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{"created":"2022-01-31T15:56:09.820800+00:00","id":"lit33157","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Gaupp","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 32: 118-119","fulltext":[{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nLiteraturbericht.\nWilly Hellpach. Psychologie und Nervenheilkunde. Wundts Philosophische Studien 19, 192-242. 1902.\nDie Arbeit Hellpachs ist ein Versuch, durch psychologische Untersuchungen ein Verst\u00e4ndnis hysterischer und neurasthenischer Symptome zu gewinnen. Der Verf. ist ein warmer Anh\u00e4nger der WuNDTSchen Psychologie und in seinen Ausf\u00fchrungen steht die Lehre von der Apperzeption im Mittelpunkt.\nHellpach betont zun\u00e4chst die Notwendigkeit f\u00fcr den Neurologen, die moderne wissenschaftliche Psychologie bei der Erforschung der funktionellen Nervenkrankheiten zu verwerten. Er kommt dann nach einigen kritischen Er\u00f6rterungen zu der Frage: Was ist eine psychogene St\u00f6rung? Die Anschauungen von Moebius und Kraepelin werden eingehend besprochen. Es werden folgende Begriffsbestimmungen vom Verf. zugelassen: \u201epsychogen sind alle psychisch bedingten, aber nicht motivierten Vorg\u00e4nge; hysterisch sind alle in ihrer Art oder St\u00e4rke aufsergew\u00f6hnlichen, d. i. krankhaften psychogenen Prozesse\u201c. Kraepelins Auffassung, dafs den Hysterischen eine gesteigerte gem\u00fctliche Erregbarkeit eigent\u00fcmlich sei, wird von Hellpach bek\u00e4mpft; er kommt im Gegensatz zu Kraepelin zu der Auffassung, dafs ein Mifsverh\u00e4ltnis zwischen Gem\u00fctserregung und psychogener St\u00f6rung f\u00fcr die Hysterie wesentlich sei, so dafs selbst ein geringf\u00fcgiger psychischer Vorgang intensive k\u00f6rperliche Reaktionen erzeugen k\u00f6nne. Die psychogenen Tatsachen sind den psychischen nicht proportional; starke Affekte k\u00f6nnen ohne entsprechenden Ausdruck bleiben, geringe von den heftigsten psychogenen Erscheinungen begleitet sein.\nHellpach wendet sich weiterhin gegen den Begriff der unbewufsten Vorstellungen, die ja in der Hysterielehre (Charcot, Janet, Moebius) eine Rolle spielen. Obgleich er mit gr\u00f6fster Energie die Begriffe \u201eunbewufste Vorstellung\u201c, \u201eunterbewufster Vorgang\u201c als \u201earge Mystik\u201c, als \u201eLegende\u201c bek\u00e4mpft, so wirkt er doch gerade hier nicht v\u00f6llig \u00fcberzeugend; denn wenn er von Empfindungen spricht, die nicht den \u201eUmweg durch die Apperzeption machen\u201c, sondern \u201eminder klar und minder deutlich im Bewufstsein leben\u201c (S. 209), so erkennt man leicht, dafs im Grunde nur ein Wortstreit vorliegt; er kann es Keinem verdenken, wenn er solche \u201eminder klaren und nicht apperzipierten Empfindungen\u201c unterbewufst nennen will.","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Litera turbericht.\n119\nHellpach sieht die \u201eWurzel des \u00dcbels\u201c, d. h. das Hereinziehen des Unbewufsten zur Erkl\u00e4rung der Hysterie in der Festhaltung des alten \u201eVorstellungsbegriffes\u201c, den er durch die WuNDTSche Lehre der Assimilation der Empfindungen ersetzt wissen will. Von der W\u00fcNDTschen Psychologie ausgehend, glaubt er darlegen zu k\u00f6nnen, \u201ewarum der Hysterische \u00fcber die seinem psychogenen Erlebnis zu Grunde liegenden Vorstellungen nichts weifs, und warum die Intensit\u00e4t jenes Erlebnisses der augenblicklichen Gef\u00fchlslage gar nicht proportional zu sein braucht.\u201c\nNach einigen wrenig gl\u00fccklichen Ausf\u00fchrungen \u00fcber den Charakter einer suggerierten Handlung, der in kompletter Zwecklosigkeit bestehen soll, wendet sich der Verf. der Aufgabe zu, den grundlegenden Unterschied zwischen hysterischen und neurasthenischen Erscheinungen darzulegen, wobei er mit viel Geschick einen Vergleich zwischen der Astasie \u2014 Abasie und der Agoraphobie zieht. Mit einer Bestimmtheit, wie sie wohl nur der, nicht auf dem Boden reicher Erfahrung stehende Theoretiker zeigen kann, stellt Hellpach die Behauptung auf, dafs die psychologische Erw\u00e4gung den Nervenarzt unter allen Umst\u00e4nden zwinge, das gleichzeitige Vorkommen von Hysterie und Nervosit\u00e4t zu verneinen. Hier tragen die Ausf\u00fchrungen des Verf.s den Stempel einer vorwiegend theoretischen Gedankenarbeit, die nicht durch hinreichende eigene klinische Erfahrung berichtigt oder mindestens in ihrer apodiktischen Ausdrucksweise gemildert wird.\nIn anschaulicher Weise erl\u00e4utert der Verf. den prinzipiellen Unterschied zwischen den zentrifugalen (motorischen, vasomotorischen etc.) und den zentripetalen St\u00f6rungen, vor allem den An\u00e4sthesien, in denen er die wichtigsten Zeichen der Hysterie erblickt. Es liegt auf der Hand, dafs einem Neurologen, der von unbewufsten Empfindungen und Vorstellungen nichts wissen will, die Aufgabe erw\u00e4chst, sich mit der hysterischen An\u00e4sthesie und ihrer Eigenart auseinanderzusetzen. Hellpach tut dies auch, nat\u00fcrlich vom Standpunkt der W\u00fcNDTschen Psychologie. Er sagt, dafs bei den Hysterischen beim Versuche, eine Empfindung zu apperzipieren, diese selbst verschwindet. \u201eDie Hysterischen f\u00fchlen, so lange sie nicht f\u00fchlen zu wollen gen\u00f6tigt werden.\u201c Es handelt sich also bei der hysterischen An\u00e4sthesie um \u201eapperzeptive Ausl\u00f6schung von Empfindungen.\u201c Diesen Gedanken f\u00fchrt Hellpach des Genaueren aus. Theoretische Erw\u00e4gungen \u00fcber die psychische Beschaffenheit der Hysterischen f\u00fchren ihn ferner zu der Auffassung, dafs die Hysterie eine Krankheit sei, deren psychologischer Erforschung sehr enge Grenzen gezogen sind. Dagegen huldigt er der Ansicht, dafs es dem Studium der hysterischen An\u00e4sthesie vielleicht beschieden sei, unser Wissen von den nerv\u00f6sen Substraten der Hautempfindungen im Grofshirn zu f\u00f6rdern.\nMit einigen allgemeinen Betrachtungen \u00fcber die Bedeutung der Differentialpsychologie f\u00fcr das Studium neurasthenischer und psychopathischer Personen, sowie \u00fcber den Wert der wissenschaftlichen Psychologie f\u00fcr die Nervenheilkunde \u00fcberhaupt schliefst die Arbeit, in welcher das Streben des Autors nach begrifflicher Klarheit und die Konsequenz in der Durchf\u00fchrung psychologischer Gesichtspunkte jedenfalls unsere Anerkennung verdient.\tGaupp (Heidelberg).","page":119}],"identifier":"lit33157","issued":"1903","language":"de","pages":"118-119","startpages":"118","title":"Willy Hellpach: Psychologie und Nervenheilkunde. Wundts Philosophische Studien 19, 192-242. 1902","type":"Journal Article","volume":"32"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:56:09.820806+00:00"}