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{"created":"2022-01-31T16:31:59.223586+00:00","id":"lit33209","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ettlinger","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 32: 271-273","fulltext":[{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n271\nist h\u00f6chstens kulturhistorisch interessant als modernes Pendant zur ScHELLiNG-HEGELschen Naturphilosophie, womit wir ihr aber nicht die Vorz\u00fcge der letzteren zusprechen wollen.\tD\u00fcrr (W\u00fcrzburg).\nAlexander Pf\u00e4nder. Ph\u00e4nomenologie des Wollens, eine psychologische Analyse.\nLeipzig, Barth, 1900.1 132 S. Mk. 4.50.\nIm Dezember 1899 von der philosophischen Fakult\u00e4t M\u00fcnchen mit dem Frohschammer-Preis gekr\u00f6nt, bietet die P.sche Schrift eine Musterleistung psychologischer Analyse, welche sich auf die Untersuchung der Bewulstseinstatsachen beschr\u00e4nkt, ohne deren Erkl\u00e4rung zu versuchen oder Konsequenzen weiteren Umfangs zu ziehen. Sie bringt die positive Erg\u00e4nzung zu P.s fr\u00fcherer, wesentlich kritischer Abhandlung \u00fcber \u201edas Bewu\u00dftsein des Wollens\u201c im 17. Band dieser Zeitschrift. Immerhin kann sich auch die vorliegende Untersuchung auf kein rein beschreibendes oder auf weisendes Verfahren beschr\u00e4nken, sondern \u00fcberall gelangt der Verf. zu seinen wertvollen Ergebnissen vermittels einer stetigen Abweisung von mifsverst\u00e4ndlichen und unzureichenden Auffassungen des Tatbestandes. So k\u00f6nnte dieser Schrift als Motto wohl ein Satz aus Lotzes medizinischer Psychologie beigegeben sein, wo es S. 300 heilst. \u201eMan wird nicht verlangen, dafs wir den Akt des Wollens schildern sollen, der so einfach eine Grunderscheinung des geistigen Lebens ist, dafs er nur erlebt, nicht erl\u00e4utert werden kann. Aber unrichtige Deutungen wenigstens m\u00fcssen wir zur\u00fcckweisen\u201c. Von dieser anregenden, aber auch anspannenden Seite der P.sehen Schrift, von ihrer scharfsinnigen durch Lipps geschulten Dialektik, gibt die folgende Inhaltsangabe keinen vollkommenen Begriff.\nDie allgemeinste und grundlegende psychologische Unterscheidung ist f\u00fcr P. diejenige in gegenst\u00e4ndliche Inhalte und Gef\u00fchle. Demgem\u00e4fs findet seine erste skizzenhafte Analyse des bewufsten Strebens auf der einen Seite die Vorstellung eines erstrebten Erlebnisses, z. B. eines Fruchtgeschmacks, auf der anderen Seite ein Gef\u00fchl des \u201eStrebens\u201c, \u201eHindr\u00e4ngens einer \u201einneren Tendenz\u201c als eigenartiger Modifikation des Ichgef\u00fchls. Damit aber unter allen gleichzeitigen Vorstellungen gerade jene bestimmte als die des erstrebten erscheint, mufs sie beachtet sein, in dem \u201eBeachtungsrelief (um P.s gl\u00fccklichen Ausdruck zu gebrauchen) eine bevorzugte Stelle ein-nehmen. Doch ist nicht die gegenw\u00e4rtige, beachtete Vorstellung das eistrebte selbst, sondern \u201egemeint\u201c ist allemal ein durch sie repr\u00e4sentiertes, nicht gegenw\u00e4rtiges Erlebnis. Dieses \u201eMeinen\u201c kommt hier, wie bei der Erinnerung, dergestalt zu st\u00e4nde, dafs an der gegenw\u00e4rtigen Vorstellung nicht ihre spezifischen Vorstellungselemente beachtet werden, sondern, diejenigen ihrer Bestandteile, welche sie mit dem nicht gegenw\u00e4rtigen Erlebnis gemeinsam hat. Was eine solche Symbolvorstellung erst zur Zielvorstellung macht, darf nicht in einer hinzu vorgestellten Lust oder \u201erelativen Lust\u201c gesucht werden. Wohl aber besteht bei ihr ein gegenw\u00e4rtiges, tats\u00e4chliches Erlebnis \u201erelativer Lust\u201c in folgendem Sinn: Wenn wir ein Erlebnis erstreben, sind wir immer auf dem Weg zur gedanklichen Antizipation desselben; eine solche Antizipation w\u00fcrde bei voller Verwirklichung\n1 Dem nunmehrigen Referenten im Oktober 1902 zugegangen.","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nLiteraturbericht.\ndas Streben ebenso aufheben, als die entgegengesetzte, bestimmte Vorstellung der Nichtverwirklichung. \u201eW\u00e4hrend des Strebens\u201c dagegen \u201eist eine Bewegung von der Vorstellung des Nichtseins des erstrebten Erlebnisses zur Antizipation desselben vorhanden. Diese Bewegung bringt notwendig die \u00c4nderung des Gef\u00fchls von geringerer zu gr\u00f6fserer Lust, von Unlust zu geringerer Unlust oder zu Lust, kurz ein Gef\u00fchl \u201erelativer Lust\u201c mit sich.\u201c Doch diese relative Lust ist mit dem eigentlichen Strebungsgef\u00fchl nicht identisch; denn w\u00e4hrend beim Eintritt des erstrebten das Strebungsgef\u00fchl verschwindet, nimmt die Luststeigerung noch zu; aufser-dem f\u00fchlen wir uns gegen\u00fcber dem Passivit\u00e4tscharakter der Lust \u2014 Unlustgef\u00fchle im Strebungsgef\u00fchl in besonderer Weise aktiv, uns bet\u00e4tigend. Also stehen relative Lust- und Strebungsgef\u00fchle als zwei gleichzeitige Modifikationen eines und desselben Ichgef\u00fchls nebeneinander.\nIm gleichen Sinn wie neben der relativen Lust das positive Strebungsgef\u00fchl geht neben relativer Unlust das Gef\u00fchl des Widerstrebens als eigenartige Modifikation einher.\nAuf solche Weise wird im ersten Teil der P.sehen Untersuchung das Bewufstseinserlebnis des Strebens, oder des \u201eWollens im allgemeinen Sinn\u201c bestimmt, wie es bei jedem W\u00fcnschen, Hoffen, Sehnen, Verlangen, F\u00fcrchten, Verabscheuen u. dergl. vorliegt. Demgegen\u00fcber ist das \u201eWollen im engeren Sinn\u201c ein besonderer Fall, und seiner Bestimmung der zweite Teil gewidmet.\nBeine erste Besonderheit ist der Glaube an die M\u00f6glichkeit der Verwirklichung des Erstrebten durch eigenes Tun; hinzutreten mufs eine Ausdehnung des Strebens auf dieses Tun, auf das Wirklichmachen des Erstrebten. Also jedes Wollen ist ein Tunwollen. Damit verbindet sich dann, wie mit jedem Erleben oder Vorstellen eigenen Tuns, ein eigenartiges Gef\u00fchl des Tuns. Mit dem Erstreben des eigenen Tuns wfird f\u00fcr das Wollen im engeren Sinn der Komplex des Beachteten notwendig gr\u00f6fser, als er beim einfachen Streben ist. Aus den Beziehungen, welche hierbei zwischen dem mehrfachen Erstrebten auftreten, gewinnen wichtige Begriffe, wfie: Mittel, Zweck und Motiv ihren eigentlichen Sinn.\nInsbesondere die P.sche Begriffsbestimmung des Motivs bringt Aufkl\u00e4rungen, welche f\u00fcr willenspsychologische und ethische Probleme gleicher-mafsen bedeutungsvoll sind. Danach ist \u201eMotiv\u201c immer die Bezeichnung f\u00fcr ein psychisches Erlebnis; und zwar findet sich dieses nicht bei jedem Streben, sondern nur bei einem abgeleiteten. \u201eMotiv eines Strebens oder Tuns ist das Streben nach dem Endzweck dieses Strebens oder Tuns.\u201c Nur in diesem beschr\u00e4nkten Umfang hat das Fragen nach dem Motiv eines Strebens einen Sinn und kann aus der Bewufstseinsanalyse beantwortet werden. Auf ganz anderem Gebiete aber liegt die h\u00e4ufig damit zusammengeworfene Frage nach den Ursachen eines Strebens.\nNach dieser Digression f\u00e4hrt P. in der Analyse des Wollens im engeren Sinne fort : Es gen\u00fcgt nicht, dafs das Wirklichmachen des Erstrebten erstrebt wird, es mufs im engeren Sinne gewollt sein. Z. B. kann der WUnsch, einem Ertrinkenden zu helfen, durch allerlei Bedenken auf dem Niveau-des: \u201eIch m\u00f6chte\u201c bleiben. Zum Wollen aber ist n\u00f6tig, dafs auch beim Gedanken an die etwa an und f\u00fcr sich widerstrebten Folgen des Erstrebten das positive Streben die Oberhand beh\u00e4lt und ihm damit","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturberich t.\n273\n\u00abin besonderer Charakter wenigstens relativer Freiheit eignet ; der Charakter voller Freiheit stellt sich nur ein, wenn der Gedanke an die Gesamtheit alles dessen, was mit dem Erstrebten zugleich verwirklicht w\u00fcrde, keinen Gegenstand des Widerstrebens in sich schliefst.\nDiese \u00dcberlegungen f\u00fchren den Verf. zu einer zweiten Digression: \u00fcber das Nichtwollen, das hypothetische und disjunktive Wollen ; davon bestimmt sich das erstgenannte ganz analog dem Widerstreben, das zweite als \u00abine Vorstufe des eigentlichen Wollens. Auch das disjunktive Wollen ist kein eigentliches Wollen, wann die Disjunktion zwischen Wollen und Nichtwollen desselben Erlebnisses besteht; meist aber findet sie zwischen mehreren vorgestellten Erlebnissen statt.\nIn diesem Sinn ist ein grofser Teil des menschlichen Wollens disjunktiv, da die meisten unserer Ziele zun\u00e4chst nur allgemein bestimmt sind. Zu dem bereits vorhandenen Wollen eines allgemeinen Ziels tritt dann \u00dcberlegung und Wahl hinzu; und das aus der Wahl resultierende Wollen, der Willensentscheid ist nur eine Konkretisierung des bereits schon vorhandenen allgemeinen Wollens. Gegen\u00fcber der vielverbreiteten Ansicht, dafs kein Wollen ohne vorhergehende Wahl und \u00dcberlegung m\u00f6glich sei, behauptet also P. gerade das umgekehrte Verh\u00e4ltnis. Das eigent\u00fcmliche der dabei auftretenden praktischen \u00dcberlegung im Gegensatz zu aller theoretischen besteht \u201ein der eigenm\u00e4chtigen Setzung eines zuk\u00fcnftigen Erlebnisses\u201c, welche entsteht, wenn zwei einander ausschliefsende Gegenst\u00e4nde des positiven Wollens vorliegen. Der Willensentscheid ist aber nicht der Sieg einer der widerstreitenden Strebungen, \u201enicht ein dem Ich einfach geschehendes Bewufstseinserlebnis, dem das Ich unt\u00e4tig zuschaute, sondern ein Geschehen, an dem sich das Ich beteiligt und mitbestimmend f\u00fchlt\u201c. Das Ich stellt sich auf die eine Seite, macht das eine Streben zu dem Seinen. Dieser Unterschied von einem \u201eStreben in mir\u201c und \u201emeinem Streben\u201c, des letzteren Charakter der \u201eSpontaneit\u00e4t\u201c, im Gegensatz zu dem der \u201eUnfreiwilligkeit\u201c bildet die letzte notwendige Bestimmung des Wollens im engeren Sinn. \u2014\nVon den mancherlei allgemeinen und einzelnen Bedenken, welche dem Referenten gegen\u00fcber P.s Darlegungen geblieben sind, sei hier nur das haupts\u00e4chlichste erw\u00e4hnt. P. scheint die Eigenart der spezifisch intellektuellen Bewufstseinselemente, insbesondere der Begriffe nicht hinreichend zu w\u00fcrdigen ; jedenfalls kommt es nicht deutlich genug zum Ausdruck, welche wichtige Rolle gerade diese Elemente auch schon beim einfachen Streben spielen. So d\u00fcrfte dem (zudem stiefm\u00fctterlich behandelten) \u201eGlauben an die M\u00f6glichkeit der Verwirklichung des Erstrebten durch eigenes Tun\u201c, wie er f\u00fcr das Wollen im engeren Sinne gefordert wird, beim Wollen im allgemeinen Sinn ein Glaube an die M\u00f6glichkeit des Eintritts des Erstrebten \u00fcberhaupt entsprechen; welcher sich bei W\u00fcnschen bez\u00fcglich des Vergangenen in dem Gedanken: \u201ees h\u00e4tte auch so kommen k\u00f6nnen\u201c manifestiert.\nIn jedem Fall gibt die P.sche Schrift neben ihren Aufkl\u00e4rungen eine F\u00fclle von Anregungen zum Weiterdenken und zum Widerspruch. Darum gilt von ihr f\u00fcr Psychologen und Ethiker ein nachdr\u00fcckliches: \u201eTolle, lege!\u201c\nEttlinger (M\u00fcnchen).\n18\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 32.","page":273}],"identifier":"lit33209","issued":"1903","language":"de","pages":"271-273","startpages":"271","title":"Alexander Pf\u00e4nder: Ph\u00e4nomenologie des Wollens, eine psychologische Analyse. 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