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{"created":"2022-01-31T16:31:12.339211+00:00","id":"lit33321","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"D\u00fcrr","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 31: 220-225","fulltext":[{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nLiteratnrbericht.\nGuido Villa. Einleitung in die Psychologie der Gegenwart. Nach einer Neubearbeitung der urspr\u00fcnglichen Ausgabe aus dem Italienischen \u00fcbersetzt von Che. D. Pflaum. Leipzig, Teubner, 1902. 484 S. 10 Mk.\nAn dem Buch in der vorliegenden Form mufs man, abgesehen von dem historischen Teil, fast alles beanstanden. Es will, wie der Verf. im Vorwort ausf\u00fchrt, aufser der historischen eine kritische Einleitung in die Psychologie der Gegenwart geben, indem es die wahrscheinlichen L\u00f6sungen der Grundprobleme an der Hand ihrer bisherigen Entwicklung aufzuzeigen sucht. Aber es gibt tats\u00e4chlich nichts als eine kritiklose Reproduktion h\u00e4ufig mifsverstandener Lehren Wundts samt einer wenig gl\u00fccklichen Wiedergabe der Kritik, welche Wundt selbst den von seinen Anschauungen abweichenden Theorien des Intellektualismus, des psychophysischen Materialismus, cfer Psychologie des inneren Sinnes u. s. w. hat zu teil werden lassen. Um zu zeigen, in welche Wirrnis von Unklarheiten diese im Ton einer souver\u00e4nen Beherrschung des Stoffes gehaltene Einleitung zu f\u00fchren vermag, sei mir gestattet, auf die Behandlung der prinzipiellsten Fragen etwas n\u00e4her einzugehen.\nDa wfird zun\u00e4chst bei der Abgrenzung des Gegenstandes der Psychologie gegen\u00fcber dem Objekt der Naturwissenschaft der \u201eDualismus zwischen dem inneren und dem \u00e4ufseren Sinn\u201c als gr\u00f6fstes Hindernis einer wahrhaft wissenschaftlichen Forschung verworfen und seine \u00dcberwindung als gl\u00e4nzende Tat der wissenschaftlichen Psychologie gefeiert. Diese \u00dcberwindung aber soll darin bestehen, dafs der Gegenstand des Wissens als ein einheitlicher erkannt worden sei, der in der Naturwissenschaft unter Abstraktion von allem Subjektiven, in der Psychologie dagegen so, wie er sich unmittelbar uns darbiete, behandelt werde. Und jenes Subjektive, von dem die Naturwissenschaft zu abstrahieren habe, wird bald als Gef\u00fchlsund Willensseite des Seelenlebens, bald so gefafst, dafs auch die Sinnesqualit\u00e4ten dazu geh\u00f6ren. In harmloser Eintracht finden sich daher nebeneinander \u00c4ufserungen, in denen der Gegenstand der Naturwissenschaft erscheint bald als \u201eSystem von Vorstellungen, geregelt nach mechanischen Gesetzen\u201c (S. 101), bald als etwas, was nicht Vorstellung ist, ein \u201eSubstrat, welches wir zu denken verm\u00f6gen, wenn wir von den Merkmalen, unter denen die Objekte unserem Bewufstsein erscheinen, abstrahieren\u201c (S. 89). Derartige Ausf\u00fchrungen gipfeln schliefslich in folgendem Satz: \u201eDa die Vorstellungen, f\u00fcr sich allein betrachtet, nach Abstraktion nicht nur von","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n221\nden Gef\u00fchlen und den Strebungen, welche sie begleiten, sondern auch von den Erinnerungsvorg\u00e4ngen, die mit ihnen verschmelzen k\u00f6nnen, kurz in der Art, in der die Naturwissenschaften sie erforschen, verh\u00e4ltnism\u00e4fsig feststehende und stets zur Verf\u00fcgung des Beobachters bleibende Objekte sind; und da ja auch die Ver\u00e4nderlichkeit sich nur bei einer unmittelbaren d. h. psychologischen Betrachtung dieser Vorstellungen beobachten l\u00e4fst, mufs man mit Notwendigkeit schliefsen, dafs .das, was ihnen diese Ver\u00e4nderlichkeit, diesen Mangel einer festen und beharrenden Form gew\u00e4hrt, die subjektiven Elemente des Bewufstseins, die Gef\u00fchle, Strebungen, Erinnerungen sind, welche s\u00e4mtlich ihren typischsten Ausdruck in den Willensvorg\u00e4ngen finden\u201c (S. 92). Die absolute Unm\u00f6glichkeit, die in diesem Satz ausgedr\u00fcckten Gedanken, wenn man \u00fcberhaupt von solchen sprechen darf, in anderer Form wiederzugeben, macht eine Kritik derselben sehr schwer, aber auch beinahe unn\u00f6tig. Als Hauptargument gegen die Auffassung Villas, soweit wir sie aus solchen dunklen Wendungen zu verstehen glauben, mufs man anf\u00fchren, dafs nicht nur die Naturwissenschaft von gewissen Z\u00fcgen des Gegenstandes der Psychologie abstrahiert, sondern dafs ebensowohl die Psychologie gewisse Merkmale der Naturobjekte unber\u00fccksichtigt l\u00e4fst. Was das Merkmal der Unabh\u00e4ngigkeit vom Bewufstsein, der selbst\u00e4ndigen Existenz eigentlich sei, welches den Naturobjekten im Gegensatz zu den Gegenst\u00e4nden der Psychologie zukommt, das braucht man noch gar nicht entschieden zu haben und man kann doch einsehen, dafs ein solches Merkmal bei der naturwissenschaftlichen Forschung mitgedacht wird, w\u00e4hrend die Psychologie davon abstrahiert. Und daraus, dafs dieses Merkmal gedacht wird, folgt auch noch keineswegs, dafs es ein Gedanke, ein Bewufstseinsinhalt sei. Wenn es eine Tatsache ist, dafs in der unmittelbaren Wahrnehmung urspr\u00fcnglich die Vorstellung nicht gesondert vom Objekt gegeben ist, so ist es doch ebenso gut eine Tatsache, dafs die Unterscheidung zwischen Objekt und Vorstellung sp\u00e4ter eintritt, und es ist falsch, aus jener Tatsache zu schliefsen, dafs die Objekte eigentlich Vorstellungen seien, wenn diese beweist, dafs mit der Bildung des Begriffes \u201eVorstellung\u201c der von ihr unterschiedene Begriff des \u201eObjektes\u201c, auf das sie sich bezieht, gebildet wird. Und wenn es nicht gelingt, den Gegenstand einer Vorstellung als Bewufstseinsinhalt darzustellen, so folgt daraus nicht, dafs die Beziehung der Vorstellung auf einen solchen nicht weiter zu beschreibenden Gegenstand nichts Wirkliches, d. h. nichts von der Auffassung der Vorstellung als Vorstellung Verschiedenes w\u00e4re. Diese Verschiedenheit des Erlebnisses bei der Beziehung unserer Vorstellungen und Gedanken auf Gegenst\u00e4nde und bei der Auffassung unserer Bewufstseinsinhalte als solcher ist, auch wenn sie ebensowenig beschrieben werden kann wie die Verschiedenheit zwischen Bot und Blau, eine Tatsache, welche in der alten Gegen\u00fcberstellung \u00e4ufserer und innerer Beobachtung immer noch richtiger zum Ausdruck kommt als in Villas Behauptung, wonach wir uns immer nur Vorstellungen mit oder ohne Begleitung subjektiver Erscheinungen gegen\u00fcber finden.\nDieselbe Unklarheit wie bez\u00fcglich des Gegenstandes der Psychologie und Naturwissenschaft zeigt Villas Einleitung bez\u00fcglich der Unterscheidung physischer und psychischer Kausalit\u00e4t. Da heifst es bald, dafs die physische","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nLiteraturbericht.\nKausalit\u00e4t und die psychische Kausalit\u00e4t in Wirklichkeit nicht zwei getrennte Reihen bilden, weil die Vorstellungen, welche wir unter einander gem\u00e4fs den Beziehungen der mechanischen Kausalit\u00e4t verbunden denken, ein Teil des allgemeinen Bewufstseinsinhaltes sind und wTeil dieser allgemeine Inhalt sich darstellt als eine Reihe von untereinander nach der psychischen Kausalit\u00e4t verbundenen Prozessen (S. 139), und dann erfahren wir wieder, dafs dieser monistische Gesichtspunkt erst den Abschlufs der Forschung bilden d\u00fcrfe, dafs das in der Erfahrung gegebene Tats\u00e4chliche in Wirklichkeit einerseits eine Reihe physischer Tatsachen biete, welche von den anorganischen Erscheinungen nach und nach bis zu den kompliziertesten biologischen Erscheinungen, welche mit den Bewufstseinstat-sachen in direkter Verbindung stehen, aufsteigen, andererseits eine Reihe psychischer Tatsachen, welche von den elementarsten Formen der Empfindung, die fast physiologischen Charakter haben, bis zu den verwickeltsten und h\u00f6chsten Prozessen des logischen Denkens und der Sch\u00f6pfungen der Phantasie sich erstrecken (S. 139). Wenn man sich nicht gerade zur Hegel-schen Philosophie bekennt, so ist es nicht ganz leicht, zu sehen, wie die physische Kausalreihe sich am Schlufs der Forschung als Spezialfall der psychischen Kausalit\u00e4t entpuppen soll. Am Anfang der Forschung, solange man sich noch nicht klar gemacht hat, dafs nicht jede Beziehung zwischen psychischen Inhalten als psychische Kausalit\u00e4t zu bezeichnen ist, w\u00e4re dies schon eher m\u00f6glich. Denn als eine Beziehung zwischen Vorstellungen erscheint die physische Kausalit\u00e4t wenigstens in dem Vorstellungssystem der Wissenschaft. Aber diese Beziehung zwischen Vorstellungen, die gegeben ist, wenn wir sagen, eine Erscheinung A sei die Ursache einer Erscheinung B, abgesehen davon, dafs sie mit dem wirklichen Verh\u00e4ltnis, welches sie ausdr\u00fcckt, nicht identifiziert werden darf, ist ebensowTenig regelm\u00e4fsige Folge : A\u2014B, wie die Erkenntnis, die Winkelsumme im Dreieck sei gleich 7r, beim Anblick eines Dreiecks in uns auftaucht. \u00dcbrigens betont unser Autor weiterhin ziemlich unbek\u00fcmmert um die seiner Meinung nach eigentlich vorhandene Identit\u00e4t physischer und psychischer Kausalit\u00e4t vor allem die Unterschiede zwischen den beiden Arten kausaler Verkn\u00fcpfung. Indem er diese Unterschiede an dem Gegensatz der chemischen und der psychischen Synthese uns m\u00f6glichst deutlich zpm Bewufstsein bringen will, gelangt er zu dem \u00fcberraschenden Resultat, dafs die Gesamtwirkung der chemischen Synthese der Summe der Eigenschaften der einzelnen Elemente gleich wird, ebenso wie die Posten einer Summe verh\u00e4ltnism\u00e4fsig unabh\u00e4ngig von einander bestehen bleiben (S. 420). Dagegen entstehe bei der psychischen Synthese etwas Neues, von den Komponenten und der Summe der Komponenten Verschiedenes, die psychische Synthese sei \u201esch\u00f6pferisch\u201c (S. 423). Der richtige Gedanke, dafs die psychischen Gebilde durch die Aufz\u00e4hlung ihrer Elemente nicht erkl\u00e4rt sind, sondern dafs die Anordnung dieser Elemente, die Gef\u00fchlswirkung ihrer Verbindung, kurz der Gesamteindruck Tatsachen enth\u00e4lt, die ebenso blofs zu konstatieren sind wie das Vorhandensein der Elemente, dieser richtige Gedanke erleidet durch die unberechtigte Annahme, als ob die Elemente des Seelenlebens die einzigen psychischen Ursachen seien, die nun eine F\u00fclle h\u00f6chst wunderbarer Wirkungen ersch\u00fcfen, und durch eine merk-","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Litera turberi cfit.\n223\nw\u00fcrdige Auffassung von der chemischen Synthese die mitgetheilte h\u00f6chst originelle Verzerrung.\nVon dem Begriff der sch\u00f6pferischen Synthese wird nun weiterhin ein Gebrauch gemacht, der allem wissenschaftlichen Denken zuwider ist. Sie soll eine Art von Willensfreiheit retten, indem sie es unm\u00f6glich macht, zuk\u00fcnftige Wirkungen im psychischen Leben vorauszusagen (S. 454). Ja, unser Autor will \u201edie innerste Natur der Bewufstseinsvorg\u00e4nge gen\u00fcgend enth\u00fcllt\u201c wissen, \u201eum behaupten zu k\u00f6nnen, dafs bei ihnen eine Wirkung nicht aus ihren Ursachen bestimmt werden kann\u201c (S. 454). Angesichts solcher Behauptungen sehen wir zwar nicht ein, was es noch f\u00fcr einen Sinn haben soll, von psychischer Kausalit\u00e4t zu sprechen, aber wir wissen es zu w\u00fcrdigen, wenn Villa uns versichert, dafs die psychische Kausalit\u00e4t nicht eine Form der mechanischen Kausalit\u00e4t ist, wie diejenige, welche die physischen Erscheinungen regiert, sondern ein System von Zweckursachen. \u201eWo Zweck ist, da ist Wille, ist Bewufstsein und mithin Freiheit\u201c (S. 456).\nBei solcher Unklarheit \u00fcber das Wesen psychischer und physischer Kausalit\u00e4t kann nat\u00fcrlich auch die Frage derjenigen Beziehung beider Kausalreihen, die als \u201eVerh\u00e4ltnis von Leib und Seele\u201c schon manchen Denker besch\u00e4ftigt hat, nur eine wenig lichtvolle Behandlung finden. Die Behauptung Villas, dafs die spiritualistische, von ihm selbst als monistisch charakterisierte Hypothese bezw. jenes Verh\u00e4ltnisses einen \u00dcbergang von der psychischen Kausalreihe in die physische und umgekehrt zulasse (S. 142), ist geradezu unverst\u00e4ndlich. Auf Grund solcher Annahmen die spiritualistische Hypothese zu widerlegen, ist freilich nicht schwer. Ebenso leicht macht sich unser Autor die Widerlegung des \u201epsychophysischen Materialismus\u201c. Er f\u00fchrt den mechanischen Materialismus mit dem traditionellen R\u00fcstzeug ohne M\u00fche ad absurdum und behauptet zum Schlufs, dafs man \u201edie gleichen Einw\u00e4nde den j\u00fcngsten Vertretern des sogenannten psychophysischen Materialismus machen m\u00fcsse\u201c.1 Als ob man eine Theorie, welche annimmt, dafs die Disposition zu psychischen Prozessen zum Wesen der Materie geh\u00f6re und bei bestimmter Konstellation der Elemente in Be-wufstseinserscheinungen sich \u00e4ufsere, dadurch widerlegen k\u00f6nnte, dafs man auf die Heterogeneit\u00e4t von Bewegung und Bewufstsein hinweist! Aber Villa h\u00e4lt es \u00fcberhaupt nicht f\u00fcr der M\u00fche wert, anzugeben, wodurch denn der psychophysische Materialismus vom psychophysischen Parallelismus sich unterscheidet, obwohl diese Unterscheidung gar nicht so leicht und selbstverst\u00e4ndlich ist. Innerhalb der Lehre vom psychophysischen Parallelismus dagegen unterscheidet er eine Anzahl von Modifikationen nach den Namen der Autoren, welche dieselben vertreten haben, aber ohne jedes Verst\u00e4ndnis f\u00fcr das Wesen der Sache. So stellt er die Lehre Wundts dem spinozistischen Parallelismus einfach als eine gem\u00e4fsigtere Theorie gegen\u00fcber, findet einen \u201eBeweis, dafs kein absoluter Parallelismus zwischen der psychischen und der physischen Tatsachengattung vorhanden ist, darin, dafs wreder das Gef\u00fchl noch der Wille Entsprechendes in den \u00e4ufseren Tat-\n1 Diese Bemerkung findet sich in der italienischen Ausgabe nicht. Es bleibt deshalb zweifelhaft, ob der daran gekn\u00fcpfte Vorwurf sich gegen Villa oder gegen den \u00dcbersetzer zu wendeu hat.","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nLiteratur bericht.\nSachen finden, weil die \u00e4ufseren Offenbarungen der Affekte und der Willens-Prozesse doch immer blofs physische Tatsachen sind (S. 155). Damit zeigt er deutlich, dafs ihm der Unterschied des erkenntnistheoretischen Parallelismus, wie er im naiven Eealismus vorliegt, und des metaphysischen Parallelismus, welcher eine Theorie des Verh\u00e4ltnisses von Leib und Seele enth\u00e4lt, noch nicht klar geworden ist. So kann er nebeneinander als Beweise gegen die absolute Geltung des psychophysischen Parallelismus aufser dem obengenannten die Tatsache anf\u00fchren, dafs nicht allen Gehirnvorg\u00e4ngen Bewufstseinstatsachen entsprechen, und die ganz heterogene Tatsache, dafs das Denken in der Verkn\u00fcpfung seiner Inhalte sehr viel freier ist als die mechanische Verbindung dessen, was real heifst (S. 155). In den gr\u00fcndlichsten Widerspruch verwickelt sich schliefslich Villas Auffassung vom psychophysischen Parallelismus mit der Behauptung, dafs die \u00c4nderungen, welche die mit Bewufstsein begabten Wesen in ihrer Umgebung hervorbringen, die physischen Erscheinungen von dem ihnen eigent\u00fcmlichen Kausalverlauf nicht abbringen (S. 141) und mit dem anderen Satz, wonach der innere, spontane Wille sich in der dem Organ anhaftenden Funktion \u00e4ufsere und demnach die organische Zweckm\u00e4fsigkeit erkl\u00e4re (S. 134). Ganz abgesehen davon, dafs das Organ da sein mufs, um funktionieren zu k\u00f6nnen, und dafs es keineswegs klar ist, woher einem Organismus die zum Wollen unentbehrliche Vorstellung fehlender Funktionen kommen soll; unter allen Umst\u00e4nden steht das eine fest, dafs der Wille, selbst wenn sein Auftreten keiner Erkl\u00e4rung bed\u00fcrftig w\u00e4re, die organische Zweckm\u00e4fsigkeit nur erkl\u00e4ren k\u00f6nnte, wenn er Ver\u00e4nderungen in der physischen Kausalreihe hervorriefe, die in derselben noch nicht zureichend begr\u00fcndet sind, d. h. wenn ein psychisches Geschehen wenigstens Teilursache eines physikalischen werden k\u00f6nnte. Es braucht also keineswegs, solange es noch Auffassungen wie die unseres Autors gibt, \u201ebefremdlich\u201c zu \u201eerscheinen, dafs in unserer Zeit, in welcher das Prinzip der mechanischen Kausalit\u00e4t und der Erhaltung des Stoffs und der Energie alle naturwissenschaftlichen Untersuchungen beherrscht, eine Theorie wie die von Descartes noch immer Verteidiger findet\u201c (S. 137).\nAber die prinzipielle Unklarheit der in Rede stehenden Ausf\u00fchrungen erstreckt sich nicht blofs auf die Grenzfragen der Psychologie, sie steigert sich fast noch, wenn wir den zentralsten Gebieten psychologischer Forschung uns n\u00e4hern. Die Willenslehre Wundts, wonach nicht die Reflexbewegung sondern die Triebhandlung den Ausgangspunkt der Entwicklung bildet, versteht unser A.utor so, als ob damit die Wahlhandlung als die erste Lebens-\u00e4ufserung primitivster Organismen hingestellt w\u00fcrde (S. 249 u. 254). Und an dieser Auffassung nimmt er keinen Anstofs. Er versichert uns dann weiterhin, ohne eine Ahnung davon zu verraten, dafs Wundt in seinen neuesten Ver\u00f6ffentlichungen den Willen als Gef\u00fchls verlauf auffafst, mit der Siegesgewifsheit des Rechtgl\u00e4ubigen, Wundt lehre, dafs die psychische Synthese, die das Wesen unseres Bewufstseins ausmache, \u201esich nicht vollziehen lasse, wenn unser Bewufstsein nur zusammengesetzt w\u00e4re aus Vorstellungen und Gef\u00fchlen, weil es unter solchen Umst\u00e4nden ganz und gar passiv w\u00e4re und keine eigene Aktivit\u00e4t bes\u00e4fse\u201c (S. 252). Und geradezu komisch mufs es ber\u00fchren, wenn wir mit unserem Autor zuerst einen","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Li ter a turberich t\n225\ngl\u00e4nzenden Triumph liber die alte Verm\u00f6genspsychologie feiern, um dann in der Theorie der Vorstellungsbildung zu h\u00f6ren, die Auswahl, durch welche aus der Mannigfaltigkeit der Sinneseindr\u00fccke unsere einheitlichen Vorstellungen entstehen, werde \u201egemacht eben vom \u201eWillen\u201c\u201c, oder die Vorstellungen im Blickpunkt des Bewufstseins seien hervorgehoben vermittelst \u201eeiner besonderen Kraft des Willens, genannt \u201eAufmerksamkeit\u201c\u201c (S. 253). Dazu nehme man noch folgende S\u00e4tze: \u201ejeder Verlauf der Vorstellungen ist eine Reihe von Willensakten\u201c (S. 255), \u201eder Wille ist nicht eine einfache Vorstellung, auch nicht ein umgebildetes Gef\u00fchl, sondern ein spontaner Antrieb, eine Tatsache sui generis, wrelche sich mit keiner jener beiden seelischen T\u00e4tigkeiten vergleichen l\u00e4fst\u201c (S. 256). \u201eDer Wille w\u00e4re mithin, eigentlich genommen, kein seelisches Element; allein er ist etwas mehr, er ist n\u00e4mlich der erste Antrieb, welcher die gesamte Entstehung der hewufsten T\u00e4tigkeiten anregt\u201c (S. 266). \u201eDas gesamte Seelenleben ergibt sich aus der Verflechtung der primitiven Elemente, n\u00e4mlich der Empfindungen, der einfachen Gef\u00fchle und der Triebe\u201c (S. 268). Danach brauchen wir zur Willenslehre unseres Autors kaum etwas Weiteres zu bemerken.\nWenn dieser sich \u00fcbrigens bem\u00fchen wmllte, die psychologischen Richtungen, die er als Gefolgsmann Wundts blindlings glaubt verurteilen zu k\u00f6nnen, zun\u00e4chst zu verstehen, so w\u00fcrde das seiner Auffassung auch der WuKDTSchen Lehren sehr zu gute kommen. Er w\u00fcrde dann kaum Lipps unter die Intellektualisten rechnen (S. 220). Und er w\u00fcrde dann wohl auch einsehen, dafs mit der Wendung, der Intellektualismus suche die Gef\u00fchle \u201eabzuleiten\u201c aus Empfindungen und Vorstellungen, gar nichts gesagt ist, solange man den Begriff des \u201eAbl-eitens\u201c nicht n\u00e4her pr\u00e4zisiert, der ebensowohl die Aufzeigung einer kausalen Beziehung wde eine Identifizierung bedeuten kann. Dafs es jedoch ein grofser Unterschied ist, ob man behauptet, die Empfindungen und Vorstellungen seien die Reize, auf welche als Reaktion eine bestimmte Gef\u00fchlswirkung folgt, oder ob man lehrt, die Gef\u00fchle seien eine besondere Klasse von Organempfindungen, seien Erkenntnisse der N\u00fctzlichkeit oder Sch\u00e4dlichkeit u. derg]., das wird wohl auch Villa zugeben, und er wird dann vielleicht nicht mehr glauben, durch eine Widerlegung der letzteren Ansicht auch die erstere widerlegt zu haben.\nEs ist nicht m\u00f6glich, alles anzuf\u00fchren, was in der Einleitung Villas klarzustellen sich verlohnte, geschweige denn auf all das einzugehen, was einfach eine Unkenntnis fundamentalster Tatsachen verr\u00e4t, wde die Behauptung, die Existenz einzelliger Organismen sei sehr bestritten, oder die Identifizierung von Herbarts Begriff der einfachen Vorstellungen mit dem Vorstellungsbegriff der heutigen Psychologie. WTir m\u00fcssen betonen, dafs das besprochene Werk in seinem der Kritik entzogenen Teil zu wrenig Neues, zu wenig auch nur in der Form der Darstellung Wertvolles bringt, um die hervorgehobenen und die nicht hervorgehobenen M\u00e4ngel zu kompensieren. Auch das Deutsch, in welches der \u00dcbersetzer die italienische Ausgabe \u00fcbertragen hat, l\u00e4fst viel zu wmnschen \u00fcbrig.\nD\u00fcrr (W\u00fcrzburg).\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 31.\n15","page":225}],"identifier":"lit33321","issued":"1903","language":"de","pages":"220-225","startpages":"220","title":"Guido Villa: Einleitung in die Psychologie der Gegenwart. Nach einer Neubearbeitung der urspr\u00fcnglichen Ausgabe aus dem Italienischen \u00fcbersetzt von Chr. D. Pflaum. Leipzig, Teubner, 1902. 484 S.","type":"Journal Article","volume":"31"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:31:12.339217+00:00"}