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{"created":"2022-01-31T14:27:20.587099+00:00","id":"lit33082","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Cohn, J.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 29: 51-52","fulltext":[{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"51\nLiteraturbericht.\nP. Bergemann. Lehrbuch der p\u00e4dagogischen Psychologie. Leipzig, Theodor Hofmann, 1901. VIII u. 484 S. Mk. 9.\u2014.\nDie Psychologie ist Grundlage der Erziehungsmittel, wie die Ethik Grundlage der Erziehungsziele ist; daher erscheint es wmhl berechtigt, die Psychologie mit R\u00fccksicht auf diese ihre wichtigste praktische Anwendung darzustellen. Sein so bestimmtes Thema f\u00fchrt Bergemann in der Weise durch, dafs er in einer Einleitung die allgemeinen Fragen, dann \u201edie f\u00fcr die intellectuelle Bildung in Betracht kommenden psychischen Erscheinungen: das Empfindungs- und Vorstellungslehen\u201c, endlich \u201edie f\u00fcr die Gem\u00fcths- und Charakterbildung in Betracht kommenden psychischen Erscheinungen: das Gef\u00fchls- und Willensleben\u201c behandelt.\nIn der Einleitung ist es augenscheinlich Bergemann\u2019s Bestreben, den Leser von der gew\u00f6hnlichen Betrachtungsweise zum Standpunkt des psychophysischen Parallelismus hinzuf\u00fchren. Dieses recht zweckm\u00e4fsige Verfahren wird aber gest\u00f6rt durch eine h\u00f6chst naive Verwechselung der Welt unserer Sinneswahrnehmung mit den Abstractionen der mechanistischen Physik. S. 13 heilst es geradezu, was wir sinnlich wahrnehmen, seien Ortsver\u00e4nderungen kleinster K\u00f6rpertheilchen. H\u00f6chst unklar ist daher auch die Entgegensetzung S. 19: \u201eWas uns im Erkennen gegeben ist, mufs entweder im Bewufstsein gegeben oder Gegenstand m\u00f6glicher Sinneswahrnehmung oder Beides zugleich sein.\u201c Das hindert Bergemann nicht, in der \u00fcblichen und nat\u00fcrlich durchaus berechtigten Art die Lehre von der Sinnesempfindung in die Psychologie hineinzuziehen.\nDie Darstellung der empirischen Psychologie, die das Buch giebt, ist auf Grund einer grofsen Belesenheit gearbeitet und vielfach durchsetzt mit kritischen und polemischen Er\u00f6rterungen, besonders gegen die Herbartianer. Fast jedem Capitel ist ein besonderer Abschnitt angeh\u00e4ngt, der die p\u00e4dagogische Bedeutung der dargestellten Lehren bespricht. Bergemann unterscheidet Gef\u00fchl als Zustandsbewufstsein, Vorstellung als Gegenstands-bewufstsein und Wille als Ursache-Th\u00e4tigkeitsbewufstsein von einander, wodurch augenscheinlich eine Classification von complexen psychischen Erscheinungen, nicht von Elementen gegeben wird, ohne dafs B. jemals auf diesen Unterschied aufmerksam macht. Die Unklarheit, die sich hierin zeigt, macht sich auch sonst vielfach st\u00f6rend bemerkbar. So werden zum Beispiel alle \u201eGemeinempfindungen\u201c inclusive der Gelenkempfindungen,\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nLi ter a turberich t.\nMuskelempfindungen u. s. w. zu den Gef\u00fchlen gerechnet, weil sie wesentlich Kenntnifs von dem Zustande, in welchem sich unsere Gelenke und Muskeln befinden, gehen (S. 343). Mit demselben Rechte w\u00e4ren alle Empfindungen Gef\u00fchle zu nennen, \u2014 denn bekanntlich wissen wir bei der Empfindung von Bewegungen ebensowenig von dem Sitz dieser Empfindung im Gelenk (der ja erst in neuerer Zeit besonders durch Goldscheider sicher festgestellt wurde), wie wir beim Sehen von der Netzhaut wissen. Nun liefse sich diese Unterbringung der Gemeinempfindungen bei den Gef\u00fchlen dann ertragen, wenn den Gef\u00fchlen eine grofse Mannigfaltigkeit von Qualit\u00e4ten zugesprochen w\u00fcrde. Aber B. ist davon weit entfernt, unterscheidet vielmehr als Gef\u00fchle nur Lust, Unlust und \u201eIndifferenz\u201c. Unter Indifferenz versteht B. ungef\u00e4hr, was andere Menschen \u201eSpannungsgef\u00fchle\u201c nennen. B. combinirt also seine Lehre, die die Gef\u00fchle mit den Organempfindungen zusammenfafst, mit einer Classification, die sich nur rechtfertigen l\u00e4fst, wenn man alle sonst bemerkbaren Verschiedenheiten den Empfindungs-bestandtheilen zuschiebt und von den Gef\u00fchlen trennt.\nSehr ausf\u00fchrlich im Verh\u00e4ltnifs zum Gesammtumfang werden \u00fcberall die physiologischen Thatsachen und Hypothesen behandelt. Dabei werden noch ungekl\u00e4rte und strittige Lehren oft als Thatsachen gegeben (z. B. die Existenz von Gef\u00fchlsnerven, einem Gef\u00fchlscentrum). F\u00fcr den Psychologen ist zur Zeit noch die Sinnesphysiologie wichtiger als die Gehirnphysiologie. Die Beschreibung der Sinnesorgane, die B. giebt, ist h\u00f6chst ungeschickt und f\u00fcr den Nichtkenner sicherlich unverst\u00e4ndlich, zumal erl\u00e4uternde Abbildungen fehlen. Manche S\u00e4tze in der Darstellung der Sinnesphysiologie sind ganz verworren. So heilst es S. 81: \u201eDer Vorhofsnerv nun \u00fcbt einen best\u00e4ndigen, durch Luftschwingungen sich steigernden Reiz auf die K\u00f6rpermuskulatur aus, dient dazu, Pr\u00e4cision und eine gewisse Regulirung in die Muskelbewegung hineinzubringen, bewirkt eben das, was ich zuvor schon als Richtungsempfindung bezeichnete.\u201c H\u00f6chst unp\u00e4dagogisch und unsystematisch ist vielfach die Reihenfolge; so wird z. B. die Klangfarbe S. 82\u201483 besprochen und analysirt \u2014 aber erst S. 84 H\u00f6he und St\u00e4rke der T\u00f6ne behandelt; Reactions- und Zeitsinnversuche finden Besprechung unter dem seltsamen Titel : \u201eDie mechanischen Bedingungen der Empfindungen\u201c S. 45\u201449. Ganz erstaunt ist man aber \u00fcber einige Behauptungen in dem Abschnitt \u201eVom Gesichtssinn\u201c. S. 98 sind Weifs und Schwarz physikalisch einfache Farben, S. 99 wird Pigmentmischung der Spectralmischung unterschiedslos nebengeordnet, die Mischung durch rotirende Scheiben als Art der Spectralmischung bezeichnet. Worauf sich die Behauptung gr\u00fcndet (S. 102), dafs positive Nachbilder erst nach dem 30. Lebensjahre erzeugt werden k\u00f6nnen, weifs ich nicht.\nEtwas besser sind die Capitel \u00fcber Ged\u00e4chtnifs, Aufmerksamkeit und Phantasie, interessant durch Zusammenstellung verstreuter Resultate der Paragraph \u00fcber Erm\u00fcdungsmessungen (S. 205 ff.). Die p\u00e4dagogischen Abschnitte geben manche Anregung, stehen aber mit den vorausgehenden psychologischen Er\u00f6rterungen oft nicht in gen\u00fcgend enger Verbindung.\nJ. Cohn (Freiburg i. B.).","page":52}],"identifier":"lit33082","issued":"1902","language":"de","pages":"51-52","startpages":"51","title":"P. Bergemann: Lehrbuch der p\u00e4dagogischen Psychologie. Leipzig, Theodor Hofmann, 1901. 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