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{"created":"2022-01-31T16:35:55.209585+00:00","id":"lit33344","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schumann, F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 30: 241-291, 321-339","fulltext":[{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"241\n(Aus dem Psychologischen Institut der Universit\u00e4t Berlin.)\nBeitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen.\nVon\nF. Schumann.\nDritte Abhandlung.\nDer Successivvergleich.\n(Mit 23 Fig.)\nI\n\u00a7 1. Ueber die Vorg\u00e4nge, welche beim Successivvergleich stattfinden, liegt bekanntlich schon eine Theorie vor, nach welcher \u25a0wir von zwei zu vergleichenden Raumgr\u00f6fsen die eine in der \"Vorstellung auf die andere \u00fcbertragen sollen. Betrachten wir also z. B. zuerst eine Linie A mit voller Aufmerksamkeit und dann nach Verdeckung von A eine zweite (gr\u00f6fsere oder kleinere) Linie B, so soll ein von A zur\u00fcckbleibendes Vorstellungsbild gleichsam auf B gelegt werden, und wir sollen dann zusehen, wie weit das eine Bild das andere \u00fcberragt.\nNun pflegt man ja ganz allgemein vorauszusetzen, dafs immer, wenn wir zwei successive Eindr\u00fccke mit einander vergleichen, beim Eintritt des zweiten Eindrucks noch ein be-wufstes Vorstellungsbild vom ersten Eindruck vorhanden ist. Dafs diese Annahme mit den Ergebnissen der inneren Wahrnehmung nicht in Uebereinstimmung steht, habe ich schon fr\u00fcher an anderer Stelle hervorgehoben (Zeitschr. f. Psychol 17, S. 118). Da aber mein Widerspruch nicht anerkannt ist, sehe ich mich gen\u00f6thigt, ihn hier ausf\u00fchrlicher zu begr\u00fcnden.\nAuf den verschiedensten Sinnesgebieten habe ich zahlreiche Versuche \u00fcber die Unterschiedsempfindlichkeit nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle angestellt, aber eigentlich nie beim Eintritt des zweiten Eindrucks feststellen k\u00f6nnen, dafs noch ein bewufstes Vorstellungsbild des ersten vorhanden war. Im Gegentheil habe ich bei besonders darauf gerichteter Auf-\nZeiUchrift f\u00fcr Psychologie 30.\t16","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nF. Schumann.\nraerksamkeit in zahlreichen F\u00e4llen das Fehlen eines solchen ziemlich sicher constatiren k\u00f6nnen. Betrachte ich z. B. kurze Zeit eine Linie von 50 mm und verdecke sie dann, so vermag ich schon zwei Seeunden sp\u00e4ter mir kein auch nur einiger-maafsen deutliches Vorstellungsbild mehr willk\u00fcrlich zu erzeugen* w\u00e4hrend ich trotzdem eine nach dieser Zeit betrachtete Vergleichslinie, die etwa um 3 oder 4 mm differirt, mit grofser Genauigkeit als gr\u00f6fser oder kleiner zu beurtheilen vermag. Und \u00e4hnlich ergeht es mir bei der Vergleichung successiv dargebotener T\u00f6ne.\nAuch zahlreiche Versuchspersonen haben mir das Nichtvorhandensein des Ged\u00e4chtnifsbildes des ersten Eindrucks best\u00e4tigt. Ich bespreche \u00f6fter in meinen Seminar\u00fcbungen das Vergleichungsproblem. Wenn ich dann zun\u00e4chst vor den Versuchen den Theilnehmern die Frage vorlege, ob das Ged\u00e4chtnifs-bild des ersten Eindrucks noch im Bewufstsein vorhanden ist bei Eintritt des zweiten, so pflegen immer einige die dem popul\u00e4ren Denken so naheliegende Antwort zu geben: \u201eSelbstverst\u00e4ndlich mufs das der Fall sein, da ja sonst ein Vergleichen unm\u00f6glich w\u00e4re\u201c. Wenn ich dann aber zu Versuchen \u00fcbergehe und die betreffenden Personen successive Eindr\u00fccke der verschiedensten Sinnesgebiete mit einander vergleichen lasse, so werden sie bald bedenklich, und schliefslich erkl\u00e4rt ein Theil, dafs thats\u00e4chlich in vielen F\u00e4llen kein Ged\u00e4chtnifsbild mehr vorhanden sei, ein anderer Theil sogar, dafs eigentlich nie ein Ged\u00e4chtnifsbild zu constatiren sei.\nWichtig ist, dafs bei derartigen Versuchen die verschiedensten Sinnesgebiete herangezogen werden. Auch solche Versuchspersonen n\u00e4mlich, die etwa eine Tonempfindung noch nach einigen Secun-den mit grofser Deutlichkeit zu reproduciren verm\u00f6gen, besitzen doch meistens nicht dieselbe F\u00e4higkeit auch f\u00fcr alle anderen Sinnesempfindungen. Es ergeben sich daher wohl fast f\u00fcr alle Versuchspersonen F\u00e4lle, in denen sie schon w\u00e4hrend der Pause zwischen den beiden zu vergleichenden Reizen \u00fcberhaupt nicht mehr ein einigermaafsen deutliches Vorstellungsbild vom ersten zu reproduciren verm\u00f6gen. In solchen F\u00e4llen kommt nat\u00fcrlich den Versuchspersonen besonders deutlich zum Bewufstsein, dafs das Vorstellungsbild des ersten Eindrucks bei Eintritt des zweiten nicht vorhanden ist. In den F\u00e4llen dagegen, in denen die Versuchsperson \u00fcberhaupt noch ein Vorstellungsbild vom ersten Ein-","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n243\ndruck w\u00e4hrend der Pause zu reproduciren vermag, wird sie es im Allgemeinen bei den hier in Rede stehenden Versuchen auch unwillk\u00fcrlich thun, weil sie ja die Absicht hat, es zu beobachten. Es bleibt aber fraglich, ob auch dann, wenn sie den Vergleich in naiverer Weise vollzieht, noch ein Vorstellungsbild vom ersten Eindruck bei ihr zur\u00fcckbleibt. Es bleibt ferner fraglich, ob das in der Pause auftretende Vorstellungsbild noch neben dem zweiten Eindruck einige Zeit bestehen bleibt, oder ob es etwa sofort mit ihm verschmilzt. Denn an die zweite M\u00f6glichkeit pflegen die Versuchspersonen im Allgemeinen gar nicht zu denken: Haben sie das Vorstellungsbild w\u00e4hrend der Pause beobachtet, so setzen sie ohne Weiteres voraus, dafs es auch nachher noch gesondert im Bewufstsein war. Macht man sie auf die zweite M\u00f6glichkeit aufmerksam, so werden sie unsicher in ihren Aussagen. Es ist daher auf die Angaben unge\u00fcbter Versuchspersonen wenig zu geben. Jedenfalls haben aber diejenigen Herren, welche durch Betheiligung an verschiedenen experimentell-psychologischen Untersuchungen einige Uebung in der Selbstbeobachtung erhalten hatten, nach Versuchen mit verschiedenartigen Sinnesempfindungen mir best\u00e4tigt, dafs die Simultaneit\u00e4t8these mindestens nicht allgemeing\u00fcltig ist. Denn auch f\u00fcr sie ergaben sich F\u00e4lle, in denen sie w\u00e4hrend der Pause zwischen zwei zu vergleichenden Reizen \u00fcberhaupt nicht mehr ein einigermaafsen deutliches Vorstellungsbild vom ersten Eindruck zu reproduciren vermochten. Dabei waren diese Versuchspersonen von vornherein fast alle geneigt, die Simultaneit\u00e4ts-these als selbstverst\u00e4ndlich zu betrachten.\nDas Hauptgewicht lege ich aber auf die Erfahrungen, welche zwei mit experimentell-psychologischen Untersuchungen besonders vertraute Forscher ganz unabh\u00e4ngig von mir gemacht haben. So war G. E. M\u00fcller bei Versuchen \u00fcber die Vergleichung successiv gehobener Gewichte erstaunt, wie oft er bei der zweiten Hebung jede Erinnerung an die erste verloren hatte. Und zweitens hat sich K\u00fclpe {Philosoph. Monatshefte, 30, S. 282) mit aller Entschiedenheit gegen die Simultaneit\u00e4tsthese gewandt1\nZu diesen Ergebnissen der inneren Wahrnehmung kommen\n1 Auch Angell (American Joum. of Psychology 12, S. 70 ff.) hat eich gegen die These ausgesprochen.\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nF. Schumann.\ndaim noch Thatsachen hinzu, die ebenfalls entschieden gegen die Simultaneit\u00e4tsthese sprechen.\nErstens ist es n\u00e4mlich eine bekannte Thaisache, d&fs wir wenig verschiedene Eindr\u00fccke auf vielen Sinnesgebieten besser unterscheiden k\u00f6nnen, wenn sie successiv, als wenn sie simultan im Bewusstsein auftreten. Da nun ein Wahrnehmungsbild deutlicher ist als das abgeblafste Ged\u00e4chtnifsbild, so m\u00fcfste man nach der Simultaneit\u00e4tsthese doch im Gegentheil erwarten, dafs simultane Eindr\u00fccke sich besser unterscheiden liefsen.\nZweitens ist bekannt, dafs die Ged\u00e4chtnifsbilder viel weniger intensiv sind als die Wahmehmungsbilder. Vielfach nimmt man ja an, dafs \u2014 abgesehen von gewissen Ausnahmen \u2014 die lebhaftesten Ged\u00e4chtnifsbilder noch nicht die Intensit\u00e4t der schw\u00e4chsten Empfindungen erreichen. W\u00fcrde nun eigentlich das Ged\u00e4chtnifsbild des ersten Eindrucks mit der zweiten Empfindung verglichen, so bliebe g\u00e4nzlich unerkl\u00e4rlich, dafs wir die Intensit\u00e4ten successiver Eindr\u00fccke so verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig genau mit einander vergleichen k\u00f6nnen. Denn die geringe Uebersch\u00e4tzung der Intensit\u00e4t des zweiten Eindrucks, welche sich h\u00e4ufiger bei Versuchen gezeigt hat, ist viel zu klein, um mit dem vorausgesetzten grofsen Intensit\u00e4tsunterschiede zwischen Empfindung und Vorstellung in Zusammenhang gebracht werden zu k\u00f6nnen. Und selbst wenn kein so grofser Intensit\u00e4tsunterschied besteht, der Hauptunterschied vielmehr ein qualitativer ist, so zeigt doch die Thatsache, dafs viele Forscher einen so grofsen Unterschied angenommen haben, wie aufserordentlich unsicher unser Urtheil \u00fcber die Intensit\u00e4t des Vorstellungsbildes ist. Es bliebe daher ebenfalls unerkl\u00e4rlich, dafs beim successiven Vergleichen zweier Intensit\u00e4ten unser Urtheil so genau ausf\u00e4llt.\nIch m\u00f6chte daher alle Forscher, die bisher die Simultaneit\u00e4tsthese vertreten haben, auffordern, doch erst einmal sorgf\u00e4ltig zu pr\u00fcfen, ob sie wirklich das Ged\u00e4chtnifsbild des ersten Eindrucks bei Eintritt des zweiten noch neben letzterem im Bewufstsein constatiren k\u00f6nnen. Denn diese Frage l\u00e4fst sich nicht vom gr\u00fcnen Tisch aus entscheiden, sondern nur mit H\u00fcffe einer sorgf\u00e4ltigen Selbstbeobachtung bei wirklichen Experimenten. So lange man allerdings annahm, dafs die Simultaneit\u00e4tsthese durch die Ergebnisse der inneren Wahrnehmung mindestens nicht direct widerlegt w\u00fcrde, konnte man ja versuchen, durch mehr apriorische Erw\u00e4gungen diese These zu st\u00fctzen, wie dies","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahmehmungen. HI.\n245\nMeinong (Zeitschr. f. Psychol. 21, S. 183 ff.) j\u00fcngst gethan hat. Nachdem aber einmal mehrere von einander unabh\u00e4ngige, in der Selbstbeobachtung bestens geschulte Forscher sich mit aller Entschiedenheit auf Grund der Ergebnisse ihrer inneren Wahrnehmung gegen die Simultaneit\u00e4tsthese ausgesprochen haben, k\u00f6nnen apriorische Erw\u00e4gungen f\u00fcr einen empirischen Psychologen wenig Beweiskraft mehr besitzen. Denn es ist doch ausgeschlossen, dafs das Erinnerungsbild eines Eindrucks, welches hinsichtlich feinster Unterschiede mit einem zweiten Eindruck verglichen wird, und welches daher eine grofse Deutlichkeit besitzen mufs, sich der inneren Wahrnehmung trotz besonders darauf gerichteter Aufmerksamkeit entziehen sollte. Wenn daher auch die Voraussetzungen, von denen Meinong bei seinen mehr apriorischen Erw\u00e4gungen ausgeht, mir selbstverst\u00e4ndlicher erschienen, als sie dies thats\u00e4chlich thun, w\u00fcrde ich doch eher an der Richtigkeit dieser Voraussetzungen zweifeln* als einen Satz annehmen, der in Widerspruch mit den Ergebnissen der inneren Wahrnehmung steht.\nSchon in einer fr\u00fcheren Abhandlung [Zeitschr. f. Psychol. 17, S. 117) habe ich den Satz bek\u00e4mpft, dafs Complexe von Bewufstseinsinhalten nur dann ein einheitliches Ganzes bilden k\u00f6nnten, wenn sie simultan im Be-wufstsein w\u00e4ren. Auch habe ich schon damals bemerkt (S. 119): \u201eBei der Vergleichung zweier T\u00f6ne, die etwa in einem Intervall von 2 Sec. auf einander folgen, vermag ich im Allgemeinen beim Eintreten der zweiten Empfindung von der ersten auch nicht die geringste Spur mehr im Bewufstsein .zu entdecken.\u201c Dies hat Meinong (a. a. O. S. 257) offenbar mifsverstanden, indem er annimmt, dafs ich nur das Vorhandensein der ersten Empfindung selbst im Momente des Eintritts der zweiten Empfindung geleugnet h\u00e4tte, nicht aber zugleich auch das Vorhandensein eines zur\u00fcckgebliebenen Vorstellungsbildes.\nWeeden wir uns nun dem hier in Frage stehenden speciellen Falle der Vergleichung r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsen zu. W\u00fcrden wir wirklich, wie die angef\u00fchrte Theorie es annimmt, die eine Gr\u00f6fse in der Vorstellung gleichsam auf die andere legen und so an ihr messen, so w\u00e4re der sonst so geheimnifsvolle Vergleichungsvorgang allerdings unserem Verst\u00e4ndnifs erheblich n\u00e4her gebracht. Aber wieder m\u00fcfste doch das Ged\u00e4chtnifsbild der ersten Gr\u00f6fse bei besonders darauf gerichteter Aufmerksamkeit durch die innere Wahrnehmung zu constatiren sein, wenn es wirklich noch gleichzeitig mit dem zweiten Wahrnehmungsbilde im Bewufstsein vorhanden w\u00e4re. Es m\u00fcssen daher erst wirkliche Versuche angestellt werden mit successiv dargebotenen r\u00e4umlichen Gr\u00f6fsen, bei","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nF. Schumann.\ndenen sorgf\u00e4ltig darauf zu achten ist, ob ein Erinnerungsbild des ersten Eindrucks bemerkt werden kann. Ich selbst habe nun nie bei der successiven Vergleichung von Distanzen, geraden Linien, Kreislinien und Rechtecken ein Erinnerungsbild con-statiren k\u00f6nnen, und das Gleiche gilt f\u00fcr den gr\u00f6fsten Theil meiner Versuchspersonen. Nur drei Herren habe ich gefunden (unter ca. 30), die ein deutliches prim\u00e4res Ged\u00e4chtnifsbild des ersten Eindrucks noch nach einer Pause von mehreren Secunden besafsen, w\u00e4hrend es mir selbst sowohl wie mehreren Anderen schon nach einer Pause von 1\u20142 Sec. unm\u00f6glich war, willk\u00fcrlich ein auch nur einigermaafsen deutliches Vorstellungsbild wieder hervorzurufen, obwohl die Vergleichsurtheile sehr genau ausfielen. Ferner kann ich darauf hinweisen, dafs auch die angef\u00fchrten drei Herren keineswegs bei allen Vergleichsobjecten die prim\u00e4ren Ged\u00e4ehtnifsbilder wahrzunehmen vermochten. Der .eine Herr erkl\u00e4rte mit grofser Bestimmtheit, dafs zwar bei Kreislinien ein Erinnerungsbild vorhanden sei, bei Distanzen, Linien und Rechtecken aber sicher nicht. Ein zweiter vermochte das Ged\u00e4chtnifsbild aufser bei Kreisen nur noch zuweilen bei geraden Linien zu constatiren; und nur Herr Dr. med. Kefehstein, ein ge\u00fcbter und mit einem ausgezeichneten visuellen Ged\u00e4chtnife begabter Zeichner, war im Stande, sowohl bei Kreisen wie bei geraden Linien und Distanzen das prim\u00e4re Ged\u00e4chtnifsbild im Bewufstsein festzuhalten.\nWie aufsergew\u00f6hnlich aber Dr. Keferstein\u2019s visuelles Ged\u00e4chtnis ist, mag folgende Thatsache veranschaulichen. Als ich ihn an einem Tage ca. 30\u201440 Mal mit einem und demselben Normalrechteck die verschiedensten Vergleichsrechtecke vergleichen liefs, vermochte er am n\u00e4chsten Tage das Normal* rechteck noch so genau aus dem Kopfe zu zeichnen, dafs die Seiten auch nicht einmal um 1j2 mm zu grofs oder zu klein ausfielen. Wenn nun auch dieser Herr in der Regel das Ged\u00e4chtnifsbild des ersten Eindrucks auf das zweite Object gleichsam drauf-iegte, so war dies doch zum Zustandekommen des Vergleichs* urtheils nicht unbedingt erforderlich. Das zeigte sich z. B. bei Versuchen mit successive!* Vergleichung von Kreisen. Diese stellte ich in der Weise an, dafs ich auf einen Tisch, vor dem <lie Versuchsperson safs, zun\u00e4chst ein von einem weif sen Carton bedecktes Blatt mit einem Vergleichskreis legte. Sodann legte ich auf den Carton ein zweites Blatt mit dem Normalkreis, liefs","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtstoahrnehmungen. III.\n247\ndiesen einige Secunden betrachten und entfernte dann wieder das Blatt, in dem ich es langsam parallel der Oberfl\u00e4che des Tisches wegbewegte und in einer Entfernung von ca. 25 cm umdrehte. Einige Secunden sp\u00e4ter deckte ich dann den Carton vom Vergleichskreise ab. Die Versuchsperson verfolgte nun den in das indirecte Sehen wandernden Kreis mit der Aufmerksamkeit, und sie sah ihn noch w\u00e4hrend des ganzen Versuchs mit grofser Deutlichkeit an der Stelle, an der ich das Blatt umgedreht hatte. In dem Moment aber, in dem der zweite Kreis abgedeckt wurde, trat sofort das Urtheil ein, ohne dafs etwa das Bild des ersten .Kreises wieder der Mitte des Gesichtsfeldes zugewandert w\u00e4re. Um die Richtigkeit dieses Urtheils zu controliren, brachte Dr. Keferstein hinterher vielfach noch im subjectiven Gesichtsfelde die beiden Kreise neben einander und erkannte dabei \u00f6fter kleinere Unterschiede, die ihm vorher entgangen waren.\n\u00a7 2. Wenn demnach auch in der That bei einzelnen Versuchspersonen das Urtheil dadurch zu Stande kommt, dafs das Vorstellungsbild des ersten Eindrucks gleichsam auf den zweiten Wahrnehmungsinhalt gelegt wird, so ist dies doch keineswegs allgemein der Fall. Es erhebt sich daher die Frage, wie das Vergleichsurtheil in den F\u00e4llen zu Stande kommt, in denen kein bewufstes Vorstellungsbild des ersten Wahrnehmungsinhaltes vorhanden ist.\nIrgend eine Nachwirkung des erstell Eindrucks mufs nat\u00fcrlich auch in diesen F\u00e4llen noch vorhanden sein bei Eintritt des zweiten, denn beide Eindr\u00fccke zusammen bedingen ja erst das Vergleichsurtheil. Wenn also w\u00e4hrend der Pause eine be-wufste Nachwirkung nicht zu constatiren ist, so kann es sich eben nur um eine unbewufste handeln. Von vornherein m\u00fcssen wir dann aber mit der M\u00f6glichkeit rechnen, dafs durch die unbewufste Nachwirkung der zweite Wahrnehmungsinhalt irgendwie beeinflufst wird. In Folge des Bestrebens, den ersten Eindruck festzuhalten, kann eine unbewufste Vorstellung oder irgend ein anderes Residuum Zur\u00fcckbleiben, und wir k\u00f6nnen in Folge dessen innerlich irgendwie auf die Auffassung einer gleichen r\u00e4umlichen Gr\u00f6fse vorbereitet sein : Hat dann der zweite Wahrnehmungsinhalt eine andere Ausdehnung, so kann er entweder modifizirt werden und zwar in verschiedener Weise, je nachdem das zweite Object gr\u00f6fser oder kleiner als das erste ist,","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nF. Schumann.\noder es k\u00f6nnen andere charakteristische Bewufstseinserscheinungen eintreten.\nNat\u00fcrlich ist dies zun\u00e4chst nur eine vollst\u00e4ndig hypothetisch\u00a9 Annahme. Bei dem Versuch, sie zu verificiren, kommt es in erster Linie darauf an, ein\u00a9 Modification des zweiten Wahrnehmungsinhaltes bezw. eine besondere charakteristische Er-* scheinung im Bewufstsein wirklich nachzuweisen. In der That glaube ich denn auch etwas derartiges bei einfachen Versuchen \u00fcber die successive Vergleichung von Distanzen, geraden Linien, Kreislinien und Rechtecken durch inner\u00a9 Wahrnehmung constatirt zu haben. Diese Versuche stellte ich in folgender Weise an. Ich zeichnete z. B. eine Normaldistanz von 50 mm und 7 Vergleichsdistanzen (Differenzen + 0, 1, 2, 3 mm), welche von kleinen verticalen schwarzen Linien begrenzt waren, je auf ein Octav-blatt. Das Blatt mit der Normaldistanz legte ich in bequeme Sehweite auf einen Tisch, vor dem ich safs, und mischte die \u00fcbrigen Bl\u00e4tter durch einander, damit ich ihre Reihenfolge nicht kannte. Darauf betrachtete ich zun\u00e4chst die Normaldistanz mit voller Aufmerksamkeit und deckte dann nach einigen Secunden pl\u00f6tzlich ein Octavblatt mit einer Vergleichsdistanz dar\u00fcber. Dieser Versuch wurde h\u00e4ufig wiederholt bei regellosem Wechsel der Vergleichsdistanzen. In gleicher Weise stellte ich dann auch Versuche mit geraden Linien, Kreislinien und Rechtecken an. Hierbei bemerkte ich nun zun\u00e4chst, dafs bei einer deutlich gr\u00f6sseren Vergleichsdistanz bezw. Vergleichslinie vielfach ein besonderes Ph\u00e4nomen sich geltend machte, das nie eintrat bei solchen Vergleichsdistanzen bezw. Vergleichslinien, welche f\u00fcr kleiner oder gleich gehalten wurden. Ich glaube die Erscheinung sicher beobachtet zu haben, doch war die Sicherheit wohl mit dadurch bedingt, dafs ich dieselbe Erscheinung schon vorher bei einigen optischen T\u00e4uschungen bemerkt hatte, bei denen sie besonders deutlich auftritt. Da es wichtig ist f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis des Folgenden, dafs der Leser das in Frage stehende Ph\u00e4nomen m\u00f6glichst deutlich innerlich erlebt, so will ich zun\u00e4chst eine bekannte optische T\u00e4uschung anf\u00fchren, bei der meine Versuchspersonen es allgemein am besten haben constatiren k\u00f6nnen.\nIn Figur 1 wird die untere Horizontale im Vergleich mit der \u00fcber ihr befindlichen gleichgrofsen Linie \u00fcbersch\u00e4tzt. Fixirt man zun\u00e4chst die letztere und wendet dann den Blick der","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n249\nunteren zu, so schneidet die Aufmerksamkeit aus dieser im ersten Moment ein mittleres St\u00fcck heraus.\nFig. 2.\nFig. 1.\nVielleicht noch deutlicher ist dieselbe Erscheinung bei der T\u00e4uschung zu beobachten, welche Figur 2 zeigt. Hier sind die beiden mittleren, objectiv gleich grofsen Kreisbogen mit einander zu vergleichen. Fixirt man nun zun\u00e4chst den oberen der beiden .zu vergleichenden Bogen und l\u00e4fst dann den Blick zum unteren \u00fcbergehen, so wird letzterer \u00fcbersch\u00e4tzt, und wieder wird von ihm zuerst ein mittleres St\u00fcck durch die Aufmerksamkeit herausgeschnitten. Sollte der Leser auch an diesen Figuren die Erscheinung nicht gleich beobachten k\u00f6nnen, so bitte ich ihn, den Versuch zu einer anderen Zeit zu wiederholen. Im Allgemeinen \u2666ist einerseits geistige Frische und andererseits ein \u201everlorenes, gedankenloses Dar\u00fcberhinwegblicken, bei dem man immerhin weifs, worum es sich handelt\u201c (Lipps), der hier in Frage stehenden Beobachtung sowohl wie den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen \u00fcberhaupt g\u00fcnstig. Auch thut man gut, sich nicht einfach auf die hier abgebildeten Figuren zu verlassen, sondern sich dieselben mit kleinen Variationen selbst aufzuzeichnen, da die Erscheinung h\u00e4ufig bei irgend einer Variation deutlicher wird. Hat man sie dann in einem Falle sicher beobachtet, so gelingt es nachher auch leichter, sie in anderen F\u00e4llen wieder zu finden.\nVon meinen Versuchspersonen konnten alle diejenigen, welche einigermaafsen in Selbstbeobachtung ge\u00fcbt waren, das Herausschneiden des Mittelst\u00fccks im Wesentlichen best\u00e4tigen.1\n1 Ich habe kurz vor der Drucklegung noch einige wenige Herren gefunden, welche die beschriebene Erscheinung nicht constatiren konnten. Die betreffenden verfielen aber auch der T\u00e4uschung nicht.","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nF. Schumann.\nNur war es nicht leicht eine genauere Beschreibung der Erscheinung von ihnen zu erhalten. Ich selbst habe unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden noch folgende Einzelheiten beobachten k\u00f6nnen: Im ersten Moment trat das mittlere herausgeschnittene St\u00fcck im Bewufstsein hervor, wobei es sich schw\u00e4rzer und sch\u00e4rfer begrenzt erwies als die beiden Enden, welche im Hintergr\u00fcnde des Bewufstseins blieben. Einen Moment sp\u00e4ter traten dann aber die Enden vor dem Mittelst\u00fcck lebhaft hervor, und zwar schien mir dieses Hervortreten der Enden \u00f6fter successiv zu verlaufen, indem es an den Enden des Mittelst\u00fccks anfing. Indessen rnufs ich zugestehen, dafs beide auf einander folgende Stadien nur selten und nur im Anf\u00e4nge von mir bemerkt worden sind, als ich di\u00a9 betreffenden T\u00e4uschungen zuerst kennen lernte. Nach h\u00e4ufiger Betrachtung der Figuren hat die T\u00e4uschung erheblich nachgelassen resp. ganz aufgeh\u00f6rt und entsprechend kann ich auch die in Frag\u00a9 stehende Erscheinung nicht mehr mit der fr\u00fcheren Sicherheit beobachten.\nBest\u00e4tigt wurde das Hervortreten der Enden vor dem Mittelst\u00fcck durch verschiedene in der Selbstbeobachtung ge\u00fcbte Herren. Dagegen konnte nur ein Herr das erste Stadium, das Hervortreten des Mittelst\u00fccks vor den Enden, constatiren. Mit diesem\n*\nHerrn hatte ich vorher gemeinschaftlich l\u00e4ngere Zeit Untersuchungen \u00fcber die Erkennung von Gesichtsobjecten bei minimaler Dauer der Reizung angestellt, bei denen wir uns besonders einge\u00fcbt hatten, alle Modificationen der Bewusstseinsinhalte zu beachten, so dafs wir offenbar besonders f\u00fcr die Beobachtung der hier in Red\u00a9 stehenden sehr kurz dauernden Erscheinung vorbereitet waren. Der betreffende Herr konnte nun aber das zweite Stadium der Erscheinung, das Hervortreten der Enden nicht constatiren, trotz seiner verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig grofsen Uebung in der Selbstbeobachtung, so dafs wir jedenfalls mit individuellen Unterschieden zu rechnen haben.\nBei den eben angef\u00fchrten Versuchen \u00fcber die successive Vergleichung von Distanzen und von Linien konnte ich nun ebenfalls beobachten, dafs aus dem gr\u00f6fseren Vergleichsobject im ersten Moment ein der Normalgr\u00f6fse ungef\u00e4hr gleiches St\u00fcck herausgeschnitten wurde, und dafs das \u00fcbersch\u00fcssige St\u00fcck einen Moment sp\u00e4ter im Bewufstsein besonders hervortrat. Allerdings mufs ich bemerken, dafs bei mir die Erscheinung nur bei besonders g\u00fcnstiger Disposition und auch dann nur einen \u00e4ufserst","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmmigen. III.\n251\nkurzen Moment auftrat, so dafs ich sie wohl kaum bemerkt h\u00e4tte, wenn ich sie nicht schon von der Beobachtung der eben angef\u00fchrten und einiger anderer optischen T\u00e4uschungen her gekannt h\u00e4tte. Als ich dann aber sp\u00e4ter dieselben Versuche mit einer gr\u00f6fseren Anzahl von Personen anstellte, zeigte sich, dafs einige das Herausschneiden eines der Normaldistanz gleichen St\u00fccks aus der gr\u00f6fseren Vergleichsdistanz viel sicherer eon-statiren konnten als ich selbst. Bei ihnen waren die beiden Theile der gr\u00f6fseren Vergleichsdistanz ganz scharf getrennt, so dafs sie einen Moment das Bifferenzst\u00fcck genau begrenzt innerlich sahen und in Folge dessen mit grofser Sicherheit angeben konnten, um wie viel Millimeter die Vergleichsdistanz gr\u00f6fser war, w\u00e4hrend bei mir nie eine so scharfe Trennung eintrat.1 Erw\u00e4hnen mufs ich jedoch, dafs eine grofse Anzahl von Personen bei diesen Versuchen das Herausschneiden \u00fcberhaupt nicht constatiren konnte ; einige gaben bei Distanzsch\u00e4tzungen an, dafs nur ein Hervortreten der weifsen zwischen den begrenzenden Linien liegenden Fl\u00e4che von ihnen bemerkt w\u00fcrde.\nDiesem Herausschneiden eines Theiles einer gr\u00f6fseren Linie waren wir schon fr\u00fcher beim Simultanvergleich begegnet. Ich erw\u00e4hnte dort (Abhdlg. 2, \u00a7 7, Fig. 26), dafs bei der Betrachtung .zweier von demselben Punkte ausgehender und verschieden langer Linien viele Versuchspersonen die Tendenz h\u00e4tten, unwillk\u00fcrlich \u00abein der k\u00fcrzeren Linie gleiches St\u00fcck aus der l\u00e4ngeren Linie herauszuschneiden. Wohl noch allgemeiner l\u00e4fst sich die Erscheinung bei zwei ziemlich dicht bei einander befindlichen, kurzen Parallelen constatiren. Es pflegen dann subjective Grenzlinien \u2014 wie sie in Abhandlung 1, \u00a7 3 beschrieben sind \u2014 aufzutreten, welche, von den Endpunkten der kleineren Linie aus-\n1 Ich m\u00f6chte hier noch erw\u00e4hnen, dafs die Vergleichslinien nach einer gr\u00f6fseren Anzahl von Versuchen vielfach individuell wiedererkannt^wurden. Es wurde dann eigentlich kein Vergleich mit der Normallinie vollzogen, und das Herausschneiden eines der Normallinie gleichen St\u00fccks aus einer gr\u00f6fseren Vergleichslinie trat nicht mehr ein. Die Versuchsperson identi-ficirte vielmehr die Vergleichslinie mit einer bestimmten fr\u00fcher wahrgenommenen Linie. Sie wufste, es war dieselbe Linie, die sie fr\u00fcher z. B. als 3 mm l\u00e4nger erkannt hatte. Ich habe daher sp\u00e4ter die Versuche immer in der Weise angestellt, dafs ich auch mit der Gr\u00f6fse der zuerst betrachteten Linie (der Normallinie) fortw\u00e4hrend wechselte, und ich erreichte dadurch, dafs die zu beobachtende Erscheinung auch bei l\u00e4ngeren Versuchsreihen deutlich blieb.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nF. Schumann.\ngehend und auf dieser senkrecht stehend, aus der gr\u00f6fseren Linie \u00a9in der kleineren gleiches St\u00fcck herausschneiden. Wir sehen dann auch die Differenzst\u00fccke scharf begrenzt vor uns. Ferner handelt es sich, wie ich glaube, um dieselbe Erscheinung in allen F\u00e4llen, in denen ich in der vorigen Abhandlung von einer successiven Erfassung durch die Aufmerksamkeit sprach. Insbesondere zeigt eie sich bei der Betrachtung einer in der Mitte einer Horizontalen errichteten Senkrechten. Es ist mir von den verschiedensten Seiten best\u00e4tigt worden, dafs bei den e r s t e n Betrachtungen, bei denen die T\u00e4uschung besonders \u00e9clatant ist, zun\u00e4chst ungef\u00e4hr die untere H\u00e4lfte aus der Senkrechten herausgeschnitten wird, und dafs dann die obere H\u00e4lfte im-Bewufstsein hervortritt. Und zwar habe ich hier nun sehr deutlich ein successives Hervor-treten der oberen H\u00e4lfte der Senkrechten beobachtet Dies ist aber nicht so zu verstehen, als ob ich mir jedesmal genau be-wufst gewesen w\u00e4re, bei welchem Punkte das successive Hervon treten anfing. Vielmehr bemerkte ich letzteres immer erst, wenn es mitten im Gange war. Ich kann daher auch nur sagen, dafs es ungef\u00e4hr von der Mitte der Senkrechten aus seinen Anfang nahm. Aufserdem kam dann noch ein innerlich erzeugter Eindruck hinzu, der eine gewisse Aehnlichkeit hatte mit der bei Ueber windung eines Widerstandes auftretenden Spannung. Mehrere Versuchspersonen erkl\u00e4rten, sie m\u00fcfsten an der Verticalen gleichsam erst hinaufklettern, w\u00e4hrend die Horizontale sich sofort in ihrer ganzen L\u00e4nge der Aufmerksamkeit aufdr\u00e4nge.\nDieses successive Hervortreten des \u00fcbersch\u00fcssigen Theiles einer Linie zeigt sich nun nicht nur bei der eben angef\u00fchrten T\u00e4uschung, sondern auch noch bei einer Reihe weiterer T\u00e4uschungen, bei denen die zu vergleichenden Linien nach einander von der Aufmerksamkeit erfafst werden. So werden wir unten sehen, dafs es mit grofser Deutlichkeit auch bei der Vergleichung einer, in der*Mitte durch einen Punkt getheilten Linie mit einer gleichlangen ungeteilten Linie beobachtet werden kann, und wir haben oben schon gesehen, dafs es auch bei der T\u00e4uschung in Figur 2 gelegentlich eintritt, w enn auch mit geringerer Deutlichkeit Ferner glaube ich es bei den eben angef\u00fchrten Versuchen \u00fcber die Verbleichung von Linien und Distanzen auch dann h\u00e4utiger beobachtet zu haben, wenn die Vergleichslinie bezw. Vergleiehsdistanz erheblich croiser w ar als die Normallinie bezw. Normaldistanz. Allerdings war die Erscheinung in den zuletzt","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahmehmungen. Ill.\n253\nerw\u00e4hnten F\u00e4llen aufserordentlich fl\u00fcchtig, und ich kann nicht behaupten, dafs die M\u00f6glichkeit einer Selbstt\u00e4uschung vollst\u00e4ndig ausgeschlossen w\u00e4re, zumal da auch meine Versuchspersonen, abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen, bestimmt verneinten, etwas Derartiges bei der Vergleichung von Linien und Distanzen innerlich zu erleben. Dagegen fand ich nun verschiedene Versuchspersonen, die bei der Vergleichung von Kreisen, das successive Hervortreten als ein ganz besonders deutliches Ph\u00e4nomen constatiren konnten. Nach ihren Aussagen wurde aus einem erheblich gr\u00f6fseren Vergleichskreise im ersten Momente der Betrachtung ein mittleres concentrisches St\u00fcck herausgeschnitten, und dann trat eine \u201eAusdehnung der Aufmerksamkeit44 nach allen Seiten ein. Die Versuchspersonen waren sich aber auch in diesen F\u00e4llen nicht bewufst, bei welcher inneren Grenze die Ausdehnung ihren Anfang nahm; sie bemerkten sie vielmehr immer erst, wenn sie in vollem Gange war.\nBei der Vergleichung von Distanzen, welche durch verticale Linien begrenzt waren, konnte ich \u00fcbrigens h\u00e4ufiger bei einer gr\u00f6fseren Vergleichsdistanz noch einen anderen Eindruck der \u201eAusdehnung\u201c constatiren, der insofern von dem eben geschilderten etwas verschieden wrar, als er sich nicht nur \u00fcber das kleine Differenzst\u00fcck erstreckte, sondern \u00fcber die ganze Vergleichsstrecke. Es war so, als ob etwas von links nach rechts oder auch von der Mitte nach beiden Seiten \u00e4ufserst rasch dar\u00fcber hinhuschte. Wie wir in \u00a7 5 sehen werden, tritt genau dieselbe Erscheinung auch bei der Vergleichung von Rechtecken auf, die sich hinsichtlich der L\u00e4nge einer Seite unterscheiden. Da nun eine von verticalen Linien begrenzte Distanz vielfach vollst\u00e4ndig einer rechteckigen und allseitig begrenzten Fl\u00e4che gleicht, weil die fehlenden horizontalen Linien subjectiv erg\u00e4nzt werden, so werden wir wohl diese Erscheinung als eine speciell bei der Vergleichung von Rechtecken (bezw. Parallelogrammen) verschiedener Gr\u00f6fse auftretende Erscheinung zu betrachten haben.\nDoch wie steht es nun mit der Auffassung einer kleineren Vergleichsgr\u00f6fse. Nach dem Bisherigen werden wir a priori ver-muthen k\u00f6nnen, dafs z. B. bei einer kleineren Vergleichsdistanz im ersten Augenblick aufser den beiden Grenzlinien und dem von ihnen eingeschlossenen Theile des Gesichtsfeldes etwa noch ein St\u00fcck des Hintergrundes (entweder nur auf einer Seite der Vergleichsdistanz liegend oder auf beiden Seiten) mit heraus-","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nF. Schumann.\ngehoben wird, welches an Ausdehnung der Differenz der beiden zu vergleichenden Seiten gleichkommt, und dafs sich dann erst einen Moment sp\u00e4ter die Vergleichsdistanz aus diesem gr\u00f6fseren Ganzen isolirt. Dafs nun aber thats\u00e4chlich eine solche Erscheinung bei den eben besprochenen Vergleichungen einer Normaldistanz mit einer Reihe von Vergleichsdistanzen in meinem Be-wufstsein einigermaafsen sicher nachzuweisen gewesen w\u00e4re, kann ich nicht behaupten, und ebensowenig konnte ich bei kleineren Vergleichslinien etwas Aehnliches constatircn. Wohl aber glaube ich die in Frage stehende Erscheinung sicher con-statirt zu haben bei den eben angef\u00fchrten beiden T\u00e4uschungen. In Figur 1 wird die obere Horizontale im Vergleich mit der unter ihr befindlichen, objectiv gleich grofsen Linie untersch\u00e4tzt Fixire ich nun zun\u00e4chst die letztere und wende dann den Blick der \u00fcber ihr befindlichen Horizontalen zu, so habe ich den deutlichen Eindruck, dafs im ersten Moment zu beiden Seiten dieser zweiten Linie ein St\u00fcck des Hintergrundes mit im Be-wufstsein hervortritt. Unmittelbar darauf tritt dann ein Vorgang ein, den ich als eine Zusammenziehung der Aufmerksamkeit auf diese Linie bezeichnen m\u00f6chte, und der ganz analog ist der vorher besprochenen Ausdehnung der Aufmerksamkeit. Dieselbe Erscheinung beobachte ich ferner, wenn ich von den beiden mittleren Kreisbogen in Figur 2 zun\u00e4chst den unteren fixire und dann den oberen. Immerhin ist die Erscheinung auch in diesen F\u00e4llen erheblich weniger deutlich als die entsprechende Erscheinung, welche bei den \u00fcbersch\u00e4tzten Linien auftritt. Fast allen meinen Versuchspersonen ging es ferner bei der Vergleichung von Linien und Distanzen genau so wie mir. Dagegen konnten verschiedene Herren die Zusammenziehung der Aufmerksamkeit bei kleineren Kreislinien aufs deutlichste beobachten, wie ja auch bei gr\u00f6fseren Kreislinien die \u201eAusdehnung der Aufmerksamkeit\u201c ebenfalls am deutlichsten zu beobachten ist Oefter wurde dieses \u201eZusammenziehen\u201c auch als ein \u201eSchrumpfen\u201c bezeichnet. Ferner wurde diese Erscheinung auch gelegentlich einmal von einem Herren bei den schon fr\u00fcher erw\u00e4hnten Versuchen \u00fcber das Erkennen von Worten bei minimaler Dauer der Belichtung (0,01\u20140,1 Sec.) beobachtet Hierbei hatte ich zun\u00e4chst mehrere Tage hinter einander nur Worte von mindestens 10 Buchstaben zur Erkennung dargeboten und darauf pl\u00f6tzlich ein Wort von 4 Buchstaben. Obwohl nun bis dahin der Ver-","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n255\nsiichsperson meine Ansichten \u00fcber die bei der Vergleichung r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsen auftretenden Vorg\u00e4nge g\u00e4nzlich unbekannt waren, und obwohl ich vorher weder erw\u00e4hnt hatte, dafs etwas Besonderes zu beobachten sein w\u00fcrde, noch dafs ein viel k\u00fcrzeres Wort kommen w\u00fcrde, gab sie doch von selbst an, ganz deutlich einen eigenartigen Eindruck bei Auffassung des kurzen Wortes gehabt zu haben. Auf ge fordert, den Vorgang n\u00e4her zu beschreiben, erkl\u00e4rte sie, \u201edie Aufmerksamkeit h\u00e4tte sich erst gleichsam auf das kurze Wort zusammenziehen\u201c m\u00fcssen.\nObwohl nun demnach bei kleineren Vergleichs dis tanzen und Vergleichs li ni en im Allgemeinen die zu erwartende Erscheinung nicht mit voller Sicherheit zu beobachten ist, so w\u00fcrden wir doch noch mit der M\u00f6glichkeit rechnen k\u00f6nnen, dafs die betreffenden Erscheinungen auftreten und das Urtheil beeinflussen, aber sich der inneren Wahrnehmung entziehen, theils weil sie undeutlich, theils weil sie aufserordentlich fl\u00fcchtig sind. Denn jedenfalls k\u00f6nnen uns derartige Ph\u00e4nomene viel leichter entgehen als etwa ein Vorstellungsbild der Normalgr\u00f6fse. Indessen, ich bin sp\u00e4ter noch auf ganz andersartige, das Urtheil beeinflussende Eindr\u00fccke aufmerksam geworden, die ich zuerst bei der Vergleichung von Kreislinien mit voller Sicherheit constatiren konnte, und die ich nachher auch bei Distanzen und Linien wahrzunehmen glaubte, n\u00e4mlich auf die absoluten Eindr\u00fccke der Gr\u00f6fse und der Kleinheit, die wir vielfach auch von isolirt der Beobachtung dargebotenen Objecten erhalten. So kann z. B. eine einzelne Person, die uns etwa auf einer einsamen Landstrafse begegnet, auffallend grofs oder auffallend klein, auffallend dick oder auffallend d\u00fcnn erscheinen, auch wenn weiter Niemand sichtbar ist, mit dem sie verglichen werden k\u00f6nnte. Da nun in solchen F\u00e4llen meistens auch keine Erinnerungsbilder irgend welcher anderer Menschen gleichzeitig mit dem Wahrnehmungsbilde im Bewufstsein vorhanden sind, so haben wir es Mer mit einem absoluten Eindruck der Gr\u00f6fse bezw. Kleinheit zu thun, welcher analog ist dem absoluten Eindruck der Schwere bezw. Leichtigkeit eines isolirt gehobenen Gewichtes, auf den G. E. M\u00fclleb aufmerksam gemacht hat (vgl. Abhdlg. 2, \u00a7 1). Dieser Eindruck trat nun auch bei den Versuchen \u00fcber die Vergleichung von Kreislinien unter bestimmten Bedingungen aufserordentlich lebhaft auf. Ich liefs zun\u00e4chst mit einem Normalkreis (Durchmesser 44 mm) eine Reihe wenig verschiedener Vergleichskreise","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nF. Schumann.\nin regellosem Wechsel vergleichen und schob dann gelegentlich einen erheblich gr\u00f6fseren (Durchmesser 58 mm) oder erheblich kleineren Vergleichskreis (Durchmesser 32 mm) ein. Dabei liefs sich nun leicht constatiren, dafs bei Betrachtung des erheblich gr\u00f6fseren Kreises ungef\u00e4hr derselbe eigenartige Eindruck auftritt, den auch eine auffallend grofse Taschenuhr macht, und dafs ebenso ein erheblich kleinerer Vergleichskreis denselben Eindruck bedingt, den eine auffallend kleine Taschenuhr hervorruft Der kleine Kreis erscheint \u201ewinzig\u201c, wie sich verschiedene Versuchspersonen treffend ausdr\u00fcckten.\nDafs diese Eindr\u00fccke wirklich existiren, glaube ich mit voller Sicherheit behaupten zu k\u00f6nnen, zumal da auch eine gr\u00f6fsere Anzahl von Versuchspersonen sie beobachtet hat. Dagegen ist es schwer, etwas N\u00e4heres \u00fcber diese Eindr\u00fccke auszusagen. Sind sie sehr stark, so pflegen sie von einem emotionellen Element, einem Erstaunen, begleitet zu sein. Aber neben diesem Erstaunen ist immer noch ein besonderes Element vorhanden, das sich nicht n\u00e4her beschreiben l\u00e4fst. Man mufs es eben erleben, um es kennen zu lernen. Ich hatte schon vor den Versuchen mit Kreisen auch bei Linien und Distanzen den absoluten Eindruck der Gr\u00f6fse beobachten zu k\u00f6nnen geglaubt und zwar vor Allem bei Auffassung der in der Mitte einer Horizontalen errichteten Senkrechten. Von ihr erh\u00e4lt man auch vielfach einen Eindruck, der demjenigen sehr \u00e4hnlich ist, den ein auffallend langer Mensch macht. Da ich nun hierbei gleichzeitig auch das successive Hervortreten des oberen Theils der Linie h\u00e4ufiger beobachtete, so glaubte ich, dafs eben dieses successive Hervortreten die Hauptgrundlage des Urtheils \u201eauffallend lang\u201c sei und dafs dementsprechend die \u201eZusammenziehung der Aufmerksamkeit\u201c f\u00fcr das Urtheil \u201eauffallend klein\u201c charakteristisch sei Indessen sp\u00e4ter kamen F\u00e4lle vor, in denen das \u201esuccessive Hervortreten\u201c bezw. das \u201eSchrumpfen\u201c auftrat, ohne von dem Eindruck \u201eauffallend grofs\u201c bezw. \u201eauffallend klein\u201c begleitet zu sein, und umgekehrt konnte ich diese Eindr\u00fccke h\u00e4ufiger in F\u00e4llen beobachten, wo eine Ausdehnung bezw. ein Schrumpfen sicher nicht vorhanden war. So hatte ich insbesondere vor kurzem Gelegenheit, den absoluten Eindruck der \u201eKleinheit\u201c genauer zu beobachten. Ich hatte meine Uhr wegen einer Reparatur auf ca. 14 Tage zu einem Uhrmacher gebracht und mir inzwischen eine andere geliehen, welche etwas gr\u00f6fser war. Als ich dann","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zw Analyse der Gesichtstcahmehmungen. III.\n257\nmeine eigene Uhr wieder erhielt, rief sie zuerst den absoluten Eindruck der Kleinheit hervor, und ich h\u00e4tte sicher geglaubt, dafs mir eine falsche Uhr wiedergegeben worden sei, wenn ich sie nicht an bestimmten Kennzeichen wiedererkannt h\u00e4tte. Der Eindruck dauerte immerhin solange, dafs ich versuchen konnte, ihn n\u00e4her zu beobachten. Es gelang mir indessen nicht, \u00fcber ihn ins Klare zu kommen. Nur konnte ich mit Sicherheit constatiren, dafs weder ein bewufstes Vorstellungsbild meiner Uhr, herr\u00fchrend von fr\u00fcheren Wahrnehmungen, noch ein bewufstes Erinnerungsbild der geliehenen Uhr neben dem Wahrnehmungsbilde im Bewufstsein existirte.\nBesonders deutlich treten diese Eindr\u00fccke, wie gesagt, dann auf, wTenn in eine Versuchsreihe mit wenig verschiedenen Vergleichskreisen pl\u00f6tzlich ein erheblich gr\u00f6fserer oder kleinerer Vergleichskreis eingeschaltet wird. Operirt man dagegen fortw\u00e4hrend mit gr\u00f6fseren Unterschieden, so lassen die Eindr\u00fccke sehr stark nach, und das Erstaunen h\u00f6rt ganz auf. Hat man die Eindr\u00fccke aber erst einmal in einigen F\u00e4llen recht deutlich erlebt, so wird man sie sp\u00e4ter auch noch bei kleineren Unterschieden zwischen Normal- und Vergleichskreis und ebenso bei der Vergleichung von Linien und Distanzen constatiren k\u00f6nnen, wo sie theils mit den vorher beschriebenen Erscheinungen zusammen, theils allein Auftreten. Insbesondere glaube ich auch den absoluten Eindruck der Kleinheit bei kleineren Vergleichslinien und Vergleichsdistanzen beobachtet zu haben.\nWir sehen demnach, dafs thats\u00e4chlich bei Eintritt des zweiten von zwei hinsichtlich der Ausdehnung zu vergleichenden Wahr-nehmungsinhalten noch verschiedene Erscheinungen sich bemerkbar machen, die sich zwar der oberfl\u00e4chlichen Beobachtung bei den Erlebnissen des t\u00e4glichen Lebens entziehen, die aber durch besondere Versuche der inneren Wahrnehmung sehr wohl zug\u00e4nglich gemacht werden k\u00f6nnen. Dafs diese Erscheinungen mindestens h\u00e4uf ig als Grundlage des Vergleichungsurtheils dienen, unterliegt f\u00fcr mich keinem Zweifel. Denn wenn eine Versuchsperson die gr\u00f6fsere Vergleichslinie in zwei Theile getheilt sieht, und wenn sie gleichzeitig angiebt, um wieviel Millimeter die Vergleichslinie gr\u00f6fser ist als die Normallinie, so wird die Absonderung des Differenzst\u00fcckes doch wohl die Ursache des genauen Urtheils sein. Und wenn ferner bei der Auffassung einer isolirt gegebenen, auffallend grofs erscheinenden Person ein besonderer\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 30.\t17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nF. Schumann.\nEindruck sich geltend macht, w\u00e4hrend nichts Anderes im Be-wufstsein nachweisbar ist, was zum Urtheil in n\u00e4herer Beziehung stehen k\u00f6nnte, so liegt es mindestens nahe, diesen Eindruck als Grundlage des Urtheils \u201eauffallend grofs\u201c in Anspruch zu nehmen, zumal da sich gezeigt hat, dafs ein analoger Eindruck auf einem anderen Sinnesgebiete auch vielfach die Grundlage f\u00fcr das Ver-gleichungsurtheil bildet Allerdings kann man a priori mit der M\u00f6glichkeit rechnen, dafs die angef\u00fchrten beiden Factoren mittelbare Kriterien sind, die nur gelegentlich in Frage kommen, und dafs etwa ein \u201eunmittelbares Verschiedenheitsbewufstsein\u201c noch nebenhergeht, welches in erster Linie f\u00fcr das Vergleichungs-urtheil maafsgebend ist. Indessen selbst wenn man davon absieht, dafs der Begriff \u201eunmittelbares Verschiedenheitsbewufstsein\u201c erst noch gen\u00fcgend klargestellt werden mufs, so scheinen mir doch mindestens beim Successivvergleich die Thatsachen sich ohne die Annahme eines solchen Ph\u00e4nomens leicht erkl\u00e4ren zu lassen. Nat\u00fcrlich kann dann das Gr\u00f6fsenurtheil beim Successivvergleich kein urspr\u00fcngliches sein, sondern es mufs sich entwickelt haben. Wir k\u00f6nnen etwa annehmen, dafs beim Kinde das Gr\u00f6fsenurtheil sich zun\u00e4chst bei simultaner Auffassung solcher Gegenst\u00e4nde bildet, die neben oder hinter einander stehen, und von denen der eine den anderen \u00fcberragt Dieselben Gegenst\u00e4nde werden aber auch gelegentlich vom Kinde unwillk\u00fcrlich noch nach einander fixirt, und dabei werden dann die beschriebenen Nebeneindr\u00fccke auf-treten, an die sich nun die Urtheile \u201egr\u00f6fser\u201c und \u201ekleiner\u201c associativ ankn\u00fcpfen k\u00f6nnen. Andererseits ist aber auch m\u00f6glich, dafs das Kind zun\u00e4chst wirklich bei successiver Betrachtung ein bewufstes Vorstellungsbild des einen Gegenstandes auf das Wahrnehmungsbild des anderen legt, dafs aber bei \u00f6fterer successiver Betrachtung derselben beiden, hinsichtlich ihres Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisses bekannten Gegenst\u00e4nde das Vorstellungsbild des ersten nicht mehr im Bewufstsein festgehalten wird, und dafs dann die beschriebenen Nebeneindr\u00fccke auftreten, die sich so allm\u00e4hlich mit den betreffenden Ur-theilen fest associiren. Ist diese Association vollzogen, so wird sich das Kind bei beabsichtigter","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n259\nVergleichung immer weniger M\u00fche geben, ein Ge-d\u00e4chtnifsbild des ersten Eindrucks im Bewufstsein festzuhalten, weil es ja auch ohne ein solches zu einem bestimmten und richtigen Urtheile gelangt. In Folge langj\u00e4hriger Uebung k\u00f6nnen endlich auch die das Urtheil bedingenden Nebeneindr\u00fccke immer mehr und mehr in den Hintergrund des Bewufst-seins treten, so dafs sie jetzt f\u00fcr Erwachsene nur noch schwer der inneren Beobachtung zug\u00e4nglich gemacht werden k\u00f6nnen.\n\u00a7 3. Doch ob nun noch ein \u201eunmittelbares Verschiedenheits-bewufstsein\u201c beim Successivvergleich in Frage kommt oder nicht, jedenfalls haben wir in den angef\u00fchrten Erscheinungen einige Grundlagen des Gr\u00f6fsenurtheils, und wir m\u00fcssen die Frage nach dem Zustandekommen jener Erscheinungen zu beantworten suchen. Dafs ein Zusammenwirken irgend w e 1 c h e r Residuen des ersten Eindrucks mit dem zweiten Eindruck dabei in Frage kommt, liegt zwar auf der Hand. Die Frage nach der n\u00e4heren Beschaffenheit jener Residuen l\u00e4fst sich aber zur Zeit wohl kaum sicher entscheiden. Vielleicht wird mancher Forscher geneigt sein, ohne Weiteres vorauszusetzen, dafs die Nachwirkung, welche die Ursache der Theilung einer gr\u00f6fseren Vergleichslinie, Vergleichsdistanz u. s. w. ist, in einer unbewufsten Vorstellung besteht, mag er nun darunter einen unbewufst psychischen Vorgang oder einen corticalen physiologischen Procefs verstehen. Indessen eine solche Annahme erscheint mir aus verschiedenen Gr\u00fcnden unwahrscheinlich. Einmal haben wir oben gesehen, dafs auch bei der simultanen Auffassung eines Winkels mit verschieden langen Schenkeln unwillk\u00fcrlich aus dem gr\u00f6fseren Schenkel ein dem kleineren gleiches St\u00fcck herausgeschnitten wird. Und ebenso scheint mir in dem Falle, wo eine Horizontale mit einer Verticalen successiv verglichen wird, und wo auch nach meinen Beobachtungen das Herausschneiden eintritt, die Einwirkung einer unbewufsten Vorstellung ausgeschlossen. Denn sonst m\u00fcfste sich eine Vorstellung im Unbewufsten herumdrehen k\u00f6nnen, eine Annahme, die mir mindestens sehr unwahrscheinlich erscheint. Auch habe ich festgestellt, dafs der einzige Herr, Dr. Keferstein, welcher bei der successiven Vergleichung von\nLinien noch ein deutliches Vorstellungsbid der Normallinie be-'\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nF. Schum anti.\nsafs, dieses nicht im Bewufstsein zu drehen vermochte. Bei dem successiven Vergleiche einer Horizontalen und einer Verticalen bildete bei ihm das Vorstellungsbild mit dem Wahrnehmungsbilde ein Kreuz, und das Urtheil kam dann durch Simultan-vergleich zu Stande. Als ich Dr. Keferstein aufforderte zu dem Versuch, das Vorstellungsbild im Bewufstsein herumzudrehen, erkl\u00e4rte er die Ausf\u00fchrung f\u00fcr vollst\u00e4ndig unm\u00f6glich. H\u00f6chstens k\u00f6nne er, w\u00e4hrend das Vorstellungsbild des ersten Eindrucks in seiner urspr\u00fcnglichen Lage verharre, senkrecht zu diesem eine neue subjective Linie ziehen und diese der ersten gleich zu machen suchen. \u2014 Zweitens spricht dann noch gegen die Einwirkung einer unbewufsten, vom ersten Eindruck zur\u00fcckgebliebenen Vorstellung der Umstand, dafs sich zwar das Zer-fallen einer gr\u00f6fseren Vergleichslinie in zwei Theile darauf zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4fst, nicht aber auch das successive Hervortreten des Restes. Eine unbewufste Vorstellung k\u00f6nnte also h\u00f6chstens bei bestimmten F\u00e4llen mitwirken.\nWir werden daher noch andere Nachwirkungen des ersten Eindrucks zur Erkl\u00e4rung heranzuziehen haben z. B. Nachwirkungen in subcorticalen Centren. Zu ihren Gunsten w\u00fcrde man eine Erfahrung anf\u00fchren k\u00f6nnen, die schon die beiden hervorragendsten Beobachter auf physiologisch - optischem Gebiete, v. Helmholtz und Hering, bei der Vergleichung von Distanzen und Linien gemacht haben. Hering (in Herrmann's Handbuch der Physiologie, Bd. Ill, Theil 1, S. 553) berichtet \u00fcber sie Folgendes: \u201eMan kann bei solchen Versuchen bemerken, dafs man nach einander den Blickpunkt bald in die Mitte der einen, bald in die der anderen Strecke verlegt, so dafe die Strecken, wenn sie parallel oder in derselben Linie liegen, nach einander auf denselben Netzhautstellen abgebildet werden Man \u00fcbertr\u00e4gt also, um einen von Helmholtz gebrauchten Vergleich anzuwenden, die betreffende Netzhautstelle wie einen Cirkel nach einander auf die eine und die andere Objectstrecke.\u201c Diese Beobachtung kann ich auf Grund eigener Erfahrung durchaus best\u00e4tigen. Verschiedene Versuchspersonen, welche ein sehr gutes Augenmaafs besafsen, erkl\u00e4rten mir ganz bestimmt, dafs sie beim Vergleichen zweier paralleler oder in derselben Linie liegender Strecken nicht die einzelnen Strecken mit dem Blick durchliefen, dafs sie vielmehr mit dem Blickpunkt von der Mitte der einen Strecke auf die Mitte der anderen","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zw Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n261\n\u00fcbergingen. Ist aber in einem solchen Falle die zuzweit betrachtete Strecke gr\u00f6fser, so werden bei Betrachtung der zweiten Strecke nicht nur dieselben Netzhautelemente gereizt, die schon vorher gereizt waren, sondern aufserdem auch noch einige weitere Elemente. Sind nun die den schon vorher gereizten Elementen entsprechenden subcorticalen Centren etwa noch in einem erregten Zustande oder in einem solchen Zustande, der das Eintreten einer gleichen Erregung beg\u00fcnstigt, so wird in diesen Centren die Erregung etwas lebhafter ausfallen als in den benachbarten neugereizten Centren, und dadurch kann das Zerfallen der Strecke in zwei Theile bedingt sein. Indessen, wenn dieser Factor auch mitwirken mag bei solchen Strecken, die parallel oder in gerader Linie liegen, so vermag er doch ebenfalls nicht das Herausschneiden eines der Normallinie ungef\u00e4hr gleichen St\u00fcckes aus einer anders gerichteten \u2022Vergleichslinie zu erkl\u00e4ren.\nWeiter kommt eine dritte M\u00f6glichkeit in Betracht. Ebbinghaus erw\u00e4hnt gelegentlich (Psychologie I, S. 505), dafs wir bei der Vergleichung wesentlich verschiedener Linien die kleinere auf der gr\u00f6fseren abtragen und uns dann das Differenzst\u00fcck merken. Er nimmt an, dafs wir eigentlich alle Linien, welche wir genau auffassen wollen, mit dem Blick durchlaufen, und er meint nun, dafs wir \u201edie Bewegung, die wir beim Durchlaufen der kleineren Strecke haben machen m\u00fcssen, so gut es gehen will, auf der gr\u00f6fseren wiederholen\u201c. Indessen dieser Ansicht stehen sowohl die bestimmten Aussagen von Helmholtz und Hering als diejenigen einer weiteren Reihe zuverl\u00e4ssiger Versuchspersonen im Wege, welche bekunden, dafs sie von der Mitte der einen Linie den Blick zur Mitte der anderen wenden. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dafs die Beobachter sich etwas get\u00e4uscht haben, und dafs auch bei ihnen der Fixationspunkt bei Betrachtung der zweiten der zu vergleichenden Linien innerhalb des mittleren St\u00fccks dieser Linie verschiedene Lagen nach einander eingenommen hat. Aber ich glaube, dafs es so vorz\u00fcglichen Beobachtern wie Helmholtz und Hering jedenfalls nicht entgangen w\u00e4re, wenn sie jede Linie in ganzer L\u00e4nge mit bewegtem Auge durchlaufen h\u00e4tten. Aufserdem nimmt Ebbinghaus selbst an, dafs die Reproduction der Bewegung, welche wir beim Durchlaufen der ersten Strecke haben machen m\u00fcssen, bei einem genauen Vergleichen wenig","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nF. Schumann.\nverschiedener Strecken nicht in Frage * kommt, w\u00e4hrend das JHerausschneiden eines, der zuerst betrachteten Linie gleichen St\u00fccks aus einer gr\u00f6fseren Vergleichslinie sich gerade beim genauen Vergleichen wenig verschiedener Linien gezeigt hat\nIch glaube daher, dafs ein anderer Factor, n\u00e4mlich die Aufmerksamkeit, als Ursache des Herausschneidens in Betracht kommt. Auf sie weist die Thatsache hin, dafs bei der gr\u00f6fseren Linie sowohl wie bei dem gr\u00f6fseren Kreis\u00a9 das \u00fcbersch\u00fcssige St\u00fcck successiv hervortritt Ferner beobachten wir ja allgemein, dafs bei der Auffassung langer Linien erst ein Theil durch die Aufmerksamkeit herausgehoben wird und dann successiv der Rest Allerdings haben wir nicht viel zur Erkl\u00e4rung beigetragen, wenn wir die Aufmerksamkeit als die Ursache bezeichnen, da Aufmerksamkeit vorl\u00e4ufig noch ein Begriff ist, unter den wir das Verschiedenartigste zusammenfassen. Zwar wird ja jetzt wohl ziemlich allgemein angenommen, dafs die Haupterscheinungen der Aufmerksamkeit darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren sind, dafs nur eine bestimmte Summe psychophysischer Energie zur Verf\u00fcgung steht, die sich in verschiedener Weise vertheilen kann. Indessen, es werden noch eine ganze Reihe von Nebenph\u00e4nomenen der Aufmerksamkeit zugeschrieben, deren eigentliche Ursachen erst noch zu erforschen sind, und um ein solches Nebenph\u00e4nomen handelt es sich meiner Ansicht nach auch in dem hier in Frage stehenden Falle.\nBeim Zustandekommen eines absoluten Eindrucks m\u00fcssen dann nat\u00fcrlich irgend welche anderen Residuen des ersten Wahrnehmungsinhaltes mitwirken ; und zwar d\u00fcrfen wir hier wohl annehmen, dafs es sich um dieselben Residuen handelt, welche auch das Wiederaufleben der Vorstellungen bedingen. Aus der Thatsache, dafs nach Auffassung zahlreicher einzelner Exemplare einer Classe von Objecten, welche an Gr\u00f6fse verschieden sind, eine innere Anpassung an die Mittelgr\u00f6fse stattfindet, d\u00fcrfen wir ferner schliefsen, dafs hier Residuen in Frage kommen, welche von den verschiedenen wahrgenommenen Exemplaren gemeinsam Zur\u00fcckbleiben, d. h. Residuen, welche in naher Beziehung zum Begriffe stehen.\nII.\n\u00a7 4. Die Er\u00f6rterungen der vorigen Paragraphen haben ergeben, dafs bei der successiven Vergleichung r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsen","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4gt zur Analyse der Gesichtswahmehmungen. III.\n263\n.die Verh\u00e4ltnisse zum Theil ganz \u00e4hnlich liegen, wie bei der Verbleichung zeitlicher Intervalle, bei der ja auch nach meinen Untersuchungen die Anpassung der Aufmerksamkeit eine grofse Rolle spielt und die Vergleichsurtheile durch Nebeneindr\u00fccke bestimmt werden. Nun hat sich bei jenen Untersuchungen gezeigt, dafs die das Zeiturtheil bedingenden Nebeneindr\u00fccke nicht immer allein von der Gr\u00f6fse der zeitlichen Intervalle, sondern auch noch von anderen Factoren abh\u00e4ngig sind. Und ich habe den Beweis f\u00fcr die Annahme, dafs die betreffenden Nebeneindr\u00fccke die Ur-theile bestimmen, zum Theil auf die Thatsache gest\u00fctzt, dafs T\u00e4uschungen eintreten, sobald jene Nebeneindr\u00fccke nicht nur durch die Gr\u00f6fse der Intervalle, sondern auch durch andere Factoren beeinflufst werden. Es liegt nun nahe zu vermuthen, dafs auch bei der Gr\u00f6fsensch\u00e4tzung die Nebeneindr\u00fccke, welche das Urtheil bedingen sollen, noch durch andere Factoren beeinflufst werden k\u00f6nnen, und dafs auf eine solche Beeinflussung mindestens ein Theil der zahlreichen geometrisch - optischen T\u00e4uschungen zur\u00fcckzuf\u00fchren ist. Indessen, es ist auf diesem Gebiete schwer, eine Beeinflussung durch andere Factoren sicher zu constatiren, wreil einmal die Herkunft der durch die Selbstbeobachtung aufgedeckten Erscheinungen nicht gen\u00fcgend Jdar gestellt ist, und weil wir zweitens keineswegs sicher sind, dafs wir alle Factoren kennen, welche die Ausdehnung eines Wahrnehmungsinhaltes bestimmen. Haben wir z. B. gefunden, dafs von zwei objectiv gleichen r\u00e4umlichen Gr\u00f6fsen unter bestimmten Versuchsbedingungen die eine \u00fcbersch\u00e4tzt wird, und \u00abhaben wir weiter durch innere Wahrnehmung constatirt, dafs wirklich eine der angef\u00fchrten, bei einem ausgedehnteren Vergleichsobjecte auftretenden Erscheinungen mit der T\u00e4uschung einhergeht, so l\u00e4fst sich vielfach nur schwer die M\u00f6glichkeit aus-sehliefsen, dafs durch die Versuchsumst\u00e4nde eine gr\u00f6fsere Ausdehnung des \u00fcbersch\u00e4tzten Wahrnehmungsinhaltes bedingt ist, und dafs nur die gr\u00f6fsere Ausdehnung die constatirten Erscheinungen hervorgerufen hat. Indessen ich glaube in einer .Reihe von F\u00e4llen, wenn nicht beweisen, so doch mindestens sehr wahrscheinlich machen zu k\u00f6nnen, dafs die Versuchsumst\u00e4nde direct (d. h. ohne Vermittelung durch eine gr\u00f6fsere bezw. kleinere Ausdehnung des Wahrnehmungsinhaltes) die das Urtheil bedingenden Erscheinungen beeinflussen. Schon die fundamentale Thatsache, dafs die meisten","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nF, Schumann.\ngeometrisch-optischenT\u00e4uschungen erheblich nach-lassen bezw. ganz aufh\u00f6ren, sobald man die betreffenden Figuren \u00d6fter betrachtet und sich dabei immer bem\u00fcht, m\u00f6glichst genau zu vergleichen, spricht entschieden f\u00fcr die Annahme, dafs es sich mindestens bei einem gro fs en Theil der T\u00e4uschungen um reine Urtheilst\u00e4uschungen handelt.\n1. Ich beginne mit einer Besprechung der schon in \u00a7 2 angef\u00fchrten beiden T\u00e4uschungen (Fig. 1 und 2). Man kann zun\u00e4chst versuchen, sie etwa in folgender Weise zu erkl\u00e4ren:\nWollen wir in Figur 1 die beiden unteren Linien mit einander vergleichen, so durchlaufen wir zun\u00e4chst unwillk\u00fcrlich den mittleren, einheitlichen Complex von Linien von oben nach unten mit dem Blick. Dabei wendet sich die Aufmerksamkeit immer kleineren und kleineren Linien zu, so dafs nach wenigen Ueber-g\u00e4ngen schon die Erwartung einer noch kleineren Linie im Voraus ein tritt Gehen wir dann schliefslich zur untersten Linie \u00fcber, so bleibt nicht das unbewufste Vorstellungsbild der unmittelbar vorangegangenen Linie zur\u00fcck und wirkt modificirend mit bei der neuen Wahrnehmung, sondern es wird in Folge der Erwartung einer kleineren Linie durch das Vorstellungsbild einer solchen verdr\u00e4ngt. In Folge dessen wird aus der untersten Linie im ersten Moment ein mittleres St\u00fcck herausgeschnitten.\nOb wir aber wirklich den einheitlichen Complex von Linien successiv mit dem Blick durchlaufen, ist mir mehr als zweifelhaft In etwas abge\u00e4nderter Form erscheint mir die Erkl\u00e4rung daher zutreffender. Ich gehe aus von der analogen, noch st\u00e4rkeren T\u00e4uschung in Figur 2. Hier scheint von den beiden mittleren Kreisbogen der untere erheblich gr\u00f6fser zu sein, obwohl die beiden objectiv genau gleich sind. Die innere Wahrnehmung ergiebt nun, dafs bei dem einheitlichen Complexe der drei oberen Kreisbogen sowohl, wie bei demjenigen der unteren rechts und links leicht subjective Grenzlinien auftreten, welche die unter einander befindlichen Endpunkte mit einander verbinden. Fixire ich zun\u00e4chst den untersten von den drei oberen Kreisbogen, so setzen sich die subjectiven Linien des oberen Complexes h\u00e4ufig nach unten fort, und die Aufmerksamkeit umfafst dann im Allgemeinen nicht nur die drei oberen Linien mit der zwischen ihnen befindlichen weifsen Fl\u00e4che, sondern es tritt auch noch","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zw Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n265\nderjenige Theil der darunter befindlichen Fl\u00e4che im Bewufstsei\u00fc hervor, welcher zwischen den subjectiven Grenzlinien liegt. Und zwar scheint mir auch in denjenigen F\u00e4llen, in denen keine scharfen Grenzlinien auftreten, die betreffende Fl\u00e4che noch hervorzutreten. Da diese nun nach unten spitz zul\u00e4uft und daher aus dem unteren der zu vergleichenden Kreisbogen ein mittleres St\u00fcck herausschneidet, so ist eine Tendenz zum Hervortreten dieses mittleren St\u00fccks gegeben. Wenden wir dann, weiter den Blick vom oberen zum unteren Kreisbogen, so kommt noch, eine zweite, auf Herausschneiden eines dem ersten gleichen Kreisbogens gerichtete Tendenz hinzu. Diese Tendenz wird stark, wenn wir m\u00f6glichst genau vergleichen wollen, und wenn wir uns in Folge dessen M\u00fche geben, die erste der zu vergleichenden Linien im Bewufstsein festzuhalten. Sie ist dagegen verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig schwach bei dem \u201egedankenlosen Dar\u00fcber-hinwegblicken\u201c, welches bei mir gew\u00f6hnlich eintritt, wenn ich ;eine optische T\u00e4uschung zum ersten Male habe. Dementsprechend war auch die T\u00e4uschung bei mir anfangs aufserordentlich stark lind das herausgeschnittene St\u00fcck wrar jedenfalls nicht viel gr\u00f6fser als das kleine St\u00fcck, welches die zugespitzte Fl\u00e4che allein herausschneiden w\u00fcrde. Bei dem Bem\u00fchen, genauer zu vergleichen, nahm dann die Gr\u00f6fse des herausgeschnittenen St\u00fccks zu, und die T\u00e4uschung liefs nach.\nFixire ich andererseits den obersten der drei unteren Kreisbogen, so haben die subjectiven Grenzlinien dieses Complexes die Tendenz, sich nach oben fortzusetzen, und die Aufmerksamkeit erfafst zugleich wieder einen Theil des weifsen Feldes, welches oberhalb des Complexes zwischen den subjectiven Linien liegt und also nach oben zu immer breiter wird. Gehe ich dann mit dem Blick zu dem untersten der drei oberen Kreisbogen \u00fcber, so wird im ersten Moment von der Aufmerksamkeit ein Feld erfafst, welches breiter ist als der Kreisbogen, und erst sp\u00e4ter zieht sich die Aufmerksamkeit gleichsam zusammen. \u2014 Auch diese Erscheinung wird durch die innere Wahrnehmung best\u00e4tigt; jedoch mufs ich zugestehen, dafs in diesem Falle die Sicherheit meiner Aussage nicht ganz so grofs ist wie im ersten.\nIn ganz gleicher Weise w\u00fcrde dann auch die T\u00e4uschung in -Figur 1 zu erkl\u00e4ren sein. Nur ist hier noch zu bedenken, dafs die eine der beiden zu vergleichenden Linien isolirt gegeben ist. Betrachte ich diese Linie beim Vergleichen zuerst, so f\u00e4llt","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nF. Schumann.\ndie angef\u00fchrte T\u00e4uschungsursache fort. Dementsprechend finde ich aber auch, dafs in diesem Falle die T\u00e4uschung mindestens auf ein Minimum reducirt ist.\nDafs \u00fcbrigens bei diesen beiden T\u00e4uschungen ganz sicher centrale Bedingungen im Spiele sind, geht aus der Thatsache hervor, dafs die T\u00e4uschungen beseitigt werden, wenn man die zu vergleichenden Linien in besonderer Weise auffafst Isolirt man n\u00e4mlich von dem mittleren einheitlichen Complex von Linien der Figur 1 die untere durch die Aufmerksamkeit und l\u00e4fst sie dann mit der darunter befindlichen isolirten Linie im Bewufstsein hervortreten, so erkennt man unmittelbar, dafs diese beiden Linien gleich sind. Zugleich pflegen dann subjective Grenzlinien aufzutreten, welche die unter einander befindlichen Endpunkte der zu vergleichenden Linien mit einander verbinden. Dasselbe gilt f\u00fcr die anderen beiden zu vergleichenden Linien dieser Figur. Ich habe mich an diese Auffassung so gew\u00f6hnt, dafs bei mir die T\u00e4uschung vollst\u00e4ndig geschwunden ist, obwohl ich sie Anfangs mit grofser Deutlichkeit hatte. Bei den Kreisbogen beseitige ich sie ebenfalls, wenn ich die beiden mittleren Kreisbogen heraushebe und dadurch im Bewufstsein isolire ; doch mufs ich mir immer besondere M\u00fche geben, dies zu erreichen, da sich die Isolirung schwerer vollzieht als bei den Linien in Figur 1.\nBei der bekannten T\u00e4uschung in Figur 3 w\u00fcrde dann wohl derselbe Factor in Frage kommen, wenn auch dahingestellt bleiben mag, ob hier noch andere Factoren mitwirken.\nFig. 4.\nw\nFerner wird die Uebersch\u00e4tzung der in Figur 4 rechts gezeichneten Senkrechten wohl in \u00e4hnlicher Weise zu erkl\u00e4ren sein* Betrachte ich hier zun\u00e4chst die linke Senkrechte und wende dann den Blick der rechten zu, so bemerke ich vielfach sehr","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtsicahrnehmungen. III.\n267\ndeutlich, dafs im ersten Augenblick nur das mittlere St\u00fcck der letzteren heraustritt, welches zwischen den beiden \u00e4ufseren conver-girenden Linien liegt. Zugleich glaube ich auch beobachten zu k\u00f6nnen, dafs, w\u00e4hrend ich die erste Senkrechte fhrire, die con-vergirenden Linien mit dem zwischen ihnen liegenden Theile des Gesichtsfeldes der Aufmerksamkeit sich aufzudr\u00e4ngen suchen. Zu ber\u00fccksichtigen ist hier nat\u00fcrlich noch, dafs eine mehrfach getheilte Linie gem\u00e4fs den Ausf\u00fchrungen der folgenden Seite \u00fcberhaupt suecessiv von der Aufmerksamkeit erfafst wird.\n2. Weiter l\u00e4fst sich auch die Uebersch\u00e4tzung einer ausgef\u00fcllten Distanz in einfacher Weise erkl\u00e4ren. Betrachte ich n\u00e4mlich zun\u00e4chst die leere Distanz in Figur 5, so treten die begrenzenden\n* \u00ab\n@\t\u2022\t\u00ab\t9\t\u00a9\t\u00a9\nFig. 5.\nPunkte im Bewufstsein stark hervor, w\u00e4hrend der zwischenliegende Raum ganz zur\u00fccktritt. Wende ich dann den Blick der ausgef\u00fcllten Distanz zu, so treten jetzt ebenso stark wie die Grenzpunkte auch die ausf\u00fcllenden Punkte hervor. Dieses Hervortreten der zwischen den Grenzpunkten liegenden Distanz erzeugt aber, wie oben erw\u00e4hnt, allein schon eine Tendenz zur Hervorrufung des Urtheils \u201egr\u00f6fser\u201c, da es auch bei einer wirklich gr\u00f6fseren Vergleichsdistanz zu beobachten ist. Indessen, das Hervortreten allein ist, wie ich schon fr\u00fcher (Abhandlung 2, \u00a7 9) ausgef\u00fchrt habe, ein sehr unsicheres Kriterium. Die durch diesen Factor bedingten T\u00e4uschungen h\u00f6ren sofort auf bei dem Bem\u00fchen, genauer zu vergleichen, w\u00e4hrend die hier in Rede stehende T\u00e4uschung erheblich schwerer zu \u00fcberwinden ist. Wir m\u00fcssen uns daher noch nach einem weiteren Factor umsehen. Und in der That ist noch ein solcher vorhanden. Wie ich in Abhandlung 1 gezeigt habe, verm\u00f6gen die meisten Personen aus einer Reihe von gleichen Quadraten, Punkten u. s. w., die in einer Reihe in gleichen Abst\u00e4nden angeordnet sind, nur drei solcher Elemente auf einmal bequem durch die Aufmerksamkeit herauszuheben und vier bis f\u00fcnf mit einiger Anstrengung. Wollen wir","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nF. Schumann.\nnun eine l\u00e4ngere Reihe solcher in gerader Linie angeordneter Elemente auffassen, so pflegen wir, von links nach rechts gehend, zun\u00e4chst die ersten drei bis f\u00fcnf Elemente herauszuheben, und dann erst successiv die \u00fcbrigen. Es zeigen sich also bei der Auffassung einer solchen Reihe Vorg\u00e4nge, welche den bei Auffassung einer gr\u00f6fseren Vergleichsdistanz stattfindenden mindestens sehr \u00e4hnlich sind.\nSind aber im Ganzen hur drei Punkte vorhanden, haben wir es also mit einer in der Mitte getheilten Distanz (Figur 6) za thun, so darf die T\u00e4uschung nicht mehr vorhanden sein. Und in der That tritt in diesem Falle bei mir nie eine Uebersch\u00e4tzung der getheilten Distanz ein, wenn ich sorgf\u00e4ltig vergleiche. Jetzt findet vielmehr im Gegentheil vielfach eine sehr starke Uebersch\u00e4tzung der leeren Distanz statt. Bei einer mehr gedankenlosen Betrachtung der getheilten Distanz befinden sich n\u00e4mlich leicht alle drei Punkte im Vordergr\u00fcnde des Bewufstseins, und ich bin mir dann der Gesammtl\u00e4nge der Distanz nicht so unmittelbar bewufst wie bei einer ungeteilten Distanz (vgl. Abhandlung 2, \u00a7 7). In einem solchen Falle treten nun leicht dieselben Erscheinungen ein, wie bei der Auffassung der in der\nFig. 6.\nMitte einer Horizontalen errichteten Senkrechten (vgl. Abhandlung 2, \u00a7 7, Fig. 29). Beim Uebergange des Blicks von der getheilten zur ungetheilten Distanz wird aus der letzteren zun\u00e4chst die linke H\u00e4lfte herausgeschnitten, und einen Moment sp\u00e4ter erst tritt successiv die andere H\u00e4lfte hervor; zugleich macht sich wieder ein innerlich erzeugter Eindruck der Spannung geltend. Tritt diese Erscheinung ein, so dr\u00e4ngt sich das Urtheil \u201eviel gr\u00f6fser\u201c mit grofser Lebhaftigkeit auf, und zwar ist dieses Urtheil nur dann vorhanden, wenn die erw\u00e4hnte Erscheinung zu beobachten ist. Suche ich aber andererseits die beiden Distanzen m\u00f6glichst genau zu vergleichen, so lasse ich bei Betrachtung der getheilten Distanz unwillk\u00fcrlich den Theilpunkt im Bewufstsein zur\u00fccktreten, die Grenzpunkte dagegen hervortreten. Dann bin ich mir der Gesammtl\u00e4nge der Distanz immittelbar bewufst, und eine T\u00e4uschung macht sich nicht geltend.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n269\nIch kann noch anf\u00fchren, dafs ich das successive Hervortreten der ungeteilten Distanz schon beobachtet habe, bevor ich die Theorie des Successivvergleichs ausgebildet hatte. Ebenso haben verschiedene Versuchspersonen, denen meine eigenen Beobachtungen unbekannt waren, von selbst den Vorgang constat\u00e2t. Sie sagten, es sei gerade, als ob sie bei der unge-theilten Distanz unwillk\u00fcrlich wieder einen Theilpunkt suchten, und zwar zun\u00e4chst in der Mitte und dann successiv mit der Aufmerksamkeit nach der rechten Seite bin gleitend.\nFig. 7.\nLipps meint, die Untersch\u00e4tzung der einmal getheilten Distanz oder Linie f\u00e4nde nur unter gewissen Umst\u00e4nden statt, n\u00e4mlich dann, wenn die Theildistanzen oder Theile der Linie nicht \u00fcberall gleichartig begrenzt sind, wie dies in Figur 7 der Fall ist. Hier ist in der Mitte der Linie ein deutlich aus ihr hervortretender Punkt bezw. eine kleine Verticale angebracht, ohne dafs die Enden der Linie in gleicher Weise bezeichnet sind. Ich finde aber, dafs die T\u00e4uschung in Figur 6 vielfach ebenso stark ist, wenn sie auch nicht mit derselben Regelm\u00e4fsigkeit ein-tritt. Allerdings darf man die Distanzen nicht so klein nehmen, wie sie Lipps in seinem Buche gew\u00e4hlt hat (Raum\u00e4sthetik und geometrisch - optische T\u00e4uschungen, S. 147), weil dann die Endpunkte der leeren Distanz einander so nahe sind, dafs sie sich immer gleichzeitig der Aufmerksamkeit aufdr\u00e4ngen. Uebrigens habe ich auch in Figur 7 das successive Hervortreten der \u00fcbersch\u00e4tzten Linie deutlich beobachtet.\nFig. 8.\n3. In Figur 8 erscheint die von l\u00e4ngeren Parallelen umgebene Mittellinie l\u00e4nger als die zweite, von k\u00fcrzeren Parallelen \u00a9ingefafste. Diese T\u00e4uschung d\u00fcrfte auf die folgenden beiden Factoren zur\u00fcckzuf\u00fchren sein.\nBetrachte ich zun\u00e4chst die Mittellinie des links gezeichneten Complexes, so befinden sich \u2014 wenigstens beim gedankenlosen Dar\u00fcberhinwegblicken \u2014 die beiden einfassenden Linien zugleich","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nF. Schumann.\nmit jener im Vordergr\u00fcnde des Bewufstseins, und ich bin demnach bei Wendung des Blicks nach rechts auf die Auffassung dieser kleinen einschliefsenden Linien mit vorbereitet. In Folge dessen ist eine Tendenz vorhanden, aus den gr\u00f6fseren einfassenden Linien ein den kleineren gleiches St\u00fcck herauszuscheiden. Nun kann man wohl allgemein annehmen, dafs beim Herausschneiden gleicher und einander entsprechender St\u00fccke zweier Parallelen auch der dazwischen liegende Theil des Gesichtsfeldes mit davon betroffen wird, welcher nun in dem hier in Rede stehenden Falle die zu beurtheilende Linie enth\u00e4lt.\nAllerdings pflegt die T\u00e4uschung selbst dann noch l\u00e4ngere Zeit fortzubestehen, wenn man sich bem\u00fcht, die zu vergleichenden Linien von den benachbarten zu isoliren und im Bewu\u00dftsein hervortreten zu lassen. Ich habe aber bemerkt, dafs in solchen F\u00e4llen zwar links die Isolirung sehr leicht von Statten geht, dafs dann aber beim Uebergange des Blicks von links nach rechts sich der zweite Complex immer im ersten Momente als Ganzes der Aufmerksamkeit aufzudr\u00e4ngen sucht, und dafs die Isolirung der Mittellinie immer erst eine gwisse Zeit in An-Spruch nimmt. Und zwar l\u00f6st sich die Mittellinie nicht gleichzeitig in allen Theilen von den benachbarten Linien, sondern es wird zuerst, vom linken Endpunkte anfangend, ein Theil herausgehoben und dann successiv der Rest. Die drei rechts befindlichen Linien sind eben s o einheitlich verkn\u00fcpft, dafs es schwer ist, die mittlere Linie im ersten Momente in ihrer ganzen L\u00e4nge gleichzeitig zu isoliren. Hat man h\u00e4ufig die beiden Mittellinien mit einander verglichen und sich dabei immer bem\u00fcht, sie im Bewufstsein hervortreten zu lassen, so gelingt die Isolirung nachher auch schon im ersten Moment, und die T\u00e4uschung h\u00f6rt auf.\nDie eben angef\u00fchrte Beobachtung ist mir wieder von den verschiedensten Versuchspersonen best\u00e4tigt worden und zwar selbst von solchen, die verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig wenig Uebung in der Selbstbeobachtung hatten. Ein Herr sagte aus, er h\u00e4tte den Eindruck, als ob er rechts ein Hindernifs \u00fcberwinden und in den zwischen den \u00e4ufseren Parallelen liegenden Raum erst hinein-dringen m\u00fcfste.\n\u00a7 5. Bei der Vergleichung von Rechtecken kommt, wie schon oben (S. 253) kurz erw\u00e4hnt, f\u00fcr das Gr\u00f6fsenurtheil ein besonderer Factor in Frage, auf den ich zuerst durch eine","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n271\nT\u00e4uschung gef\u00fchrt wurde, die sich unter gewissen Umst\u00e4nden zeigt. Als ich z. B. mit einem, immer zuerst betrachteten Normalrechteck von 25 mm H\u00f6he und 40 mm Breite verschiedene andere Rechtecke, die theils hinsichtlich der Breite, theils hinsichtlich der H\u00f6he um + 1, 2, 3 mm von ihm abwichen, in regellosem Wechsel vergleichen liefs, wurde von vielen Personen fast regel-m\u00e4fsig die Breite des zweiten gleichbreiten Rechtecks f\u00fcr gr\u00f6fser gehalten, wenn die H\u00f6he niedriger war, und umgekehrt wurde die H\u00f6he f\u00fcr gr\u00f6fser gehalten, wenn nur die Breite geringer war.\nAuf die Erkl\u00e4rung weist eine Aussage der im Zeichnen besonders ge\u00fcbten Versuchsperson Dr. med. Keferstein hin. Er erkl\u00e4rte n\u00e4mlich schon unmittelbar nach dem ersten Versuche, dafs ihm bei Betrachtung des zweiten Rechtecks im ersten Moment nur das ver\u00e4nderte Verh\u00e4ltnifs auffalle. Nach einer gr\u00f6fseren Reihe von Versuchen erg\u00e4nzte er dann seine Aussage und behauptete mit voller Bestimmtheit, dafs ihm im ersten Moment die verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig gr\u00f6fsere Seite auffalle, und dafs er dann hinterher erst anfange zu pr\u00fcfen, welche Seite ver\u00e4ndert sei, da er aus Erfahrung wisse, dafs das Auffallen der einen Seite sowohl durch eine Vergr\u00f6fserung dieser, als auch durch eine Verkleinerung der anderen hervorgerufen werde. Er pr\u00e4ge 9ich daher nicht nur das Rechteck als Ganzes ein, sondern aufser-dem auch noch jede Seite besonders, und er pr\u00fcfe, wenn ihm z. B. die Verticale aufgefallen sei; hinterher noch besonders, ob etwa die Horizontale kleiner sei. K\u00f6nne er letzteres nicht con-statiren, so erkl\u00e4re er nun die Verticale auch f\u00fcr die absolut l\u00e4ngere.\nEs ist darum auch leicht verst\u00e4ndlich, dafs von dieser Versuchsperson die verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig l\u00e4ngere Seite vielfach auch f\u00fcr die absolut l\u00e4ngere gehalten wurde. Denn da allgemein bei der successiven Vergleichung r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsen nur dann kleine Unterschiede richtig erkannt werden, wenn das Urtheil sofort bei Betrachtung des zweiten Objectes sich bilden kann und nicht etwa durch andere Momente am Entstehen verhindert wird, so hat auch die Versuchsperson bei den hier in Frage kommenden F\u00e4llen vielfach hinterher nicht mehr die Ver* kleinerung der einen Seite eonstatiren k\u00f6nnen und deshalb f\u00e4lschlich die relativ gr\u00f6fsere Seite auch f\u00fcr die absolut gr\u00f6fsere gehalten.\nDie anderen im Zeichnen weniger ge\u00fcbten Versuchspersonen","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nF. Schumann.\nverfielen noch h\u00e4ufiger der erw\u00e4hnten T\u00e4uschung. Auch war ihnen die Ursache ihres falschen Urtheils zun\u00e4chst ganz unbekannt. Die meisten vermochten aber bei den Vergleichsrechtecken ein Hervortreten der verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig gr\u00f6fseren Seiten sicher zu constatiren, nachdem ich sie darauf aufmerksam gemacht hatte. Am deutlichsten l\u00e4fst sich meiner Erfahrung nach die Erscheinung bei kleinen rechteckigen schwarzen Fl\u00e4chen auf weifsem Grunde beobachten, wie z. B. bei den Rechtecken in der von Lipps angegebenen Figur 9. Hier konnten fast alle\nFig. 9.\nVersuchspersonen beim Wandern des Blicks von links nach rechts bei jedem neuen Rechteck das momentane lebhafte Hervortreten der horizontalen Grenzlinien, und beim Wandern des Blicks in umgekehrter Richtung das lebhafte Hervortreten der verticalen Linien und das Zur\u00fccktreten der horizontalen best\u00e4tigen. Zugleich schienen im ersteren Falle die objectiv gleichen Horizontalen immer gr\u00f6fser und gr\u00f6fser zu werden und im anderen Falle immer kleiner und kleiner. Bei einigen Versuchspersonen war die T\u00e4uschung theils von vornherein nicht vorhanden, theils h\u00f6rte sie nach wiederholter Betrachtung auf. Dementsprechend war dann auch das Fehlen bezw. Verschwinden der Nebeneindr\u00fccke zu constatiren. Nicht ganz sicher vermag ich zu entscheiden, ob ich von den hervortretenden Linien auch einen absoluten Eindruck der Gr\u00f6fse erhalte, doch halte ich es f\u00fcr .wahrscheinlich.\nDafs das Hervortreten der relativ l\u00e4ngeren Seite durch das ver\u00e4nderte Verh\u00e4ltnifs der Seiten bedingt ist, wird durch weitere Erfahrungen bewiesen, die ich bei Versuchen machte, bei denen ich Rechtecke von erheblich verschiedener Gr\u00f6fse hinsichtlich des Verh\u00e4ltnisses der Seiten mit einander verglich. Mit einem Normalrechteck, dessen Verticale 20 mm und dessen Horizontale 32 mm lang war, verglich ich in regellosem Wechsel sieben andere Rechtecke, von denen das eine genau doppelt so lange Seiten hatte, w\u00e4hrend bei den 6 anderen die Horizontale theils l\u00e4nger, theils k\u00fcrzer war, und zwar um 1, 2 und 3 mm. Ein Blatt mit der Normalfigur legte ich in bequeme Sehweite auf einen Tisch, vor dem ich safs, betrachtete es einige Secunden","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n273\nund deckte dann pl\u00f6tzlich ein Blatt mit einem der gr\u00f6sseren Rechtecke dar\u00fcber. Nach wenigen Versuchen konnte ich mit grofser Genauigkeit beurtheilen, ob bei den gr\u00f6fseren Rechtecken das Verh\u00e4ltnis der Horizontalen zur Vertiealen dasselbe war wie beim Normalrechteck oder nicht. Bei den Vergleichsrechtecken, deren Horizontale um 2 mm zu lang oder zu kurz war, trat kaum noch ein falsches Urtheil auf.\nBietet nun schon das Zustandekommen des gew\u00f6hnlichen Vergleichsurtheils der Erkl\u00e4rung grofse Schwierigkeiten, so scheinen diese Schwierigkeiten bei dem hier in Frage stehenden complicirteren Urtheil noch ganz erheblich zu wachsen. Als ich aber bei den obigen Versuchen sorgf\u00e4ltig darauf achtete, ob sich etwa noch irgend welche, in n\u00e4herer Beziehung zu dem Urtheil stehende Vorg\u00e4nge beobachten liefsen, fand ich, dafs ebenfalls die relativ gr\u00f6fseren Seiten lebhaft im Bewufstsein hervortraten. Nun treten ja allgemein, wie ich in Abhandlung 1 erw\u00e4hnt habe, bei Rechtecken die l\u00e4ngeren Linien vor den k\u00fcrzeren etwas hervor; indessen in den hier in Frage stehenden F\u00e4llen ist das Ph\u00e4nomen unvergleichlich viel st\u00e4rker. Ferner habe ich vielfach mit Sicherheit constatirt, dafs bei Auffassung eines Vergleichsrechtecks ein Eindruck der Ausdehnung in der Richtung der relativ gr\u00f6fseren Seiten auftrat. Derselbe unterschied sich von dem Eindruck der Ausdehnung, der sich bei der Vergleichung einfacher Linien geltend macht, nur dadurch, dafs die Ausdehnung sich nicht blos \u00fcber ein Differenzst\u00fcck, sondern \u00fcber die ganze Fl\u00e4che des Rechtecks erstreckte. Ich habe diesen Eindruck auch schon bei der Vergleichung von Rechtecken, die sich nur hinsichtlich der Ausdehnung einer Dimension unterschieden, beobachtet; indessen erst bei den hier in Frage stehenden Versuchen wurde er so deutlich, dafs ich ganz sicher war, mich nicht zu irren.\nAuch verschiedene, in der Selbstbeobachtung etwas ge\u00fcbte Versuchspersonen vermochten das Hervortreten der relativ l\u00e4ngeren Seiten sowohl wie den Eindruck der Ausdehnung mit Sicherheit festzustellen. Einige erkl\u00e4rten sogar mit grofser Bestimmtheit , dafs das \u201eunmittelbare Bewufstsein der relativ gr\u00f6fseren L\u00e4nge\u201c genau solange vorhanden sei, als das Hervortreten andauere. Ferner kann ich darauf hinweisen, dafs ich die Erscheinung gerade in den F\u00e4llen immer deutlich beobachtet habe, in denen das Urtheil sich mit grofser Lebhaftigkeit und\nZeitschrift fUr Psychologie 80.\t18","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nF. Schumann.\nBestimmtheit aufdr\u00e4ngte. Ebenso hatten auch diejenigen meiner Versuchspersonen, die die Erscheinung deutlich beobachten konnten, ein sehr bestimmtes und lebhaftes Urtheil, was vielfach schon an den auffallend lebhaft gesprochenen Worten zu erkennen war.\nMacht man aber l\u00e4ngere Versuchsreihen mit demselben Normalrechteck und denselben 7 Vergleichsrechtecken, so h\u00f6rt die Erscheinung bei vielen Personen auf, und es kommt nun ein anderer Factor in Betracht, n\u00e4mlich ein individuelles Wiedererkennen der einzelnen Vergleichsrechtecke. Die Versuchsperson identificirt oft schon nach zwei oder drei Wiederholungen ein dargebotenes Vergleichsrechteck mit einem bestimmten vorher gezeigten und erkl\u00e4rt nur deshalb die horizontalen oder die verticalen Seiten f\u00fcr zu lang, weil sie noch weifs, dafs sie bei dem fr\u00fcheren Versuch das betreffende Urtheil abgegeben hat. Und wenn die Ver-suchsperson das neu gesehene Vergleichsrechteck auch nicht mit einem bestimmten fr\u00fcher gesehenen Rechtecke zu identificiren vermag, so weifs sie doch vielfach noch, dafs es zu der Gruppe derjenigen Vergleichsrechtecke geh\u00f6rt, deren Horizontale bezw. deren Verticale fr\u00fcher als relativ zu lang beurtheilt wurde. Wenn daher der Leser bei einer Wiederholung der Versuche das Hervortreten der relativ l\u00e4ngeren Seiten und den Nebeneindruck der Ausdehnung nicht sogleich zu constatiren vermag, so bitte ich ihn, die Versuche zu anderen Zeiten, und zwar m\u00f6glichst bei grofser geistiger Frische, zu wiederholen und dabei immer die Gr\u00f6fse der Normal- und der Vergleichsrechtecke zu \u00e4ndern.\nVon mir sowohl wie von einer Reihe von Versuchspersonen ist jedenfalls, wie gesagt, die eben genannte Erscheinung mit Sicherheit beobachtet worden, und ich glaube, wir m\u00fcssen mindestens mit der M\u00f6glichkeit rechnen, dafs sie auch eine Grundlage f\u00fcr das Urtheil \u00fcber das Verh\u00e4ltnifs der Seiten bildet. Ferner lassen sich nun auch mit H\u00fclfe dieser Erscheinung die am Anfang dieses Paragraphen besprochenen T\u00e4uschungen leicht erkl\u00e4ren, die bei der Vergleichung von nur nach einer Dimension verschiedenen Rechtecken auftreten. Denn abgesehen davon, dafs das Hervortreten der relativ l\u00e4ngeren Linien, wie fr\u00fcher gesehen, schon allein eine Tendenz f\u00fcr das Urtheil \u201egr\u00f6fser\u201c abgiebt, kommt noch hinzu, dafs der hier auftretende \u201eEindruck der Ausdehnung\u201c dem anderen \u201eEindr\u00fccke der Ausdehnung\u201c mindestens sehr \u00e4hnlich ist, der sich","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyze der Oeeichtswahrnehmungen. III.\n275\nbei einer gr\u00f6fseren Vergleichslinie zeigt, wenn isolirte gerade Linien mit einander verglichen werden.1 Alle Versuchspersonen, welche nicht die T\u00e4uschung vom Zeichnen her oder durch sonstige Erfahrung schon kennen, geben daller ohne Besinnen das falsche Urtheil ab. Sagt man ihnen dann aber, dafs sie sich geirrt haben, so suchen sie nun in der Folge genauer zu vergleichen. Sie fassen dabei die Rechtecke nicht mehr als ganze Figuren auf, sondern sie isoliren sich die zu vergleichenden Linien m\u00f6glichst im Bewufstsein, indem sie sie vor den benachbarten Linien hervortreten lassen. Dann h\u00f6rt die beschriebene Erscheinung und zugleich auch die T\u00e4uschung auf.\nGegen diese Anschauung scheint zwar der Umstand zu sprechen, dafs ein und dieselbe Erscheinung als Grundlage zweier verschiedener Urtheile in Anspruch genommen wird. Denn erstens soll ja durch sie bedingt sein, dafs eine Seite eines Vergleichsrechtecks f\u00fcr l\u00e4nger erkl\u00e4rt wird als die entsprechende Seite des Normalrechtecks, und zweitens soll sie auch das andere Urtheil hervorrufen, dafs eine Seite nur im Verh\u00e4ltnifs zur zweiten l\u00e4nger ist. Indessen diese Schwierigkeit schwindet, wenn man folgendes beachtet. Die Versuchspersonen sind sich im Allgemeinen ihrer F\u00e4higkeit, Rechtecke hinsichtlich des Verh\u00e4ltnisses der Seiten mit einander vergleichen zu k\u00f6nnen, gar nicht bewufst. Auch gelangen sie gew\u00f6hnlich bei den ersten Versuchen zu keinem bestimmten Urtheil \u00fcber das Verh\u00e4ltnifs der Seiten. Es dr\u00e4ngt sich ihnen nur das Urtheil auf, dafs das Vergleichsrechteck erheblich gr\u00f6fser ist, und zwar scheint dieses Urtheil auf denselben Grundlagen zu beruhen wie das bei Vergleichung von Kreisen auftretende Urtheil \u201egr\u00f6fser\u201c. So habe ich auch bei den angef\u00fchrten Versuchen \u00fcber die Vergleichung von Rechtecken, bei denen nur eine Dimension ver\u00e4ndert wurde, von Versuchspersonen bei gr\u00f6fseren Aenderungen die Auskunft erhalten, dafs sich ihnen im ersten Momente nur das Urtheil, die zweite Fl\u00e4che sei auffallend grofs oder auffallend klein (\u201ewinzig\u201c), aufgedr\u00e4ngt habe und kein Urtheil \u00fcber die Gr\u00f6fse der Seiten. In gleicher Weise macht sich nun auch bei den hier in Frage stehenden Versuchen zun\u00e4chst das Urtheil \u00fcber die\n1 Noch einfacher w\u00fcrde sich die Erkl\u00e4rung gestalten, wenn auch bei der relativ gr\u00f6fseren Linie ein absoluter Eindruck der Gr\u00f6fse sich geltend machen sollte, wie ich eg nicht f\u00fcr unwahrscheinlich halte.\n18*","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nF. Schumann.\nGr\u00f6fse der Fl\u00e4che geltend. Allm\u00e4hlich jedoch tritt es mehr in den Hintergrund, weil die Versuchsperson weifs, dafs immer ein erheblich gr\u00f6fseres Vergleichsrechteck dargeboten wird, und nun vermag erst der Eindruck der Ausdehnung bezw. das Hervortreten des einen Paares von Linien das Urtheil \u00fcber das Verh\u00e4ltnis der Seiten hervorzurufen. Und dafs er es \u00fcberhaupt thut, ist haupts\u00e4chlich darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren, dafs die Versuchsperson zun\u00e4chst kein Urtheil hat und deshalb in ihrer Verlegenheit nach Anhaltspunkten f\u00fcr ein solches sucht\nAuf die angef\u00fchrten Nebeneindr\u00fccke lassen sich dann noch einige weitere bekannte T\u00e4uschungen zur\u00fcckf\u00fchren, bei denen auch das Verhftltnifs zweier Dimensionen in Frage kommt:\na) In Figur 10 haben die beiden geometrischen Gebilde die gleiche H\u00f6he; rechts wird aber die H\u00f6he \u00fcbersch\u00e4tzt.\nFig. NX","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n277\nb) Eine Horizontale, welche von kleinen Verticalen einge-fafst ist, erscheint gr\u00f6fser als eine gleich grofse, von l\u00e4ngeren Verticalen eingefafste Horizontale. (Vgl. Fig, 11a, b, c.)\nd\na\tb\tc\nFig. 11.\nc) Ersetzen wir in Figur 11 die zu vergleichenden Linien durch leere Distanzen, so erhalten wir k\u00fcrzere oder l\u00e4ngere Parallelen, und die Entfernung der k\u00fcrzeren erscheint gr\u00f6fser\n(vgl. z. B. Figur 12).\nFig. 12.\nIn allen diesen F\u00e4llen habe ich ebenfalls das Hervortreten der gr\u00f6fser erscheinenden Linien bezw. Distanzen sicher beobachtet und vor Allem dann, wenn die fragliche T\u00e4uschung sehr deutlich war. Bei der von den k\u00fcrzesten Verticalen ein-gefafsten Horizontalen (Figur 11a) habe ich auch h\u00e4ufig mit\nvoller Sicherheit das successive Hervortreten dieser Linie con-\n\u2022 . \u2022\nstatirt und zwar auch in solchen F\u00e4llen, in denen ich vorher keine gleiche, von l\u00e4ngeren verticalen Linien eingefafste Horizontale betrachtet hatte. Hierin liegt wohl auch der Grund, dafs diese Horizontale vielfach erheblich gr\u00f6fser erscheint, als eine isolirte, nicht eingefafste Horizontale (Figur 11a und d). Indessen, diese letztere T\u00e4uschung wechselt sehr stark bei mir:","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nF. Sehumann.\nzuweilen habe ich sie gar nicht, zuweilen dagegen mit gr\u00f6feter Deutlichkeit. Als Ursache des successiven Durchlaufens der ein-gefafsten Linie d\u00fcrfte derselbe Factor in Betracht kommen, welcher auch das successive Durchlaufen der in der Mitte einer Horizontalen errichteten Senkrechten bedingt (vgl. Abhandlung 2, \u00a7 7).\nFig. 13.\nFerner wird die Verh\u00e4ltnifssch\u00e4tzung auch wirksam bei Betrachtung von Figur 13. Richten wir hier unsere Aufmerksamkeit zuerst auf den Complex der beiden Quadrate bezw. der beiden Rechtecke, indem wir uns die Breite des ganzen Complexes zu merken suchen, und dann auf das isolirt stehende breite Rechteck, so f\u00e4llt uns die Breite des letzteren in vielen F\u00e4llen sehr stark auf, und wir sind deshalb geneigt, sie gegen\u00fcber der Breite des vorher betrachteten Complexes zu \u00fcbersch\u00e4tzen. Indessen wird hier wohl die Verh\u00e4ltnifssch\u00e4tzung nicht allein in Frage kommen, sondern aufserdem auch wohl noch dieselbe Ursache, welche die Uebersch\u00e4tzung der leeren Punktdistanz gegen\u00fcber der in der Mitte getheilten Distanz bewirkt (vgl. oben S. ,266).\nEine Reihe weiterer T\u00e4uschungen weisen endlich darauf hin, dafs die Verh\u00e4ltnifssch\u00e4tzung nicht nur bei Rechtecken und bei rechtwinklig zu einander stehenden Linien oder Distanzen\n\u2022 \u2022\u2022\u2022\u2022\u2022\u2022\n111\neine Rolle spielt, sondern auch in vielen anderen F\u00e4llen. In Figur 14 scheinen z. B. die k\u00fcrzeren Linien weiter von den","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n279\nihnen zugeh\u00f6rigen Punkten abzustehen als die l\u00e4ngeren. Ich habe hier sicher beobachtet, dafs die \u00fcbersch\u00e4tzte Distanz auffiel, wenn ich sie beim Vergleichen zuzweit betrachtete, und ich konnte die T\u00e4uschung durch isolirte Auffassung der zu vergleichenden Distanzen vollst\u00e4ndig beseitigen. Es liegt daher nahe, sie ebenfalls auf den allgemeinen Satz zur\u00fcckzu f\u00fchren, dafs die relativ gr\u00f6fsere Distanz auff\u00e4llt Ferner geh\u00f6rt hierher die Thatsache, dafs dieselbe Kreisfl\u00e4che zwischen kleineren Kreisfl\u00e4chen gr\u00f6fser erscheint als zwischen gr\u00f6fseren Kreisfl\u00e4chen u. s. w. u. s. w.\nOb die erw\u00e4hnten Factoren allein bei der Verh\u00e4ltnifs-sch\u00e4tzung in Frage kommen, oder ob etwa auch noch andere Nebeneindr\u00fccke mitwirken, kann erst eine weitere eingehende Untersuchung sicher entscheiden. Bei den angef\u00fchrten Versuchen \u00fcber die Vergleichung von Rechtecken, die entweder nur hinsichtlich der Breite oder hinsichtlich der H\u00f6he von einander abwichen, machte ich noch einige Erfahrungen, die auf andere Nebeneindr\u00fccke hinzuweisen scheinen. So fiel bei den Vergleichsrechtecken nicht immer die Gr\u00f6fse der relativ l\u00e4ngeren Seite auf, sondern in selteneren F\u00e4llen auch die Kleinheit der anderen Seite. Durchlaufe ich z. B. in Figur 9 die Rechtecke von rechts nach links, so treten immer im ersten Moment die von Rechteck zu Rechteck gr\u00f6fser werdenden Verticalen hervor, aber trotzdem dr\u00e4ngt sich im Allgemeinen meinem Ur-theil nicht die Thatsache auf, dafs diese Verticalen gr\u00f6fser werden, sondern die scheinbare Thatsache, dafs die Horizontalen von rechts nach links kleiner und kleiner werden. Es ist m\u00f6glich, dafs in diesen und \u00e4hnlichen F\u00e4llen bei den kleiner erscheinenden Linien sich ein absoluter Nebeneindruck der \u201eKleinheit\u201c geltend macht Da aber gleichzeitig beim Durchlaufen der Rechtecke von rechts nach links immer im ersten Moment der Betrachtung eines neuen Rechtecks die Horizontalen stark im Bewufstsein zur\u00fccktreten, so haben wir noch mit der anderen M\u00f6glichkeit zu rechnen, dafs das Zur\u00fccktreten dieser Linien f\u00fcr das Urtheil \u201ekleiner\u201c maafsgebend ist. Allerdings treten die relativ kleineren Linien immer im Bewufstsein zur\u00fcck, und es bleibt daher zu erkl\u00e4ren, weshalb nur in einigen F\u00e4llen das Urtheil \u201ekleiner\u201c sich aufdr\u00e4ngt, in den meisten F\u00e4llen aber nicht Indessen diese Schwierigkeit ist nicht allzugrofs. Denn wir werden wohl mit dem allgemeinen Satz zu rechnen haben, dafs","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nF. Schumann.\nt\nt\nV\nt\nin erster Linie nur die im Bewufstsein hervortretenden Gr\u00f6fsen ein Urtheil hervorrufen, und dafs die zur\u00fccktretenden Gr\u00f6fsen nur dann das Gleiche thun, wenn wir beabsichtigen, gerade sie zu beurtheilen. In anderen F\u00e4llen, in denen die Linie, deren Kleinheit auff\u00e4llt, wirklich kleiner ist, kann vielleicht auch ein Eindruck des \u201eZusammenschrumpfens44 in Frage kommen.\nFerner mufs ich noch eine andere Thatsache erw\u00e4hnen. Eine Versuchsperson gab mir an, dafs ihr ein Vergleichsrechteck, dessen l\u00e4ngere Seite um einige Millimeter gr\u00f6fser war als die entsprechende Seite des Normalrechtecks, im ersten Augenblick besonders \u201eschlank\u201c vorgekommen sei, und dafs ihr dementsprechend ein anderes Rechteck, dessen k\u00fcrzere Seite gegen\u00fcber derjenigen des Normalrechtecks verl\u00e4ngert war, \u201egedrungen\u201c erschienen sei Die anderen im Vorstehenden angef\u00fchrten Erscheinungen vermochte sie dagegen nicht zu beobachten. Indessen, wenn es auch nicht ausgeschlossen ist, dafs die Ausdr\u00fccke \u201eschlank\u201c und \u201egedrungen\u201c durch besondere Nebeneindr\u00fccke veranlagst sind, so ist doch immerhin auch die andere M\u00f6glichkeit vorhanden, dafs bei dieser Versuchsperson lediglich die vorher angef\u00fchrten Nebeneindr\u00fccke vorhanden waren, und dafs diese die Ausdr\u00fccke \u201eschlank\u201c und \u201egedrungen\u201c veranlafsten.\n\u00a7 6. W\u00e4hrend die in den beiden vorigen Paragraphen behandelten T\u00e4uschungen in erster Linie darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren waren, dafs der Nebeneindruck der \u201eAusdehnung\u201c bezw. \u201eZusammenziehung\u201c nicht allein von den eigentlich zu vergleichenden Gr\u00f6fsen abh\u00e4ngt, haben wir es bei den durch Contrast hervorgerufenen T\u00e4uschungen mit einer Beeinflussung des absoluten Eindrucks der Gr\u00f6fse bezw. Kleinheit zu thun. Wie erw\u00e4hnt, tritt der absolute Eindruck besonders stark auf bei der Vergleichung von Kreisen, wenn zuerst nur ein und derselbe Normalkreis und wenig verschiedene Vergleichskreise der Versuchsperson dargeboten werden und dann sp\u00e4ter pl\u00f6tzlich eine erheblich verschiedene Vergleichsgr\u00f6fse eingeschaltet wird. Wird diese letztere Gr\u00f6fse aber \u00f6fter gezeigt, so l\u00e4fst der Eindruck vielfach schon beim zweiten oder dritten Male merklich nach, und zugleich scheint der Versuchsperson der Unterschied kleiner zu werden. Noch mehr l\u00e4fst der Eindruck nach, wenn s\u00e4mmtliche Vergleichsgr\u00f6fsen von der Normalgr\u00f6fse erheblicher abweichen.","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n281\nDie Verh\u00e4ltnisse liegen demnach ganz \u00e4hnlich wie bei der Zeitsch\u00e4tzung. Vergleiche ich mit demselben Normalintervall eine Reihe wenig verschiedener Vergleichsintervalle und nehme dann pl\u00f6tzlich ein erheblich verschiedenes Vergleichsintervall, so macht sich auch ein besonders lebhafter, das Urtheil bestimmender Nebeneindruck geltend. Ich habe diese Erscheinung auf eine innere Anpassung an das Normalintervall zur\u00fcckgef\u00fchrt, und ich glaube, dafs auf eine innere Anpassung an eine Normal-gr\u00f6fse (eine \u201eEinstellung\u201c) auch die hier in Frage stehenden Erscheinungen zur\u00fcckzuf\u00fchren sind. Allerdings ist damit nicht viel erkl\u00e4rt, da \u201einnere Anpassung\u201c ein ziemlich unbestimmter Ausdruck ist. Indessen, wir haben immerhin einige Kenntnisse erhalten \u00fcber die Bedingungen, von denen die absoluten Eindr\u00fccke abh\u00e4ngig sind, und diese Kenntnisse gen\u00fcgen, um die schon im gew\u00f6hnlichen Leben h\u00e4ufig zu beobachtenden Contrast-erscheinungen zu erkl\u00e4ren.\nW\u00e4hrend wir es bei Versuchen mit Kreisen, Linien u. s. w. nur mit einer rasch vor\u00fcbergehenden inneren Anpassung zu thun haben, machen sich im gew\u00f6hnlichen Leben Anpassungen von viel gr\u00f6fserer Dauer geltend. Wir sehen z. B. t\u00e4glich Menschen der verschiedensten Gr\u00f6fse, am h\u00e4ufigsten aber Menschen mittlerer Gr\u00f6fse, so dafs sich eine Einstellung auf diese mittlere Gr\u00f6fse vollzieht. Da aber schon die einzelnen Exemplare vielfach ziemlich erheblich von der Mittelgr\u00f6fse abweichen, so ruft erst eine verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig gr\u00f6fse Abweichung einen lebhafteren absoluten Eindruck hervor. Haben wir dagegen eine Zeit lang nur sehr gr\u00f6fse bezw. sehr kleine Menschen gesehen, so hat sich nun eine Anpassung an die betreffende Gr\u00f6fse vollzogen, und nachher ruft schon eine Mittelgr\u00f6fse den Eindruck der \u201eGr\u00f6fse\u201c bezw. \u201eKleinheit\u201c hervor. Es kann daher ein und derselbe Mensch mittlerer Gr\u00f6fse uns grofs oder klein erscheinen, je nachdem wir vorher nur sehr kleine oder nur sehr gr\u00f6fse Menschen gesehen haben.\nJe weniger verschieden von einander die einzelnen Exemplare einer Classe von Objecten sind, desto pr\u00e4ciser ist die innere Anpassung an die Mittelgr\u00f6fse und desto kleinere Abweichungen gen\u00fcgen, um einen absoluten Eindruck hervorzurufen. So tritt insbesondere z. B. bei mir schon ein absoluter Eindruck ein, wenn ich eine Uhr sehe, die nur verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig wenig an Gr\u00f6fse von der meinigen abweicht.","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nF. Schumann.\nUnter den Begriff der Contrasterscheinungen lassen sich aber noch eine Reihe von T\u00e4uschungen unterordnen, deren Ursache eine wesentlich andere ist So kann man auch von Contrast reden bei den T\u00e4uschungen des Paragraphen 5. Ferner rechnet man zu den Contrasterscheinungen noch die in Figur 15 abgebildete T\u00e4uschung, bei der die Verh\u00e4ltniTssch\u00e4tzung zwar\nf--------*=--l---------\u00ee\n\u00bb\u2666\u25a0\u25a0\"il\nFig. 15.\nauch in Frage kommen mag, aber jedenfalls nicht allein. Wir haben zwei gleichlange horizontale und durch kleine Verticale begrenzte Linien von 7 mm L\u00e4nge, von denen die eine an beiden Seiten um ca. 2 mm, die andere um ca. 20 mm verl\u00e4ngert ist Die innere Wahrnehmung ergiebt nun, dafs beim Uebergange des Blicks von links nach rechts nicht sofort die zu beurtheilende Linie im Bewufstsein isolirt aufgefafst wird, dafs vielmehr im ersten Moment nur das am linken Endpunkte dieser Linie befindliche Ansatzst\u00fcck mit den beiden begrenzenden Verticalen von der Aufmerksamkeit erfafst wird, und dafs einen Moment sp\u00e4ter erst die mittlere Linie selbst successiv hervortritt Die Erscheinung ist sehr deutlich, und die verschiedensten Versuchspersonen haben sie best\u00e4tigt und zwar selbst solche, die sehr wenig Uebung in der Selbstbeobachtung hatten. Ein Herr sagte, es schiefse die Linie gleichsam aus dem linken Endpunkte nach rechts heraus, w\u00e4hrend ein anderer das successive Hervortreten der Linie mit der Dehnung eines schwarzen Gummifadens verglich. Die Ursache d\u00fcrfte darin zu suchen sein, dafs je zwei benachbarte verticale Grenzlinien zu einem besonders einheitlichen Ganzen verbunden sind, und dafs in Folge dessen die Mittellinie sieh nicht ganz leicht im Bewufstsein isoliren l\u00e4fet Bei fl\u00fcchtigem Dar\u00fcberhinwegblicken wird vielleicht der Complex als Ganzes im Bewufstsein hervortreten, so dafs seine Gesammt-ausdehnung einen gewissen Einflufs auf das Urtheil aus\u00fcben kann. Bei jedem Versuch, genauer zu urtheilen, ist aber das Bestreben vorhanden, die zu beurtheilende Linie im Bewufstsein hervortreten zu lassen vor den Ansatzst\u00fccken und dadurch zu isoliren. Da es nun ohne besondere Ein\u00fcbung nicht m\u00f6glich ist, den Zusammenhang beider Grenzlinien mit ihren Nach-","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Oesiehtswahmehmungen. III.\n283\nbam gleichzeitig zu l\u00f6sen, so wird zun\u00e4chst die eine isolirt, und es dehnt sich dann die Aufmerksamkeit \u00fcber die Mittellinie aus bis zur zweiten Grenzlinie. Dadurch entsteht der Eindruck der Ausdehnung, welcher f\u00fcr gr\u00f6fsere Vergleichslinien charakteristisch ist\nA\nDer gleiche Gesichtspunkt kommt dann auch bei Figur 16 in Betracht, wo rechts der mittlere Winkel \u00fcbersch\u00e4tzt wird. Und ebenso m\u00fcssen wir auch in Figur 17 die rechts befindliche Senkrechte erst von den dicht herantretenden Linien isoliren.\nFig. 17.\n\u00a7 7. Wir lernten in Abhandlung 2 (\u00a7 2) die Thatsache kennen, d&fs vielfach die eigentlich zu vergleichenden Gr\u00f6fsen das Ver-gleichsurtheil nicht allein bestimmen, dafs vielmehr die Ausdehnungen benachbarter Gr\u00f6fsen mitwirken. Ich will nun versuchen, auch diese Thatsache darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren, dafs die benachbarten Gr\u00f6fsen die das Urtheil bestimmenden Nebeneindr\u00fccke erzeugen.\no\nFig. 18.\n1. Nehmen wir zun\u00e4chst die bekannte, in Abhandlung 2 (\u00a72) schon besprochene T\u00e4uschung, welche entsteht, wenn wir die Vergleichung zweier Kreise dadurch erschweren, dafs wir den einen mit einer etwas gr\u00f6fseren concentrischen Kreislinie umgeben und","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nF. Schumann.\nin den anderen einen kleineren concentriscken Kreis hineinzeichnen (Figur 18). Sehen wir dann fl\u00fcchtig von dem einen Kreise zum anderen, so bilden immer je zwei concentrische Kreislinien ein einheitliches Ganzes, einen Ring, und jeder simultan aufgefafete Wahrnehmungsinhalt besteht aus zwei Theilen: Ring und Innenraum. In Folge dessen f\u00e4llt beim Uebergange des Blicks von links nach rechts der gr\u00f6fsere Innenraum auf, d. h. es machen sich die bei einem gr\u00f6fseren Vergleichskreis auftretenden Vorg\u00e4nge geltend, wie ich auch durch innere Wahrnehmung sicher constatirt habe. Da nun dieser Innenraum durch die eigentlich zu beurtheilende Kreislinie begrenzt wird, so ist die Tendenz zum Urtheil \u201egr\u00f6fser\u201c gegeben. Und selbst wenn man sich bem\u00fcht, die eigentlich zu vergleichenden Linien im Bewufstsein zu isoliren, so gelingt das doch links nur sehr schwer: immer wieder sucht sich der ganze Ring der Aufmerksamkeit aufzudr\u00e4ngen. Erst nach l\u00e4ngerer Uebung ist es mir gelungen, die zu vergleichenden Kreise ganz isolirt aufzufassen und damit die T\u00e4uschung vollst\u00e4ndig zu beseitigen.1\nDie oben erw\u00e4hnten drei Versuchspersonen, welche ein be-wufstes Ged\u00e4chtnifsbild des zuerst betrachteten Kreises auf den zweiten zu legen vermochten, hatten von vornherein keine T\u00e4uschung.\nFig. 19.\n2. Ich entnehme noch ein zweites bekanntes Beispiel dem Capitel der sog. Theilungst\u00e4uschungen. In Figur 19 wird die Vergleichung der objectiv gleichen Punktdistanzen durch die innerhalb der Distanzen befindlichen Gebilde gest\u00f6rt, welche jede Punktdistanz in drei Theildistanzen zerlegen. Der Zwischenraum zwischen diesen eingezeichneten Gebilden (also die mittlere Theil-distanz) ist rechts gr\u00f6fser als links, und dementsprechend treten beim Uebergang des Blicks von links nach rechts die, eine gr\u00f6fsere Vergleichsdistanz charakterisirenden Erscheinungen (Hervortreten des Zwischenraums und Eindruck der Ausdehnung) auf. Gleich-\n1 Einige Versuchspersonen zogen subjective Linien, welche die zu vergleichenden Kreise oben und unten tangirten. Diese Personen w\u00fcteten nat\u00fcrlich sofort, dafs die Kreise gleich sind.","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahmehmungen. III.\n285\nzeitig sind nun aber rechts die beiden \u00e4ufseren Theildistanzen verkleinert, und man w\u00fcrde sich daher jedenfalls h\u00fcten, rechts die Gesammtdistanz f\u00fcr gr\u00f6fser zu erkl\u00e4ren, wenn man diese Verkleinerung bemerkte. Thats\u00e4chlich f\u00e4llt jedoch beim \u201egedankenlosen Dar\u00fcberhinwegblicken\u201c nur die Vergr\u00f6fserung der mittleren Theildistanz und nicht die Verkleinerung der beiden \u00e4ufseren auf. Wir geben daher unbedenklich das Ur-theil \u201egr\u00f6fser\u201c ab. Sieht man aber die Figur \u00f6fter an, mit der Absicht genau zu vergleichen, so f\u00e4llt nun vielfach nicht nur die Ver\u00e4nderung des inneren Theiles, sondern auch diejenige der beiden \u00e4ufseren Theile der Gesammtdistanz auf, und die eingezeichneten Gebilde werden mehr als st\u00f6rende Momente empfunden. L\u00e4fst man ferner die begrenzenden Punkte im Be-wufstsein hervortreten, was vielen Versuchspersonen erst nach einiger Uebung gelingt, was andere aber unwillk\u00fcrlich bei der ersten Betrachtung thun, so ist die T\u00e4uschung nicht vorhanden.\nFig. 20.\n3. In Figur 20 soll die Gesammtstrecke, welche aus den beiden horizontalen Durchmessern des linken und des mittleren Kreises und deren Verbindungslinie besteht, mit der Verbindungslinie des mittleren und des rechten Kreises verglichen werden. Nachdem ich hier anfangs bei \u201egedankenlosem Dar\u00fcberhinwegblicken\u201c einer aufserordentlich starken T\u00e4uschung verfallen war und dabei die Erscheinungen, welche f\u00fcr eine auffallend viel gr\u00f6fsere Linie charakteristisch sind (Nebeneindruck der Ausdehnung und absoluter Eindruck der Gr\u00f6fse), rechts deutlich hatte constatiren k\u00f6nnen, suchte ich genauer zu vergleichen. Unwillk\u00fcrlich isolirte ich mir die Durchmesser des ersten und des zweiten Kreises von den dar\u00fcber und darunter befindlichen Parallelen, mit denen sie vorher ein einheitliches Ganzes gebildet hatten, und fafste sie mit der Verbindungslinie zu einer einheitlichen Gesammtlinie zusammen, die ich im Be-wufstsein hervortreten liefs. Dabei fiel mir auf, dafs ich mir jetzt erst der Gesammtstrecke unmittelbar bewufst wurde, dafs ich dagegen vorher eigentlich nur die kleine Verbindungslinie und zwei an ihren Enden befindliche Kreise wahrgenommen hatte. Da nun die T\u00e4uschung ganz erheblich nachliefs, so war ich vorher","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nF. Schumann.\noffenbar beim Uebergang des Blicks von der linken H\u00e4lfte der Figur zur rechten innerlich vorbereitet gewesen auf die Auffassung zweier durch eine Linie von bestimmter Gr\u00f6fse verbundener Kreise, und die wirklich erblickte viel gr\u00f6fsere Verbindungslinie hatte dann die f\u00fcr eine viel gr\u00f6fsere Vergleichslinie charakteristischen Erscheinungen hervorgerufen. Je mehr ich dann sp\u00e4ter die eigentlich zu vergleichenden Linien im Bewusstsein hervortreten lassen konnte, desto mehr schwand die T\u00e4uschung.\n4. Vergleichen wir ein auf der Seite stehendes Quadrat mit einem gleichen, aber auf der Spitze stehenden, so wird letzteres \u00fcbersch\u00e4tzt, weil die Seite des ersteren mit der Diagonale des anderen verglichen wird, wie wir in Abhandlung 2 (\u00a7 2) gesehen haben. Dies ist darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren, dafs wir beim Uebergange des Blicks zu dem auf der Spitze stehenden Quadrate auf die Auffassung einer der ersten gleichen und ihr gleich orientirten Fl\u00e4ch\u00a9 vorbereitet sind. Da der neue Wahrnehmungsinhalt die Fl\u00e4che, auf die wir vorbereitet sind, mit seinen vier Ecken \u00fcberragt, so macht sich in der Richtung der Diagonalen der Eindruck der Ausdehnung geltend. Allerdings w\u00e4re a priori wohl auch zu erwarten, dafs nun in schr\u00e4ger Richtung der Eindruck der \u201eZusammenziehung\u201c sich geltend machte. Indessen, da bei dem auf der Spitze stehenden Quadrat die Diagonalen im Bewufstsein hervortreten, w\u00e4hrend die schr\u00e4gen Richtungen ganz zur\u00fccktreten, so macht sich nur der Eindruck der Ausdehnung wirklich geltend und bedingt das Urtheil \u201egr\u00f6fser\u201c.\nZahlreiche andere T\u00e4uschungen lassen sich dann noch in \u00e4hnlicher Weise erkl\u00e4ren.\n\u00a7 8. Verschiedene Factoren kommen, wie ich glaube, bei der M\u00fcLLER-LYERschen T\u00e4uschung in Betracht. Ich erw\u00e4hnte schon fr\u00fcher (Abhandlung 2, \u00a7 2), dafs bei der in Figur 21 ab-\n< > <\nFig. 21.\ngebildeten Form dieser T\u00e4uschung das Urtheil vielfach durch Simultan vergleich zu Stande kommt, wenn wir gedankenlos auf die Figur blicken, und dafs dann die T\u00e4uschung besonders stark ist Und zwar ist die T\u00e4uschung bei momentaner Behandlung so stark, dafs sie erst dann verschwindet, wenn der mittlere Winkel","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahmehmungen. III.\n287\nin die Mitte zwischen den beiden \u00e4ufseren ger\u00fcckt wird. Zur Erkl\u00e4rung wies ich darauf hin, dafs die Figur aus drei Winkeln besteht, von denen die ersten beiden einander erheblich n\u00e4her stehen als der zweite und dritte, und dafs in Folge dessen der Zwischenraum zwischen dem zweiten und dritten Winkel im Bewu\u00dftsein hervortritt, gem\u00e4fs dem fr\u00fcher (Abhandlung 2, \u00a7 9) constatirten Gesetze, dafs gr\u00f6fsere Distanzen allgemein im Be-wufstsein hervortreten. Da die eigentlich zu beurteilenden Punktdistanzen in den breiteren Zwischenr\u00e4umen zwischen den ganzen Winkeln enthalten sind und daher deren Eigenschaften mit besitzen, so wird das nur f\u00fcr den breiteren Zwischenraum richtige Urtheil \u201egr\u00f6fser\u201c f\u00e4lschlich auch von der darin enthaltenen eigentlich zu beurtheilenden Punktdistanz ausgesagt.\nIch glaube nun, dafs dieselbe Ursache auch noch wirksam ist, wenn wir die beiden zu vergleichenden Distanzen nicht unmittelbar neben einander zeichnen, sondern durch einen Zwischenraum trennen, so dafs wir zum Successivvergleich gezwungen sind. Sehen wir fl\u00fcchtig von der einen Distanz zur anderen, so unterlassen wir es anfangs auch vielfach, die eigentlich zu vergleichenden Punktdistanzen im Bewufstsein zu isoliren. Ja ich habe sogar in solchen F\u00e4llen gelegentlich beobachtet, dafs subjective Grenzlinien (\u00e4hnlich der in Abhandlung 1, Figur 8 erw\u00e4hnten Grenzlinie) auftraten, welche die Winkel, und zwar besonders die Winkel mit einander zugekehrten Schenkeln, zu Dreiecken erg\u00e4nzten. Dann liegt nat\u00fcrlich die Sache ganz analog wie bei der T\u00e4uschung in Figur 20: Hier wie dort machen sich die f\u00fcr eine viel gr\u00f6fsere Vergleichsdistanz charakteristischen Erscheinungen deutlich bemerkbar, und das Urtheil \u201egr\u00f6fser\u201c entsteht wieder aus den eben f\u00fcr den Simultanvergleich dargelegten Gr\u00fcnden. Aber auch wenn wir uns bem\u00fchen, die betreffenden Punktdistanzen im Bewufstsein ganz hervortreten zu lassen und dadurch zu isoliren, so gelingt es doch nie vollst\u00e4ndig. Ich selbst vermag mir h\u00f6chstens einen schmalen, etwa 2\u20143 mm breiten Streifen durch die Aufmerksamkeit herauszuheben ; und wenn ich dies thue, so ist die T\u00e4uschung jedenfalls wesentlich geringer. Diejenigen Versuchspersonen ferner, welche die Scheitelpunkte durch subjective Linien zu verbinden verm\u00f6gen, haben zwar die eigentlich zu vergleichenden Gr\u00f6fsen gen\u00fcgend vom Hintergrund isolirt, aber sie verm\u00f6gen sie nicht vor den Schenkeln hervortreten zu lassen. Das Gleiche gilt ferner","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nF. Schumann.\nf\u00fcr den Fall, wo die Scheitelpunkte durch objective Linien verbunden sind (vgl. Figur 22). So lange aber die eigentlich zu\nFig. 22.\nvergleichenden Linien vor den Ansatzst\u00fccken nicht hervortreten, sind wir beim U ebergang des Blicks von der linken zur rechten Horizontalen auf die Ansatzst\u00fccke und ihre Distanz mit vorbereitet. In Folge dessen entsteht rechts der Eindruck der Ausdehnung, welcher sich wieder \u00fcber den ganzen zwischen den Schenkeln liegenden Raum und damit auch \u00fcber die zu vergleichende Linie erstreckt Je mehr es mir aber gelingt, die Horizontalen vor den Schenkeln hervortreten zu lassen, desto mehr schwindet die T\u00e4uschung. Ja, ich habe sogar einige wenige Versuchspersonen gefunden, welche die Schenkel so zur\u00fccktreten lassen konnten, dafs die T\u00e4uschung ganz aufh\u00f6rte. Mir selbst ist dies jedoch auch nach l\u00e4ngerem Bem\u00fchen nicht vollst\u00e4ndig gelungen, aber immerhin soweit, dafs die T\u00e4uschung nur noch in schwachem Grade besteht Leichter l\u00e4fst sich schon die T\u00e4uschung beseitigen, wenn die Scheitel-punkte durch kleine Kreisscheibchen hervorgehoben oder wenn sie von den Schenkeln losgel\u00f6st sind, weil man dann die Punktdistanzen viel bequemer isoliren kann (vgl. Auerbach, Zeitschr. f. Psychol 7, S. 152 ff.).\nAufserdem kommt hier nun noch ein weiterer Factor in Betracht In \u00a7 14 (Fig. 11) sahen wir, dafs eine isolirte Horizontale vielfach untersch\u00e4tzt wird gegen\u00fcber einer anderen, welche von kleinen Verticalen eingefafst wird. Ich hob dort hervor, dafe bei der eingefafsten Horizontalen der Eindruck der Ausdehnung sich geltend macht Da nun auch in Figur 22 die Horizontalen von kleinen Linien eingefafst sind, so haben wir auch hier damit zu rechnen, dafs ein Eindruck der Ausdehnung hervorgerufen wird. Und in der That glaube ich einen solchen auch beobachtet zu haben, wenn ich die rechte Horizontale (bei Verdeckung der linken) mit ihren Ansatzst\u00fccken ganz allein auffafste, bei alleiniger Auffassung der linken Horizontalen und ihrer Ansatzst\u00fccke dagegen nie. Der Grund zu diesem verschiedenen Verhalten d\u00fcrfte darin zu suchen sein, dafs links die angesetzten","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyte der Gezichtgicahmehmungen. III.\n289\nkleineren Linien einander zugewandt und daher mit der Horizontalen zu einem besonders einheitlichen Ganzen verkn\u00fcpft sind, das sich immer in allen The\u00fcen gleichzeitig der Aufmerksamkeit aufzudr\u00e4ngen sucht. Ferner haben wir das Nachlassen der M\u00fclleb-L\u00efEB\u2019schen T\u00e4uschung bei einer erheblichen Verl\u00e4ngerung der Schenkel offenbar auch auf dieselbe Ursache zur\u00fcckzuf\u00fchren, welche die Untersch\u00e4tzung einer von l\u00e4ngeren Verticalen ein* gefafsten Horizontalen gegen\u00fcber einer von k\u00fcrzeren Verticalen \u00abingefafsten bewirkt.\nWie weit endlich noch andere Factoren bei der in Rede stehenden T\u00e4uschung in Frage kommen, lasse ich vorl\u00e4ufig dahingestellt.\nDafs aber bei der M\u00fclleb - LYEB\u2019schen T\u00e4uschung die zu vergleichenden Linien nicht verschieden grofs gesehen, sondern nur als verschieden beurtheilt werden, scheint mir aus einer einfachen Beobachtung hervorzugehen, welche schon von Wundt (Die geometrisch - optischen T\u00e4uschungen, \u00c4bhandl,, d. s\u00e4chs. Ges. d. Wissmath.-phys. Cl.} 24, S. 97) im Wesentlichen angegeben worden ist, und welche man leicht bei Betrachtung von Figur 23 machen kann. Hier befinden sich die zu beurtheilenden\nFig. 23.\nLinien dicht unter einander und sind parallel. Ich kann mir nun leicht subjective verticale Linien hervomifen, welche die unter einander befindlichen Endpunkte der beiden Horizontalen mit einander verbinden. Da ich mir dann deutlich bewufst bin, die Endpunkte genau senkrecht unter einander zu sehen, so m\u00fcssen die den beiden horizontalen Linien entsprechenden Bewufstseinsinhalte gleiche Ausdehnung haben. Trotzdem tritt aber die T\u00e4uschung sofort wieder ein, wenn die subjectiven Linien verschwinden, und wenn ich dann mit dem Blick von der Mitte der einen Horizontalen zur Mitte der anderen \u00fcbergehe. Wenn nun in diesem Falle die den Horizontalen entsprechenden Bewusstseinsinhalte wirklich verschieden ausgedehnt w\u00e4ren, so\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 80.\t\u00ce9","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nF. Schumann.\nm\u00fciflte ich inzwischen den unmittelbaren Eindruck haben, d&fs die eine Linie sich vergr\u00f6fserte, bezw. dafs die andere sich verkleinerte. Davon ist aber nichts zu bemerken.\nW\u00fcndt behauptet nun allerdings: \u201eFixirt man dann starr einen Punkt zwischen den Linien, so vermindert sich die T\u00e4uschung bedeutend, um bei der leisesten Blickbewegung wieder aufzutreten. Unterst\u00fctzt wird das Verschwinden der T\u00e4uschung, wenn man die Endpunkte der Linien durch Senkrechte verbindet.\u201c Und diese Beobachtung benutzt er dann als Beweis daf\u00fcr, dafs Bewegungen und Bewegungsempfindungen des Auges eine Rolle bei der T\u00e4uschung spielen. Es ist indessen nicht richtig, dafs \u201ebei der leisesten Blickbewegung\u201c die T\u00e4uschung wieder auftritt. Ich selbst vermag mir z. B. gar nicht jene beiden subjectiven Verticalen bei Fixation eines zwischen den Horizontalen liegenden Punktes gleichzeitig hervorzurufen. Ich mufs vielmehr mit dem Blick zwischen den Horizontalen hin- und hergehen, und dann erst treten, rasch auf einander folgend, die Verticalen auf. Und das Gleiche konnten auch mehrere meiner Versuchspersonen feststellen. Aufserdem steht die Thatsache, dafs bei einer momentanen Beleuchtung (0,1 Sec.) der Figur 21 die T\u00e4uschung besonders stark ist, jeder Erkl\u00e4rung der T\u00e4uschung durch Augenbewegungen entgegen.\nDie Ausf\u00fchrungen dieses Abschnittes stellen einen verh\u00e4ltnifs-m\u00e4fsig groben Versuch dar, an einigen frappanten Beispielen zu zeigen, dafs mit H\u00fclfe meiner Theorie des Successivvergleichs ein grofser Theil der geometrisch - optischen T\u00e4uschungen befriedigend erkl\u00e4rt werden kann. Quantitative Untersuchungen, die gestatten w\u00fcrden, die T\u00e4uschungen genauer im Einzelnen zu verfolgen, habe ich bis jetzt nicht angestellt Man hat zwar die Ansicht ausgesprochen, dafs eine Theorie der geometrisch optischen T\u00e4uschungen nur dann als gesichert gelten k\u00f6nne, wenn sie auch die Ergebnisse quantitativer Untersuchungen zu erkl\u00e4ren verm\u00f6ge (Hetmans, Zeitschr. f. Psychol. 17, S. 389\u00a3). Da jedoch die T\u00e4uschungen zum gr\u00f6fsten Theile bei \u00f6fterer genauer Betrachtung erheblich nachl&ssen oder endg\u00fcltig verschwinden, so ist es \u00e4ufserst schwierig auf diesem Gebiete exacte Messungen, die doch eine vielfach wiederholte genaue Betrachtung erfordern, durchzuf\u00fchren. So vermag ich jetzt quantitative Untersuchungen \u00fcber viele T\u00e4uschungen","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichteteahrnehmungen. III\n291\nan mir schon deshalb nicht mehr anzustellen, weil ich die betreffenden T\u00e4uschungen \u00fcberhaupt nicht mehr habe. Aufserdem m\u00fcssen aber, meiner Ansicht nach, den feineren quantitativen erst grobe qualitative Untersuchungen vorangehen, die die etwa wirksamen Factoren \u00fcberhaupt erst einmal aufzeigen.\nUm sich aber durch die angef\u00fchrten qualitativen Untersuchungen von der Richtigkeit meiner Theorie \u00fcberzeugen zu lassen, mufs der Leser nat\u00fcrlich in erster Linie die beschriebenen Erscheinungen selbst innerlich wahrzunehmen im Stande sein. Dazu geh\u00f6rt jedoch neben gr\u00f6fserer Uebung in der Selbstbeobachtung \u00fcberhaupt eine grofse Reihe von Versuchen, die zu den verschiedensten Zeiten und bei m\u00f6glichster geistiger Frische angestellt wurden. Ich habe gefunden, dafs nur wenige Versuchspersonen die fraglichen Erscheinungen verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig leicht constatiren konnten. Immerhin konnten einige, denen die Beobachtung zuerst mifslang, diese dennoch best\u00e4tigen, nachdem ich sie zuvor in einem anderen Zusamenhange Versuche \u00fcber die Erkennung von Gesichtsobjecten bei momentaner Beleuchtung hatte ausf\u00fchren lassen, \u00fcber die ich sp\u00e4ter ausf\u00fchrlich berichten werde. Da es bei diesen Versuchen darauf ankam, eine Menge von Einzelheiten \u00fcber die nur ganz kurze Zeit dauernden Wahrnehmungsinhalte auszusagen, so waren diese Versuche besonders geeignet, die Versuchspersonen auf die Beobachtung der im ersten Momente der Betrachtung ins Bewufstsein tretenden Erscheinungen einzu\u00fcben. Vielleicht ist es auch der durch solche Versuche gewonnenen Ein\u00fcbung zu danken, dafs es mir selbst zuerst, und zwar vor Aufstellung jeglicher Theorie, gelungen ist, die betreffenden Nebeneindr\u00fccke zu beobachten, obwohl ich sie nicht mit solcher Deutlichkeit erlebe wie manche meiner Versuchspersonen. Sollte aber der eine oder andere meiner Leser auch nach wiederholten Bem\u00fchungen die Nebeneindr\u00fccke nicht zu constatiren verm\u00f6gen, so w\u00e4re dies noch immer keine directe Widerlegung meiner Theorie, da es sehr wohl m\u00f6glich bleibt, dafs bei einzelnen Personen die beschriebenen Nebeneindr\u00fccke zwar unbemerkt, aber doch durchaus wirksam w\u00e4ren.\n(Schlufs folgt.)\n19*","page":291},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"(Aus dem Psychologischen Institut der Universit\u00e4t Berlin.)\nBeitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen.\nVon\nF. Sch\u00fcmann.\n(Schlufs.)\nIII.\n\u00a7 9. Die Literatur \u00fcber die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen ist in dem letzten Jahrzehnt ganz aufserordentlich angewachsen. Es fehlt mir hier der Raum, um mich mit allen bisher ver\u00f6ffentlichten Erkl\u00e4rungsversuchen aus einander zu setzen. Dagegen kann ich nicht umhin, auf die Ansichten zweier Psychologen hier n\u00e4her \u2022einzugehen, n\u00e4mlich auf diejenigen von Lipps und Witasek. Der erstere glaubt, dafs durch seine Untersuchungen die Frage der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen im Princip erledigt sei, und ^er ist so \u00fcberzeugt von seiner Ansicht, dafs er sich nicht vor -dem k\u00fchnen Ausspruch scheut : \u201eIch m\u00fcfste mir jede F\u00e4higkeit wissenschaftlichen Denkens absprechen, wenn es sich anders verhielte.\u201c Da nun in der That seine Theorie die T\u00e4uschungen in umfangreicherem Maafse zu erkl\u00e4ren vermag als die meinige, da ferner ein ganz aufserordentliches Maafs von Scharfsinn aufgewandt ist, so ist ein n\u00e4herer Nachweis erforderlich, dafs die Theorie das Problem keineswegs definitiv gel\u00f6st hat. Ferner mufs ich auf Witasek\u2019s Ausf\u00fchrungen deshalb eingehen, weil er bewiesen zu haben glaubt, dafs die geometrisch - optischen T\u00e4uschungen keine eigentlichen Urtheilst\u00e4uschungen sein k\u00f6nnen.\nLipps sieht in den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen eigentliche Urtheilst\u00e4uschungen. Er geht von dem Grundgedanken aus, \u201edafs der optische und der \u00e4sthetisch\u00a9 Eindruck,\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 30.\t21","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nF. Schumann.\nden wir von geometrischen Formen gewinnen, nur zwei Seiten einer und derselben Sache sind und ihre gemeinsame Wurzel haben in Vorstellungen von mechanischen Th\u00e4tigkeiten\u201c. In allen Raumformen scheinen, so sagt Lipps, unserer alles belebenden Phantasie mechanische Kr\u00e4fte wirksam, und zwar Kr\u00e4fte, die Abbilder oder Analogien der Kr\u00e4fte sind, die wir in uns erleben. \u201eEine S\u00e4ule richtet sich auf und erzeugt sich in jedem Momente von neuem, in dem Sinne, in dem ich in meiner aufrechten Stellung mich behaupte, oder dieselbe in jedem Augenblicke von neuem erzeuge.\u201c Indem so die Phantasie alles mit Kr\u00e4ften, die wir in uns selbst erleben, erf\u00fcllt, verm\u00f6gen wir sie im Lichte eigenen Thuns zu betrachten und demgem\u00e4fs mit ihnen zu sympathisiren. Auf der freien Zweckth\u00e4tigkeit, welche wir dabei in die geometrischen Formen hineinlegen, beruht alle Sch\u00f6nheit, auf St\u00f6rungen derselben alle H\u00e4fslichkeit.\nDieselben Kr\u00e4fte rufen dann nach Lipps auch die optischen T\u00e4uschungen hervor. Seinen Ausf\u00fchrungen liegt folgender Hauptgedanke zu Grunde : Scheint uns in einer Raumform .etwa eine Tendenz der Ausweitung bezw. der Verengerung zu liegen, so erleidet zwar nicht das Wahrnehmungsbild, wohl aber das zur\u00fcckbleibende Vorstellungsbild die fragliche Ver\u00e4nderung thats\u00e4chlich. Indem wir dann bei der Vergleichung wahrgenommener Raumformen die eine in der Vorstellung auf die andere \u00fcbertragen und so an ihr messen, messen wir in Folge der vorgestellten Kr\u00e4fte statt der ersten Raumform deren modifi-cirtes Vorstellungsbild an der zweiten Raumform, und dadurch wird unser Vergleichsurtheil abgelenkt.\nSoweit zun\u00e4chst der Grundgedanke. Er giebt schon zu einigen Bedenken Veranlassung.\nDa zun\u00e4chst die Vorstellungen der Kr\u00e4fte nicht im Be-wufstsein constatirt werden k\u00f6nnen, wie Lipps selbst zugiebt, also nur hypothetisch statuirt werden, so ist es aufserordentlich schwer, einen sicheren Beweis f\u00fcr ihre Existenz zu f\u00fchren* Angenommen, es liefsen sich wirklich mit ihrer H\u00fclfe s\u00e4mmt-liche geometrisch-optischen T\u00e4uschungen erkl\u00e4ren, wie Lipps behauptet hat, so w\u00fcrde man hieraus doch die wirkliche Existenz der Kr\u00e4ftevorstellungen noch nicht mit Sicherheit erschliefsen k\u00f6nnen. Denn einmal vermag auch z. B. die Aethertheorie die Thatsachen der physikalischen Optik in gleich hervorragender Weise zu erkl\u00e4ren, ohne dafs man mit voller Sicherheit sagen","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. III.\n323\nk\u00f6nnte, der Aether sei nicht nur eine Fiction, sondern existire wirklich. Und aufserdem kommt hinzu, dafs hinsichtlich des Schlusses von der Erkl\u00e4rbarkeit der Thatsachen auf die Richtigkeit der Hypothese die Kr\u00e4ftetheorie erheblich ung\u00fcnstiger gestellt ist als die Aethertheorie, da es von vornherein unwahrscheinlich ist, dafs s\u00e4mmtliche geometrisch-optischen T\u00e4uschungen sich auf einen und denselben Factor zur\u00fcckf\u00fchren lassen. In Abhandlung 2 (\u00a7 2) ist hervorgehoben worden, wie mannigfach die Ursachen der T\u00e4uschungen sein k\u00f6nnen, insbesondere habq ich dort sicher nachgewiesen, dafs mindestens einige T\u00e4uschungen dadurch entstehen, dafs nicht die eigentlich zu vergleichenden Gr\u00f6fsen allein das Urtheil bestimmen. Daraus geht hervor, dafs die Theorie der Kr\u00e4ftevorstellungen zu viel erkl\u00e4rt, ein Umstand, der entschieden zu ihren Ungunsten spricht\nSehen wir ferner den Grundgedanken n\u00e4her an, so stofsen wir auf erheblichere Bedenken. Lipps sagt1: \u201eIch vergleiche, wenn ich sage, eine Ausdehnung sei \u00bbgr\u00f6fser\u00ab als eine andere, daneben stehende, oder: zwei Linien divergiren, es habe also die eine eine \u00bbandere\u00ab Richtung als die andere. Ich vergleiche nicht minder, wenn ich sage, eine thats\u00e4chlich gerade Linie erscheine krumm. Auch hier vergleiche ich Richtungen. Krumm ist dasjenige, das seine Richtung stetig \u00bb\u00e4ndert\u00ab. Endlich vergleiche ich auch, wenn ich sage, eine einzelne, thats\u00e4chlich verticale Linie scheine im Sehfeld schr\u00e4g oder schief gestellt Ich vergleiche hier die Richtung der Linie mit dem Bild der verticalen Linie, das ich aus der Erfahrung gewonnen habe. Alle Raumbestimmungen sind nun einmal relativ. Und darin liegt immer ein Vergleichen oder Messen von Einem an einem Anderen.\u201c\nDafs alle Raumbestimmungen relativ sind, und dafs man die Urtheile, welche bei den optischen T\u00e4uschungen in Frage kommen, durchweg als Vergleichsurtheile bezeichnen kann, ist zwar richtig ; aber die Lipps\u2019sche Theorie verlangt mehr. Nach ihr mufs ja in allen F\u00e4llen auch ein Vorstellungsbild der einen Raumform an der anderen Raumform gemessen werden. Denn erst dadurch, dafs die Vorstellungsbilder durch die vorgestellten Kr\u00e4fte modificirt werden, sollen ja die T\u00e4uschungen zu Stande kommen. Das w\u00fcrde aber doch h\u00f6chstens in den F\u00e4llen zu-\n1 Zeitschr. f. Psychol. 18, S. 412.\n21*","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"824\nF. Schumann.\ntreffen, in denen wir die beiden Raumformen, \u00fcber deren Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnifs wir nrtheilen wollen, suecessiv mit Blick und Aufmerksamkeit erfassen. Ein Quadrat wird dagegen im Allgemeinen sofort beim ersten Blick als Quadrat erkannt, und das Gleiche gilt f\u00fcr Oblongum, Kreis u. s. w. Die innere Wahrnehmung giebt bei der Beurtheilung solcher Figuren keine Kunde davon, dafs erst die eine Distanz in der Vorstellung auf die andere \u00fcbertragen w\u00fcrde. Wenn daher Lipps auch die beim Simultanvergleich auftretenden T\u00e4uschungen mit H\u00fclfe seiner Theorie zu erkl\u00e4ren sucht, so erkl\u00e4rt er wieder zu viel.\nWenden wir uns dann zu den F\u00e4llen, in denen wir wirklich die zu vergleichenden Raumformen suecessiv mit Blick und Aufmerksamkeit erfassen, so ist es zun\u00e4chst nach fr\u00fcheren Er\u00f6rterungen nicht richtig, dafs allgemein ein bewufstes Vorstellungsbild vom ersten Eindruck auf den zweiten Wahrnehmungsinhalt gelegt wird. Indessen wird die Theorie hievon weniger ber\u00fchrt, da auch ein zur\u00fcckbleibendes unbewufstes Vorstellungsbild, welches im Sinne der vorgestellten Kr\u00e4fte Aenderungen erleidet, das falsche Vergleichungsurtheil ebenso gut herrufen k\u00f6nnte. Aber selbst wenn wir davon absehen, dafs nach den Er\u00f6rterungen von \u00a7 3 ein unbewufstes Vorstellungsbild des ersten Eindrucks bei dem Vergleichsvorgang weniger in Frage kommt als eine Nachwirkung anderer Art, so ist doch weiter noch zu ber\u00fccksichtigen, dafs nicht nur die Existenz der Kr\u00e4ftevorstellungen hypothetisch ist, sondern aufserdem auch noch die Annahme, dafs ein Vorstellungsbild im Sinne vorgestellter Kr\u00e4fte Ver\u00e4nderungen erleidet. Eine Hypothese wird aber bekanntlich um so unsicherer, je mehr H\u00fclfshypothesen zu ihrer Durchf\u00fchrung erforderlich sind.\nDie gr\u00f6fsten Schwierigkeiten bieten sich uns aber erst, wenn wir uns einige Details n\u00e4her ansehen. Ich nehme ein Blatt Papier, zeichne zun\u00e4chst eine horizontale Linie A und dann daneben eine zweite gleiche Linie J9, an deren Endpunkte ich schr\u00e4g nach aufs en gehende Linien anf\u00fcge. Betrachte ich dann zuerst A, w\u00e4hrend ich gleichzeitig B verdecke, und mache ich darauf B sichtbar bei gleichzeitiger Verdeckung von A, so erscheint B gr\u00f6fser als A. Lipps f\u00fchrt dies darauf zur\u00fcck, dafs ein von A zur\u00fcckbleibendes Vorstellungsbild sich verkleinert Nun nehme ich weiter ein zweites Blatt Papier, zeichne dieselbe Linie A und daneben eine dritte Linie C, an die","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahmehmungen. HL\n325\nich schr\u00e4g nach innen gehend\u00a9 Linien anf\u00fcg\u00a9. Vergleiche ich jetzt A und C in derselben Weise wie vorher A und B, so er* scheint A gr\u00f6fser als C. Nach Lipps mufs jetzt ein von A zur\u00fcckgebliebenes Vorstellungsbild sich ausgedehnt haben. Also das \u00a9ine Mal mufs das Vorstellungsbild von A zusammenschrumpfen, das andere Mal mufs es sich ausdehnen. Wie ist das aber m\u00f6glich? Entweder liegt in dem isolirt gesehenen A eine Tendenz zur Ausweitung oder eine Tendenz zur Verkleinerung. Dafs nun bald die eine, bald di\u00a9 andere Tendenz vorhanden sein soll, erscheint zun\u00e4chst unverst\u00e4ndlich. Lipps sieht sich daher gen\u00f6thigt, einen etwas eomplicirten L\u00f6sungsversuch dieser von Heymaus (Zeitschrift f Psychol. 17, S. 389) hervorgehobenen Schwierigkeit zu machen: Die Ver\u00e4nderung der Vorstellung A tritt nicht sofort ein, nachdem der Blick A verlassen hat, h\u00e4ngt auch nicht von den, bei isolirter Betrachtung des ersten Objects vorgestellten Kr\u00e4ften allein ab, sondern vollzieht sich erst dann, wenn das Wahmehmungsbild von B gegeben ist, und h\u00e4ngt von dem Verh\u00e4ltnifs ab, in dem die bei beiden Linien vongestellten Kr\u00e4fte zu einander stehen. Ist di\u00a9 Tendenz zur Ausdehnung bei A geringer als bei B} oder ist die Tendenz zur Ein* engung gr\u00f6fser, so vollzieht sich eine Verkleinerung des Vorstellungsbildes von A; ist dagegen die Tendenz zur Ausdehnung bei A gr\u00f6fser oder die Tendenz zur Einengung kleiner, so vollzieht sich eine Vergr\u00f6fserung von A.\nIch glaube mich nicht zu irren, wenn ich annehme, dafs viele Psychologen an dieser Hypothese Anstofs nehmen werden. Es zeigt sich hier deutlich eine Neigung von Lipps, Vorg\u00e4nge, die sich unserer Beobachtung vollst\u00e4ndig entziehen, mit solcher Sicherheit zu schildern, als ob er sie direct beobachtet h\u00e4tte.\nNun hat Lipps wohl selbst die Unsicherheit seiner Annahme herausgef\u00fchlt, und er hat deshalb zur Unterst\u00fctzung analoge F\u00e4ll\u00a9 aus anderen Gebieten heranzuziehen gesucht, in denen seiner Ansicht nach im Vergleichungsact ebenfalls eine Vergr\u00f6fserung oder Verkleinerung von Vorstellungen stattfindet. Und in der That, wenn als bewiesen gelten k\u00f6nnte, dafs solche Analoga wirklich existiren, so w\u00e4re di\u00a9 Lipps\u2019sehe Annahme weniger aufsergew\u00f6hn-lich. Indessen, sehen wir uns erst einmal die herangezogenen -F\u00e4lle n\u00e4her an. Lipps schreibt (Zeitschr. f Psychol. 18, S. 417 ff.):\n\u201eIch sah eine Zeit lang sehr kleine Menschen. Dann scheinen mir in der Folge mittelgrofse Menschen mehr als.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nJF. Schumann.\nmittelgrofs. Das heifst zun\u00e4chst: Nachdem ich mich in gewissem Grade an die kleineren Menschen gew\u00f6hnt habe, ihre Gr\u00f6fse also f\u00fcr mich zu einer gewohnten oder gew\u00f6hnlichen geworden war, ist die Mittelgr\u00f6fse f\u00fcr mich auffallender oder eindrucksvoller. Damit nun vergleiche ich die Mittelgr\u00f6fse, deren ich mich erinnere. Indem ich mich ihrer erinnere, weife ich zugleich, dafs sie mix nicht auffiel, sondern f\u00fcr mich den Charakter des Gew\u00f6hnlichen hatte. Ich habe also jetzt einerseits das Wahrnehmungsbild einer auffallenden, andererseits das Erinnerungsbild einer gew\u00f6hnlichen Gr\u00f6fse. Nun pflegt das auffallend Grofee erfahrungsgem\u00e4fs das Gr\u00f6fsere, das nicht auffallend Grofee er-fahrungsgem\u00e4fs das Kleinere zu sein. Es besteht also f\u00fcr mich eine erfahrungsgem\u00e4fee N\u00f6thigung, die gesehene Mittelgr\u00f6fse gr\u00f6fser vorzustellen als diejenige, deren ich mich erinnere, oder was dasselbe sagt, diese kleiner vorzustellen als jene. Dies thue ich also wirklich. Und da ich das jetzt Gesehene nicht gr\u00f6feer sehen kann, als ich es sehe, dagegen recht wohl das ehemals Gesehene kleiner vorstellen, als ich es ehemals sah, so thue ich dies Letztere. Ich verkleinere also auf Grund jener erfahrungs-gem\u00e4feen N\u00f6thigung mein Erinnerungsbild der fr\u00fcher gesehenen Mittelgr\u00f6fse. So geschieht es, dafs mir die jetzt gesehene Mittelgr\u00f6fse gr\u00f6fser erscheint als die von fr\u00fcherer Wahrnehmung her mir bekannte.M\nDiese Erkl\u00e4rung der Contrasterscheinungen ist zwar der von mir in \u00a7 6 gegebenen sehr \u00e4hnlich, doch weicht sie gerade in einem hier besonders in Frage kommenden Punkte von ihr ab. Denn w\u00e4hrend ich annehme, dafs der absolute Eindruck der Gr\u00f6fse ohne Weiteres das Urtheil hervorruft, setzt Lipps voraus, dafs zun\u00e4chst das Wahrnehmungsbild der jetzt gesehenen und das Erinnerungsbild der fr\u00fcher gesehenen Mittelgr\u00f6fse im Bewufstsein neben einander gehalten werden, dafs dann das Erinnerungsbild sich verkleinert, und dafs darauf zum Schlufs erst das Vergleichungsurtheil durch den zwischen Erinnerungsbild und Wahrnehmungsbild entstandenen Gr\u00f6fsenunterschied hervorgerufen wird. Von diesen beiden Annahmen hat jedenfalls die meinige den Vorzug, dafe sie mit dem Ergebnifs der inneren Wahrnehmung in Uebereinstimmung steht So habe ich schon oben (vgl. S. 256) erw\u00e4hnt, dafe gelegentlich ein absoluter Ein* druck der Kleinheit, den ich in Folge besonderer Umst\u00e4nde von meiner Uhr erhielt, direct mein Urtheil beeinflufste, ohne dais","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. UL\n327\nich trotz besonders darauf gerichteter Aufmerksamkeit ein Ei> innerungsbild meiner Uhr, herr\u00fchrend von fr\u00fcheren Wahrnehmungen, neben dem jetzigen Wahmehmungsinhalte im Bewusstsein constatiren konnte. Ferner kann ioh darauf hin-weisen, dafs auch G. E. M\u00fcllek annimmt1, dafs das Urtheil bei Vergleichung gehobener Gewichte vielfach allein auf dem absoluten Eindruck der Leichtigkeit oder Schwere beruht Nun ist allerdings die M\u00f6glichkeit nicht vollst\u00e4ndig aus-\u25a0geschlossen, dafs in derartigen F\u00e4llen vielleicht doch ein aufser-ordentlich fl\u00fcchtiges und imdeutliches Erinnerungsbild auftritt, welches sich der inneren Wahrnehmung entzieht; aber jedenfalls besitze ich kein Vorstellungsbild einer Mittelgr\u00f6fse, welches so deutlich w\u00e4re, dafs ich es neben das Wahrnehmungsbild eines Menschen halten k\u00f6nnte zur Bestimmung der Gr\u00f6fse, um welche der jetzt gesehene Mensch von der Mittelgr\u00f6fse abweicht Wenn daher ein ganz fl\u00fcchtiges und undeutliches Erinnerungsbild auch bei mir in den hier in Betracht kommenden F\u00e4llen auftreten sollte, so l\u00e4ge es doch n\u00e4her anzunehmen, dafs in Folge seiner grofsen Fl\u00fcchtigkeit und Undeutlichkeit gar nicht dessen Gr\u00f6fse mit der des Wahrnehmungsbildes verglichen werde, dafs vielmehr der beim Wahrnehmungsbilde vorhandene, beim Vorstellungsbilde aber fehlende Nebeneindruck als ein mittelbares Kriterium das Urtheil direct bestimme.\nDie Annahme, dafs die genannten Contrasterscheinungen auf eine im Vergleichungsact sich \u00e4ndernde Vorstellung der Mittelgr\u00f6fse zur\u00fcckzuf\u00fchren seien, kann daher nicht nur als nicht sicher gestellt, sondern sogar als unwahrscheinlich bezeichnet werden. Und mit dem zweiten, von Lipps angef\u00fchrten Beispiel steht es dann auch nicht besser:\n\u201eHierzu f\u00fcge ich das andere Analogon. Ich meine damit die Gr\u00f6fsensch\u00e4tzung bei verschiedener Entfernung vom Auge. Vor mir in grofser Entfernung erhebe sich ein Berg, in mittlerer Entfernung ein Haus. Endlich befinde sich meine Hand in der Entfernung von mir, in der ich sie gew\u00f6hnlich zu sehen pflege. Alle diese Objecte, so nehme ich an, werden von mir in ihrer H\u00f6hen- bezw. L\u00e4ngsausdehnung gleich grofs gesehen. Nun vergleiche ich das Haus mit den beiden anderen Objecten. Zu-\n\u2022\t1 Vgl. Mabtin und M\u00fclles, Beitr\u00e4ge zur Analyse der Unterschieds-\nempfmdlichkeit. Leipzig 1899. S. 43.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nF. Schumann.\nn\u00e4chst mit dem Berg. Der Vergleich geschehe in der Weise, dafs ich das Haus aus dem \u00c4uge verliere, w\u00e4hrend ich den Blick dem Berge zuwende. Der Vergleich besteht dann wiederum darin, dafs ich das Vorstellungsbild des Hauses auf dem Berg abtrage, und zusehe, wie weit es auf diesem reicht. Nun ist der Berg f\u00fcr mein Auge so grofs, wie er ist, unter Voraussetzung seiner gr\u00f6fseren Entfernung. Erfahrung aber sagt mir, dafs entferntere Objecte, die f\u00fcr\u2019s Auge gleich grofs sind, wie n\u00e4here, in Wirklichkeit gr\u00f6fser sind. Es besteht also f\u00fcr mich eine erfahrungsgem\u00e4fse N\u00f6thigung, den Berg gr\u00f6fser vorzustellen als das Haus, oder das Haus kleiner als den Berg. Da ich unter der von mir gemachten Voraussetzung nur das Haus kleiner vorstellen kann, so thue ich dies. Indem ich das Haus in Gedanken in die Entfernung des Berges r\u00fccke, verkleinere ich es entsprechend.\u201c\n\u201eDagegen vergr\u00f6fsere ich das Haus in der Vorstellung in entsprechendem Maafse, wenn ich es mit der Hand vergleiche, es also auf die Hand und demnach in Gedanken in die geringe Entfernung der Hand \u00fcbertrage. \u2014 So entsteht mir das Be-wufstsein, der Berg sei gr\u00f6fser und die Hand kleiner als das Haus. Ich verfalle der T\u00e4uschung als sehe ich den Berg gr\u00f6fser, die Hand kleiner. In der That Behe ich den Berg gr\u00f6fser, d. h. ich sehe ihn gr\u00f6fser als das in der Vorstellung zwangsweise verkleinerte, und ioh sehe ebenso die Hand kleiner als das in der Vorstellung zwangweise vergr\u00f6fserte Haus.\u201c\nW\u00e4re als sicher zu betrachten, dafs die hier geschilderten Vorg\u00e4nge wirklich eintreten bei der Vergleichung von Objecten, die vom Auge verschieden entfernt sind, so w\u00fcrden wir es allerdings mit Ver\u00e4nderungen von Vorstellungen zu thun haben, die speciell im Vergleichungsact stattfinden. Thats\u00e4chlich handelt es sich aber wieder um eine hypothetische Construction, welche Lipps ersonnen hat, um seine Ansicht, dafs die gesehene Gr\u00f6fse nur von der Gr\u00f6fse des Netzhautbildes abh\u00e4ngt, mit der Thatsache in Einklang zu bringen, dafs uns von zwei verschieden entfernten aber gleich gr\u00f6fse Netzhautbilder entwerfenden Objecten das entferntere den unmittelbaren Eindruck einer gr\u00f6fseren Ausdehnung hervorruft. Nun kann es aber nach dem gegen\u00bb w\u00e4rtigen Stande der Forschung durchaus nicht f\u00fcr vollst\u00e4ndig ausgeschlossen gelten, dafs die Ausdehnung des Wahrnehmung\u00bb-inhaltes nicht nur von der Gr\u00f6fse des Netzhautbildes, sondern","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtsioatimehmungen. III.\n329\nauch noch von anderen Factoren abh\u00e4ngig ist, z. B. von der Entfernung, in die das betreffende Object localieirt wird. Sollte aber wirklich sp\u00e4ter durch weitere Forschungen ganz sichergestellt werden, dass die vorgestellte Entfernung der Objecte vom Auge auf die Ausdehnung des Wahmehmunginhaltes keinen Ein-flufs hat, so bleibt immer noch fraglich, ob der unmittelbare Eindruck der gr\u00f6fseren Ausdehnung, den wir von einem entfernteren Objecte erhalten, auch in der von Lipps angegebenen Weise zu erkl\u00e4ren ist Ich selbst kann wenigstens durch innere Wahrnehmung nichts davon constatiren, dafs bei der Vergleichung eines Hauses mit meiner Hand unter den von Lipps angegebenen Umst\u00e4nden in meinem Bewufstsein eine vergr\u00f6fserte Vorstellung des Hauses vorhanden w\u00e4re. Die Theorie der Raumwahrnehmung bietet besonders hinsichtlich der Tiefendimension noch so viel dunkle Punkte, dafs wir wohl besser erst weitere eingehende Untersuchungen abwarten, ehe wir zu dem Problem der Vergleichung verschieden entfernter Objecte definitiv Stellung nehmen.\nBei den beiden angef\u00fchrten Beispielen handelt es sich also thats\u00e4chlich nur um F\u00e4lle, in denen Lipps eine Ver\u00e4nderung von Vorstellungen im Vergleichungsact wiederum hypothetisch an-nimmt. Sehen wir aber von diesen Beispielen ab, so ist auch sonst kein einziger Fall bekannt, in dem eine solche Ver\u00e4nderung sicher nachgewiesen w\u00e4re. Die Annahme von Lipps, dafs bei der successiven Vergleichung r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsen ein vom ersten Eindruck zur\u00fcckgebliebenes Vorstellungsbild im Vergleichungsact seine Gr\u00f6fse \u00e4ndere, und zwar in verschiedener Weise je nach dem Verh\u00e4ltnis, in dem die vorgestellten Kr\u00e4fte zu einander atehen, mufs daher vom Standpunkte einer exacten Forschung aus mindestens als eine k\u00fchne Hypothese bezeichnet werden. Und diese Hypothese erscheint mir schon deshalb wenig wahrscheinlich, weil sie statt eines VergleichungsVorganges deren zwei voraussetzt. Denn nicht nur werden die Ausdehnungen von Vorstellungs- und Wahrnehmungsinhalt gegen einander abgemessen, sondern aufserdem auch noch im Unbewufsten die Intensit\u00e4ten der vorgestellten Kr\u00e4fte. Es kommt aber noch hinzu, dafs die Hypothese schwer zu vereinigen ist mit einer anderen Behauptung von Lipps (.Zeitschr. f. Psychol. 18, S. 414): \u201eDie Vorstellung einer Ausdehnungstendenz ist nicht vollziehbar, ohne dafs ich dieser Tendenz in meiner Vorstellung folge.\" Denn wenn dies richtig ist, so mufs bei successiver Ver-","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nF. Schumann.\ngleichung zweier Linien und bei einer Zwischenzeit von beispielsweise ein oder zwei Secunden das von der zuerst betrachteten Linie zur\u00fcckgebliebene Vorstellungsbild sich sofort im Sinne der vorgestellten Ausdehnungs- bezw. Einengungstendenz ver\u00e4ndern Diese Ver\u00e4nderung kann also unm\u00f6glich abh\u00e4ngen von dem Ver-h\u00e4ltnifs, in dem die bei der ersten Linie vorgestellten Bewegungstendenzen zu den bei der zweiten Linie vorgestellten stehen.\nIch glaube die vorstehenden Betrachtungen werden gen\u00fcgen, um nachzuweisen, dafs Lipps das Problem der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen nicht definitiv gel\u00f6st hat. Es bleibt ja allerdings noch denkbar, dafs die von mir angef\u00fchrten Schwierigkeiten sich \u00fcberwinden lassen; indessen, bis das geschehen ist, wird es jedenfalls erlaubt sein, auch auf anderem Wege eine Erkl\u00e4rung zu suchen.\n\u00a7 10. Stimmt Lipps mit mir wenigstens darin \u00fcberein, dafs er die besprochenen T\u00e4uschungen als eigentliche Urtheils-t\u00e4uschungen auffafst, so will Witasek (Zeitschr. f. PsychoL 19) nun im Gegentheil beweisen, dafs die \u00fcbersch\u00e4tzten bezw. untersch\u00e4tzten Distanzen, Linien, Kreise u. s. w. \u2014 abgesehen h\u00f6chstens von einigen Ausnahmen \u2014 wirklich gr\u00f6fser bezw. kleiner gesehen werden, indem er die Unm\u00f6glichkeit einer reinen Urtheilst\u00e4uschung darzuthun sucht. Er nimmt an, da(s Quadrate, Rechtecke u. s. w. von uns auf den ersten Blick als solche erkannt werden ohne eine besondere Vergleichung der begrenzenden Linien, nur auf Grund der vorhandenen \u201eGestaltqualit\u00e4ten\u201c. Und in gleicher Weise soll es \u201eein anschauliches Erfassen des Geraden, Krummen, Gebrochenen geben, eben das ihrer r\u00e4umlichen Gestalten, die in charakteristischer Eigent\u00fcmlichkeit gegeben und erfafsbar sind auch ohne jeden Richtungsvergleich\u201c. Dementsprechend bezeichnet er Urtheile wie: \u201eDas ist ein Quadrat\u201c, \u201eA B ist eine krumme Linie\u201c u. s. w. als Be-nennungsurtheile, sondert sie ab von den eigentlichen Ver-gleichsurtheilen und f\u00fchrt f\u00fcr beide Classen von Urtheilen den Beweis besonders.\nWas nun zun\u00e4chst die Benennungsurtheile anbetrifft, so bin auch ich der Ansicht, wie aus den Ausf\u00fchrungen der vorigen Abhandlung hervorgeht, dafs in den angef\u00fchrten F\u00e4llen das Erkennen ohne einen vorangegangenen besonderen VergleichungsVorgang stattfindet, nur auf Grund der \u201eGestaltqualit\u00e4ten\u201c. Allerdings besteht eine kleine Differenz zwischen unseren Ansichten \u00fcber die","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahmehmungen. III.\n331\nNatur der \u201eGestaltqualit\u00e4ten\u201c, doch die kommt hier nicht weiter in Betracht. Ferner stimme ich Witasek auch darin bei, dafs bei solchen Benennungsurtheilen, wie sie bei den geometrischoptischen T\u00e4uschungen vorliegen, nicht etwa nur eine falsche Bezeichnung in Folge einer \u201emomentanen Associationsver-schiebung\u201c in Frage kommen kann, dafs vielmehr die Bezeichnung der Ausdruck der schon fertigen T\u00e4uschung ist, ohne dafs sie selbst \u201ezur T\u00e4uschung als solcher innerlich irgend etwas beitr\u00e4gt\u201c. Witasek schliefst daher mit Recht, dafs bei den hier in Betracht kommenden T\u00e4uschungen nicht die normalen \u201eGestaltqualit\u00e4ten\u201c hervorgerufen werden, dafs also z. B. bei der Auffassung eines Quadrats, welches f\u00fcr ein Oblongum gehalten wird, auch wirklich die \u201eGestaltqualit\u00e4t\u201c des Oblongums eintritt Wenn ei dann aber weiter stillschweigend voraussetzt, dafs z. B. bei der Auffassung eines Quadrats die \u201eGestaltqualit\u00e4t\u201c eines Oblongums nur dann auftreten kann, wenn in dem entsprechenden Wahmehmungsinhalte auch wirklich die verticalen und horizontalen Grenzlinien eine verschiedene Ausdehnung haben, so \u00fcbersieht er die M\u00f6glichkeit, dafs die \u201eGestaltqualit\u00e4t\u201c nicht nur von dem Verh\u00e4ltnifs der Seiten des Walirnehmungsinhaltes, sondern auch noch von anderen Factoren abh\u00e4ngig sein k\u00f6nnte. Dafs dies aber wirklich der Fall ist, habe ich in Abhandlung 2 gezeigt.\nEbensowenig ist dann Witasek der Beweis hinsichtlich derjenigen T\u00e4uschungen gelungen, bei denen es sich um eigentliche Vergleichungsurtheile handelt. Er st\u00fctzt sich hier auf ein angebliches Evidenzgesetz, welches er Meinong\u2019s Vorlesungen \u00fcber Erkenntnistheorie entnimmt, und welches folgendermaafsen lautet: \u201eUrtheile, die ... . eine Verschiedenheit aussagen, sind, wenn man sie nicht auf die objectiven verglichenen Gegenst\u00e4nde anwendet, sondern auf die Vorstellungen, die dem Vergleich zu Grunde liegen, evident, also wahr und richtig.\u201c Er pr\u00e4cisirt n\u00e4her: \u201eWenn ich zwei Gegenst\u00e4nde A und B mit einander vergleiche und zu dem Urtheile gelange \u00bbA ist von B verschieden\u00ab, so ist damit zwar noch keine B\u00fcrgschaft gegeben, dafs die Gegenst\u00e4nde A und B in Wahrheit und Wirklichkeit von einander verschieden sind, wohl aber dafs es die Vorstellungsinhalte a und b waren, auf Grund deren mein Vergleichen vor sich gegangen ist.\u201c\nIn der That, ist dieses Gesetz richtig, so scheint daraus mit","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nF. Schumann.\nNothwendigkeit zu folgen, dais es sich bei der hier in Frage stehenden Classe von T\u00e4uschungen nicht um reine Urtheils-t\u00e4uschungen handeln kann. Denn da wir in den betreffenden F\u00e4llen nach vollzogener Vergleichung von zwei objectiv gleichen r\u00e4umlichen Gr\u00f6fsen die eine \u00fcber- oder untersch\u00e4tzen, also eine Verschiedenheit aussagen, so m\u00fcssen auch die Wahrnehmung\u00bb-inhalte hinsichtlich der r\u00e4umlichen Ausdehnung verschieden sein.\nIst nun dieses Gesetz aber wirklich evident? Schon bei fl\u00fcchtiger Betrachtung scheinen sich ja doch eine Reihe von Ausnahmen darzubieten. So f\u00fchrt Witasek selbst an, dafs in Folge des sog. Fehlers der Raum- und Zeitlage auch objectiv gleiche Reize als verschieden beurtheilt werden, und dafs Unmusikalische bisweilen von zwei gleich hohen T\u00f6nen den schw\u00e4cher angeschlagenen f\u00fcr tiefer halten. Aber nach ihm sind dies nur scheinbare Ausnahmen. Der Einflufs der Zeitlage sei auf eine gesetzm\u00e4fsige Ver\u00e4nderung zur\u00fcckzuf\u00fchren, die die Vor-Stellung des ersten Wahmehmungsinhaltes im Ged\u00e4chtnifs erleide, und die dem Vergleich wirklich zu Grunde liegenden Vorstellungen seien daher thats\u00e4chlich verschieden. Der Fall des Unmusikalischen sei ferner \u201eals gar nicht auf wirklicher Ton-b\u00f6henvergleichung beruhend aufzufassen\u201c. Wirk\u00fcche Ausnahmen sollen nur die F\u00e4lle bilden, in denen irgend welche Nebenumst\u00e4nde den Vergleichungsact st\u00f6ren. Aber \u201edie Wirkungen solcher die Sicherheit des Vergleichen st\u00f6render Nebenumst\u00e4nde\u201c sollen nicht \u201emit den unrichtigen Vergleichsergebnissen der geometrisch - optischen T\u00e4uschungen \u00fcbereinstimmen\u201c. Diese Wirkungen seien n\u00e4mlich zweifacher Art, und zwar \u201eerstens eine Herabsetzung der Sicherheit des Vergleichungsurtheils\u201c (\u201eman z\u00f6gere unentschieden und schwanke beim Abschliefsen des Vergleichs und Aufstellen des Urtheils\u201c) \u201eund zweitens eine Erh\u00f6hung der Unterschiedsschwelle oder Herabsetzung der Unterschiedsempfindlichkeit\u201c. Beide Wirkungen seien \u201eaber von dem, was wir bei den geometrisch - optischen T\u00e4uschungen beobachten k\u00f6nnen, ganz und gar verschieden\u201c. \u201eDie Sicherheit, mit der in den allermeisten F\u00e4llen die T\u00e4uschungsurtheile auftreten, lasse nichts zu w\u00fcnschen \u00fcbrig\u201c und auch die Empfindlichkeit sei \u201ekeineswegs geringer als sonst\u201c.\nEs soll daher h\u00f6chstens e i n e n Weg geben, um die \u201eSchwierigkeiten, die der Urtheilshypothese aus dem Gesetz von der Evidenz der Verschiedenheitsurtheile erwachsen\u201c, zu beheben. Man k\u00f6nne","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. UI.\n333\nannehmen, dafs beim Successiwergleich die vom ersten Wahr-nehmungsinhalt zur\u00fcckgebliebene Vorstellung in gesetzm\u00e4fsiger Weise ver\u00e4ndert werde, \u201eso dafs dann das Urtheil thats\u00e4chlieh t\u00e4usche, die Ursache der T\u00e4uschung aber doch nicht in der Wahrnehmung, sondern erst in der Vorbereitung zum Urtheil liege\u201c. Aber diese Ausflucht sei unzul\u00e4ssig, weil \u201egerade in den pr\u00e4gnantesten F\u00e4llen der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen der Vergleich gar nicht auf die Mith\u00fclfe des Ged\u00e4chtnisses angewiesen sei, sondern beide Vergleichungsglieder w\u00e4hrend des Vergleichens in der Wahrnehmung vorhanden seien, noch dazu in v\u00f6llig r\u00e4umlicher N\u00e4he\u201c.\nGegen diese Schlufsfolgerung erheben sich mm aber eine Reihe schwerer Bedenken. Wenn zun\u00e4chst Witasek meint, es w\u00e4re nicht \u201edenkbar, dafs irgend welche neue Erfahrungen das herangezogene Evidenzgesetz aus dem Wege schaffen k\u00f6nnten\u201c, so \u00fcbersieht er, dafs schon h\u00e4ufig allgemeine S\u00e4tze f\u00fcr evident gehalten worden sind, die man doch in sp\u00e4teren Zeiten auf Grund neuer Erfahrungen vollst\u00e4ndig hat fallen lassen. Und zwar ist das selbst bei solchen allgemeinen S\u00e4tzen geschehen, die mit weit gr\u00f6fserer Uebereinstimmung f\u00fcr evident gehalten wurden, als dies bei dem erw\u00e4hnten MEiNONG\u2019schen Evidenzgesetz der Fall ist. Denn ich weifs bestimmt, dafs ich nicht der einzige Psychologe bin, f\u00fcr den dies Gesetz keine Evidenz besitzt. Aufser-dem sind auch jetzt schon eine Reihe von Thatsachen bekannt, welche dem Gesetz direct widersprechen.\nErstens bildet n\u00e4mlich die falsche Beurtheilung zweier ob-jectiv gleicher Reize in Folge der Zeitlage keine nur scheinbare Ausnahme von dem Gesetz, wie Witasek meint, sondern eine wirkliche. Denn der Zeitfehler beim Successiwergleich l\u00e4fst sich, wie ich oben ausf\u00fchrlich gezeigt habe, nicht auf eine ge-setzm\u00e4fsige Ver\u00e4nderung der vom ersten Wahmehmungsinhalt zur\u00fcckgebliebenen Vorstellung zur\u00fcckf\u00fchren.\nZweitens spricht gegen das Gesetz die Thatsache, dafs selbst solche Forscher, welche sehr wohl wissen, dafs die Ueberg\u00e4nge von Schwarz durch Dunkelgrau, Mittelgrau, Hellgrau zu Weifs eine Qualit\u00e4tenreihe darstellen, doch f\u00e4lschlich glauben, die Intensit\u00e4ten von Lichtempfindungen mit einander zu vergleichen , wenn sie das Helligkeitsverh\u00e4ltnifs zweier grauer Scheiben beurtheilen. Zwar ging Hering entschieden zu weit, als er behauptete, dafs den Lichtempfindungen \u00fcberhaupt keine","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nJP. Schumann.\nIntensit\u00e4t zukomme; doch schon die Thatsache, dafs ein so zuverl\u00e4ssiger Beobachter \u00fcberhaupt zu einer solchen Ansicht gelangen konnte, zeigt, wie aufserordentlich unsicher die Beurthe\u00fcung der wirklichen Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse von Lichtempfindungen ist Ferner hat ein tiefes Schwarz jedenfalls schon eine ziemlich starke Intensit\u00e4t, und verschiedene Thatsachen weisen daraufhin, dafs mit der allm\u00e4hlichen Aufhellung des Schwarz zun\u00e4chst ein Nachlassen der Intensit\u00e4t einhergeht und dafs erst von einem bestimmten mittleren Grau an die Intensit\u00e4t wieder zunimmt Es k\u00f6nnen daher ein dunkleres und ein helleres Grau sehr wohl gleiche Intensit\u00e4t haben, und doch wird das hellere im Allgemeinen f\u00fcr intensiver gehalten werden.\nBrittens kommen in Betracht die in Abhandlung 2 (\u00a7 2) angef\u00fchrten T\u00e4uschungen, welche bei der Sch\u00e4tzung von Tonh\u00f6hen Vorkommen. Witasek will freilich (a. a. O. S. 44) die T\u00e4uschung, welche bei der Vergleichung von T\u00f6nen sehr verschiedener Klangfarbe sich zeigt, auf eine St\u00f6rung des Vergleichungsactes zur\u00fcckf\u00fchren; aber das geht entschieden nicht an. Er giebt ja selbst als Zeichen der St\u00f6rung des Vergleichsactes die Herabsetzung der Sicherheit des Urtheils an : wir sollen beim Abschliefsen des Vergleichs und Aufstellen des Urtheils unentschlossen z\u00f6gern und schwanken. Diese Unsicherheit macht sich aber meiner Erfahrung nach bei der Vergleichung von zwei gleich hohen T\u00f6nen, welche verschiedene Klangfarbe besitzen, nicht geltend; vielmehr habe ich immer sofort den unmittelbaren Eindruck, dafs derjenige Ton h\u00f6her ist, welcher die hellere Klangfarbe hat. Nun weifs ich allerdings auf Grund anderer Erfahrungen, dafs ich durch die ver\u00e4nderte Klangfarbe get\u00e4uscht werde, und ich bin daher nicht mehr von der Richtigkeit des ersten unmittelbaren Eindrucks \u00fcberzeugt. In Folge dessen pflege ich jetzt, wenn die zu vergleichenden T\u00f6ne nicht zu kurz dauern, immer erst die Grundt\u00f6ne im Bewusstsein sorgf\u00e4ltig zu isoliren und dadurch die T\u00e4uschung zu beseitigen. In ganz analoger Weise suche ich mir aber auch bei den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen die eigentlich zu vergleichenden Gr\u00f6fsen im Bewufstsein ganz von benachbarten Gr\u00f6fsen zu isoliren, und ich erreiche dadurch ebenfalls, dafs die meisten T\u00e4uschungen vollst\u00e4ndig schwinden. Auch haben ge\u00fcbte Zeichner viele T\u00e4uschungen von vornherein nicht, weil sie gewohnt sind, die zu vergleichenden Gr\u00f6fsen im Bewufstsein hervortreten zu lassen.","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtstcahrnehmungen. III.\n335\nViertens geh\u00f6rt hierher die Thatsache, dafs viele falsche Verschiedenheitsurtheile zu Stande kommen auf Grund mittel-barer Kriterien. Allerdings wird Witasek wohl geneigt sein zu sagen, dafs in solchen F\u00e4llen keine eigentliche Vergleichung stattfinde. Es erhebt sich dann aber die Frage nach der Natur des eigentlichen Vergleichungsvorganges und nach den Kriterien, an welchen wir erkennen k\u00f6nnen, dafs es sich bei den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen um Urtheile handelt, die durch eigentliche Vergleichungsvorg\u00e4nge zu Stande kommen. Denn wenn sich auch einer oberfl\u00e4chlichen Selbsbeobachtung nicht sofort mittelbare Kriterien gezeigt haben, so kann man doch daraus nicht schliefsen, dafs sie \u00fcberhaupt nicht vorhanden sind. Sind doch auch auf anderen Gebieten die indirecten Kriterien erst durch m\u00fchsame Untersuchungen nachgewiesen worden, so dafs sich von vornherein schwer bestimmen l\u00e4fst, wodurch unsere Vergleichungsurtheile eigentlich hervorgerufen werden. Ich erinnere nur an meine Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Zeitsch\u00e4tzung (.Zeitschr. f. Psychol. 18). Selbst wenn daher das Evidenzgesetz f\u00fcr eigentliche Vergleichungsurtheile g\u00fcltig sein sollte, k\u00f6nnte doch nicht auf Grund desselben behauptet werden, dafs es sich bei den geometrisch - optischen T\u00e4uschungen nicht um eigentliche U r t h e i 1 s t\u00e4uschungen handeln kann.\nEndlich steht nichts im Wege, die T\u00e4uschungen darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren, dafs beim Successiwergleich ein vom ersten Wahmehmungsinhalt zur\u00fcckgebliebener Vorstellungsinhalt bezw* ein anderes zur\u00fcckgebliebenes Residuum sich in gesetzm\u00e4fsiger Weise ver\u00e4ndert Denn wenn Witasek hiergegen anf\u00fchrt, dafs gerade in den pr\u00e4gnantesten F\u00e4llen der geometrisch - optischen T\u00e4uschungen beide Vergleichungsglieder w\u00e4hrend des Vergleichens in der Wahrnehmung und noch dazu in \u201ev\u00f6llig r\u00e4umlicher N\u00e4he\u201c vorhanden sind, so \u00fcbersieht er, dafs die Objecte trotz r\u00e4umlicher N\u00e4he von uns im Allgemeinen nach einander betrachtet werden. Wir richten den Blick zuerst auf das eine und dann auf das andere Object, und erst im Momente, wo der Blick auf das zweite Object f\u00e4llt, entsteht das Urtheil. Es kann daher sehr wohl von der Betrachtung des ersten Objects ein Residuum Zur\u00fcckbleiben, welches von uns gleichsam auf das zweite Object gelegt wird. Dafs dies aber wirklich geschieht, geht aus der im zweiten Abschnitte mehrfach erw\u00e4hnten That>","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nF. Schumann.\nsache hervor, dafs auch bei \u201ev\u00f6llig r\u00e4umlicher N\u00e4he\u201c der Vergleichungsglieder jene Nebeneindr\u00fccke der Ausdehnung u. g. w. sich geltend machen, also Ph\u00e4nomene, die doch lediglich den Residuen des zuerst beachteten Wahmehmungsinhaltes ihre Entstehung verdanken. Ferner habe ich besonders festgestellt, dafs diejenigen Versuchspersonen, welche bei successiver Darbietung zweier r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsen ein bewufstes Vorstellungsbild des ersten Eindrucks auf den zweiten gleichsam zu legen verm\u00f6gen, dies h\u00e4ufig auch bei simultaner Darbietung thun.\nNun haben zwar Witasek\u2019s theoretische Ausf\u00fchrungen durch Stadelmann's (.Festschrift der phys.-med. Gesellsch., W\u00fcrzburg 1899, S. 195 ff.) Versuche an Hypnotisirten eine scheinbar exacte, ex-perimentelle St\u00fctze gefunden. Dieser hat n\u00e4mlich, um Wita\u00f6ek's Ansicht, dafs es sich bei den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen nicht um eigentliche Urtheilst\u00e4uschungen handeln k\u00f6nne, zu be-weisen, seinen Versuchspersonen die M\u00fcller-LYERscheT\u00e4uschung (in der Form der obigen Figur 23) vorgelegt, und ihnen die an die eigentlich zu vergleichenden Linien angesetzten Schenkel wegsuggerirt. Unter der Annahme, dafs diese weg-suggerirten Ansatzst\u00fccke \u201ef\u00fcr das Urtheil der Versuchsperson keine directe Bedeutung mehr besitzen\u201c konnten, und gest\u00fctzt auf die Thatsache, dafs die Versuchspersonen dennoch der T\u00e4uschung verfielen, schliefst Stadelmann, es m\u00fcfsten die zu vergleichenden, objectiv gleichen Strecken verschieden grofs gesehen werden. Er \u00fcbersieht hierbei jedoch, dafs es mit diesen sog. negativen Hallucinationen eine eigenartige Bewandtnifs hat Schon die Thatsache, dafs hypnotisirte Personen es sorgf\u00e4ltig vermeiden, sich an einem im Wege stehenden, wegsuggerirten Tische zu stofsen, zeigt, dafs das betreffende Wahrnehmungsbild mindestens im Hintergr\u00fcnde des Bewufstseins vorhanden sein und von dort aus Wirkungen aus\u00fcben mufs. Noch mehr l\u00e4fst sich aber aus Experimenten schlie\u00dfen, die Binet und F\u00e9r\u00e9 zuerst angestellt haben, und die Moll best\u00e4tigt hat Letzterer berichtet dar\u00fcber (Der Hypnotismus, 3. Aufl., Berlin 1895, S. 147) : \u201eNimmt man zehn weifse Bl\u00e4tter, w\u00e4hlt hiervon eins, das man auf der R\u00fcckseite sich zeichnet und macht dieses zum Gegenstand einer negativen Gesichtshallucination, so glaubt der Hypnotische, nur neun Bl\u00e4tter zu sehen, auch wenn das wegsugge-rirte diesen hinzugef\u00fcgt ist Auf gef ordert, die neun Bl\u00e4tter zu geben, sucht der Hypnotische die neun richtigen heraus, l\u00e4&t","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gresichtswahmehmungen. III.\n337\naber das wegsuggerirte liegen, geleitet durch di\u00a9 Erken nun gs-punkte. Er kann es mithin von den anderen Bl\u00e4ttern unterscheiden, wenn ihm diese Unterscheidung auch nicht bewufst ist.\u201c \u2014 Dafs in diesem Falle die Unterscheidung ganz im Un-bewufsten stattgefunden h\u00e4tte, und in Folg\u00a9 dessen das Wahrnehmungsbild des wegsuggerirten Blattes \u00fcberhaupt nicht im Be-wufstsein aufgetreten w\u00e4re, wird doch kaum ein moderner Psychologe annehmen. Ich w\u00fcrde meinerseits aus diesem Versuche \u00abchliefsen, dafs das angeblich wegsuggerirte Blatt zun\u00e4chst auf Orund eines sehr deutlichen Wahrnehmungsbildes unterschieden wurde. Denn die Erkennungspunkt\u00a9 sind im Allgemeinen ganz feine Punkte auf der Fl\u00e4che eines Blattes, welche nur bei besonders darauf gerichteter Aufmerksamkeit erkannt werden k\u00f6nnen. Allerdings ist es m\u00f6glich, dafs nach vollzogener Unterscheidung in solchen F\u00e4llen das wegsuggerirte Object ganz in den Hintergrund des Bewufstseins tritt, weil die Versuchsperson weifs, dafs sie es nicht beachten soll. Es w\u00fcrde dabei die auch f\u00fcr das normale Seelenleben fundamentale F\u00e4higkeit in Frage kommen, von mehreren der Beobachtung dargebotenen Objecten einige besonders hervortreten zu lassen auf Kosten der \u00fcbrigen. Da nun aber anzunehmen ist, dafs ein Hypnotisirter nur dann von einem Complex von Linien eine oder mehrere ganz zur\u00fccktreten lassen kann, wenn ihm dasselbe bei den betreffenden Linien auch im normalen Leben einigermaafsen gelingt, so bezweifle ich sehr, dafs ein Hypnotisirter ohne vorangegangene besondere Ein\u00fcbung bei der M\u00fcxLEit - LYEn\u2019schen T\u00e4uschung die Ansatzst\u00fccke ganz im Bewufstsein zur\u00fccktreten lassen kann. Denn von zahlreichen Versuchspersonen, die ich gepr\u00fcft habe, gelang es nur sehr wenigen und auch diesen nur nach einiger Uebung. Da nun f\u00fcr die letzteren die T\u00e4uschung vollst\u00e4ndig aufh\u00f6rte, so vermag ich Stadelmann's Versuchen keine Beweiskraft zuzuschreiben.\nEigentlich m\u00fcfste ich hier an dritter Stelle auch noch den Versuch, die T\u00e4uschungen mit H\u00fclfe der Bewegungsempfindungen des Auges zu erkl\u00e4ren, einer n\u00e4heren kritischen Betrachtung unterziehen. Da dies indessen nicht wohl m\u00f6glich ist, ohne zugleich die Theorie der Muskelempfindungen \u00fcberhaupt in ihren Grundlagen einer kritischen Pr\u00fcfung zu unterziehen, eine solche Kritik aber den Rahmen der vorliegenden Abhandlung bei\nZeitschrift fur Psychologie 3o.\t22","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nF. ISchumann.\nWeitem \u00fcberschreiten w\u00fcrde, so behalte ich mir vor, jene Ansicht, der zu Folge die Bewegungsempfindungen des Auges f\u00fcr die Raumwahrnehmung eine fundamentale Bedeutung besitzen sollen, sp\u00e4ter zum Gegenst\u00e4nde einer besonderen Untersuchung; zu machen.\nIch fasse im Folgenden die Grundgedanken der vorstehenden Arbeit noch einmal kurz zusammen:\n1.\tDie Annahme, dafs zur Vergleichung successiv der Beobachtung dargebotener Eindr\u00fccke stets bei Eintritt des zweiten ein bewufstes Vorstellungsbild des ersten Eindrucks vorhanden sein m\u00fcsse, steht mit den Ergebnissen der inneren Wahrnehmung mehrerer, in der Selbstbeobachtung vorz\u00fcglich geschulter Forscher in Widerspruch. Jene These mag zwar f\u00fcr einzelne Personen zutreffen, jedenfalls giebt es aber zahlreiche Personen, die kurzdauernde Eindr\u00fccke schon nach wenigen Secunden auch willk\u00fcrlich nicht mehr einigermaafsen deutlich zu reproduciren verm\u00f6gen und dennoch einen kurz danach eintretenden zweiten Eindruck hinl\u00e4nglich genau mit jenem zu vergleichen im Stande sind.\n2.\tSpeciell f\u00fcr die successive Vergleichung r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsen hat die Pr\u00fcfung von ca. 30 Versuchspersonen ergeben, dafs zwar einige wenige ein deutliches Vorstellungsbild des ersten Eindrucks auf das zweite Wahrnehmungsbild zu legen im Stande-sind, dafs dagegen die grofse Mehrzahl dies nicht vermag. Andererseits k\u00f6nnen aber mehrere Personen deutlich besondere* Nebeneindr\u00fccke constatiren, welche beim Eintritt des zweiten von zwei nach einander der Beobachtung dargebotenen Wahrnehmungsinhalten sich geltend machen, n\u00e4mlich: Ein Heraus-schneiden eines der ersten Gr\u00f6fse gleichen St\u00fccks aus dem zweiten Wahrnehmungsinhalte, ein Nebeneindruck der Ausdehnung bezw. Zusammenziehung, und endlich ein absoluter Eindruck der Gr\u00f6fse bezw. Kleinheit. Diese Nebeneindr\u00fccke sind jedenfalls darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren, dafs Residuen, welche vom ersten Wahrnehmungsinhalte Zur\u00fcckbleiben, mit dem zweiten Reize bezw. Reizcomplexe Zusammenwirken. Da nun beim Zustandekommen des Vergleichsurtheils die vom ersten Eindruck zur\u00fcckbleibenden Residuen ebenfalls mitwirken m\u00fcssen, so liegt es nahe, die Nebeneindr\u00fccke als die Grundlage des Vergleichs-","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahmehmungen. III.\n339\nurtheils in Anspruch zu nehmen, zumal da das sonst wohl angenommene unmittelbare Verschiedenheitsbewufstsein ein etwas mythisches Ph\u00e4nomen ist, das durch Selbstbeobachtung nicht nachgewiesen werden kann. Die Thatsache, dafs die Nebeneindr\u00fccke nicht gleich von allen Personen beobachtet werden k\u00f6nnen, bietet keine Schwierigkeiten, da diese Eindr\u00fccke zwar in der ersten Jugend sehr deutlich gewesen, im Laufe der Zeit aber immer mehr in den Hintergrund getreten sein k\u00f6nnen. Allerdings beruht dann das Urtheil beim Successivvergleich nur auf mittelbaren Kriterien, und wir m\u00fcssen annehmen, dafs ein unmittelbares Vergleichsurtheil beim Kinde zun\u00e4chst nur entsteht auf Grund simultaner Vergleichung neben oder hinter einander befindlicher Gegenst\u00e4nde, von denen der eine den anderen \u00fcberragt Aus diesem prim\u00e4ren Vergleichsurtheil entwickelt sich dann allm\u00e4hlich das sp\u00e4ter beim Successivvergleich auftretende Urtheil in der Weise, wie ich es auf Seite 258 angedeutet habe.\n3. Die fundamentale Thatsache, dafs fast alle optischen T\u00e4uschungen bei h\u00e4ufigerer, genauer Vergleichung der zu be-urtheilenden Gr\u00f6fsen nachlassen oder ganz verschwinden, spricht daf\u00fcr, dafs wir es hier mit reinen Urtheilst\u00e4uschungen, also mit St\u00f6rungen des Vergleichungsvorganges zu thun haben. Ich habe deshalb versucht nachzuweisen, dafs hierbei die das Urtheil bestimmenden Nebeneindr\u00fccke aufser von den eigentlich zu vergleichenden auch noch von anderen benachbarten r\u00e4umlichen Gr\u00f6fsen abh\u00e4ngen.\n22*","page":339}],"identifier":"lit33344","issued":"1902","language":"de","pages":"241-291, 321-339","startpages":"241","title":"Beitr\u00e4ge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. Dritte Abhandlung: Der Successivvergleich [und] Schlu\u00df","type":"Journal Article","volume":"30"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:35:55.209590+00:00"}