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{"created":"2022-01-31T16:08:47.536954+00:00","id":"lit33177","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Giessler","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 32: 138-140","fulltext":[{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nLiteraturberich t.\nVon einem pathologischen Charakter k\u00f6nnen wir dann reden, wenn diese Eigenschaften in ihrer Zahl, St\u00e4rke oder in ihrem Verh\u00e4ltnis zueinander durch die Krankheit irgendwie ver\u00e4ndert sind.\nMoskiewicz (Breslau).\nF. Paulhan. La simulation dans le caract\u00e8re. Le faux impassible. Rev. philos. 52 (12), 600-625. 1901.\nDer Mensch hat oft Interesse daran, dafs sein wahrer Charakter nicht zum Vorschein kommt. Er heuchelt dann mit Willen und Bewufstsein oder nur instinktiv und ohne sich davon Rechenschaft zu geben, Eigenschaften oder Fehler, welche er in Wirklichkeit nicht oder doch nur in geringem Mafse besitzt.\nEs gibt 2 Formen, erstens die Dissimulation, welche Charakterz\u00fcge erscheinen l\u00e4fst, entgegengesetzt der Tendenz, welche man zu verbergen sucht, zweitens die Simulation, bei welcher es sich um die Nachahmung einer Tendenz handelt, welche in Wirklichkeit nicht existiert. Erstere ist vorherrschend defensiver, letztere vorherrschend aggressiver Natur.\nDie erheuchelte Kaltbl\u00fctigkeit d. h. die Verbindung einer sehr lebhaften Empfindlichkeit mit einer scheinbaren K\u00e4lte bildet eine der h\u00e4ufigsten Assoziationen innerhalb des Charakters. Man verheimlicht die innere Erregung, indem man eine ruhige Miene annimmt. Die Affektion w\u00fcrde unsern Feinden eine wunde Stelle verraten.\nOft r\u00fcsten wir uns mit Kaltbl\u00fctigkeit, um die Unbill des Lebens nicht so sehr zu empfinden.\nEin Mensch, bei welchem das innere Leben vorwiegt, neigt zur Kaltbl\u00fctigkeit. Denn das innere Leben schliefst Tendenzen zur Beobachtung, zur Analyse, zur Pr\u00fcfung und zur Kritik in sich, welche sich direkt mit der Gewohnheit zu inhibieren wieder verbinden, sie beg\u00fcnstigen und daher n\u00fctzlich sind f\u00fcr das allgemeine Unterdr\u00fccken der Gef\u00fchlsbezeugung.\nEine besonders ausgebildete Eigenliebe ist der Selbstbeobachtung g\u00fcnstig. Verf. sieht daher in der Verbindung von Empfindsamkeit und Eigenliebe einen g\u00fcnstigen Boden f\u00fcr das Zustandekommen der erheuchelten Kaltbl\u00fctigkeit. Oft verbirgt sich unter der Bescheidenheit ein gut Teil Eigenliebe.\nJeder Mensch hat seine spezielleren \u201eEmpfindlichkeiten\u201c. Bisweilen ist es ein besonderes Gef\u00fchl, welches man zu verhehlen w\u00fcnscht. Die erheuchelte Kaltbl\u00fctigkeit ist dann nur partiell und ist keine allgemeine Richtung des Geistes. Andere Male ist es weniger die Furcht gesch\u00e4digt zu werden, als vielmehr die Scham, unsere Gef\u00fchle zu \u00e4ufsern, da dieselben unserem Alter oder Geschlecht nicht angemessen sind. In andern F\u00e4llen ist es die Furcht des Betreffenden, Personen der Umgebung, welche er sch\u00e4tzt, durch \u00c4ufserungen seiner Gef\u00fchle dem Gesp\u00f6tt oder den Angriffen der Welt preiszugeben.\nDie Furchtsamkeit ist eine der sekund\u00e4ren Eigenschaften der erheuchelten Kaltbl\u00fctigkeit. Sie assoziiert sich letzterer. Oft begegnet man bei der erheuchelten Kaltbl\u00fctigkeit einem guten Mals von Sensibilit\u00e4t, welches aber seltener zum Durchbruch gelangen kann, da die f\u00fcr sein Hervortreten ge\u00f6ffneten Wege an Zahl gering sind. Solche Individuen","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n139\nhalten mit ihrem Gef\u00fchl umsomehr zur\u00fcck, je leidenschaftlicher sie sind. Sie streben danach, ein Medium zu finden, wo sie ihren Gef\u00fchlen freien Lauf lassen k\u00f6nnen. Doch werden sie immer nur wenige Gesinnungsgenossen finden, und sie werden leicht andere Leute verkennen, welche ihre Gesinnungen und Ideen nicht teilen.\nIm Grunde genommen kann man auch der falschen Kaltbl\u00fctigkeit eine gewisse Abneigung gegen die L\u00fcge nicht absprechen. Sie verheimlicht ihre Gef\u00fchle, weil sie keine falschen erheucheln will.\nAuch das Schmollen ist eine affektierte Kaltbl\u00fctigkeit, aber mehr ein Ausdruck der Unzufriedenheit als eine Garantie gegen k\u00fcnftige Reibungen; mit dem Unterschiede, dafs w\u00e4hrend das Schmollen mehr aggressiv ist, die erheuchelte Kaltbl\u00fctigkeit eine Art Wall bildet zum Schutze des Geistes. Ersteres erstreckt sich nur auf Kleinigkeiten und l\u00e4fst die R\u00fcckkehr offen.\nDie erheuchelte Kaltbl\u00fctigkeit stellt nicht allein ein individuelles, sondern auch ein soziales Verteidigungsph\u00e4nomen dar. Sie dient zum Bewahren des guten Einvernehmens zwischen den Gliedern der Gesellschaft: Wir d\u00fcrfen keine Sympathie zeigen f\u00fcr Ideen, welche in der Gesellschaft nicht zul\u00e4ssig sind.\nSie enth\u00e4lt immer Elemente von Wahrheit. Wir finden neben der erheuchelten Indifferenz eine sehr reelle. Bisweilen n\u00e4mlich sympathisieren wir wirklich nicht mit dem, was unsere Umgebung sagt oder thut, und wir erstrecken nun dieses Gef\u00fchl auch auf diejenigen F\u00e4lle, in denen wir geneigt w\u00e4ren, Sympathien zu \u00e4ufsern, von denen wir wissen, dafs sie bei unserer Umgebung kein Echo erwecken w\u00fcrden.\nBei manchen Menschen ist die angenommene Kaltbl\u00fctigkeit eine Folge davon, dafs sie sich mehrfach haben Personen anschliefsen wollen, die sie zur\u00fcckgestofsen haben. Hierher geh\u00f6rt die Misanthropie. Ein solcher Mensch wird dann unter Umst\u00e4nden f\u00fcr die Allgemeinheit gef\u00fchlvoller. Die Objekte seiner Gef\u00fchle sind Allgemeinheit, Abstraktion und \u00e4hnliches.\nSekund\u00e4re Charaktere entwickeln sich bei denjenigen Menschen, welche der Wirklichkeit ungen\u00fcgend angepafst sind. Sie schaffen sich eine innerliche Welt. Diese Sch\u00f6pfung ist dann eine Erheuchelung einer Zusammenstimmung, welche in Wirklichkeit nicht existiert.\nBei manchen Menschen endlich kann die Kaltbl\u00fctigkeit zum Ideal werden, eine bestimmte Neigung, einen bestimmten Ausdruck ihrer Empfindungen zur\u00fcckzuhalten.\nEine Ver\u00e4nderung im Zustande der Gesundheit kann die Intensit\u00e4t des geschilderten Typus vermehren oder vermindern, indem sie die Wirkung gewisser Eindr\u00fccke ver\u00e4ndert. Die Gr\u00fcnde k\u00f6nnen auch moralische sein. Eine vor\u00fcbergehende oder dauernde Erhebung kann bewirken, dafs wir die \u00e4ufseren Hindernisse nicht mehr so stark empfinden, dafs wir sie vernachl\u00e4ssigen. Ein gl\u00fccklicher Mensch ist weniger geneigt, seine Gef\u00fchle zu verhehlen. Auch eine einfache Ver\u00e4nderung der Umgebung kann viel dazu tun, den Typus zu variieren, weil die erheuchelte Kaltbl\u00fctigkeit in direkter Abh\u00e4ngigung steht von den Beziehungen des Individuums zu seinem Medium. Innerhalb eines und desselben Mediums wird sich die erheuchelte Kaltbl\u00fctigkeit ver\u00e4ndern in dem Mafse, als der Mensch Erfahrungen sammelt","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nLiteraturbericht,\n\u00fcber die Aufnahme, welche seine Gef\u00fchle bei seiner Umgebung finden. Allm\u00e4hlich wird er auch seine zur\u00fcckgehaltenen Gef\u00fchle zeigen. \u2014\nEs ist Verf. zu danken, dafs er die f\u00fcr Charakterologie so wichtige und in der menschlichen Gesellschaft so weit verbreiteten Tatsache des Heu ehe! ns eingehend psychologisch behandelt hat, w\u00e4hrend bisher vorherrschend die Psychiater sich mit dem Simulieren besch\u00e4ftigt hatten, und zwar namentlich im Dienste der Rechtspflege.\tGiessler (Erfurt).\nJ. Cr\u00e9pieux* Jamin. Handschrift und Charakter. Deutsch nach der vierten franz\u00f6sischen Ausgabe von Hans H. Busse und Hertha Merckle. Mit 232 Handschriftenproben. Leipzig, Paul List, 1902. 558 S. Mk. 8.\u2014.\nW\u00e4hrend in Deutschland die Arbeiten Preyers, Busses und G. Meyers die Graphologie immer mehr auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen, vermag sich die franz\u00f6sische Schule nicht von den Resten einer geistreichelnden Halbwissenschaft zu befreien. So t\u00fcchtiges die Franzosen in der praktischen Analyse einzelner Handschriften leisten, so dilettantenhaft ist doch noch immer die wissenschaftliche Begr\u00fcndung ihrer Systeme. Sie sind gute Praktiker, aber schlechte Theoretiker. Diese Eigenschaften haften auch ihrem hervorragendsten Vertreter, Cr\u00e9pieux - Jamin, an. Er ist seit 15 Jahren unbestritten der F\u00fchrer der franz\u00f6sischen Graphologen. Sein \u201eTrait\u00e9 pratique de Graphologie\u201c erlebte in Frankreich 7, in Deutschland 4 Auflagen und auch dem vorliegenden Werk d\u00fcrfte trotz seiner Schw\u00e4chen ein \u00e4hnlicher Erfolg zu prophezeien sein. Es ist f\u00fcr die Praxis ein vortreffliches Werk; theoretisch ist es vielfach mangelhaft. Das hat auch sein deutscher Herausgeber gef\u00fchlt, der in einem Anh\u00e4nge die schlimmsten Verst\u00f6fse des franz\u00f6sischen Verfassers berichtigt hat.\nWie \u00fcblich beginnt das Buch mit einer historischen Einleitung. Es steckt viel Wissen und viel Fleifs in dieser sorgsamen Sammlung von Zitaten und Hist\u00f6rchen. Dafs dabei Henze zu sehr als Charlatan behandelt wird und die Arbeiten Edgar Poes und Baudelaires \u2014 zweier so feinsinniger Decadenten \u2014 nur fl\u00fcchtig gestreift werden, ist bedauerlich. Im 2. Kapitel \u2014 \u201edie Grundlagen der Graphologie\u201c \u2014 tritt uns bereits der ganze Cr\u00e9pieux-Jamin entgegen : Der geistvolle Plauderer, der in einem Atemzuge pr\u00e4chtige Winke f\u00fcr die Praxis gibt und gleichzeitig mit staunenswerter Ahnungslosigkeit \u00fcber psycho-physiologische Schwierigkeiten hinweggleitet. Dort wo er als praktischer Analytiker auftritt, wie in den Kapiteln 3\u20149, ist er immer interessant und lehrreich. Das Glatteis der Theorie h\u00e4tte er besser gemieden. Seine Resultanten-Theorie ist l\u00e4ngst veraltet, seine Theorie der \u201egraphologischen Zeichen\u201c von Dr. Klage (in den Graphologischen Monatsheften 1900, S. 26) vernichtend kritisiert worden. Recht d\u00fcrftig schaut Kapitel 9 \u201eExperimental-Graphologie\u201c aus. Cr. besch\u00e4ftigt sich darin mit dem Einflufs der Hypnose, der Fremd- und Selbstsuggestion auf die Hand schrift. Grundlegende Arbeiten sind mit Stillschweigen \u00fcbergangen, die neuere Literatur fehlt vollst\u00e4ndig. Der psychische Automatismus und die Pers\u00f6nlichkeitsspaltung sind weder hier noch im Kapitel 17 (Handschriften der Kranken) gen\u00fcgend gewertet. Im \u00fcbrigen m\u00f6chte ich zur Beurteilung dieser Fragen auf den soeben erschienenen Aufsatz von Dr. N\u00e4cke: \u201eDie","page":140}],"identifier":"lit33177","issued":"1903","language":"de","pages":"138-140","startpages":"138","title":"F. Paulhan: La simulation dans le caract\u00e8re. Le faux impassible. Rev. philos. 52 (12), 600-625. 1901","type":"Journal Article","volume":"32"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:08:47.536960+00:00"}