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Ein Fall von Simulation einseitiger Farbensinnstörung

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{"created":"2022-01-31T14:50:05.380110+00:00","id":"lit33390","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Guttmann, Alfred","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 41: 338-342","fulltext":[{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nEin Fall von Simulation einseitiger Farbensinnst\u00f6rung.\nVon\nDr. Alfred Guttmanu (Berlin).\nW\u00e4hrend der Augenarzt, besonders der Bahnaugenarzt, h\u00e4ufig F\u00e4lle von Dissimulation einer Farbensinnst\u00f6rung beobachten kann, kommt die Simulation von Farbensinnst\u00f6rungen recht selten vor. Wenn es sich nicht um die Erreichung bestimmter Zwecke, wie z. B. das Erhalten einer Unfallrente oder das Freikommenwollen von einem Berufe, in dem Farbent\u00fcchtigkeit Bedingung ist, handelt, erscheint ja auch die Simulation einer derartigen Anomalie sinnlos, w\u00e4hrend die Dissimulation zur Erreichung von Anstellungen verschiedener Art, die sonst dem Betreffenden verschlossen w\u00e4ren, psychologisch wohl erkl\u00e4rlich ist. Aber nicht nur aus dem Grunde des seltenen Vorkommens derartiger Simulation will ich den von mir beobachteten Fall ver\u00f6ffentlichen, sondern auch darum, weil diese Simulantin, ein Kind von 11 Jahren, ihre Fiktion in so raffinierter und konsequenter Weise durchf\u00fchrte, dafs sie eine Anzahl von Sachverst\u00e4ndigen l\u00e4ngere Zeit in Atem hielt, bis ihre Entlarvung gelang.\nDas M\u00e4dchen, Luise W., ist das \u00e4lteste Kind aus der Familie eines Privatbeamten; nach Angaben der Eltern und Lehrer ist irgendwelche Abnormit\u00e4t k\u00f6rperlicher oder geistiger Art bei ihr nicht beobachtet worden; sie lernt gut und gilt als zuverl\u00e4ssig. Aufser einer Erkrankung an Scharlach im sechsten Jahre, die ohne Komplikation verlief, war sie stets gesund ; seit einem Jahr leidet sie an h\u00e4ufigen Entz\u00fcndungen der Augenlider.\nBei einer Schulkinderuntersuchung fiel mir auf, dais L. W. die NAOELschen Tafeln zur Untersuchung des Farbenunterscheidungsverm\u00f6gens, \u00fcber deren diagnostische Bedeutung und Anwendung N\u00e4heres in Professor Naoels diesbez\u00fcglicher Publikation (s. diese Zeitschrift 1 (4), S. 273 ff.) nachgelesen werden","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Fall von Simulation einseitiger Farbensinnst\u00f6rung.\n339\nkann, nur z\u00f6gernd und unsicher bezeichnete und fortgesetzt versuchte, n\u00e4her als vorschriftsm\u00e4fsig an die Tafeln heranzutreten. Ich vermutete zun\u00e4chst, dafs es sich um eine anomale Trichro-matin (Farbenschwache) handele, da derartige Personen, wie ich feststellte, sich fast immer so verhalten.1 Auf meine Frage, ob sie etwa auf einem Auge oder \u00fcberhaupt schlecht sehe \u2014 denn stark Kurzsichtige benehmen sich zun\u00e4chst \u00e4hnlich \u2014 antwortete sie mir, sie s\u00e4he mit dem einen Auge \u201eanders\u201c wie mit dem anderen. Ich pr\u00fcfte daher beide Augen einzeln und fand, dafs das rechte Auge einen normalen Farbensinn hatte. Die Angaben \u00fcber die mit dem linken Auge beobachteten Farben waren unsicher in bezug auf die Abteilung A der NAGELschen Tafeln, wenn auch im ganzen richtig. Bei Abteilung B nannte sie jedoch \u201erot und braun\u201c konstant \u201erot und gr\u00fcn\u201c ; auf der Tafel B4, die der Differentialdiagnose zwischen den beiden Typen der Anomalen g\u00fct, bezeichnete sie das Gr\u00fcn als \u201eheller als rot\u201c. Da ich wenige Tage vorher den ersten bisher beobachteten Fall von anomaler Trichromasie bei einer Frau gefunden hatte (\u00fcber den ich in dieser Zeitschrift in K\u00fcrze berichten werde), so glaubte ich nun um so mehr die Duplizit\u00e4t der F\u00e4lle auch hier zu erleben. Jedoch eine sorgf\u00e4ltige Nachpr\u00fcfung mit den NAGELschen Tafeln am n\u00e4chsten Tage ergab merkw\u00fcrdigerweise, dafs \u2014 bei normalem rechten Auge \u2014 das Kind mit dem linken Auge etwa die Fehler machte, die der Deuteranop macht. Am folgenden Tage pr\u00fcfte ich das Kind nochmals, diesmal in der elterlichen Wohnung; das Resultat war: wenn das Kind mit dem linken Auge beobachtete, erkannte es alle Unterschiede zwischen rot und gr\u00fcn, zwischen grau und gr\u00fcn, zwischen gelbgr\u00fcn und blaugr\u00fcn, vermochte aber keine Farbe zu benennen, (jedoch alle mit dem rechten Auge gesehenen Farben). Allm\u00e4hlich lernte es dann, alle Farben richtig zu benennen, nur rot erkannte es nicht. Alle roten Farben nannte es \u201edunkel\u201c, aber \u201ev\u00f6llig farblos\u201c, und verwechselte sie untereinander.\nBei dieser Art der Bezeichnung blieb das Kind von nun an konstant, trotz aller Versuche, etwaige Simulation zu entlarven, die von den Eltern aufs bereitwilligste unterst\u00fctzt wurden. Best\u00e4rkt wurde ich in meiner Annahme, dafs hier eine noch un-\n1 s. Bericht \u00fcber den I. Kongrefs f\u00fcr exper. Psychol, in Giefsen 1904. Joh. Ambros. Barth, Seite 16 ff.","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nAlfred Guttmann.\nbekannte Anomalie \u201edahinterstecke\u201c, durch folgende Angaben: -die Mutter erz\u00e4hlte mir spontan, dafs das Kind auch sonst bei roten Farben unsicher sei, rote Strafsenbahnlaternen nenne sie in gr\u00f6fserer Entfernung \u201eblau\u201c, ihre roten Kleider erkenne sie schlecht u. dgl. Das Kind selber erz\u00e4hlte mir ein andermal, es wisse schon lange, dafs es rot mit dem linken Auge nicht sehe: als der Lehrer einmal mit roter Tinte geschrieben habe, habe sie sich das rechte (also angeblich gesunde) Auge mit der Hand gerieben und dabei sei ihr die Tinte auf einmal \u201eschwarz\u201c erschienen; als sie das rechte Auge nun wieder ge\u00f6ffnet habe, sei ihr sofort die rote Farbe wieder deutlich geworden.\nIch stellte wenige Tage sp\u00e4ter das Kind im physiologischen Institut Herrn Professor Dr. Nagel und Herrn Dr. Simon vor, die meine Beobachtungen best\u00e4tigen konnten und mir bei den weiteren Untersuchungen freundlichst behilflich waren, wof\u00fcr ich ihnen hiermit besten Dank abstatte. Herr Dr. Simon war aufser-dem so freundlich, die augen\u00e4rztliche Untersuchung vorzunehmen, die nichts Pathologisches ergab. Nun wurden im Institut eine Anzahl Untersuchungen ausgef\u00fchrt, die dahin abzielten, das Kind zu entlarven. Es w\u00fcrde zu weit f\u00fchren, alle Etappen zu beschreiben. Ich nenne nur einiges, um zu zeigen, wie absonderlich und unverst\u00e4ndlich die Aussagen oft waren. Die Untersuchung mit Spektralfarben mufste \u2014 so liels sich erwarten \u2014 sehr schnell Klarheit schaffen. Zun\u00e4chst wurden also dem Kind Scheingleichungen zwischen Rot und Gelb gezeigt und zwar sowohl in den HelligkeitsVerh\u00e4ltnissen, wie sie der Gr\u00fcnblinde (Deuteranop) als wie sie der Rotblinde (Protanop) anerkennt. Beides erkl\u00e4rte das Kind f\u00fcr ungleich. Sodann wurden die RAYLEiGHschen Mischungsgleichungen eingestellt : das Mischungsverh\u00e4ltnis von Rot (ca. 670 fiifi) und Gr\u00fcn (ca. 545 das der Normale braucht, um eine Gleichung mit einem homogenen Gelb (589 zu erhalten, erkannte das Kind an. Das Verh\u00e4ltnis Rot : Gr\u00fcn, das der Gr\u00fcnanomale braucht, um diese Gleichung zu erzielen, wurde hingegen nicht anerkannt. Wenn nun das Kind bei der dritten Gleichungsdarbietung, n\u00e4mlich der des Rotanomalen, dies Mischungsverh\u00e4ltnis ebenfalls verwarf, war es eben normal und die Simulation war bewiesen; liefs es jedoch die Gleichung gelten, so war wiederum Simulation bewiesen, da es dann rotanomal sein m\u00fcfste; kein Rotanomaler erkennt aber die Normalengleichung an. Jedoch bei der Darbietung dieser","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Fall von Simulation einseitiger Farbensinnst\u00f6rung.\n341\nGleichung zeigte das Kind ein eigent\u00fcmliches Verhalten: die beiden Halbkreise erschienen ihm angeblich \u201esehr \u00e4hnlich\u201c, nur auf der einen, f\u00fcr das normale Auge roten (und viel zu hellen) Seite \u201ezu dunkel\u201c. Durch Verdunkeln der anderen (gelben) Seite gelang es dann, eine absolut befriedigende Gleichung zu gewinnen! Dieses ganz bestimmte Helligkeitsverh\u00e4ltnis blieb merkw\u00fcrdigerweise bei wiederholten Kontrollversuchen konstant; es war eine Spaltweite von 6 Strich, w\u00e4hrend der Rotanomale unter den hier gew\u00e4hlten Bedingungen eine etwa viermal so grofse Spaltweite brauchen w\u00fcrde. Es m\u00fcfste sich also hiernach um eine Art der Farbenanomalie handeln, in der der Reiz wert des roten Lichtes \u2014 und dieser allein \u2014 enorm herabgesetzt ist, n\u00e4mlich etwa noch viermal so stark wie beim Rotanomalen ! Dazu w\u00fcrde das konstante Bezeichnen aller roten, auch der hellroten Gegenst\u00e4nde, als \u201edunkel\u201c passen; ihm widerspricht jedoch die Anerkennung der Normalengleichung. Sodann wurden zwei Weifsmischungen aus komplement\u00e4ren Farben hergestellt, die eine aus Rot-Gr\u00fcn, die andere aus Gelb-Blau. Die f\u00fcr den Normalen g\u00fcltige Mischung wurde anerkannt! Ferner wurde das Kind mit einem von Dr. Simon konstruierten Apparat untersucht, dessen kreisf\u00f6rmige, von r\u00fcckw\u00e4rts beleuchtete Scheibe aus einem roten Glas bestand ; vor die eine H\u00e4lfte war aufserdem noch ein blaues Glas gesetzt. Diese violette und sehr viel dunklere Seite wurde nun von dem Kind als die hellere bezeichnet! Somit war die Wahrscheinlichkeit grofs, dafs das Kind \u201erot\u201c einfach \u201edunkel\u201c nannte, weil hier dasselbe Rot f\u00fcr sich allein dunkler genannt wurde, als dort, wo es, noch durch blau verdunkelt, dem Kinde im Violett unerkennbar war.\nDie endg\u00fcltige Entlarvung gelang schliefslich durch das Pseudoskop. Der von mir benutzte, ganz leicht aus Pappe herstellbare Apparat, den ich sehr empfehlen kann, ist ausf\u00fchrlich von R. Wick beschrieben in der Zeitschrift f\u00fcr Augenheilkunde als der MAE\u00c9CHALsche Spiegelapparat.1 Das Prinzip beruht darauf, dafs man durch zwei Guckl\u00f6cher in einen von oben beleuchteten Kasten sieht, in dem man an der gegen\u00fcberliegenden Wand einen kleinen Spiegel erblickt; in diesem sieht man (aufser den eigenen Augen) die Gucklochwand des Kastens und die im Innern seitlich von den Guckl\u00f6chern angebrachten Objekte, die\n1 R. Wick. \u00dcber Simulation von Blindheit und Schwachsichtigkeit und \u00fcber deren Entlarvung. Zeitschrift f\u00fcr Augenheilkunde 4. 1900.","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nAlfred Guttmann.\nbeurteilt werden sollen. Dieser Spiegel ist aber so bemessen, dafs man nicht (wie man nach dem Augenschein mit Sicherheit erwartet) die beiderseits angebrachten Objekte mit beiden Augen sieht \u2014 vielmehr erblickt man mit dem linken Auge nur das rechts vom rechten Guckloch befindliche und mit dem rechten Auge nur das links vom linken Auge befindliche.\nIch klebte nun auf beide Seiten je ein helles, rotes und ein dunkles, gr\u00fcnes Farbpapier von derselben Art dicht nebeneinander auf, so dafs man mit jedem Auge rot und gr\u00fcn beiderseits sah. Und nun gab das Kind z\u00f6gernd an: \u201eRechts sehe ich gr\u00fcne Farbe und etwas Dunkles, links dasselbe\u201c. Damit war die Simulation evident, denn, wTenn es wirklich mit dem linken Auge \u201erot\u201c als \u201edunkel\u201c sah, so hatte es bis dahin mit dem rechten Auge rot doch stets und sofort richtig erkannt. Hier nun wurde es durch die Spiegelung offenbar verwirrt und gab nun auch diese r\u00e4tselhafte Anomalie auch auf dem \u201egesunden\u201c Auge an.\nEs handelt sich also um eine f\u00e4rbent\u00fcchtige Person, die, aus mir unbekannten Gr\u00fcnden, vielleicht nur, um sich vor den anderen Kindern \u201ehervorzutun\u201c, es durchf\u00fchrte, alle roten Objekte als farblos und zwar als \u201edunkel\u201c zu bezeichnen. So einfach es auch nach diesen Ausf\u00fchrungen erscheinen mag, das Kind zu entlarven, so schwierig war es in der Tat, da man ganz sicher sein mufste, dafs man nicht mit der bequemen und schnellen Diagnose \u201eSimulation\u201c irgend eine merkw\u00fcrdige und durch die Einseitigkeit doppelt merkw\u00fcrdige Anomalie ununtersucht liefs. Unter den ca. 3000 von mir in den letzten Jahren auf Farbensinnst\u00f6rungen untersuchten Personen (von denen ich einen Fall von bisher noch nicht beobachteter Art, der l\u00e4ngere Zeit den Eindruck der Simulation machte, publiziert habe *) bin ich wohl nie so lange im Ungewissen gewesen, wie hier. Und ebenso erging es Professor Nagel und Dr. Simon, die so grofse Erfahrung auf diesem Gebiete haben. Als Kuriosum m\u00f6chte ich \u00fcbrigens noch erw\u00e4hnen, dafs eine Klassenkameradin der L. W., nachdem sie meine Fragen an dieses Kind geh\u00f6rt hatte, ebenfalls einseitige Farbenblindheit simulierte, jedoch schnell entlarvt wurde, \u2014 ein Schulfall von psychischem Kontagium.\n1 s. diese Zeitschrift 41, S. 45 ff.\n(Eingegangen am 6. September 1906.)","page":342}],"identifier":"lit33390","issued":"1907","language":"de","pages":"338-342","startpages":"338","title":"Ein Fall von Simulation einseitiger Farbensinnst\u00f6rung","type":"Journal Article","volume":"41"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:50:05.380116+00:00"}

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