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{"created":"2022-01-31T14:42:37.877005+00:00","id":"lit33320","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Pelman","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 31: 158-160","fulltext":[{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nLiteraturberich t.\nder Kultur und der Unkultur, der Keligion und der Afterreligion, die uns jetzt am Herzen liegen, unter den ethischen Gesichtspunkt zu stellen.\nMan hat die Ethik der \u201eEthischen Grundfragen\u201c radikal, unpraktisch, individualistisch und unhistorisch genannt. Dies alles nehme ich, so wie es dem Inhalte des Buches zufolge einzig gemeint sein kann, als Anerkennung. Die Ethik ist notwendig radikal, d. h. sie geht \u00fcberall auf die Wurzel. Sie ist im \u00fcbrigen so radikal, wie es das ethische Prinzip, d. h. das Prinzip der absoluten sittlichen Autonomie seiner Natur nach ist. Und die Ethik ist notwendig unpraktisch in dem Sinne, dafs sie niemals \u201epraktische\u201c Kompromisse schliefst, und nirgends die Frage stellt, wie ich am bequemsten und unangefochtensten zwischen der sittlichen Forderung, und dem, was die Macht hat und Geltung beansprucht, mich durchwinden kann. Sie ist individualistisch, sofern sie sieht, dafs das Sittliche immer nur im Individuum wirklich sein kann, also vom sittlichen Gesichtspunkt alles auf das Individuum zielt. Sie erkennt doch zugleich, dafs das Individuum nur durch das Ganze werden kann, was es werden soll, und dafs das Individuum die Pflicht hat, an seiner Stelle ins Ganze sich einzugliedern. Die Ethik ist endlich \u2014 nicht un historisch, sondern historisch, sofern sie das Prinzip der stetigen historischen Entwicklung und die Verpflichtung seiner praktischen Anerkennung festh\u00e4lt. Sie ist doch zugleich schlechterdings unhistorisch, in dem Sinn, dafs sie nichts gut nennt, lediglich darum, weil es historisch geworden ist und historisch \u201ezurecht besteht\u201c ; da sie sieht, dafs das Schlechteste und Gemeinste, das besteht, genau ebensowohl historisch geworden ist, wie das Edelste und Erhabenste.\nIch f\u00fcge noch die Kapitel\u00fcberschriften hinzu. Sie lauten: Einleitung. Egoismus und Altruismus; Die sittlichen Grundmotive und das B\u00f6se; Handlung und Gesinnung (Eud\u00e4monismus und Utilitarismus); Gehorsam und sittliche Freiheit (Autonomie und Heteronomie) ; Das sittlich Eich tige ; Die obersten sittlichen Normen und das Gewissen; Das System der Zwecke; Soziale Organismen (Familie und Staat); Die Freiheit des Willens (Determinismus und Indeterminismus) ; Zurechnung, Verantwortlichkeit, Strafe.\n(Selbstanzeige.)\nC. Lombroso. Die Ursachen und Bek\u00e4mpfung des Verbrechens. \u00dcbersetzt von Dr. H. Kur eil a u. Dr. E. Je nt sch. Berlin. H. Berm\u00fchler. 1902. 403 S. M. 10.\u2014.\nKurella, der \u00dcbersetzer und unerm\u00fcdliche Vork\u00e4mpfer Lombroso\u2019s, glaubt von diesem Werke, dafs es das gr\u00f6fste Hindernifs entfernen werde, das einer W\u00fcrdigung der LoMBROSo\u2019schen Ideen bei uns bisher entgegengestanden h\u00e4tte, das Vorurteil n\u00e4mlich, dafs er und seine Schule den Verbrecher als einen Geisteskranken aus einem Objekte der Kriminalpolitik zu einem Objekte der Krankenpflege machen wolle. Ob dies wirklich ein Vorurteil war, m\u00f6chte ich dahin gestellt sein lassen.\nTats\u00e4chlich ist Lombroso mit neuen und sehr revolution\u00e4ren Ideen in die alte Strafrechtspflege hineingefahren, und er hat, wie alles Neue, anf\u00e4nglich den heftigsten Widerstand gefunden. Allm\u00e4hlich aber hat die Bewegung, die seinen Namen tr\u00e4gt, immer weitere Kreise ergriffen, so dafs sich eigentlich niemand ihr ganz entziehen kann. Dafs er dabei im Eifer","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Li ter a turberich t.\n159\ndee Streites hin und wieder \u00fcber das Ziel hinausschofs, war sein Recht, und er hat davon den ausgiebigsten Gebrauch gemacht. Ebenso selbstverst\u00e4ndlich war es, wenn seine Gegner ihm nach M\u00f6glichkeit am Zeuge flickten und aus seinen Schw\u00e4chen Nutzen zu ziehen suchten. Dafs er ihnen dieses letztere oft recht leicht gemacht hat, wird selbst Kurella nicht in Abrede stellen k\u00f6nnen. Seine Schw\u00e4chen sind bekannt, und wenn er auch im Verlaufe des Streites mit seinen Zielen gewachsen, wenn er ruhiger und ausgereifter geworden, ganz verleugnen und zu einem anderen machen kann er sich nicht, und ich bin der Ansicht, dafs auch das vorliegende Buch darin keinen grofsen Unterschied bedeute, und dafs es in seinen Vorz\u00fcgen und M\u00e4ngeln ein echter Lombroso sei.\nNoch einmal tr\u00e4gt der alte Titane mit Riesenfleifs die Tatsachen zusammen, deren Sammlung die Aufgabe seines Lebens ausgemacht hat, und mit gewohnter Meisterschaft sucht er sie in seinem Sinne zu verwerten. Nur schade, dafs mit dieser \u00dcberlegenheit der Kenntnisse und seiner souver\u00e4nen Beherrschung des Stoffes Kritik und Urteil nicht \u00fcberall gleichen Schritt halten, und das s\u00fcdliche Temperament oft genug mit ihm durchgeht.\nWir stofsen daher auch hier wieder auf Ansichten und Schl\u00fcsse, denen zuzustimmen uns nicht leicht wird. Wenn er z. B. von einer ungeheuer grofsen Kriminalit\u00e4t bei dem Milit\u00e4r und von einer den Soldaten eigenen Grausamkeit redet, und zum Beweise daf\u00fcr je einen Fall aus Coblenz und aus Berlin anf\u00fchrt, so beweisen diese und andere Angaben im Grunde nur, wie schwer es ist, ohne genauere Kenntnis der Tatsachen \u00fcberhaupt einen Schlufs aus ihnen zu ziehen. Bei der Betrachtung des Einflusses, den die Religion in der \u00c4tiologie des Verbrechens aus\u00fcbt, w\u00e4re zun\u00e4chst festzustellen, was man unter Religion zu verstehen und wen man als religi\u00f6s zu bezeichnen hat. Den Neapolitaner doch sicherlich nicht, der seinen Heiligen um Beistand bei Mord und Raub anfleht und ihn z\u00fcchtigt, wenn er ihm nicht geholfen hat. Wir verbinden wenigstens mit der Religion einen anderen Begriff.\nVon diesen und einigen anderen Bedenken abgesehen werden wir uns in vielen Punkten mit ihm im Einverst\u00e4ndnisse befinden und seinen Ausf\u00fchrungen gerne folgen.\nDafs eine Heilung des Verbrechers nur nach Erforschung der Ursachen m\u00f6glich sei, die zum Verbrechen f\u00fchren, dies immer wieder und wieder betont zu haben, ist sein Verdienst, und ebenso, dafs er ein unendliches Material zusammengetragen hat, um uns die Wege zur Heilung zug\u00e4nglich zu machen. Lombroso teilt seinen gewaltigen Stoff in drei Teile, \u00c4tiologie des Verbrechens, Vorbeugung und Heilung des Verbrechens, und Zusammenfassung und Anwendung auf den Strafvollzug.\nIn der Behandlung der Ursachen begegnen wir vielfach altbekannten und in seinen fr\u00fcheren Werken behandelten Dingen, und die einzelnen Abschnitte gestalten sich zu einer wahren Fundgrube von statistischen und sonstigen Angaben. Ebenso umfassend und eingehend sind seine Vorschl\u00e4ge zur Vorbeugung und Heilung, und wenn seine radikalen Ansichten hin und wieder gar zu grell in die Erscheinung treten, als dafs","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nLiteraturbericht.\nsie auf allgemeine Zustimmung zu rechnen h\u00e4tten, geistreich sind sie durchweg und ab und zu auch praktisch.\nIch verzichte bei der Reichhaltigkeit des Inhaltes auf einen Auszug, der kaum mehr Wert als der eines Inhaltsverzeichnisses haben w\u00fcrde.\nWer sich f\u00fcr die Sache interessiert, wird es nicht bereuen, wenn er das Buch selber in die Hand nimmt. Nur kurz m\u00f6chte ich auf das letzte Kapitel hinweisen, das den etwas sonderbaren Titel tr\u00e4gt, \u201eDie Utilisierung des Verbrechens. Symbiose\u201c. Lombroso m\u00f6chte dem Verbrechen, wenn auch keine soziale Aufgabe, so doch einen sozialen Nutzwert zuschreiben.\nWie der Krieg zu der Befreiung eines Volkes, die Prostitution zu einer Herabminderung der Unzuchtsdelikte beitragen kann, und wie aus dem Wucher die Bourgoisie und die ersten Kapitalsanh\u00e4ufungen entstanden, \u2022die ihrerseits zu den humanit\u00e4rsten Werken Veranlassung gaben, so glaubt er den Verbrecher verm\u00f6ge seines Dranges nach Neuem im allgemeinen Nutzen verwenden zu k\u00f6nnen.\nDie Kriminellen spielen eine solche Rolle im parlamentarischen Leben, dafs sie zu verjagen ohne grofse Sch\u00e4den unm\u00f6glich sei, und dieser Hang zu Neuerungen, den sie beim Verbrechen bet\u00e4tigen, ist manchmal der Ausgangspunkt zu neuen Errungenschaften, wie z. B. der Bau des Suez- oder Panamakanales. Er denkt daher an eine k\u00fcnftig m\u00f6gliche medizinische Behandlung perverser Triebe, ferner an die M\u00f6glichkeit, solchen Trieben durch die Zuweisung an einen bestimmten Beruf einen Ausweg zu er\u00f6ffnen, so etwa, dafs blutd\u00fcrstige Menschen Chirurgen werden, andere Perversit\u00e4ten sich beim Milit\u00e4r, bei der Polizei, im Journalismus harmlos bet\u00e4tigen k\u00f6nnen. (S. 399.) Deswegen sollte der Staat diese Energie, anstatt sie gewaltsam zu unterdr\u00fccken, einzud\u00e4mmen und nach den grofsen altruistischen Werken hin abzuleiten suchen. Ein grofses Volk sollte dahin streben, jene Kr\u00e4fte, die sich selber \u00fcberlassen gef\u00e4hrlich werden, f\u00fcr seine Zwecke nutzbar zu machen, dafs man sie f\u00fcr das Gute verwenden und die apathischen Massen durch ihre \u00fcbersch\u00fcssige Energie in Bewegung bringen k\u00f6nne. Lombroso schliefst sein Buch mit dem bekannten Satze: Alles verstehen heifst alles vergeben. Niemand weifs besser als er, dafs dies nur f\u00fcr das ethische Gebiet gilt, und eine \u00dcbertragung auf das strafrechtliche kaum im Interesse der Allgemeinheit gelegen sei. Aber weil er mehr als jeder andere dreist von sich sagen kann, dafs er alles verstehe, so folgen wir seinen Ausf\u00fchrungen gerne und k\u00f6nnen ihnen selbst da unsere Bewunderung nicht versagen, wo wir ihm unsere Zustimmung versagen m\u00fcssen.\tPelman.","page":160}],"identifier":"lit33320","issued":"1903","language":"de","pages":"158-160","startpages":"158","title":"C. Lombroso: Die Ursachen und Bek\u00e4mpfung des Verbrechens. \u00dcbersetzt von Dr. H. Kurella u. Dr. E. Jentsch. Berlin. H. Berm\u00fchler. 1902. 403 S.","type":"Journal Article","volume":"31"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:42:37.877011+00:00"}