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{"created":"2022-01-31T13:12:35.169188+00:00","id":"lit33331","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Husserl, E.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 31: 287-294","fulltext":[{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"L it\u00e9ra tar bericht.\n287\neines Ineinanderfliefsens der T\u00f6ne selbst. Nur kann man hier das gemeinsame und die widerstreitenden Elemente an den T\u00f6nen aufserhalb dieser apperzeptiven Vereinheitlichung nicht herausl\u00f6sen, also auch nicht bei der zum \u00c4hnlichkeitsbewufstsein notwendigen gesonderten Apperzeption des Verglichenen. Erst durch die Vereinheitlichung selbst ergibt sich so etwas wie eine Abteilung der verbundenen rhythmischen Prozesse der im Be-wufstsein zwar kontinuierlichen Tonempfindungen, mit Heraushebung eines gemeinsamen Grundrhythmus aus der Zahl der gleichfalls m\u00f6glichen Einteilungen bezw. im Gegenteil mit innerem Widerstreite. Es besteht somit kein Bewufstsein der \u00c4hnlichkeit, sondern nur der Vereinheitlichung schlechthin, d. h. eine Forderung oder Ablehnung der apperzeptiven Vereinheitlichung \u00fcberhaupt auf Grund jenes nur w\u00e4hrend dieser selbst erlebbaren Zusammenpassens der aufeinander bezogenen Tonrhythmen. Zu dieser Theorie, mit welcher Verf. \u00fcber die einfache Ph\u00e4nomenologie hinausgegangen ist, stimmen endlich auch noch Analogieen aus anderen Gebieten, insbesondere eine \u00e4hnliche Wirkung der sog. Farbenharmonien.\nWilhelm Wirth (Leipzig).\nMelchior Palaoyi. Der Streit der Psychologisten und Formalisten in der modernen Logik. Leipzig, W. Engelmann, 1902. 93 S. Mk. 2,00.\nMan braucht in dieser Schrift nicht gar viel gelesen zu haben, um zu merken, dafs sie ihrem Titel im Grunde nicht entspricht, n\u00e4mlich dafs es sich in ihr eigentlich nicht um den Streit der Psychologisten und Formalisten \u00fcberhaupt handelt, sondern nur um meinen Streit gegen die Psychologisten in den seit 1900 erschienenen \u201elogischen Untersuchungen\u201c. Der \u201eformalistischen Tendenz in der modernen Logik\u201c (5), der \u201eschroffen r\u00fcckl\u00e4ufigen Bewegung, die den Streitruf: Los von der Psychologie! auf ihre Fahne schreibt\u201c, die \u201eformalistische Gefahr\u201c eines \u201eunfruchtbaren d\u00fcrren Formalismus\u201c (1) \u2014 will der Verf. entgegentreten. So lesen wir es ganz allgemein in der Einleitung. Aber da wdr alsbald auch h\u00f6ren, dafs Bolzano als \u201eder eigentliche Urheber des modernen Formalismus in der Logik\" zu betrachten sei und uns erinnern, dafs Husserl bislang der einzige moderne Logiker ist, der seine \u00dcberzeugungen in wesentlichen Punkten an Bolzanos Wissenschaftslehre angekn\u00fcpft hat; da wir ferner bemerken, dafs der Verf. keinen anderen Formalisten nennt, vielmehr seine Angriffe teils in eigenen Kapiteln, teils in Form \u00fcberall eingestreuter Ausf\u00e4lle einzig und allein auf Husserl bezieht: so m\u00fcssen wir f\u00fcr diese Schrift die Gleichung ansetzen: moderne Formalisten = Husserl. Wenn ich mich nun durch die Geh\u00e4ssigkeit des vom Verf. leider beliebten Tones nicht abhalten lasse, der freundlichen Aufforderung des verehrten Herausgebers d. Z. nachzukommen, und diese Schrift zu rezensieren, so geschieht dies, um die Pflichten zu erf\u00fcllen, die jeder ernste Arbeiter gegen sein Werk hat, es entstellenden Angriffen nicht preiszugeben. Dem herrschenden Strom logischer und erkenntnistheoretischer \u00dcberzeugungen stellen sich meine logischen Untersuchungen als ein zum mindesten unbequemes Hindernis in den Weg. Wohl begreiflich, dafs eine Schrift, die, wie die vorliegende, energisch versichert, das Hindernis beiseite geschafft oder als nichtig erwiesen zu haben, auf billige Lorbeeren rechnen kann, dafs sie vorhandene Neigung","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nLitera turberieh i.\nleicht in Zustimmung verwandeln und hierbei manchen Leser verleiten mag, sich \u00fcber meinen Standpunkt nach den Darstellungen des Verls statt nach meinen Schriften zu orientieren. Das aber mufs ich verhindern. Schon bei seiner eigenen Orientierung befolgt Herr P. eine eigene, freilich recht bequeme Methode. Er bescheidet sich mit der fl\u00fcchtigen Lekt\u00fcre einiger Kapitel oder Paragraphen des I. Bandes meiner L. U. ; alles \u00fcbrige ist f\u00fcr ihn nicht vorhanden. Von dem II. Bande, der reichlich 3/j. Jahr vor seiner Schrift erschienen ist, erw\u00e4hnt er kein Wort, wie nahe Hierhergeh\u00f6riges dieser auch bringen mag. Die erstaunliche Gr\u00fcndlichkeit des Verf.s zusammen mit einer ebenso erstaunlichen Unf\u00e4higkeit, den schlichten Sinn irgend welcher begrifflichen Unterscheidung aufzufassen, hat den Erfolg, dafs er (was streng w\u00f6rtlich zu nehmen ist) auch nicht \u00fcber eine von meinen oder Bolzanos Lehren zu referieren vermag, ohne sie bis ins Unglaubliche zu verzerren.\nDies zeigt sich sogleich an seiner allgemeinen Charakteristik meiner Position. Er schreibt mir immer wieder die Neigung zu, \u201edie Logik wom\u00f6glich in Mathematik untergehen zu lassen\u201c (9), das \u201eStreben\u201c, die Logik von der Psychologie \u201eloszureifsen\u201c (43), das Tischtuch zwischen Logik und Psychologie zu zerschneiden (37) u. s. w. Nat\u00fcrlich verschweigt er die f\u00fcr das einfache Verst\u00e4ndnis des Sinnes meiner Lehren entscheidende und ausf\u00fchrlich begr\u00fcndete Unterscheidung, welche ich zwischen der Logik im umfassendsten Sinne einer praktischen Disziplin und der \u201ereinen Logik\u201c als dem theoretischen System der rein formalen (kategorialen) Wahrheiten mache. Er verschweigt es also, dafs ich eine Logik von der methodologischen Tendenz der MiLLSchen, SiowAETSchen, W\u00fcNDTSchen Logik vollauf billige, dafs ich die Gr\u00fcndung dieser Logik im gew\u00f6hnlichen Sinne auf empirische Psychologie keineswegs bestreite, und sie vielmehr selbst in weitem Ausmafse fordere. Er verschweigt, dafs \u201ereine\u201c oder \u201eformale Logik\u201c f\u00fcr mich nur ein zum Verst\u00e4ndnis historischer Traditionen und Tendenzen eingef\u00fchrter Titel ist, angekn\u00fcpft an eine gewdsse Klasse im pr\u00e4gnantesten Sinne sog. logischer S\u00e4tze, von denen ich zu zeigen suche; dafs sie zu einer eigenen apriorischen, von aller Psychologie unabh\u00e4ngigen Disziplin geh\u00f6ren, wTelclie in naturgem\u00e4fser Erweiterung die formale Mathematik (mit ihren in gleichem Sinne apriorischen und der Psychologie fremden Theorien) mitumfafst und letztlich identisch ist mit der mathesis universalis in dem von Leibniz gepr\u00e4gten verallgemeinerten Sinne. Wer sich durch den Verf. orientieren l\u00e4fst, mufs annehmen, dafs ich die Logik \u2014 die Logik im gew\u00f6hnlichen Sinne \u2014 verwerfe, und sie auf die Mathematik \u2014 die Mathematik im gew\u00f6hnlichen Sinne \u2014 reduzieren will, oder sie allenfalls reduzieren will auf eine ,Umfangslogik\u2018 nach Art der Boole-schen Schule. Dafs ich die Verkehrtheiten der quantifizierenden Logik schon vor 12 Jahren in einer sehr ausf\u00fchrlichen Kritik (G. G. A. 1891) blofsgelegt habe, durfte Herrn P. unbekannt sein, nicht aber durften es die soeben betonten Unterscheidungen, deren Verschweigen die Wirkung haben mufs, den Sinn meiner Lehren in Unsinn zu verkehren. Auch das verschweigt er, dafs ich zwischen der blofsen, den Mathematikern zu \u00fcberweisenden Technik der formalen logischen Theorien unterscheide und der Sph\u00e4re der eigentlich philosophischen Aufgaben, n\u00e4mlich der erkenntnis-","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Literatur bericht.\n289\nkritischen Aufkl\u00e4rung der rein logischen Grundbegriffe und Grunds\u00e4tze durch umfassende deskriptiv-psychologische (\u201eph\u00e4nomenologische\u201c) Analysen; er verschweigt, dafs ich, wie aus dem II. Bande meiner L. U. zu ersehen ist, diese Aufgaben und zumal die deskriptive Ph\u00e4nomenologie der Denkerlebnisse in einem Umfange bearbeitet habe, wie es kaum je zuvor geschehen ist. Man sieht, dafs mein Kampf gegen den Psychologismus keineswegs ein Kampf gegen die psychologische Begr\u00fcndung der logischen Methodologie oder gegen die deskriptiv-psychologische Aufkl\u00e4rung des Ursprungs der logischen Begriffe ist, sondern nur ein Kampf gegen eine erkenntnistheoretische Position, welche allerdings auch die Behandlungsweise der Logik sehr ung\u00fcnstig beeinflufst hat. \u2014 Das also ist es, was Herr P., in Bekundung einer musterhaften Zuverl\u00e4ssigkeit, als \u201eTischtuch zerschneiden\u201c zwischen Logik und Psychologie charakterisiert.\nGehen wir nun der Reihe nach die vier der Einleitung folgenden polemischen Abschnitte der Schrift durch, so tr\u00e4gt das erste den Titel \u201eTatsachen und Wahrheiten\u201c. Alle meine Argumente gegen den Psychologismus laufen \u2014 so sagt der Yerf. ! \u2014 auf den Satz zur\u00fcck, dafs die Wahrheit keine Tatsache ist; d. h. dafs zwar der Akt des richtigen Urteilens, nicht aber die Wahrheit ein zeitlicher Vorgang ist. Aus dieser schlichten begrifflichen Unterscheidung zwischen Urteilsakt und Urteilsinhalt (also demjenigen, um dessentwillen wir z. B. von \u201edem\u201c Satze 2X2 = 4 sprechen, wer immer \u201eihn\u201c, den einen und selben, aussagen mag) w\u00fcrd unter den H\u00e4nden des Verf.s eine reelle Trennung zweier angeblich verkn\u00fcpfter Momente: \u201eHusserl meint, dafs er nach Abzug des Urteilsinhalts als Rest einen psychischen Akt zur\u00fcckbehalten k\u00f6nnte\u201c H4. Vgl. auch 47 u.). Und die Kritik ist der Interpretation w\u00fcrdig: Nicht ein psychischer Akt, sondern \u2014 ein \u201emechanischer Vorgang\u201c bliebe nach \u201eAbzug\u201c des Urteilsinhalts \u00fcbrig, und so bewege sich meine Auffassung \u201ein einer unaufh\u00f6rlichen Aquivokation des Physischen und Psychischen\u201c\n(15)\t. Nach dieser Probe brauche ich auf die sonstigen Wendungen wohl nicht eingehen, durch welche P. seinem Lieblingsvorwurf, dafs ich Psychologie und Physik (bezw. Tatsachenwissenschaft) verwechsle, Halt zu geben sucht. Im voraus entschlossen, aus meinen Darstellungen jederlei Verkehrtheit herauszulesen, kommt er nicht mehr dazu, sie \u00fcberhaupt nach ihrem Sinn und Zusammenhang zu lesen.\nIn den beiden n\u00e4chsten Abschnitten handelt es sich P. darum, die Quelle des \u201emodernen Formalismus\u201c zu verstopfen, sie sind gegen Bolzanos Lehren \u00fcber Vorstellungen, S\u00e4tze und Wahrheiten \u201ean sich\u201c gerichtet. Hier mufs ich zun\u00e4chst die suggestive Art erw\u00e4hnen, in welcher P. meiner Beziehungen zu Bolzano gedenkt. In einer Reihe einzeln unscheinbarer, aber in ihrer Folge wirksamer Andeutungen suggeriert er dem Leser nichts Minderes als den Gedanken: dafs ich Bolzano in unredlicher Weise ausgen\u00fctzt, aber meine Abh\u00e4ngigkeit von ihm verschwiegen habe. \u00dcber das Verfahren des Verf.s, jedes Urteil unterdr\u00fcckend, bemerke ich f\u00fcr den nichtorientierten Leser, dafs ich nicht nur, wie es beim Verf. einmal heifst\n(16)\t, Bolzanos \u201egedacht\u201c und ihn einen der gr\u00f6fsten Logiker \u201egenannt\u201c habe; vielmehr habe ich (in einem diesem Zwecke eigens gewidmeten An-\n19\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 31","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nLi ter a turbericht.\nhange L. U. 224\u201426) auf die Bedeutung der \u201eWissenschaftslehre\u201c als eines Fundamentalwerks der Logik in so eingehender Weise hingewiesen und die Notwendigkeit, auf diesem Werke fortzubauen, es auf das Genaueste zu studieren, so nachdr\u00fccklich betont, wie dergleichen weder in \u00e4lterer, noch in neuerer Zeit jemals geschehen ist. Und daran nicht genug, habe ich Bolzano ausdr\u00fccklich als denjenigen bezeichnet, von dem ich (neben Lotze) \u201edie entscheidenden Einfl\u00fcsse\u201c empfangen habe. Letzteres meine eigenen Worte L. U. I, 226. \u2014 Was speziell meine Begriffe von den \u201eidealen\u201c Bedeutungen, den idealen Vorstellungs- und Urteilsinhalten anbelangt, so kommen sie, wie schon der Ausdruck \u201eideal\u201c besagt, gar nicht urspr\u00fcnglich aus Bolzanos, sondern aus Lotzes Logik. Besonders dessen um die Interpretation der Platonischen Ideenlehre sich gruppierende Gedankenreihen haben auf mich tief eingewirkt. Erst die innere Verarbeitung dieser, meines Erachtens nicht v\u00f6llig abgekl\u00e4rten, Gedanken Lotzes gab mir den Schl\u00fcssel zu den fremdartigen und in ihrer ph\u00e4nomenologischen Naivit\u00e4t zun\u00e4chst unverst\u00e4ndlichen Konzeptionen Bolzanos und zu den Sch\u00e4tzen seiner Wissenschaftslehre. Wenn mir vordem, wie wohl allen fr\u00fcheren Lesern B.s die \u201eS\u00e4tze an sich\u201c als mythische zwischen Sein und Nichtsein schwebende Entit\u00e4ten erschienen, so ward mir jetzt mit einem Schlage klar, dafs es sich hier im Grunde um eine ganz selbstverst\u00e4ndliche, in der traditionellen Logik nicht geh\u00f6rig gew\u00fcrdigte Konzeption handle, bezw. dafs unter \u201eSatz an sich\u201c nichts anderes zu verstehen sei, als das, was man in der allt\u00e4glichen, ideal vergegenst\u00e4ndlichenden Rede als den \u201eSinn\u201c der Aussage bezeichnet und was man als dasselbe und eine erkl\u00e4rt, wo man etwa von verschiedenen Personen sagt, eie behaupteten dasselbe; oder auch was man in der Wissenschaft schlechthin einen Satz, z. B. den Satz von der Winkelsumme nennt, wmbei es ja niemand einf\u00e4llt, an die Urteilserlebnisse irgend jemandes zu denken. Und weiter kam zur Klarheit, dafs dieser identische Sinn nichts anderes sein k\u00f6nne, als das Allgemeine, die Spezies, zu einem gewissen in allen aktuellen Aussagen desselben Sinnes vorhandenen Momente, welches bei sonst erheblich wechselndem deskriptiven Gehalt der Erlebnisse diese Identifizierung erm\u00f6glicht. Der Satz verh\u00e4lt sich also zu jedem der Urteilsakte, denen er als ihre identische Meinung zugeh\u00f6rt, wie z. B. die Spezies der R\u00f6te zu den Einzelf\u00e4llen \u201edesselben\u201c Rot. Legt man diese Auflassung zu Grunde, so gewinnt Bolzanos Lehre, dafs S\u00e4tze Gegenst\u00e4nde sind, aber doch keine \u201eExistenz\u201c haben, die leicht verst\u00e4ndliche Bedeutung, dafs ihnen das \u201eideale\u201c Sein oder Gelten \u201eallgemeiner Gegenst\u00e4nde\u201c zukomme (also dasjenige Sein, welches z. B. in den \u201eExistenzbeweisen\u201c der Mathematik festgestellt wird), nicht aber das reale Sein von Dingen oder unselbst\u00e4ndigen dinglichen Momenten, von zeitlichen Einzelheiten \u00fcberhaupt. Bolzano selbst zeigt nicht mit der entferntesten Andeutung, dafs diese ph\u00e4nomenologischen Beziehungen zwischen Bedeutung, Bedeutungsmoment und vollem Akt des Bedeutens von ihm bemerkt worden seien, und dies obschon er sich mit der Psychologie der Erkenntnis im III. Bande d. W. ausf\u00fchrlich besch\u00e4ftigt. Ja im Gegenteil spricht alles daf\u00fcr, dafs er seine Konzeption, wie viel er sich sonst um sie gem\u00fcht hat, ungekl\u00e4rt hingenommen habe.\nWas nun Herrn P. anbelangt, so hat er sich meine Auflassung, oder","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"I\nLiteraturbericht.\n291\nwas ihm von ihr gerade einleuchtete, ohne Umst\u00e4nde angeeignet. Er interpretiert Bolzanos Begriffe durch meine Gedanken und Ausdr\u00fccke, tut aber so, als ob er direkt aus Bolzano sch\u00f6pfe und als ob meine entsprechenden Darlegungen eben auch nur Entlehnungen (und dazu heimliche) aus Bolzano seien. Er \u00fcbernimmt, ohne dies in seinen so sehr freundlichen Ausf\u00fchrungen zu erw\u00e4hnen, meine Lehre vom identischen idealen Sinn, macht aber aus diesem ein identisches ideales Moment des Erlebnisses. Denn den von mir betonten Unterschied zwischen Spezies und Einzelfall, zwischen dem Sinn, als der durch spezifizierende Abstraktion gegenst\u00e4ndlich werdenden Idee, und dem deskriptiv-psychologischen Sinnesmoment \u00fcbersieht er oder versteht er nicht. Da ich nun die identische Bedeutung von dem Akte begrifflich unterscheide (in dem Sinne, wTie etwa die Qualit\u00e4tsspezies R\u00f6te und ein Rotes), so l\u00e4fst er das konkrete psychische Erlebnis des Urteilens aus zwei Momenten, dem \u00fcberzeitlichen (!) Sinnesmoment und dem Akte bestehen. Nach dieser Entstellung macht er Bolzano und mir den Einwand, dafs wir das Sinnesmoment vom Akte losreifsen wollten \u2014 als ob sein in widersinniger Weise als ideal und \u00fcberzeitlich charakterisiertes Sinnesmoment identisch w\u00e4re mit Bolzanos \u201eSatz an sich\u201c, bezw'. mit dem Sinn als Spezies. Selbstverst\u00e4ndlich h\u00e4tte sich der Verf. die M\u00fche der in st\u00e4ndiger Wiederholung vorgetragenen Betonung der Unabl\u00f6sbarkeit des Sinnes moment es vom Akte, mit welcher er uns so entscheidend zu widerlegen meint, durch blofse Zitationen aus meinen L. U. ersparen k\u00f6nnen.\nVon gleichem Werte und gleicher Artung sind die sonstigen Einw\u00e4nde, die P. in diesen Abschnitten vorbringt. So kann z. B. der Hinweis auf S\u00e4tze der Art wie \u201eich denke jetzt\u201c (25 ff.), welche in ihrem gegenst\u00e4ndlichen Gehalt eine Beziehung auf den Urteilenden einschliefsen (mit einem Worte: auf die schon im II. Bande meiner L. U. ausf\u00fchrlich behandelten \u201eokkasionellen\u201c S\u00e4tze) gar nichts n\u00fctzen, um diejenige \u201eUnabh\u00e4ngigkeit\u201c, die der Spezies gegen\u00fcber dem Einzelfall, also dem Satz gegen\u00fcber dem zuf\u00e4lligen Urteilsakt eignet, irgendwie in Frage zu stellen \u2014 es sei denn, dafs man mit P. (durch den Doppelsinn des Wortes \u201eUrteilsinhalt\u201c get\u00e4uscht) Satz und Sachverhalt vermengen will. \u2014 Der im \u00a7 4 mit nicht geringem Pathos vorgetragene \u201einnere Widerstreit in Bolzanos Philosophie\u201c ist in Wahrheit ein Widerstreit zwischen dem, was Bolzano nach P. behauptet haben soll und dem, was er wirklich behauptet hat; wie man sich durch Vergleich der betreffenden Stelle (Wiss. I, \u00a7 25) sogleich \u00fcberzeugt. W\u00e4hrend Bolzano nach dem klaren Sinn seiner wiederholten Ausf\u00fchrungen lehrt, dafs der \u201eWahrheit an sich\u201c (d. i. der Wahrheit in jenem ganz gew\u00f6hnlichen Sinne, in dem wir nicht einen Urteilsakt, sondern einen Satz als Wahrheit bezeichnen) das Gedachtwerden, n\u00e4her das Geurteilt-, das Erkanntwerden aufserwesentlich sei, l\u00e4fst ihn der Verf. lehren, dafs ihm das Nicht gedacht -, Nicht erkanntwerden wesentlich sei. Ein unvorsichtiger Gebrauch des doppelsinnigen Ausdrucks \u201egedachten Satz\u201c von seiten Bolzanos bietet dem Verf. die Handhabe, diesem ausnehmend klaren Denker hier und weiterhin eine Reihe von groben Widerspr\u00fcchen unterzuschieben. Die Pflichten einer billigen Interpretation\n19*","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nLiteraturbericht.\noder einer sorgsam vergleichenden Lekt\u00fcre kennt Herr P. nicht, und so inufs man zwei lange Abschnitte hindurch so vollst\u00e4ndig haltlose Ausf\u00fchrungen \u00fcber sich ergehen lassen, mit welchen nat\u00fcrlich gleich die ganze BoLZANOSche Philosophie und (als ob sie nicht ihre eigenen Wege gingen) meine L. U. entwurzelt sein sollen.\nIm IV. Abschnitt richtet sich P. w\u00fceder direkt und ausschliefslich gegen meine L. U. und zumal gegen meine auf die Logik \u00fcbertragene Unterscheidung zwischen Real- und Idealgesetzen. Der Grundirrtum des Psychologismus besteht nach meiner Auffassung darin, dafs er diesen fundamentalen Unterschied reiner und empirischer Allgemeinheit verwischt und die rein logischen Gesetze als empirisch psychologische mifsdeutet. Der Verf. findet hierin nat\u00fcrlich lauter Widersinn. Unser wirklicher Gedankenverlauf sollte durch zweierlei Gesetze, Gesetze, die zwTeien, durch einen \u201eunendlichen Abgrund\u201c geschiedenen Welten angeh\u00f6ren, geregelt sein? Es sei gar nicht abzusehen, wie aufserzeitliche Idealgesetze zu irgend einer Wirksamkeit kommen k\u00f6nnten. Eine solche Entzweiung des Realen und Idealen bedeute die v\u00f6llige Unm\u00f6glichkeit jeder Erkenntnis (41 f.). Leider hat der Verf. zu sehr mit Auswahl gelesen, sonst w\u00ebre er davor bewehrt geblieben, den Gegensatz zwischen Idealem und Realem in Beziehungslosigkeit umzudeuten. Da die idealen Bedeutungen sich in Akten des Bedeutens vereinzeln, so dr\u00fcckt jedes rein logische Gesetz eine Allgemeinheit aus, die sich eo ipso auf die idealen Umf\u00e4nge der betreffenden Bedeutungsspezies, also auf m\u00f6gliche reale Denkakte beziehen l\u00e4fst. So lassen sich, wrie ich hinreichend ausgef\u00fchrt habe, aus jedem Idealgesetz \u00fcberhaupt (z. B. aus jedem arithmetischen) allgemeine V ahr-heiten \u00fcber ideal m\u00f6gliche oder unm\u00f6gliche psychische Zusammenh\u00e4nge ablesen ; dessen Charakter als v\u00e9rit\u00e9 du raison, der sich auf solche Ableitungen \u00fcbertr\u00e4gt, wird dadurch nicht ber\u00fchrt. All die temperamentvollen Ausdr\u00fccke, mit denen der Verf. seine Kritiken ziert, k\u00f6nnen nichts daran \u00e4ndern, dafs er \u00fcber Dinge urteilt, die er nicht ausreichend studiert hat. \u2014 Es lohnt sich kaum, auf die weiteren, oft von auff\u00e4lligem Mangel an Denksch\u00e4rfe zeugenden Einw\u00e4nde einzugehen. So soll ein V iderspruch mit meiner Gegen\u00fcberstellung von Real- und Idealgesetzen dadurch hervorgehen, dafs ich selbst Urteile gesetzlichen Inhalts als Denkmotive zulasse. Dadurch erlange ja, meint P., das Idealgesetz die Bedeutung eines Realgesetzes f\u00fcr unser Denken (45). Vach eben dieser Logik wr\u00fcrde also auch das Gravitationsgesetz, wto es das Denken des Technikers leitet, und so jedes praktisch leitende Gesetz \u00fcberhaupt, die Bedeutung eines Denkgesetzes erlangen. Und wras soll man zu dem Einwrande sagen, dafs durch meine Sonderung der rein logischen Gesetze als Idealgesetze von den psychologischen Gesetzen als Realgesetzen, diese letzteren \u201ein eine Kategorie zu fallen scheinen mit den Gesetzen der Mechanik, und dafs man zumindest nicht mehr wreifs, wrodurch das Psychische sich von dem Physischen unterscheiden k\u00f6nnte\u201c (43); oder zu dem Einwande, dafs die Wahrheit blois eine sei, daher die Sonderung der Wahrheiten in zwei durch einen \u201eun\u00fcberbr\u00fcckbaren Abgrund\u201c getrennte Klassen unm\u00f6glich sei (52) ; oder zu der damit verbundenen Unterschiebung, dafs ich, wTie es nicht anders m\u00f6glich sei, jenen Unterschied der Gesetze auf einen Unterschied menschlicher","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n293\nErkenntnisweise (n\u00e4mlich durch \u201eInduktion\u201c bezw. \u201eEinsicht\u201c) gr\u00fcnde, also immerfort zweierlei Gesetz und zweierlei Erkenntnisweise des einen Gesetzes verwechsle (53)? Dafs nach mir der Unterschied der Gesetze rein in ihrem bedeutungsm\u00e4fsigen Wesen gr\u00fcndet, mit welchem aber ein ph\u00e4nomenologischer Unterschied in der Weise der Erkenntnis der gesetzlichen Sachverhalte der einen und anderen Art zusammenh\u00e4ngt, brauche ich nicht zu sagen. Im kritischen Zusammenhang der \u201eProlegomena\u201c bedeutet Realgesetz nicht jeden beliebigen auf Reales bez\u00fcglichen allgemeinen Satz, sondern eine allgemeine Tatsache oder zum mindesten einen Satz, der in der Weise unserer naturgesetzlichen Behauptungen mit Tatsachengehalt beschwert ist. Im wesentlichen kommt es also auf den Unterschied zwischen Tatsachen Wahrheiten und reinen Begriffs Wahrheiten (Idealgesetzen, Gesetzen im engsten und strengsten Sinn) an. W\u00e4re die Welt so beschaffen, dafs in ihr alle Kugeln rot sind, so w\u00fcrden wir, zur induktiven \u00dcberzeugung von dieser Sachlage kommend, von einem \u201eNaturgesetz\u201c sprechen. In sich wT\u00e4re es aber kein (eigentliches) Gesetz, kein Satz, der in den begrifflichen Wesen \u201eKugel\u201c und \u201erot\u201c gr\u00fcndet, sondern eine allgemeine Tatsache. Eben diesen objektiven und logisch wie erkenntnistheoretisch fundamentalen Unterschied zwischen dem, was Hume \u201erelations of ideas\u201c und dem, was er \u201ematters of fact\u201c nennt, will der Verf. allerdings nicht gelten lassen; aber die Unzul\u00e4nglichkeit seiner Polemik gegen diesen grofsen Denker wirkt, da er nicht einmal den Sinn des Unterschiedes er-fafst, geradezu peinlich. Auch die Tatsachen unterstehen, so wendet er gegen Humes bekannte Ausf\u00fchrungen ein, dem Satz vom Widerspruch, das Gegenteil einer Tatsache ist nie m\u00f6glich, sie kann nie ungeschehen gemacht werden. Als ob Hume dies je bezweifelt h\u00e4tte! Ist es wirklich so schwer zu verstehen, dafs Humes Beziehung des Satzes vom Widerspruch auf seine Ideenrelationen nicht mehr besagen will, als dafs die Wahrheiten dieser Klasse eben in den blofsen Ideen (das meint : blofs in den betreffenden Begriffen) wurzeln und daher ohne Widersinn nicht geleugnet werden k\u00f6nnen, w\u00e4hrend Negationen von Tatsachenwahrheiten zwar falsch, nicht aber in sich widersinnig sind? \u2014\nNach dieser erfolgreichen Jagd auf die ungez\u00e4hlten Widerspr\u00fcche, die er seinen Gegnern angedichtet hatte, tr\u00e4gt uns der Verf. im Schlufsabschnitt seine eigenen Ansichten \u00fcber das Verh\u00e4ltnis zwischen Logik und Psychologie vor. Er unterscheidet (72) das Wissen als allgemeine oder abstrakte (!) psychische Funktion, zu deren Charakter es geh\u00f6rt, in innigster Beziehung zu den \u00fcbrigen psychischen Funktionen zu stehen, von dem Empfinden, F\u00fchlen und Wollen als \u201ekonkreten\u201c (!) psychischen Funktionen oder als \u201epsychischen Sonderfunktionen\u201c, denen die F\u00e4higkeit abgeht, sich auf andere psychische Funktionen oder auf sich selbst zu beziehen. Die Erforschung der ersteren Funktion f\u00e4llt der Logik, die der letzteren Funktionen der Psychologie zu. Mit anderen Worten, hier wird, was man sonst in aller Welt Psychologie nennt, in \u201eLogik\u201c und \u201ePsychologie\u201c geschieden, n\u00e4mlich in Psychologie des Wissens und Psychologie der \u00fcbrigen psychischen Funktionen. Der Verf. ist also so naiv, durch eine kleine Verschiebung der Terminologie eine so schwierige erkenntnistheoretische Frage wie die nach dem Verh\u00e4ltnis zwischen Logik und Psychologie erledigen zu k\u00f6nnen. Eine","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nLiteratur bericht.\ntiefsinniger klingende Formel f\u00fcr seine Auffassung liefert ihm die neue terminologische Unterscheidung zwischen \u201eunreflektiertem\u201c und \u201ereflektiertem\u201c Bewufstsein (z. B. Sehen der roten Farbe \u2014 Wissen von diesem Sehen), und die Hereinziehung des nicht gerade unerh\u00f6rten Gedankens der Erkenntnisf\u00f6rderung in den Begriff dieser Disziplin. Die Logik, heifst es nun (81), \u201ereflektiert auf das reflektierte Bewmfstsein und ist bestrebt, durch die Erforschung der Gesetze unseres reflektierten Bewufstseins unsere Erkenntnist\u00e4tigkeit zu potenzieren ; die Psjmhologie hingegen wird bem\u00fcht sein, die durch die Logik potenzierte Reflexion in die Erforschung des unreflektierten Bewufstseins hineinzutragen\u201c. E. Husserl (G\u00f6ttingen 's.\nE. W. Scripture. Computation of a Set of Simple Direct Measurements. Yale Psychol. Laborat. 8, 110\u2014123. 1900.\nIn dieser Darstellung diskutiert S. verschiedene Berechnungsweisen der Durchschnittswerte, der in die Berechnung eingehenden Fehler u. s. wr. und gibt zum Schlufs einige praktische Beispiele. Wir beschr\u00e4nken uns hier auf die Wiedergabe der Disposition der Arbeit: I. Theory of the average and representative errors (true errors, representative errors, mean errors, mean error and average error, probable error). II. Example of computation (Computation of the average, comp, of the variations from the average, comp, of the probable error, testing the average, test, the law of distribution, search for systematic errors, reliability of the average).\tKiesow (Turin).\nO. Neust\u00e4tter. Die Darstellung des StraMeaganges bei Skiaskopie und Ophthalmoskopie mittelst Phantomen. Pfl\u00fcgers Archiv $0, 303\u2014312. 1902.\nN. er\u00f6rtert die Schwierigkeiten, welche die Theorie der Skiaskopie zu machen pflege und betont die Notwendigkeit, diese mit der des Augenspiegels gemeinsam zu behandeln. Nach einer Darlegung des Wesens der Skiaskopie gibt N. die Konstruktion seiner Phantome im Princip an. In diesen sind die Durchschnitte der ganzen Strahlenkegel als weifse Fl\u00e4chen auf schwrarzem Grund dargestellt. Die weifsen Strahlenfl\u00e4chen sind getrennt je f\u00fcr die eintretenden und austretenden Strahlen. Beleuchtungsfeld und zugeh\u00f6riges Luftbild drehen sich um den Knotenpunkt des Untersuchten, indem sie unter Ber\u00fccksichtigung der Randstrahlen durch eine Fl\u00e4che verbunden sind. Eine zwreite Fl\u00e4che ist zwischen Luftbild und dessen durch das Beobachterauge entworfenem konjugiertem Bild gelegt, Drehpunkt ist der Knotenpunkt des Beobachters. Verbunden sind beide Fl\u00e4chen durch den Mittelpunkt des Luftbildes. Zwei Phantomabbildungen dienen zur Erl\u00e4uterung. Im \u00fcbrigen verweist N. auf seine Tafeln und den zugeh\u00f6rigen Grundrifs, bei J. F. Lehmann erschienen.\nW. Trendelenburg (Freiburg i. Br.).\nA. Pfl\u00fcger. \u00dcber die FarbeiempSadliebkett des Anges. Annal, d. Physik., 4. Folge, 9 (1), 185\u2014208. 1902.\nVerf. ist der Meinung, dafs die verschiedene Empfindlichkeit des Auges f\u00fcr Licht verschiedener Wellenl\u00e4nge von Ebert entdeckt sei; die Untersuchungen der Physiologen \u00fcber den verschiedenen Reizwert spektraler","page":294}],"identifier":"lit33331","issued":"1903","language":"de","pages":"287-294","startpages":"287","title":"Melchior Pal\u00e1gyi: Der Streit der Psychologisten und Formalisten in der modernen Logik. Leipzig, W. Engelmann, 1902. 93 S.","type":"Journal Article","volume":"31"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:12:35.169194+00:00"}