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{"created":"2022-01-31T16:31:12.940869+00:00","id":"lit33081","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Cohn, J.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 29: 44-50","fulltext":[{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nBesprechung.\nW. Ostwald. Vorlesungen \u00fcber Naturphilosophie. Gehalten im Sommer 1901 an der Universit\u00e4t Leipzig. Leipzig, Veit u. Comp., 1902. 457 S.\nEin in seinem Forschungsgebiete hochangesehener Naturforscher giebt hier Rechenschaft \u00fcber die weiteren Zusammenh\u00e4nge, in die sich ihm die eigene Arbeit einordnet. Ein solches Unternehmen verdient an sich sorgf\u00e4ltige Beachtung; erh\u00f6ht aber wird dieser Anspruch noch, wenn der Naturforscher, wie dies von Ostwald bekannt ist, zu den Grundproblemen seiner eigenen Wissenschaft eine scharf ausgepr\u00e4gte, von dem Herk\u00f6mmlichen abweichende Stellung einnimmt. Energetik ist bekanntlich das Schlagwort f\u00fcr die von ihm vertretene Richtung. Er empfindet als Ursache daf\u00fcr, dafs diese Richtung sich nicht Anerkennung genug verschaffen kann, das Fehlen \u201eeiner geschlossenen und hinreichend eingehenden Darstellung dessen, was die Energielehre oder Energetik in Bezug auf die allgemeine Weltauffassung anstrebt\u201c (S. 158). Angenehm ber\u00fchrt es den, der von der Philosophie her an diese Probleme herantritt, dafs Ostwald sich der L\u00fccken in seiner philosophischen Kenntnifs nicht nach ber\u00fchmten Mustern grofssprechend br\u00fcstet, sondern sie bedauernd eingesteht. Wem die L\u00fccken der eigenen naturwissenschaftlichen Kenntnisse bei der Lect\u00fcre des Buches schmerzlich f\u00fchlbar geworden sind, der wird es dann gewifs unterlassen, \u00fcber Einzelheiten mit dem Verf. hochfahrend zu rechten. F\u00fcr den Interessenkreis, dem diese Zeitschrift dient, wird das Werk dadurch besonders wichtig, dafs der Verf. schon im Vorworte ank\u00fcndigt, er werde den Versuch machen, auch die psychischen Erscheinungen den Begriffen der Energetik unterzuordnen.\nDas Buch zerf\u00e4llt, wie der Verf. selbst in der Vorrede sagt, in zwei Theile, von denen der erste \u00fcber die Grundbegriffe Rechenschaft giebt (Vorlesung 1\u20148), der zweite das energetische Weltbild entwirft. Diesen zweiten Theil kann man weiter in zwei Unterabtheilungen gliedern, von denen die erste die allgemeinen Z\u00fcge dieses Weltbildes entwirft und die Welt des Unorganischen betrachtet (Vorlesung 9\u201414), die zweite das organische und besonders das geistige Leben zum Gegenstand hat (Vorlesung 15\u201421).\nDen Gegensatz zur alten Naturphilosophie der ScHELLwo\u2019scheri Schule formulirt Ostwald in dem Satze \u201esie versuchten, aus dem Denken die Erfahrung abzuleiten ; wir werden umgekehrt unser Denken \u00fcberall nach der Erfahrung regeln\u201c (S. 7). Absolute Gewifsheit vermag die Philosophie so","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n45\nwenig zu erreichen, wie eine andere empirische Wissenschaft (S. 12). Daraus ergiebt sich die Aufgabe, den schwierigen Begriff der Erfahrung genauer zu bestimmen. Erfahrung wird vom blofsen Erleben als Ver-werthung oder Verarbeitung der Erlebnisse unterschieden (S. 15). Diese Verarbeitung steht im Dienste der Vorhersage der Zukunft. Ihr dient vor Allem die Begriffsbildung. Sehr interessant ist die S. 23 gegebene Formulirung des Verh\u00e4ltnisses von Begriff und Erscheinung: \u201eEin Begriff ist eine Regel, nach welcher wir bestimmte Eigenth\u00fcmlichkeiten der Erscheinung beachten\u201c. Es ergiebt sich daraus die Aufgabe, die einfachen Grundbegriffe, welche die allgemeinen Regeln der Betrachtung darstellen, zu finden. Weder durch Analyse der Sprache noch der Sinnesempfindungen findet man hinreichend feste und unver\u00e4nderliche Begriffe, es bleibt danach nur noch \u00fcbrig, sie in den einfachsten Geistesoperationen zu suchen, mittelst deren wir die von den Sinnesapparaten gelieferten Erfahrungen bearbeiten (S. 76). Man bemerkt, wie nahe Ostwald hier der Kant\u2019sehen Philosophie kommt. Leider h\u00e4lt er den Weg, dessen Verfolgung er sich hier vorgeschrieben hat, nicht durchweg ein, benutzt vielmehr weiterhin vielfach einen ungekl\u00e4rten Erfahrungsbegriff, der den Anschein erweckt, als ob uns eine Welt fertig gegeben sei. Dies zeigt sich z. B. bei seiner Behandlung des Identit\u00e4tsprincipes. Der wahre Sinn dieses Princips liegt darin, dafs ein Erkennen unm\u00f6glich ist, wenn nicht begrifflich die Elemente des zu Erkennenden als identisch festgehalten werden. Es ist dies eine Voraussetzung der M\u00f6glichkeit jeder Erfahrung, gerade wenn diese in dem Sinne der Vorhersage verstanden wird. Es hat danach keinen Sinn, das Identit\u00e4tsprincip, wie Ostwald S. 117 thut, als eine Erfahrung, nicht als \u201eeine sogenannte Denknothwendigkeit\u201c anzusprechen. Die Erfahrung ist gerade in dem von Ostwald vertretenen Sinne des Wortes Bearbeitung unserer Erlebnisse durch das Identit\u00e4tsprincip, Herausarbeitung der sich gleichbleibenden Elemente dieser Erlebnisse. Finden wir, dafs diese Gleichheit nicht exact Stand h\u00e4lt, so \u00e4ndern wir die Bestimmung der gleichbleibenden Elemente. Von der Voraussetzung eines sich Gleichbleibenden \u00fcberhaupt k\u00f6nnen wir gar nicht absehen, ohne die M\u00f6glichkeit der Erfahrung aufzuheben. Freilich w\u00e4re denkbar, dafs das Gleichbleibende nur ein Maafsstab w\u00e4re, der an die Erlebnisse herangelegt wird, w\u00e4hrend in den Erlebnissen sich alle Factoren \u00e4ndern. Damit w\u00e4re aber eine Unvereinbarkeit von Denken und Erleben, die prineipielle Unm\u00f6glichkeit jeder Naturwissenschaft ausgesprochen. Man kann zusammenfassend sagen: Die Identit\u00e4t der Begriffe ist Voraussetzung des Denkens, die Identit\u00e4t von, zun\u00e4chst ihrer Art nach unbestimmter und durch die Forschung zu findender Factoren des Geschehens ist Voraussetzung aller Vorhersage und Erkenntnifs der Natur. Leider sucht eben Ostwald nicht consequent die logisch-erkennt-nifstheoretischen Voraussetzungen der Naturwissenschaft, sondern l\u00e4fst sich von den ungekl\u00e4rtesten Theilen der ungekl\u00e4rtesten Naturwissenschaften zu Speculationen \u00fcber die Entstehung der Denkfunctionen und der allgemeinen Anschauungsformen verleiten, die er an die Stelle einer solchen Ableitung setzt. In \u00e4hnlicher Weise m\u00fcfsten die Bestimmungen von Raum und Zeit bei Ostwald kritisirt werden, doch kann ich darauf nicht ein-","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nBesprechung.\ngehen, weil derartige Er\u00f6rterungen den Tendenzen dieser Zeitschrift ferner liegen.\nAus den Geistesoperationen heraus sucht Ostwald nun die allgemeinsten Grundbegriffe zu gewinnen. Nicht ganz begr\u00fcndet scheint mir dabei seine Annahme zu sein, dafs sich diese Grundbegriffe in eine einzige Reihe von Subordinationsstufen anordnen lassen (ygl. bes. S. 93 und die Uebersichtstafel S. 138). Der allgemeinste Begriff ist f\u00fcr ihn der des Erlebnisses; ihm ordnet er zun\u00e4chst den Begriff \u201eDing\u201c unter. Ding definirt er \u201eals ein Erlebnifs, das wir von anderen als getrennt oder unterscheidbar empfinden.\u201c Die Abgrenzung ist also das wesentliche Merkmal des Dinges. Nebengeordnet wird demnach dem Dinge sein contradictorisches Gegen-theil, das nicht unterschiedene Erlebnifs. Zu dieser formal correcten Anordnung w\u00e4re indefs zu bemerken, dafs f\u00fcr unser Erkennen ununter-schiedene Erlebnisse nie in Betracht kommen k\u00f6nnen. Was wir erkennen wollen, das m\u00fcssen wir vor Allem unterscheiden, d. h. wir m\u00fcssen es im OsTWALD\u2019schen Sinne des Wortes verdinglichen. Als n\u00e4chstniederen Begriff f\u00fchrt Ostwald den der Mannigfaltigkeit ein. Darunter versteht er irgend wie in Verbindung gedachte Dinge. Es ist logisch nicht ganz einwurfsfrei, diesen Begriff dem des Dinges unterzuordnen; wichtiger indessen wird es sein, die Eintheilung dieses Begriffes zu pr\u00fcfen. Als Beispiel einer Mannigfaltigkeit von Dingen braucht Ostwald S. 94 f. den Inhalt der Hosentasche eines neunj\u00e4hrigen Jungen. Die Mannigfaltigkeiten aber, die weiterhin wichtig werden, sind z. B. die Zahlenreihe, die r\u00e4umlichen Richtungen, die Intensit\u00e4tsgrade. Augenscheinlich ist das Princip der Zusammenfassung bei diesen Mannigfaltigkeiten kein hosentaschenartiges. Es handelt sich vielmehr bei ihnen um die Uebersicht aller unter einer gegebenen Voraussetzung thats\u00e4chlich oder logisch m\u00f6glichen F\u00e4lle oder, wie man im An-schlufs an die traditionelle Logik zu sagen pflegt, um die Uebersicht aller Arten eines Gattungsbegriffs. Die Gegenst\u00e4nde in der Hosentasche des Jungen dagegen sind nur thats\u00e4chlich r\u00e4umlich beieinander. Wir k\u00f6nnen diese Mannigfaltigkeit ordnen, indem wir als Ordnungsprincip irgend eine Mannigfaltigkeit der erst beschriebenen Art zu Grunde legen, etwa die r\u00e4umliche Lage, die Gr\u00f6fse, Schwere oder Farbe der Gegenst\u00e4nde. Wir sind auf diese Weise bereits zu der n\u00e4chsten Unterscheidung vorgeschritten. Alle Mannigfaltigkeiten zerfallen in geordnete und ungeordnete. Die geordneten Mannigfaltigkeiten theilt Ostwald einerseits in st\u00e4tige und unst\u00e4tige, andererseits in Gr\u00f6fsen und St\u00e4rken ein. Auf die zweite unter diesen Eintheilungen mufs etwas n\u00e4her eingegangen werden, da sie unvollst\u00e4ndig erscheint, und ihre Correctur gerade den Psychologen interessirt. St\u00e4rken lassen sich so in Reihen ordnen, dafs jede in der Reihe ihren bestimmten Platz hat, aber nur Gr\u00f6fsen lassen sich in gleiche Theile zerlegen. Dagegen beh\u00e4lt jeder Theil einer St\u00e4rke seine Sonderart bei, mit anderen Worten, die Theile von Gr\u00f6fsen kann man f\u00fcr einander einsetzen, die von St\u00e4rken nicht (S. 129). Hiernach scheint es zun\u00e4chst, als ob Ostwald mit wunderlicher terminologischer Willk\u00fcr das St\u00e4rken nennt, was andere als Qualit\u00e4tenreihen bezeichnen, aber seine Beispiele zeigen, dafs das nicht der Fall ist. S. 256 werden die Intensit\u00e4tsfactoren aller Energien als St\u00e4rken bezeichnet, also z. B. Temperaturen, Elektricit\u00e4ts-","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n47\nSpannungen, und Aehnliches. Daraus wird klar, dafs Ostwald\u2019s Einteilung unvollst\u00e4ndig ist, und dafs ihre Schwierigkeiten auf ihrer Un Vollst\u00e4ndigkeit beruhen. Man mufs zun\u00e4chst hervorheben, dafs es sich hier nicht um Hosentaschenmannigfaltigkeiten handelt, sondern um das unter einer Bedingung oder Gattung M\u00f6gliche. F\u00fcr solche M\u00f6glichkeiten empirischer Art hat der Psychologe in den Qualit\u00e4ten der verschiedenen Sinnesgebiete Beispiele zur Hand. W\u00e4hrend nun die Geruchsempfindungen sich uns zur Zeit als ungeordnete qualitative Mannigfaltigkeit darstellen, lassen sich z. B. die Gesichtsempfindungen in bekannter Art in einer dreidimensionalen Mannigfaltigkeit anordnen, auch wenn man auf die physikalischen Reize und die (hypothetischen) physiologischen Begleitvorg\u00e4nge gar keine R\u00fccksicht nimmt. Sie verhalten sich aber nicht, wie die von Ostwald als St\u00e4rken bezeichneten Reihen. Der charakteristische Unterschied liegt darin, dafs man bei St\u00e4rken die Richtung des Gr\u00f6fserwerdens angeben kann, bei Qualit\u00e4tenreihen nicht. Zwar die Verschiedenheit zweier Glieder kann gr\u00f6fser oder kleiner sein \u2014 es hat aber zun\u00e4chst keinen angebbaren Sinn, zu sagen: Roth ist gr\u00f6fser (oder kleiner) als Orange. Mit St\u00e4rken l\u00e4fst sich rechnen, mit Qualit\u00e4tenreihen nicht. Daher ist es auch unrichtig, wenn Ostwald sagt, den St\u00e4rken seien nur Ordnungszahlen, nicht Grundzahlen, zugeordnet. Bei Elektricit\u00e4tsmengen oder Geschwindigkeiten ist das z. B. anders, sie haben eine in Grundzahlen angebbare Gr\u00f6fse. Sofern das bei Temperaturen nicht der Fall ist, liegt es doch nicht an einer principiellen Unm\u00f6glichkeit sondern daran, dafs zur Zeit ein brauchbares allgemeines Maafs fehlt, da die Ausdehnungen der einzelnen Substanzen, die man verwendet, einander nicht proportional sind. Kann man aber mit St\u00e4rken rechnen, so setzt man auch (in der Rechnung) ihre Theile einander gleich, d. h. man kann sie ideell (wiewohl nicht physisch durch einfache Aneinanderf\u00fcgung wie die Gr\u00f6fsen im engeren Sinne oder extensiven Gr\u00f6fsen) addiren. Man kann sagen: Intensit\u00e4ten oder St\u00e4rken sind solche Mannigfaltigkeiten, in denen eine physische Addition nicht m\u00f6glich ist, die sich aber Gr\u00f6fsen so zuordnen lassen, dafs sie f\u00fcr bestimmte wissenschaftliche Zwecke als Gr\u00f6fsen behandelt werden k\u00f6nnen. Auch Ostwald n\u00e4hert sich zuweilen dieser Auffassung. Diese Betrachtung scheint mir f\u00fcr die schwierige Frage der Intensit\u00e4ten von Empfindungen einige Bedeutung zu haben. Isolirt betrachtet, haben die gew\u00f6hnlich \u201eintensiv\u201c genannten Empfindungsunterschiede dieselbe Bedeutung wie die \u201equalitativ\u201c genannten. Aber sie werden Gr\u00f6fsen zugeordnet und zwar im Sinne der Psychologie wesentlich deshalb, weil eine Aenderung in einer bestimmten Richtung ceteris paribus stets mit einer Vermehrung, in der entgegengesetzten mit einer Verminderung ihrer Bedeutung f\u00fcr unser Seelenleben verbunden ist. In diesem Sinne ist z. B. sowohl W\u00e4rme- wie K\u00e4lteempfindung eine Intensit\u00e4tsreihe, ebenso auf dem Gebiete des Gesichtssinnes am deutlichsten die Zunahme der S\u00e4ttigung, w\u00e4hrend in der Weifs-Schwarz-Reihe die Verh\u00e4ltnisse schwieriger liegen. Mit dieser Zuordnung mischt und kreuzt sich leider meist die Zuordnung zu den objectiven Reizen, die f\u00fcr eine rein psychologische Betrachtung keine Bedeutung hat und z. B. schwarz f\u00fcr minder intensiv als mittel grau anzusprechen verf\u00fchrt. Freilich ist zur Zeit auch in den psychischen Intensit\u00e4tsreihen noch keine Messung","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nBesprechung.\nm\u00f6glich, da psychische Wirkungsf\u00e4higkeit sich noch nicht messen l\u00e4fst und in jedem realen Falle von zu vielen Elementen abh\u00e4ngt. Doch w\u00e4re vielleicht nicht f\u00fcr alle Zukunft die Hoffnung auf einen Fortschritt in dieser Richtung aufzugeben.\nEs w\u00fcrde zu weit f\u00fchren, wollte ich \u00e4hnlich die \u00fcbrigen Grundbegriffe Ostwald\u2019s besprechen; daher wende ich mich jetzt dem Aufbau seines energetischen Weltbildes zu. Er geht dabei von dem Begriffe der Arbeit aus, zeigt, dafs f\u00fcr sie ein Erhaltungsgesetz gilt, und gewinnt den Begriff Energie durch Erw-eiterung des Arbeitsbegriffes. Energie wird definirt als \u201eArbeit oder alles, was aus Arbeit entsteht und sich in Arbeit umwandeln l\u00e4fst\u201c (S. 158). Es wird weiter dargelegt, dafs unsere Sinneswahrnehmungen stets durch Energie\u00e4nderungen zu Stande kommen. In diesen Ausf\u00fchrungen und \u00f6fter sonst macht sich eine Neigung geltend, die Energetik metaphysisch zu fassen, d. h. in der Energie nicht mehr eine wissenschaftlich begr\u00fcndete Umformung des Erlebten, sondern eine Erkenntnifs seines wahren Wesens zu sehen. Nun liegt aber f\u00fcr den Philosophen ein wesentlicher Vorzug energetischer Constructionsversuche gerade darin, dafs sie die rein begriffliche Art der naturwissenschaftlichen Grundannahmen ganz klar machen. Gewifs ist auch das Atom ein begriffliches Gebilde, aber die Anschaulichkeit r\u00e4umlicher Lagebeziehungen und Bewegungen verf\u00fchrt leicht zu der Annahme, dafs hier eine anschauliche Erkenntnifs des wirklich Seienden geliefert werde. Der allgemeine Begriff \u201eEnergie\u201c dagegen ist g\u00e4nzlich unanschaulich, seine Bedeutung liegt in einem Erhaltungsgesetz und einer Reihe von Umwandlungsformeln seiner Arten in einander. Weit entfernt, diese Unanschaulichkeit f\u00fcr einen Nachtheil zu halten, sehe ich in ihr, falls die Theorie sich nur sonst durchf\u00fchren l\u00e4fst, einen sehr wesentlichen Vorzug. Aber freilich ist es dann nicht angebracht, von einem energetischen Weltbild zu sprechen, wie Ostwald das in der Ueberschrift der neunten Vorlesung thut. Eher k\u00f6nnte man geneigt sein, diese Ueberschrift in : \u201eDer energetische Naturbegriff\u201c umzuformen. Vielleicht befinde ich mich hier im Grunde mit Ostwald in Uebereinstimmung, und nur die begreifliche Begeisterung f\u00fcr das Ziel seiner Lebensarbeit verf\u00fchrt ihn zu mifsdeutbaren Aeufserungen. Wenigstens unterscheidet er seine Ans\u00e4tze als Formeln sehr entschieden von Hypothesen als Bildern oder Modellen der wirklichen Erscheinungen, welche gewisse Seiten der letzteren in \u00fcbertragener Weise darstellen (S. 214 und 208). Formeln sind hypothesenfrei, \u201ewenn jede in der Formel auftretende Gr\u00f6fse f\u00fcr sich mefsbar ist\u201c (S. 214). Ist dann die Formel erfahrungsm\u00e4fsig richtig, so handelt es sich um ein wirkliches Naturgesetz. \u201eNaturgesetze sind dauernd, Hypothesen sind verg\u00e4nglich\u201c (S. 211). Der Ausbau der Energielehre im Einzelnen kann uns hier nicht besch\u00e4ftigen, so interessant er auch ist. Hingewiesen sei auf die energetische Aufl\u00f6sung des Begriffes Materie (S. 179 ff., 262 ff., 282 ff.). Das Gesetz des Geschehens wird dahin ausgesprochen: \u201eDamit etwas geschieht, m\u00fcssen Intensit\u00e4tsunterschiede der anwesenden Energien vorhanden sein\u201c (S. 256f.). Dies weist auf die Zerlegung jeder Energie in zwei Factoren hin, einen Capacit\u00e4tsfactor und einen Intensit\u00e4tsfactor. Alle Capacit\u00e4ten sind Gr\u00f6fsen, alle Intensit\u00e4ten St\u00e4rken im fr\u00fcher besprochenen Sinne. Bei der Bewegungsenergie z. B.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n49\nist die Masse eine Capacit\u00e4t, die Geschwindigkeit eine Intensit\u00e4t. Auffallend ist, dafs der Chemiker Ostwald nirgends davon spricht, wie die st\u00f6chiometrischen Verbindungsgesetze sich energetisch auffassen lassen. Wahrscheinlich w\u00e4re ihm das f\u00fcr eine popul\u00e4re Darstellung zu schwierig geworden. Aber diese L\u00fccke l\u00e4fst im Leser ein unbefriedigtes Gef\u00fchl zur\u00fcck, weil ja die Massenverh\u00e4ltnisse chemischer Verbindungen immer als Hauptst\u00fctze der Atomistik gelten und nach dieser Richtung hin kein Ersatz geboten ist.\nDie Anwendung seiner Lehren auf die Biologie geschieht unter Heranziehung der DAEwiN\u2019sehen Selectionstheorie und Zur\u00fcckweisung des Neovitalis-mus. Die anorganischen Analogien f\u00fcr Anpassung und Fortpflanzung (S. 342 ff.) sind interessant und zweckm\u00e4fsiger, als die meist verwandten Allgemeinheiten. F\u00fcr die Regelung der Lebensvorg\u00e4nge macht Ostwald auf katalytische Vorg\u00e4nge aufmerksam. Durch Art und Menge der Stoffe, Temperatur, Druck u. s. w. wird bei chemischen Vorg\u00e4ngen n\u00e4mlich zwar die Reihenfolge der Vorg\u00e4nge und die verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsige Dauer der einzelnen Stadien bestimmt, nicht aber ihre absolute Dauer. Diese h\u00e4ngt vielmehr noch von der Anwesenheit anderer Stoffe ab, die durch den Vorgang keine bleibende Aenderung zu erfahren brauchen. Solche Stoffe nennt man Katalysatoren (S. 326 f.). Im K\u00f6rper von Thieren und Pflanzen wirken besonders Stoffe, welche die Oxydation beschleunigen. Man nennt sie Oxydasen (S. 329). Durch die Menge der Bildung dieser Stoffe regulirt der Organismus die Verbrennung und damit seinen energetischen Zustand. Insbesondere benutzt Ostwald die katalytischen Vorg\u00e4nge auch, um die Einwirkung des Nerven auf den Muskel zu erkl\u00e4ren (S. 356f.). Die im Nerven stattfindenden Vorg\u00e4nge werden auf Nervenenergie zur\u00fcckgef\u00fchrt und das Bewufstsein wird dann (S. 393) als eine Eigenschaft einer besonderen Art von Nervenenergie aufgefafst, n\u00e4mlich der, welche im Centralorgan beth\u00e4tigt wird. Diese Einf\u00fchrung von Energieformen besonderer Art f\u00fcr den Organismus bringt Ostwald den Neovitalisten nahe, die er doch grunds\u00e4tzlich bek\u00e4mpft. Sie setzt ihn auch mit seinem Darwinismus in Widerstreit. Denn dafs durch nat\u00fcrliche Auslese eine neue Energieart entstehen kann, ist doch unm\u00f6glich anzunehmen. Auch ist nicht einzusehen, in welchem Sinne Bewufstsein \u201eEigenschaft\u201c einer Energieform sein soll, wenn doch in die Energieformeln nur Mefsbares aufgenommen werden darf. Indessen trifft diese Kritik zun\u00e4chst nur Ostwald\u2019s Ausdrucksweise, und Ostwald ist, wie er wiederholt erkl\u00e4rt, weit entfernt, diese seine jetzige Ausdrucks weise schon f\u00fcr die endg\u00fcltige Durchbildung des energetischen Gedankens zu halten. Ich glaube daher, ganz im Sinne dieses Gelehrten zu handeln, wenn ich hier versuche, die Bedingungen anzugeben, die eine energetische, psychophysische Theorie zu erf\u00fcllen h\u00e4tte, und die Hoffnungen, zu denen sie berechtigt. Voraussetzung ist dabei immer, dafs innerhalb der K\u00f6rperwissenschaften die Energetik durchf\u00fchrbar ist. Dann m\u00fcfste die Energetik sich auf ihre erkenntnifstheoretische Grundlage gerade f\u00fcr die psychophysische Frage besonders entschieden zur\u00fcckbesinnen. Sie m\u00fcfste es auf geben, hier ein \u201eWeltbild\u201c entwerfen zu wollen und sich begn\u00fcgen, die wissenschaftlich geforderte Umformung\n4\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 29.","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nBesprechung.\n\u00bbder Erlebnisse zu sein. Da Energie eine Gr\u00f6fse bedeutet, so kann das qualitative psychische Geschehen niemals vollst\u00e4ndig als Energieumsetzung verstanden werden. Wohl aber ist es denkbar, dafs in diesem Geschehen gewisse Seiten aufgefunden werden, denen sich Gr\u00f6fsen zuordnen lassen. F\u00fcr den Energiefactor Intensit\u00e4t kommt dabei das in Betracht, was man psychische Wirkungsf\u00e4higkeit nennen k\u00f6nnte oder was Lipps als psychische Energie bezeichnet. Schwerer d\u00fcrfte es sein, den Capacit\u00e4tsfactor irgendwie festzustellen. Vielleicht geben die als Enge des Bewufstseins oder Bewufstseinsumfang bezeichneten Thatsachen daf\u00fcr am ehesten Ankn\u00fcpfungspunkte. Es w\u00e4re also zun\u00e4chst auf psychologischem Gebiete das unter Anwendung energetischer Begriffe zu leisten, was H\u00f6fler1 2 einmal mit mechanistischen Bildern, wie ich glaube vergeblich, versucht hat. Weiterhin m\u00fcfste dann versucht werden, die Umwandlungsconstanten dieser, den Bewufstseinsvorg\u00e4ngen zugeordneten Energie in irgend welche physische Energieformen festzustellen. Dann w\u00e4re die Einordnung der psychischen Vorg\u00e4nge in den Energiehaushalt des Organismus m\u00f6glich, selbst wenn man die Bedingungen, unter denen Bewufstseinsenergie entsteht, nicht kennen w\u00fcrde. Ein k\u00fchnes, fast phantastisches Zukunftsprogramm, von dem sich erst zeigen m\u00fcfste, ob es die Forschung f\u00f6rdern w\u00fcrde. Es seien daher noch kurz die Vorz\u00fcge dargelegt, die diese Denkart hat, wenn sie durchf\u00fchrbar ist. Sie theilt mit dem sogenannten Parallelismus den Vorzug, ein Zusammenarbeiten von K\u00f6rperwissenschaft und Psychologie zu erm\u00f6glichen. Sie entgeht der Schwierigkeit, einfache geistige Elemente aufzusuchen, die den physischen Elementarvorg\u00e4ngen zuzuordnen w\u00e4ren, und kann sich die Aufstellung einer problematischen psychischen Atomistik, zu der M\u00fcnsterberg 2 z. B. ganz consequent gekommen ist, ersparen. Dafs es keine psychischen Erhaltungsgr\u00f6fsen giebt, ist f\u00fcr diese Theorie kein Nachtheil, da sie die psychischen Vorg\u00e4nge dem Erhaltungsgesetz der Energie einordnen kann.\nIch glaube, dem bedeutenden Werke durch diesen Versuch der Nachpr\u00fcfung einiger Hauptpunkte besser entsprochen zu haben, als wenn ich an Einzelheiten haften geblieben w\u00e4re ; doch sei hier noch auf die sehr interessante physiologische Theorie des Ged\u00e4chtnisses hingewiesen, die sich S. 370 f. findet. F\u00fcr eine zweite Auflage w\u00e4re vielleicht anzumerken, dafs \u201eschrumpfend\u201c (S. 58) keine Geschmacks- sondern jedenfalls eine Tastempfindung ist, dafs die Polemik gegen die \u201eIdealisten\u201c (S. 241) fortzulassen w\u00e4re, weil sie h\u00f6chstens einige griechische Philosophen trifft, dafs Plato\u2019s Unterscheidung der drei Seelentheile mit Empfinden, Denken und Handeln nichts zu thun hat (S. 383), dafs das Gesetz der specifischen Sinnesenergien (S. 384) eine h\u00f6chst problematische Sache ist, und dafs die Reactionszeiten sich nicht um die Dauer von ^ioo Secunde bewegen, sondern h\u00f6chstens auf Vio Secunde herabgehen (S. 422).\n1\tDiese Zeitschrift 8, 44, 161.\n2\tGrundz\u00fcge der Psychologie I, 369 ff. Leipzig, Barth, 1900.\nJ. Cohn (Freiburg i. B.).","page":50}],"identifier":"lit33081","issued":"1902","language":"de","pages":"44-50","startpages":"44","title":"W. Ostwald: Vorlesungen \u00fcber Naturphilosophie. 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