Th\u00fcre des Dunkelzimmers, die Gr\u00f6fse und Entfernung des erhellten Kreises absch\u00e4tzen, so bemerkt man, dafs abgesehen von der allergr\u00f6fsten N\u00e4he, in welcher man das Korn des Papierschirmes sehen kann, vielleicht auch eine \u00fcberm\u00e4fsige Convergenz f\u00fchlt, von einer Entfernungs- und Gr\u00f6fsensch\u00e4tzung nicht die Rede ist. Ein Kreis von 10 cm Durchmesser wird f\u00fcr 1 m grofs und f\u00fcr entsprechend fern gehalten, kurz, der Sehact allein gew\u00e4hrt uns keinen Anhalt f\u00fcr die wirkliche Gr\u00f6fse des Objectes.\nDie Sehgr\u00f6fse spielt eine \u00e4hnliche Rolle wie die Sehform. Sie giebt nur die M\u00f6glichkeit unendlich vieler Gr\u00f6fsenvorstellungen. Sobald, wie ich einen Gegenstand von bekannter Gr\u00f6fse, meine Hand auf den Schirm lege, wird die Sch\u00e4tzung eine richtige.\nWenden wir uns nunmehr zum normalen zwei\u00e4ugigen Sehact. Jeder Mensch, der am Dreist\u00e4bchenapparat mit Leichtigkeit ohne Augenbewegungen auszuf\u00fchren, anzugeben vermag, ob das mittlere St\u00e4bchen vor oder hinter der Ebene der beiden seitlichen St\u00e4bchen liegt, besitzt ein gesundes r\u00e4umliches Sehverm\u00f6gen, dessen Sch\u00e4rfe sich zalflenm\u00e4fsig bestimmen l\u00e4fst. Diese F\u00e4higkeit ist bei verschiedenen Leuten sehr verschieden entwickelt und fehlt h\u00e4ufig, besonders wenn die brechende Kraft der beiden Augen gr\u00f6fsere Verschiedenheiten auf weist, vollst\u00e4ndig , ohne dafs die betreffenden von ihrem Mangel eine Ahnung haben.\nAchtet man genau auf den Unterschied zwischen ein\u00e4ugiger und zwei\u00e4ugiger Wahrnehmung an dem Apparat, so ist das eine ganz eigenth\u00fcmliche Empfindung, die man kennen weil sich ihr Wesen eben so wenig wie das einer\nlernen\nandermy reif\ni ... V&\n* \\'w\u00e4*' Ja","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"E. Storch.\n32\nsinnlichen Empfindung nicht beschreiben l\u00e4fst. Am deutlichsten tritt diese Empfindung auf, wenn man nur zwei St\u00e4bchen verwendet, die hintereinanderstehen und sich bei ein\u00e4ugiger Beobachtung ganz oder beinahe decken. Oeffnet man nun das andere Auge, so sieht man wie die beiden St\u00e4bchen pl\u00f6tzlich in der Richtung der Tiefe auseinanderfahren, und wie zwischen ihnen etwas liegt, das eigentlich nichts ist, der leere Raum. Diese durch das zwei\u00e4ugige Sehen vermittelte Tiefenwahrnehmung ist untr\u00fcglich und besitzt einen unmittelbar sinnlichen Werth, wie die Empfindung einer Farbe oder eines Tones. Das St\u00e4bchen, welches sich hinten befindet, sehe ich auch hinten, selbst wenn der Kopfpunkt des vorderen sichtbar wird, selbst wenn es dicker ist und heller beleuchtet wird als das vordere.\nDie r\u00e4umliche Vorstellung, die ich durch das zwei\u00e4ugige Sehen von einem k\u00f6rperlichen Gegenst\u00e4nde erhalte, unterscheidet sich also dadurch von der durch ein Auge allein erhaltenen, dafs jeder Punkt zu jedem anderen Punkte eine eindeutig bestimmte Orientirung in der Tiefenausmessung des Raumes erhalten hat.\nDer physiologische Grund hierf\u00fcr ist leicht einzusehen. Betrachte ich zwei Punkte im Raum, so kann ich die sie verbindende Gerade wieder in zwei Richtungen zerlegen: die eine liegt in der Bildebene des rechten Auges, die andere geht durch seinen Knotenpunkt; die Verbindungsstrecke l\u00e4fst sich also darstellen als Summe x + iy, wenn das imagin\u00e4re Glied in der Richtung durch den Knotenpunkt liegt. Wie grofs auch y ist, f\u00fcr das rechte Auge giebt es keinen Sinnesreiz ab. F\u00fcr das linke Auge ist aber iy nicht auf der verschwindenden Richtung gelegen, je gr\u00f6fser y, desto gr\u00f6fser erscheint es in der Sehform des linken Auges. F\u00fcr das zwei\u00e4ugige Sehen giebt es daher keine verschwindende Richtung. Die Tiefenausdehnung eines Gegenstandes wird daher zum sinnlichen Reiz ; sie spiegelt sich wieder in der Verschiedenheit beider Sehformen; je gr\u00f6fser diese Verschiedenheit, desto gr\u00f6fser die wirklich gesehene Tiefenerstreckung des Objectes.1\n1 Wenn der Begriff der ein\u00e4ugigen Sehform ohne Weiteres verst\u00e4ndlich ist und gegeben ist durch das eine Netzhautbild eines bestimmten Gegenstandes, so bedarf die Ausdrucksweise von der Gleichheit und Verschiedenheit zweier Sehformen beim zwei\u00e4ugigen Sehen der n\u00e4heren Erl\u00e4uterung. Zur Gleichheit zweier Sehformen geh\u00f6rt nicht nur, dafs sie","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"lieber das r\u00e4umliche Sehen.\n33\nHaben wir so in der Verschiedenheit der beiden Sehformen die physiologische Bedingung erkannt, welche f\u00fcr das wahre\ncongruent sind, sondern auch, dafs sie auf identische Netzhautstellen fallen. Zwei identische Netzhautstellen geben hei ihrer Erregung eine einzige Lichtempfindung. Man kann daher auch von der Gleichheit und Verschiedenheit der beiden Sehformen eines Punktes im Raume sprechen. Fixiren wir einen Stern am Himmel, so fallen die Netzhautbilder aller Gestirne auf identische Netzhautstellen. Fixiren wir einen Punkt einer Ebene, so fallen alle Punkte dieser Ebene, soweit sie im Bereich des scharfen Sehens liegen, auf identische Netzhautpunkte. Ein Punktsystem in einer Ebene giebt also gleiche Sehformen, vorausgesetzt, dafs die Entfernung des Papiers von den Augen nicht zu klein und die Augenstellung ann\u00e4hernd eine symmetrische ist. Fixiren wir aber von 2 hinter einander gelegenen Punkten den vordersten, so k\u00f6nnen wir bei besonderer Aufmerksamkeit die verschiedenen Sehformen des hintersten wahrnehmen; wir sehen dann 3 Punkte neben einander.\nOhne diese besondere Aufmerksamkeit sehen wir aber nur 2 Punkte hinter einander. Damit nun diese Tiefenwahrnehmung zu Stande kommt, ist es n\u00f6thig, dafs die beiden Sehformen des hintersten Punktes einen Winkelabstand von mindestens 6 Bogensecunden haben. (Dr. L. Heine, Sehsch\u00e4rfe und Tiefenwahrnehmung. Gr\u00e4fe\u2019s Archiv f\u00fcr Ophthalmologie 51, Heft 1.)\nEs ist einleuchtend, dafs die Tiefenerstreckung, welche unter diesem Sehwinkel erscheint, abh\u00e4ngig ist von der Entfernung des fixirten Punktes, oder auch, je ferner ein Object ist, desto gr\u00f6fser mufs seine Tiefenausdehnung sein, um gesehen zu werden. Ist d die Entfernung des fixirten Punktes, x die kleinste Strecke, welche in der Tiefenrichtung noch gesehen wird, so besteht folgende Gleichung:\ndl\nX \u201c 2000 \u2014 d m\u2019\nD. h. : In einer Entfernung von d Meter sehen wir die Tiefenausdehnung eines Gegenstandes nur, wenn sie wirklich zum Mindesten x Meter betr\u00e4gt :\nf\u00fcr d \u2014\t0,4 m ist x = 0,00008 m\n\u201e\td\t=\t1\t,,\t\u201e\tx\t=\t0,0005\t\u201e\n\u201e\td\t=\t2\t\u201e\tn\tX\t\u2014\t0,002\t\u201e\n\u201e\td\t\u2014\t3\t\u201e\t\u201e\tx\t\u2014\t0,0045\t\u201e\n\u00bb\td\t=\t10\t\u201e\t\u201e\tx\t=\t0,05\t\u201e\n\u201e\td\t\u2014\t100\t\u201e\t\u201e\tx\t=\t5,0\t\u201e\n\u201e d = 2000\t\u201e\t\u201e\t* = co\nF\u00fcr jede Augenstellung giebt es bestimmte Punktsysteme, die gleiche Sehformen haben. Praktisch wichtig ist es, dafs bei gew\u00f6hnlicher Augenstellung Linien, welche der Verbindungslinie beider Knotenpunkte gleich gerichtet sind, auch gleiche Sehformen liefern, also Tiefenwahrnehmung nicht ausl\u00f6sen. Man kann sich davon leicht \u00fcberzeugen, wenn man die Dr\u00e4hte einer Telegraphen- oder Telephonleitung betrachtet. Man vermag nicht zu sagen, welcher Draht vorne, welcher hinten liegt. Neigt man aber Zeitschrift f\u00fcr Psychologie 29.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nE. Storch.\nTiefensehen unumg\u00e4nglich ist, so fehlt uns noch die Einsicht in den seelischen Vorgang, welcher auf den beiden verschiedenen ebenen Sehformen die sinnliche Vorstellung eines r\u00e4umlich ausgedehnten K\u00f6rpers auf baut.\nDen Schl\u00fcssel hierzu giebt uns der Sehbegriff. Wenn wir bedenken, dafs der zur ein\u00e4ugigen Sehform geh\u00f6rige Sehbegriff die M\u00f6glichkeit sehr vieler k\u00f6rperlicher Vorstellungen umfafst, so ist es klar, dafs die gleichzeitige Erweckung zweier Sehbegriffe eine r\u00e4umliche Vorstellung von unvergleichlich gr\u00f6fserer Bestimmtheit zur Wahrnehmung bringen wird. Wie die Combination zweier logischer Begriffe z. B. regelm\u00e4fsiges Vieleck und Dreieck den Begriff des gleichseitigen Dreiecks, also eine gegenseitige Beschr\u00e4nkung der in diesen Begriffen m\u00f6glichen Formen, daf\u00fcr aber eine sch\u00e4rfere Hervorhebung des beiden gemeinsamen Inhaltes zur Folge hat, so tritt auch durch die Combination der zwei Sehbegriffe mit Naturnotwendigkeit die beiden gemeinsame r\u00e4umliche Vorstellung mit gr\u00f6fster Bestimmtheit in uns auf. Waren es beim ein\u00e4ugigen Sehen lediglich Erinnerungsbilder, welche die k\u00f6rperliche Deutung der Sehform erm\u00f6glichten, w\u00e4hrend eine wirkliche sinnliche Unterlage f\u00fcr diese Deutung fehlte, so ist beim zwei\u00e4ugigen Sehen diese r\u00e4umliche Deutung durch eine unmittelbare sinnliche Ursache, die Verschiedenheit beider Sehformen bedingt. Daher die M\u00f6glichkeit auch in v\u00f6llig unbekannter Umgebung mit zwei Augen r\u00e4umlich zu sehen.\nDie Thatsache, dafs ich mit zwei Augen k\u00f6rperlich wahrnehme, um ein bestimmtes Beispiel zu w\u00e4hlen, sehe, dafs zwischen den beiden hintereinander gelegenen St\u00e4bchen des Apparates eine Entfernung in der Tiefenrichtung vorhanden ist, zeigt vielleicht klarer als alle bisher angef\u00fchrten Gr\u00fcnde, dafs die Sehformen in der That nicht wirklich wahrgenommen werden, sondern nur die Vermittlerrolle f\u00fcr die wirkliche, ins Bewufst-sein tretende Kaumform \u00fcbernehmen. W\u00e4re das nicht so, so m\u00fcfste ich mir ja in jedem Augenblicke von der Existenz der beiden verschiedenen Sehformen Rechenschaft geben k\u00f6nnen. Das ist nicht der Fall; obgleich ich mich ge\u00fcbt habe, die beiden\nden Kopf auf eine Schulter, so dafs die Verbindungslinie der Knotenpunkte schief oder senkrecht zu der Richtung der Leitungsdr\u00e4hte steht, so erkennt man mit einem Schlage und sehr deutlich die r\u00e4umliche Anordnung der Dr\u00e4hte.","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"lieber das r\u00e4umliche Sehen.\n35\nSehformen eines Objectes wahrzunehmen, sehe ich f\u00fcr gew\u00f6hnlich r\u00e4umlich, nicht doppelt, und es bedarf immer einer besonderen Aufmerksamkeit f\u00fcr mich, die beiden Sehformen wirklich wahrzunehmen. Unbefangene Menschen haben davon keine Ahnung, dafs sie von jedem gesehenen K\u00f6rper zwei Sehformen haben, der beste Beweis, dafs diese selbst normaler Weise keine Bewufst-seinsgr\u00f6fsen darstellen. In dem Augenblicke erst, in welchem ich durch einen besonderen Act der Aufmerksamkeit, durch eine willk\u00fcrliche Einschr\u00e4nkung meines Bewufstseins auf einen einzigen Punkt oder eine Linie des gesehenen Gegenstandes, die Combination der zwei Sehbegriffe unm\u00f6glich mache, nehme ich die doppelten Sehformen wahr. Betrachte ich in dieser Weise das mittlere und zugleich vordere St\u00e4bchen des Apparates, so sehe ich im Ganzen f\u00fcnf St\u00e4bchen, das mittlere einfach, die beiden seitlichen in Doppelbildern. In dem Augenblicke, wo dies gelingt, h\u00f6rt aber f\u00fcr mich jede wahre Tiefenausdehnung auf. Ich habe die Neigung, das am sch\u00e4rfsten gesehene St\u00e4bchen nach vorne zu verlegen, selbst wenn es sich in Wahrheit hinten befindet. Ohne diesen besonderen Act der Aufmerksamkeit aber sehe ich, obgleich der Sinnesreiz ganz derselbe bleibt, nur drei St\u00e4bchen, von denen das mittlere vorne steht. Es wird also beim unbefangenen Sehen erst durch eine Bewufstseinsth\u00e4tigkeit, durch die Combination beider Sehbegriffe, die r\u00e4umliche Wahrnehmung erzeugt. Fehlt diese Bewufstseinsth\u00e4tigkeit, so nehme ich mit nicht identischen Netzhautstellen gesonderte Lichtpunkte wahr. Die Ordnung der Raumpunkte in der Tiefe findet dann nicht statt.\nUeber die wirkliche Entfernung und Gr\u00f6fse der Objecte aber kann uns das zwei\u00e4ugige Sehen nicht mehr lehren als das ein\u00e4ugige; das zeigte uns der Versuch mit den hellen Kreisen im Dunkelzimmer, das zeigt uns das doppel\u00e4ugige Nachbild einer Flamme oder eines anderen hellen Gegenstandes. Dieses sehen wir, je nach der Entfernung des Hintergrundes, auf welchem wir es uns vorstellen, in jeder m\u00f6glichen absoluten Gr\u00f6fse. Die wirkliche Entfernung und Gr\u00f6fse, in welcher wir einen Gegenstand erblicken, ist also weder beim ein- noch beim zwei\u00e4ugigen Sehen durch den Gesichtsreiz an sich bestimmt, sondern tritt erst durch das Mitanschwingen anderweitiger Erfahrungen in unser Bewufstsein. Es ist klar, dafs diese Erinnerungsbilder\nf\u00fcr ein bestimmtes gesehenes Object unabh\u00e4ngig sein werden\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nJS. Storch.\nvon der Stellung der Augenaxen, da sie ja durch den Tastsinn erworben sind. Daraus erkl\u00e4rt sich denn auch, warum ein stereoskopisches Doppelbild mir bei gekreuzten Augenaxen nicht gr\u00f6fser und n\u00e4her erscheint als bei gleichgerichteten.\nMein verehrter Kritiker Nagel ist daher in einem nur durch die K\u00fcrze meiner fr\u00fcheren Mittheilung verst\u00e4ndlichen Irr-thume befangen, wenn er schreibt: \u201eSchliefslich leitet Verfasser die binoculare Tiefenwahrnehmung in bekannter Weise aus der Durchkreuzung der Projectionslinien ab.\u201c\nWo sich diese Projectionslinien kreuzen und ob sie sich \u00fcberhaupt kreuzen, ist f\u00fcr den Ort, an welchem ich einen Punkt sehe, ganz gleichg\u00fcltig, und einen Punkt oder auch eine ebene Figur sehe ich mit zwei Augen ebensowenig in einer bestimmten, mit der Wirklichkeit \u00fcbereinstimmenden, Entfernung und Gr\u00f6fse, wie mit einem Auge, sobald die M\u00f6glichkeit, bekannte Gr\u00f6fsen und Entfernungen zum Vergleiche heranzuziehen, durch die Versuchsanordnung ausgeschlossen ist. Die beiden Sehformen sind ja gleich, ebenso wie ihre zugeh\u00f6rigen Sehbegriffe, und die in letzteren gelegenen M\u00f6glichkeiten wirklicher Dinge k\u00f6nnen sich nicht einschr\u00e4nken. Die beiden Sehbegriffe eines fixirten Punktes verhalten sich wie die zwei Wortbegriffe Homo und Mensch, sie bilden eine Tautologie. Dafs sich hierbei die Projectionslinien an einer bestimmten Stelle des Raumes kreuzen, ist vollst\u00e4ndig gleichg\u00fcltig.\nFixire ich aber von zwei hintereinander gelegenen Punkten den vordersten, so f\u00e4llt das Bild der hinteren auf zwei nicht identische Netzhautstellen, seine Sehformen sind ungleich, und allein das Gemeinsame in beiden Sehbegriffen tritt ins Bewufst-sein: Wir sehen den zweiten Punkt hinter dem ersten. Wie weit wir ihn aber dahinter verlegen, ist durch den Sehwinkel, unter welchem ihre wirkliche Entfernung erscheint, nicht bestimmt. Eine unendlich grofse Tiefenausdehnung ergiebt dieselbe Verschiedenheit beider Sehformen in einer Entfernung von zwei Kilometern, wie eine solche von 0,08 mm in deutlicher Sehweite. Da uns nun der Sehact an sich nichts \u00fcber die Entfernung eines gesehenen Objectes sagt, so kann auch der Grad der Verschiedenheit beider Sehformen uns nichts \u00fcber seine wirkliche Tiefenerstreckung lehren. Der Versuch am Dreist\u00e4bchenapparat erweist die Richtigkeit dieser Ableitung. Man verschiebe das mittlere der drei St\u00e4bchen und lasse den Beobachter angeben,","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"lieber das r\u00e4umliche Sehen.\n37\nwenn er glaubt, dafs sie ein gleichseitiges Dreieck bilden. Man wird finden, dafs diese Sch\u00e4tzung h\u00f6chst ungenau ist, so ungenau, dafs wir wohl behaupten d\u00fcrfen, das Tiefensehen giebt uns \u00fcberhaupt keine ann\u00e4hernde Vorstellung von der wirklichen Tiefenerstreckung eines Gegenstandes, sondern ordnet seine Punkte und Linien nur relativ in der dritten Ausmessung des Paumes.\nFassen wir das Ergebnifs unserer Betrachtungen zusammen S\nDas ein\u00e4ugige Sehen an sich belehrt uns weder \u00fcber die wirkliche Gr\u00f6fse und Entfernung, noch \u00fcber die wahre Form eines Dinges.\nDafs wir die Dinge auch ein\u00e4ugig an einer bestimmten Stelle des Paums in ihrer wahren Gestalt und Gr\u00f6fse erblicken, beruht lediglich auf der Miterregung anderweitig gewonnener r\u00e4umlicher Erfahrungen \u00fcber unsere Umgebung. Wenn ich hier immer den Werth des Tastsinnes besonders hervorgehoben habe, so geschah das lediglich, weil ich dem Leser etwas Bekanntes nennen wollte. Ich meine damit die r\u00e4umliche Wahrnehmung \u00fcberhaupt.1\nAuch der zwei\u00e4ugige Sehact an sich gen\u00fcgt nicht zur Erkennung der wirklichen Form, Gr\u00f6fse und Entfernung der Objecte. Auch beim zwei\u00e4ugigen Sehen spielt unsere sonstige r\u00e4umliche Erfahrung eine ungemein wichtige Rolle. Er hat vor dem ein\u00e4ugigen Sehact nur das voraus, dafs er uns innerhalb gewisser Entfernungen \u00fcber das relative Vorne und Hinten der Theile eines Objectes sinnlich belehrt.\nMit anderen Worten: Die Art des Sehreizes ist nicht allein maafsgebend f\u00fcr die wirklich zur Wahrnehmung gelangende Form. Bestimmend f\u00fcr diese ist neben dem Sehreize die Summe der von unserer anderweitigen Erfahrung abh\u00e4ngigen, jeweilig vorhandenen r\u00e4umlichen Vorstellungen. Eine Sehform, die wir in Folge unserer Erfahrung stets oder meistens als Symbol einer ganz bestimmten wirklichen Form auffassen, wird diese wirkliche Form auch ins Bewufstsein heben, selbst wenn die begleitenden Umst\u00e4nde eine andere r\u00e4umliche Auslegung verlangen.\nWiederspricht diese Bewerthung der Sehform der Wirklichkeit, so haben wir eine optische T\u00e4uschung vor uns.\n1 E. Storch, Muskelfunction und Bewufstsein. Wiesbaden 1901.","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nE. Storch.\n\u25a0; Strenge genommen beruht die Wirkung aller Fl\u00e4chenkunst auf optischer T\u00e4uschung. Je genauer die Sehform einer Zeichnung eines Gem\u00e4ldes mit der Sehform der dargestellten Vorwurfes \u00fcbereinstimmt, desto gr\u00f6fser ist der Zwang r\u00e4umliche Vorstellungen f\u00fcr die wirkliche Form des Bildes, welches mit seiner Sehform gleichbedeutend ist, zu verbinden. Diese T\u00e4uschung kann man, wie leicht verst\u00e4ndlich, noch verst\u00e4rken, wenn man ein Auge schliefst.\nEs ist das alles ja allgemein bekannt. Aber ich war doch \u00fcberrascht \u00fcber die erdr\u00fcckende Wucht, mit welcher bei unbefangenen Menschen, die durch ein Bild geweckte r\u00e4umliche Vorstellung, die wirkliche ebene Gestalt der Zeichnung zur\u00fcckdr\u00e4ngt Einem kleinen 6 j\u00e4hrigen Jungen zeigte ich die gut ausgef\u00fchrte Zeichnung seines W\u00fcrfels, dessen obere Fl\u00e4che in sehr starker Verk\u00fcrzung als schmales ungleichseitiges Viereck zu sehen war. Ich forderte ihn auf, sich diese Fl\u00e4che ganz genau anzusehen; dann nahm ich das Bild an mich und liefs ihn zeichnen, was er gesehen hatte. Er zeichnete ganz unverkennbar ein Quadrat Um einen Irrtum auszuschliefsen, mufste mir der Junge jetzt zeigen, was er gezeichnet hatte ; er umfuhr wirklich das schmale verschobene Viereck, die obere W\u00fcrfelfl\u00e4che mit dem Finger, ja noch mehr, er glaubte nicht, dafs seine Zeichnung falsch w\u00e4re. Erst als ich diese mit der Schere ausschnitt und dicht neben das W\u00fcrfelbild legte, sagte er \u2014 offenbar sehr erstaunt \u2014: \u201ees stimmt doch nicht.\u201c\nAber auch ganz gew\u00f6hnliche Strichzeichnungen, zwei bis drei einfache gerade Linien, werden, wenn sie den Sehformen h\u00e4ufig gesehener r\u00e4umlicher Verh\u00e4ltnisse gleichen, gegen unseren Willen mit der k\u00f6rperlichen Vorstellung, welche durch solche Sehformen gew\u00f6hnlich erregt wird, bewerthet. Dann kommt es freilich oft nur zu einer unvollkommenen r\u00e4umlichen Anschauung, weil wir ganz genau wissen, dafs wir eine ebene Zeichnung vor uns haben. Man kann dann die r\u00e4umliche Bewerthung dadurch beg\u00fcnstigen, dafs man diese ebenen Figuren auf einer Glasscheibe entwirft, oder noch besser, indem man sie aus Draht oder Holzst\u00e4bchen herstellt, und ein\u00e4ugig beobachtet. Meistens wird einem dann sofort klar, welche k\u00f6rperliche Vorstellung, die optische T\u00e4uschung \u00fcber die wirkliche Gr\u00f6fse oder Richtung der Linien veranlafste.\nIch glaube, es wird gen\u00fcgen, nur einige der bekanntesten","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das r\u00e4umliche Sehen.\n39\ndieser T\u00e4uschungen hier anzuf\u00fchren, zumal da Prof. Filehne erst k\u00fcrzlich in dieser Zeitschrift1 diesen Gegenstand er\u00f6rterte, und zwar v\u00f6llig im Sinne meiner Ausf\u00fchrungen. Wenn ich trotzdem nochmals hier denselben Gedankengang entwickele, so geschieht das, weil er vollkommen mit meiner Auffassung des Sehactes \u00fcbereinstimmt und hierdurch eine erh\u00f6hte Bedeutung erh\u00e4lt.\nDie Ufer eines Baches, der Saum eines Waldes, die R\u00e4nder eines Weges, die W\u00e4nde, die Decke, der Fufsboden eines Zimmers werden von gleichgerichteten, wagerechten Geraden begrenzt.\nDie Sehform je zweier solcher horizontaler Grenzlinien wird von zwei Geraden gebildet, welche sich, gen\u00fcgend weit fortgesetzt, in einem Punkte schneiden w\u00fcrden. Stehe ich zwischen den Schienen einer Eisenbahn, so ist die zugeh\u00f6rige Sehform gleich der Figur 1.\nGanz \u00e4hnlich ist aber auch die Sehform jedes B\u00fcrgersteiges aus quadratischen Steinfliesen, jedes Zimmerfufsbodens.\nDie Sehform eines Quadrates oder Rechteckes ist also h\u00e4ufig ein Trapez. Warum sollte nicht auch die Zeichnung eines Trapezes, dessen Sehform mit der eines wirklichen Rechteckes \u00fcbereinstimmt, die r\u00e4umliche Vorstellung eines wirklichen Rechteckes oder Quadrates erwecken? Das ist nun freilich nur der Fall, wenn ich die erw\u00e4hnten, die T\u00e4uschung beg\u00fcnstigenden H\u00fclfs-mittel anwende, aber doch l\u00e4fst sich zeigen, dafs auch bei der Auffassung eines gezeichneten Trapezes die Vorstellung des Quadrates einen Einflufs \u00fcbt.\nWer w\u00fcrde nicht auf den ersten Blick glauben, dafs das in Fig. 2a dargestellte Viereck viel h\u00f6her ist als seine Grundlinie? Wer w\u00fcrde nach dem Augenmaafs sch\u00e4tzen, dafs in Figur 1 die Wagerechte 1 genau so grofs ist als der Abstand zwischen 1 und 4 ? In Figur 2 a erblicken wir eben die Sehform eines\nFig. 1.\n1 Diese Zeitschrift 17, 15 ff.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nJE. Storch.\nRechteckes, das bedeutend l\u00e4nger ist als breit, darum \u00fcbersch\u00e4tzen wir die wirkliche L\u00e4nge der Zeichnung. In Figur 1\nFig. 2.\nentspricht das unterste Viereck der Sehform eines wirklichen Quadrats und diese Vorstellung bestimmt unser Urtheil \u00fcber den Abstand 1 und 4. Stellen wir Figur 1 auf den Kopf, so haben wir das Bild der Oberleitung einer zweigleisigen elektrischen Bahn, oder einer Zimmerdecke mit Querfugen.\nIn der wirklichen zu Figur 1 geh\u00f6rigen Raumform sind die Strecken 1, 2, 3, 4 alle einander gleich, in Folge dessen erscheint mir 1 v bedeutend kleiner als 4. In Figur 2 a ist r s genau gleich der oberen Grundlinie.\nIn den Zeichnungen 2 b und 2 c sind die beiden Wagerechten in Wirklichkeit gleich, aber da die an ihren Endpunkten angesetzten Schr\u00e4gen in b und c nach oben zusammenlaufen, wird die Vorstellung wirksam, diese seien wirklich gleichgerichtet. 2 b ist die Sehform der hinteren Kante eines viereckigen Tisches, es wird demnach verglichen mit den davor gelegenen Entfernungen zwischen beiden Schr\u00e4gen, deren Sehformen gr\u00f6fser sind. 2 c ist die Sehform der vorderen Tischkante, und wird in Vergleich gesetzt zu den dahinter gelegenen kleineren Abst\u00e4nden. 2 b kann\nich nur zu einer wirklich gr\u00f6fseren Tischzeichnung erg\u00e4nzen als 2 c.\nAuch in Figur 3 findet man die horizontale oder verticale Strecke mit schr\u00e4g verlaufenden Ansatzlinien versehen. 3 a und 3 b stellen das bekannte Pfeilmuster dar. In 3 a1 habe ich die Sehform eines Winkels im Zimmer, in 3 a2 die der Kante eines Hauses. 3 b\u00b1 stellt einen halbge\u00f6ffneten Briefbogen dar, in dessen Oeffnung ich hineinschaue, 3 b2 einen, dessen scharfer Bug mir","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das r\u00e4umliche Sehen.\n41\nmir zugekehrt ist. 3 c\u00b1 stellt die hintere, 3 c2 die vordere Kante einer Mauer dar. Zwei thats\u00e4chlich gleiche Sehformen horizontaler oder verticaler Linien aber, von denen die eine vorn, die andere hinten liegt, geh\u00f6ren zu ungleich grofsen wirklichen Formen ;\nFig.\n3.\ndaher scheinen in 3 a, b und c die mit 1 bezeichneten Strecken bedeutend gr\u00f6fser als die mit 2 bezeichneten.\nFig. 4.\nIn Figur 4 a ist eine andere bekannte optische T\u00e4uschung dargestellt. Die schr\u00e4gen Linien 1 und 2 sind wirklich Theile einer Geraden, 2 scheint aber merklich tiefer zu liegen, als es in der That der Fall ist. Die Erkl\u00e4rung ist einfach. Es wirkt n\u00e4mlich die Vorstellung mit, dafs 1 und 2 nicht in der Ebene der Zeichnung liegen, sondern mehr weniger daraus hervortreten. Innerhalb des von 2 Senkrechten eingeschlossenen Streifens ist das nicht der Fall, und die wirkliche Ferne, welche mit\nder Wirklichkeit streitet, sehen wir in 4/^, einen Buchdeckel, dessen obere Kante in Folge perspectivischer Gesetze nach unten zu","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nE. Storch.\nFig 5.\nsich senkt. 2 ist hier thats\u00e4chlich die Fortsetzung von 1, liegt aber in der wirklichen Form in gleichem Niveau mit 3. Die Zeichnungen h, c, d, e, g zeigen kleine Modificationen, welche wie in e, c, d die k\u00f6rperliche Vorstellung verst\u00e4rken, oder wie h und g den Eindruck einer ebenen Figur erzeugen. Durch beide Kunstgriffe wird die T\u00e4uschung verringert oder ganz zum Verschwinden gebracht.\nIn Figur ha haben wir ein Kreuz mit einem senkrechten und einem schr\u00e4gen Schenkel. Die nat\u00fcrlich sich darbietende wirkliche\nForm w\u00e4re die eines rechtwinkeligen Kreuzes mit horizontalem Querholz, welches senkrecht auf der Zeichenebene steht. Die Vorstellung einer ebenen Figur erlaubt aber nicht, dafs diese wirkliche Form ungest\u00f6rt ins Bewufstsein tritt. Man meint beide Schenkel liegen in einer von links oben, hinten nach rechts, unten vom sich senkenden Ebene, und sieht deshalb die Linie a r von rechts oben nach links unten geneigt. In Zeichnung 5 h ist diese T\u00e4uschung st\u00e4rker ausgepr\u00e4gt, die beiden Lothrechten laufen nach oben zusammen.\nIn Figur ha erscheint daher das untere Ende jedes oberen Kreuzchens nach aufsen gegen das obere Ende des darunterstehenden verschoben und in 65, dem bekannten Z\u00f6llner\u2019sehen Muster, ist dieselbe T\u00e4uschung durch die H\u00e4ufung der schr\u00e4gen Linien zur h\u00f6chsten Wirkung gesteigert.\nEs w\u00fcrde erm\u00fcden, wollte ich an weiteren Beispielen die Richtigkeit meiner Theorie der Sehwahrnehmung erh\u00e4rten. Er-giebt sich\tdoch\tihre\tallgemeine, uneingeschr\u00e4nkte G\u00fcltigkeit\nschon daraus, dafs es sich weniger um eine auf neuen oder schwierigen Beobachtungen aufgebaute Theorie, als vielmehr um eine folgerichtig\tdurchgef\u00fchrte Analyse der allt\u00e4glichen und\nallergew\u00f6hnlichsten Erfahrungen handelt. Diese Theorie ist eine\n\niiS\n\u0153\nFig. 6.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das r\u00e4umliche Sehen.\n43\nrein psychologische und setzt die Richtigkeit der Hering\u2019sehen Theorie von der Identit\u00e4t der Netzhautstellen voraus, soweit dieselbe die physiologischen Bedingungen des Einfach- und Doppeltsehens betrifft. Dafs den Netzhautelementen ein Tiefenwerth nicht zukommt, geht wohl zur Gen\u00fcge daraus hervor. Aber selbst wenn die HERiNG\u2019sche, rein physiologische Theorie, sp\u00e4ter durch eine andere ersetzt werden m\u00fcfste, w\u00fcrde der Werth meiner psychologischen Analyse dadurch nicht beeintr\u00e4chtigt werden.\n(Eingegangen am 3. Februar 1902.)","page":43}],"identifier":"lit33080","issued":"1902","language":"de","pages":"22-43","startpages":"22","title":"Ueber das r\u00e4umliche Sehen","type":"Journal Article","volume":"29"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:33:26.025754+00:00"}