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Über Sinnestäuschungen im Muskelsinn bei passiven Bewegungen

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{"created":"2022-01-31T16:17:53.592842+00:00","id":"lit33398","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Reichardt, M.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 41: 430-454","fulltext":[{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"(Aus der psychiatrischen Klinik zu W\u00fcrzburg.)\n\u2022 \u2022\nUber Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn bei passiven\nBewegungen.\nVon\nDr. M. Reichardt, Privatdozent.\nIn seiner Begr\u00fcfsungsschrift zum 2. Kongrefs f\u00fcr experimentelle Psychologie (W\u00fcrzburg, April 1906)1 beschreibt Professor Rieger einen Apparat, welcher in der hiesigen psychiatrischen Klinik seit Jahren zur Untersuchung von Muskelzust\u00e4nden am Lebenden im Gebrauch ist. Ich selbst habe oft genug als Versuchsperson bei derartigen Versuchen gedient. Es fiel mir sehr bald auf, dafs unter bestimmten Bedingungen die gr\u00f6fsten Differenzen bestehen k\u00f6nnen zwischen den tats\u00e4chlichen Bewegungen des Beines (Armes) und den hiervon in das Bewufstsein tretenden Empfindungen. Ich will versuchen, einiges davon im folgenden zu beschreiben.\nHierzu mufs ich die kurze Schilderung zweier, f\u00fcr diese Beschreibung wichtiger Ph\u00e4nomene vorausschicken, welche der lebende Muskel in gesetzm\u00e4fsiger Weise zeigt, n\u00e4mlich eine, unter gewissen Bedingungen im Muskel auftretende Bremsung, und die sogenannte Nachwirkung.\nWie die Bremsung nachgewiesen wird, das hat Rieger im 3. Teile der genannten Schrift gezeigt. Eine Bremsung in der Bewegung des untersuchten Gliedes tritt dann ein, wenn das betreffende Glied, welches bisher passiv in der gleichen Richtung sich bewegte, durch \u00c4nderung der Belastung des Apparates in die entgegengesetzte Richtung gedreht wurde.\n1 Jena, Gustav Fischer 1906. Bez\u00fcglich der technischen Einzelheiten der folgenden Abhandlung sei auf diese Schrift verwiesen.","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn bei passiven Bewegungen. 431\nMit dem Worte \u201eNachwirkung\u201c werden spontane, aber vom Willen nicht veranlafste Bewegungen des v\u00f6llig im Gleichgewicht aufgeh\u00e4ngten Unterschenkels (Armes) bezeichnet, welche stets dann auftreten, wenn die Extremit\u00e4t durch \u00c4nderung der Belastung des Apparates in irgend eine Lage gebracht wird. Diese prim\u00e4re passive Bewegung des Gliedes setzt sich dann als spontane Bewegung (\u201eNachwirkung\u201c) in dergleichen Richtung noch etwas fort, nachdem das Glied nach der prim\u00e4ren passiven Bewegung vor\u00fcbergehend scheinbar zur Ruhe gekommen war. Diese Nachwirkung kann am berufsten Zylinder, namentlich an der rotierenden Trommel, mit grofser Genauigkeit aufgezeichnet und gemessen werden; sie pflegt um so gr\u00f6fser zu sein, je gr\u00f6fser die prim\u00e4re passive Bewegung des Beines (Armes) war. Wird also, beispielsweise, der im Gleichgewicht aufgeh\u00e4ngte und durch keine willk\u00fcrliche Muskelspannung gehaltene Unterschenkel durch Wegnahme eines 200 g Gewichtes passiv von 20\u00b0 auf 30\u00b0 nach abw\u00e4rts gedreht, und ist diese prim\u00e4re Bewegung beendet, so hat der Unterschenkel, nach vor\u00fcbergehender Ruhe, die Tendenz, im Verlaufe von Minuten noch ein wenig mehr nach abw\u00e4rts sich zu bewegen, um etwa 1\u00b0. Man k\u00f6nnte in diesem Falle also von \u201eNachdehnung\u201c sprechen, wenn man annehmen wollte, dafs die Quadricepsgruppe des Oberschenkels in Beziehung zur Nachwirkung st\u00e4nde. \u2014 Wird hingegen der Unterschenkel durch Aufsetzen entsprechender Gewichte um 100 nach oben bewegt, dann zeigt er in \u00e4hnlicher Weise das Bestreben, sich weiterhin spontan noch etwas nach aufw\u00e4rts zu drehen. Der Quadriceps-muskel w\u00fcrde sich also im letzteren Falle verk\u00fcrzen.1\nIn der sp\u00e4ter (Seite 442) gebrachten Abbildung bedeuten die senkrechten Striche die prim\u00e4ren passiven Lage\u00e4nderungen des Armes durch Gewichtsvermehrung, resp. -Verminderung, w\u00e4hrend die horizontale Strichelung den Weg der spontanen Nachwirkungsbewegung darstellt.\nBereits die erste Untersuchung dieser Nachwirkung zeigte mir (was, wie ich sp\u00e4ter erfuhr, auch schon anderen Beobachtern in der W\u00fcrzburger Klinik auf gef allen war) die auffallend grofse Differenz zwischen den (am berufsten Zylinder ables-\n1 F\u00fcr die folgenden Ausf\u00fchrungen ist es gleichg\u00fcltig, zu wissen, ob die jeweilige Nachwirkung durch Dehnung, resp. Verk\u00fcrzung der oberen oder unteren Muskelgruppe entsteht. Auch d\u00fcrfte diese Frage nicht sobald zu entscheiden sein.\t\u25a0-'i\t:\nOQ\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 41.","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nM. Reichardt\nbaren) objektiven und langsamen Bewegungen der Extremit\u00e4t und der subjektiven Empfindung davon. War die Nachwirkungsbewegung etwas erheblicher und z. B. nach unten gerichtet, so hatte ich das Gef\u00fchl, als ob das Bein mit grofser Schnelligkeit um 20 bis 30\u00b0 nach abw\u00e4rts st\u00fcrze, w\u00e4hrend die tats\u00e4chliche Bewegung im Verlaufe von Minuten 1 bis 2, bis h\u00f6chstens 3\u00b0 betrug. Hatte dagegen die Nachwirkung die Richtung nach oben, wobei ebenfalls nur eine minimale objektive Bewegung zustande kam, so war die verursachte Empfindung doch die einer ausgiebigen, raschen, viele Winkelgrade betragenden Bewegung. Die Nachwirkungsbewegung erscheint also im Bewufstsein um ein Vielfaches multipliziert. Infolgedessen entstanden naturgem\u00e4fs betr\u00e4chtliche T\u00e4uschungen in der Beurteilung der Lage und Winkelstellung der Extremit\u00e4ten.\nDurch eine sehr grofse Anzahl von Untersuchungen habe ich versucht, den sich aus dieser Beobachtung zun\u00e4chst ergebenden Fragen n\u00e4her zu treten, speziell auch inwieweit und unter welchen Bedingungen durch diese verst\u00e4rkte Empfindung der Nachwirkung beeinflufst wird: das Absch\u00e4tzen der Lage des Beines, die Grenzen der Wahrnehmung kleinster passiver Bewegungen, und der Versuch einer Lokalisation der Bewegungsempfindungen (Muskel? oder Gelenk?).\nIm folgenden gebe ich ein Protokoll einer derartigen Untersuchung wieder. Die \u00c4ufserungen der Versuchsperson wurden sofort aufgeschrieben, ebenso auch die objektiven Bewegungen des Beines, die verschiedenen Winkelstellungen und die Belastungs\u00e4nderungen des Apparates. Der Umstand, dafs beim Diktieren des Protokolles die Versuchsperson selbst sprechen mufs, ist ein Nachteil, weil durch den Impuls zum Sprechen (ebenso wie durch jeden anderen motorischen Impuls) unwillk\u00fcrliche Innervationsst\u00f6fse in die zu untersuchende Extremit\u00e4t kommen k\u00f6nnen. Indes wurde das im Protokoll Wiedergegebene von mir w\u00e4hrend der Versuche so oft ebenfalls beobachtet, wrenn ich w\u00e4hrend des Versuches gar nichts sprach, \u00fcberhaupt mich nach M\u00f6glichkeit regungslos verhielt, dafs die durch Sprechen entstandenen allf\u00e4lligen Beobachtungsfehler sicher nicht sehr das\nResultat beeintr\u00e4chtigen.\n< \\ , . .\nDas Bein ist horizontal \u00e4quilibriert und m\u00f6glichst v\u00f6llig entspannt. Durch Wegnahme eines 1400-g-Gewichtes sinkt der Unterschenkel his zu einem Winkel von etwa 35\u00b0. Diese Bewegung wird in gew\u00f6hnlicherWeise","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Sinnest\u00e4uschungen im Mushelsinn bei passiven Bewegungen. 433\nempfunden ; sie kam alsbald zum Stillstand. Aber 5 bis 10 Sekunden nach der Gewichtszunahme begann die Empfindung der Nachwirkung, d. h. ein Gef\u00fchl sehr starker Abw\u00e4rtsbewegung, bzw. eines Fallens des Beines. Die Empfindung war anfangs am st\u00e4rksten, dann nachlassend und wellenf\u00f6rmig wieder st\u00e4rker werdend. Vor\u00fcbergehend das Gef\u00fchl, als ob der Unterschenkel schnell um 15 bis 20\u00b0 nach abw\u00e4rts s\u00e4nke. Jeder Impuls zum Sprechen, auch jeder andere motorische Impuls (tiefes Atemholen, Druck auf den Knopf der F\u00fcnftelsekundenuhr usw.) verst\u00e4rkt auch die Empfindung des Nach-abw\u00e4rtsfaliens des Beines. Durch solche motorische Impulse in anderen Muskelgruppen kommt es auch hier und da zu unwillk\u00fcrlichen Innervationsst\u00f6fsen in die Oberschenkel-, und zwar meist in die Streckmuskulatur, deren Bewegungen in der Regel sehr deutlich empfunden werden. Objektiv hat sich das Bein w\u00e4hrenddessen in 5 Minuten nur um etwa IV40 nach abw\u00e4rts bewegt. War die Nachwirkungsempfindung scheinbar zur Ruhe gekommen, so konnte sie durch einen motorischen Impuls in ein anderes Muskelgebiet, z. B. durch das Sprechen, wieder etwas hervorgerufen werden. War die Nachwirkung selbst definitiv zur Ruhe gekommen, so war auch die Empfindung von der Lage des Gliedes wieder die gew\u00f6hnliche. Wer bereits im Absch\u00e4tzen derselben ge\u00fcbt war und gelernt hatte, von den vorhergegangenen Nachwirkungsempfindungen zu abstrahieren, der vermochte nunmehr h\u00e4ufig auch die Lage des Beines ann\u00e4hernd richtig zu sch\u00e4tzen.\nDurch Aufsetzen oder Wegnehmen einzelner 200-g-Gewichte wurde nun weiter die Lage des Beines ge\u00e4ndert.\nPlus 200 g (von Belastung 14 nach 12). Objektiv tritt hier nun die sogenannte Bremsung ein; das Bein bewegt sich nur ca. 1\u00b0 nach oben. Subjektiv Gef\u00fchl minimaler Bewegung.\nPlus 200 g (von 12 nach 10). Objektiv 1\u00b0 nach oben; subjektiv Gef\u00fchl minimalster Bewegung. Dann subjektiv leise Nachwirkungsempfindung nach oben, die objektiv gerade eben nachweisbar ist C/2 nun). Die Stellung des Unterschenkels wird auf 30\u00b0 gesch\u00e4tzt, was ann\u00e4hernd zutrifft (35 \u00b0).\nPlus 200 g (von 10 nach 8). Objektiv Bewegung von 2\u00b0, subjektiv eine solche von wenigstens 5\u00b0. Der (noch immer bei etwa 30\u00b0 stehende) Unterschenkel erscheint fast gestreckt; das Verm\u00f6gen, seine Stellung zu taxieren, ist v\u00f6llig verloren gegangen. Nachwirkungsempfindung nach oben.\nPlus 600 g (von 8 nach 2). Der Unterschenkel steht 10\u00b0 unter der Horizontalen. 5\" nach Aufsetzen des Gewichtes sehr starke Nachwirkungsempfindung, \u2014 objektiv nichts nachweisbar.\n30\" subjektiv schw\u00e4cher, objektiv eben beginnend.\n60\" subjektiv st\u00e4rker, objektiv nichts nachweisbar.\n90\" 1\n120\" / 8ubiektiv un<^ objektiv nichts.\nPlus 200 g (von 2 nach 0). Nach 10\" subjektiv Nachwirkungsempfindung nach oben; objektiv nichts. Nach 45\" subjektiv starke Nachwirkung, objektiv beginnt sie nachweisbar zu werden.\n28*","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nM. Reichardt.\nMinus 1400 g (von 0 nach 14). Das Bein sinkt wieder auf etwa 35\u00b0. Objektiv bewegte sich dann infolge der Nachwirkung der Unterschenkel in 5 Minuten um V2 0 nach unten. Die Nachwirkungsempfindung verhielt sich folgendermafsen :\n12\" erstes Auftreten derselben,\n30\" sehr stark; Unterschenkel scheint abw\u00e4rts zu st\u00fcrzen,\n60\" desgleichen,\n75\" etwas schw\u00e4cher,\n90\" wieder st\u00e4rker,\n120\" sehr stark. Der Unterschenkel scheint 10 oder 20\u00b0 nach abw\u00e4rts sich zu bewegen.\nAuch in der 3. und 4. Minute noch starke Nachwirkungsempfindung, welcher aber objektiv keine mefsbare Bewegung mehr entspricht.\nNach 5 Minuten noch ein wenig Nachwirkungsempfindung. Die Lage des Unterschenkels sch\u00e4tzte ich jetzt, trotz meiner hierin erlangten \u00dcbung, auf 60\u00b0, w\u00e4hrend die Winkelstellung nach wie vor etwa 35\u00b0 war.\nPlus 200 g (von 14 auf 12); objektiv Ibis 2\u00b0; subjektiv gar nichts gesp\u00fcrt.\nPlus 200 g (von 12 auf 10); subjektiv und objektiv 2\u00b0. Dann starke Nachwirkungs empfind un g nach oben; dabei das Gef\u00fchl des Sieb-Reibens der Gelenkfi\u00e4chen, wodurch die Nachwirkungsbewegung gr\u00f6fser erscheint. \u2014 Das Bein machte jetzt eine unbeabsichtigte Bewegung nach oben um 12 bis 15\u00b0, die subjektiv zu 2 bis 3\u00b0 gesch\u00e4tzt wird.\nPlus 1000 g (von 10 auf 0). Dann objektiv Nachwirkung um V/2\u00b0 nach oben in 4 Minuten; subjektiv starke andauernde Nachwirkungsempfindung. Gef\u00fchl des \u00fcberstreckten Unterschenkels, w\u00e4hrend er tats\u00e4chlich noch etwa 5\u00b0 unter der Horizontale steht.\nAns diesem mitgeteilten Protokoll und aus sehr vielen anderen Versuchen und Selbstbeobachtungen, die stets dasselbe Resultat hatten, ergeben sich eine Anzahl Folgerungen, die ich nunmehr kurz zusammenfasse, wobei ich aber nochmals betone, dafs ich mich hier in erster Linie auf Selbstbeobachtungen st\u00fctze, und dafs das Folgende auch nur sich auf die B e i n muskulatur bezieht, w\u00e4hrend sich mein Arm den gleichen Versuchen gegen\u00fcber etwas anders verh\u00e4lt. Infolge der vielen Versuche habe ich im Laufe der Zeit eine gr\u00f6fsere \u00dcbung im Beobachten und Absch\u00e4tzen der passiven Lagen und Bewegungen des Beines erlangt, so dafs ich, beim Versuch einer Absch\u00e4tzung, unter Erw\u00e4gung aller Umst\u00e4nde, durch Kombination und Abstraktion manchmal noch zu einem mehr oder weniger richtigen Urteile komme, trotz der T\u00e4uschungen, welche diese Nachwirkungsempfindungen mit sich bringen. Bei anderen Versuchspersonen habe ich die gleichen Sinnest\u00e4uschungen w\u00e4hrend der Nachwirkung angetroffen; die F\u00e4higkeit, Lage und Winkelstellung","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Sinnest\u00e4uschungen im Mushelsinn bei passiven Bewegungen. 435\nder Extremit\u00e4t abzusch\u00e4tzen, war bei diesen Personen noch bedeutend geringer, die subjektiven T\u00e4uschungen und Irrt\u00fcmer dabei noch st\u00e4rker, weil ihnen die \u00dcbung im Absch\u00e4tzen fehlte, \u2014 abgesehen davon, dafs in der Kunst der Selbstbeobachtung die einzelnen Menschen offenbar grundverschieden angelegt sind. Auch zweifele ich gar nicht daran, dafs es Menschen geben wird, denen die von mir beschriebenen Nachwirkungsempfindungen gar nicht, oder nur unvollkommen zum Bewufstsein gelangen.\nEs tritt also die als Nachwirkung bezeichnete, an sich geringf\u00fcgige, spontane Bewegung des Unterschenkels nicht mit einer ihrer Bewegungsgr\u00f6fse entsprechenden Empfindung in das Bewufstsein, sondern aufserordentlich viel st\u00e4rker. W\u00e4hrend die objektive Bewegung bei der Nachwirkung etwa 1 bis 2 0 zu betragen pflegt, entspricht die Empfindung von dieser Bewegung einer Bewegung von vielleicht 10 bis 20 \u00b0, jedenfalls aber einem Vielfachen. Es ist dieses, jeden Augenblick zu wiederholende und zu kontrollierende Ph\u00e4nomen um so mehr \u00fcberraschend, als im \u00fcbrigen die Empfindung und Absch\u00e4tzung passiver (und aktiver) Bewegungen des Beines eine ziemlich genaue ist und keinesfalls \u00e4hnliche T\u00e4uschungen aufweist.\nDie Richtung der, in die Nachwirkung fallenden, Beinbewegungen (ob nach oben oder nach unten) wird \u00fcberraschend genau wahrgenommen, sofern \u00fcberhaupt nur eine Bewegung selbst wahrgenommen wird. Es ist mir bei s\u00e4mtlichen eigenen Versuchen und denen an fremden Personen nur ein einziges Mal vorgekommen, dafs bei einer ganz geringf\u00fcgigen Bewegung von ca. 1\u00b0 die betreffende Person \u00fcber die Bewegungsrichtung im Zweifel war. \u2014 War die Nachwirkungsbewegung nach unten gerichtet, so wurde eine kleine passive Bewegung in der gleichen Richtung selbstverst\u00e4ndlich aufserordentlich deutlich, sogar meist verst\u00e4rkt empfunden. Wurde bei einer Nachwirkung nach unten eine kleine passive Bewegung des Beines nach oben veranlafst, und wurde die letztere \u00fcberhaupt wahrgenommen, dann konnte auch ihre Richtung stets bestimmt und ohne Irrtum angegeben werden. Ich bin geneigt, dieses Verm\u00f6gen einer derartig genauen Wahrnehmung der Richtung in Verbindung zu bringen mit der Nachwirkung (bzw. dem ihr zugrunde liegenden Vorg\u00e4nge im Muskel) und mit ihrer die tats\u00e4chliche Bewegung verst\u00e4rkenden Wirkung. Bei kleinen passiven Bewegungen, die der","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nM. Reichardt.\nNachwirkung entgegengesetzt sind, wird die Nachwirkungsbewegung selbst br\u00fcsk unterbrochen, so dafs gerade diese Unterbrechung mir ein Grund zu sein scheint, dafs nicht blofs gleich gerichtete, sondern auch entgegengerichtete kleinste passive Bewegungen in ihrer Richtung genau erkannt werden.\nAllerdings kommt es, nach meinen Beobachtungen nicht selten, vor, dafs (bei stets gleichbleibender Geschwindigkeit, bzw. zeitlichem Ablauf der Bewegungen) kleinste passive Bewegungen, welche einer gerade vorhandenen Nachwirkungsbewegung entgegengesetzt sind, \u00fcberhaupt nicht wahrgenommen werden, obwohl die Schreibfeder an der Trommel eine Bewegung von 1 bis 20 anschreibt (vgl. auch das Protokoll S. 434). So kann die merkw\u00fcrdige Tatsache resultieren, dafs die gleiche objektive Winkelbewegung des Beines von 1 bis 2 \u00b0, in der gleichen Winkelstellung des Beines von beispielsweise 30w, das eine Mal (bei gleicher Richtung zur Nachwirkung) sehr stark, das andere Mal (bei entgegengesetzter Richtung) \u00fcberhaupt nicht empfunden wird. Die Grenzen der Wahrnehmung passiver Bewegungen sind demnach, soweit letztere in den Bereich der Nachwirkung fallen, sehr schwankende. Von jener \u2014 ich m\u00f6chte sagen : maschinenm\u00e4fsigen \u2014 Regelm\u00e4fsigkeit derart, dafs die Grenzen der Wahrnehmung passiver Bewegungen unter allen Umst\u00e4nden die gleichen w\u00e4ren, wie man dies nach der Lekt\u00fcre von Goldscheiders Muskelsinnuntersuchungen annehmen m\u00f6chte, kann durchaus keine Rede sein.\nDie subjektiven T\u00e4uschungen, welche die Nachwirkung mit sich bringt, f\u00fchren ferner zu erheblichen Irrt\u00fcmern in der Absch\u00e4tzung der Lage und Winkelstellung der \u00e4quilibrierten Extremit\u00e4t. Wer den Apparat genau kennt und von den T\u00e4uschungen der Nachwirkung abstrahieren kann, der vermag Lage und Winkelstellung des Beines oft genug ann\u00e4hernd\n_ \u2022 \u2022\nrichtig zu taxieren, mit Hilfe einer bestimmten Erfahrung, \u00dcbung und Kombination. Aber auch dann geschehen noch oft genug fehlerhafte Sch\u00e4tzungen und Irrt\u00fcmer, auch wenn die Nachwirkung anscheinend l\u00e4ngst zur Ruhe gekommen ist. \u2014 Wenn dagegen Personen untersucht werden, denen Apparat und Nachwirkung g\u00e4nzlich unbekannt sind, so sind die Irrt\u00fcmer in der Absch\u00e4tzung des \u00e4quilibrierten, passiv bewegten und m\u00f6glichst nicht durch Muskelspannung gehaltenen Unterschenkels noch bedeutend st\u00e4rkere, so dafs es Vorkommen kann, dafs bei einer","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn bei passiven Bewegungen. 437\nWinkelstellung von 40\u00b0 das Bein als horizontal gestreckt, ja \u00fcberstreckt bezeichnet wurde (siehe sp\u00e4ter). Bei solchen Menschen tritt alsbald eine v\u00f6llige Desorientiertheit in der Absch\u00e4tzung der Lage des Beines ein. Allerdings ist hierbei zu ber\u00fccksichtigen, dafs die F\u00e4higkeit, Lage und Winkelstellung der Extremit\u00e4ten abzusch\u00e4tzen, bei den einzelnen Menschen \u00fcberhaupt individuell verschieden sein mag, \u2014 abgesehen von den T\u00e4uschungen, welche die Nachwirkungsempfindung mit sich bringt.\nAbsch\u00e4tzung oder Nachahmung der prim\u00e4ren (durch Gewichts\u00e4nderungen hervorgerufenen) passiven Bewegung wurde durch die Nachwirkungsempfindung nicht deutlich beeinflufst. Es gelang sowohl mir, als anderen Personen, die prim\u00e4ren passiven Bewegungen mit ann\u00e4hernder Genauigkeit abzusch\u00e4tzen, oder sofort aktiv nachzuahmen.\nDie Frage, wo die Bewegungsempfindung (und zwar zun\u00e4chst diejenige der Nachwirkung selbst) lokalisiert wird (Muskel, oder Gelenk?), und die hiervon selbstverst\u00e4ndlich scharf zu trennende Frage, wo die dieser Bewegungsempfindung zugrunde liegende periphere Ver\u00e4nderung tats\u00e4chlich zustande kommt?, \u25a0\u2014 diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Soweit ich aus Selbstbeobachtungen bei vielen Versuchen schliefsen darf, lokalisiert man zweifellos eine Bewegungsempfindung des Unterschenkels haupts\u00e4chlich in das Kniegelenk. Das gilt zum grofsen Teil auch von der Nachwirkungsempfindung; die tats\u00e4chliche Bewegung bei der Nachwirkung erscheint derart verst\u00e4rkt, dafs man namentlich im Gelenk eine gr\u00f6fsere Exkursion des Unterschenkels f\u00fchlt, oft sogar ein betr\u00e4chtliches Anein andergleit en der Gelenkfl\u00e4chen zu empfinden glaubt. \u2014 Dagegen lehrt aber die Beobachtung der Nachwirkung, dafs dieselbe kleine passive Bewegung (1 bis 2 \u00b0) unter den gleichen zeitlichen Bedingungen diametral verschieden empfunden werden kann, das eine Mal bis zum 10- und 20 fachen verst\u00e4rkt, oder aber gar nicht in das Bewufstsein tretend. In beiden F\u00e4llen machen die Gelenkfl\u00e4chen ganz die gleichen Exkursionen. Wurde nun wirklich diese Bewegungsempfindung in den Gelenken erzeugt? Oder ist nicht vielmehr der Schlufs zul\u00e4ssig, dafs (zun\u00e4chst bei diesen kleinen passiven Bewegungen) der der Bewegungsempfindung zugrunde liegende periphere Vorgang nicht in erster Linie in den Gelenken entsteht? Wenn man annimmt, dafs die Nachwirkung eine Erscheinung der elastischen Eigenschaften des","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nM. Beichardt.\nlebenden Muskels ist, so ist es wohl naheliegend, auch von der Nachwirkungsempfindung anzunehmen, dafs die ihr zugrunde liegende periphere Ver\u00e4nderung im Muskel entsteht und nur falsch (in das Gelenk) lokalisiert wird. Wenn aber \u00fcberhaupt nachgewiesen ist, dafs Bewegungsempfindungen aus den Muskeln kommen k\u00f6nnen, so besteht jedenfalls die M\u00f6glichkeit, dafs \u00fcberhaupt bei allen Bewegungen Empfindungen durch Muskel Ver\u00e4nderungen zustande kommen k\u00f6nnen.\nIm Gegensatz zu diesen Beobachtungen und Ausf\u00fchrungen sagt Goldscheidee1, z. B. S. 192 unten:\nZun\u00e4chst m\u00f6ge hier festgestellt werden, dafs f\u00fcr die Perzeption der feinsten Bewegungen die Muskeln sicher ohne Bedeutung sind.\noder (S. 194):\nDie Untersuchungen schliefsen somit eine Mitwirkung der Muskelsensibilit\u00e4t bei den kleinsten passiven Bewegungen, der Exkursionsschwelle, ganz aus und sprechen in hohem Grade auch gegen eine solche bei umfangreicheren Bewegungen.\noder (S. 55, 187):\n. . ., dafs die dem Muskelsinn zugeschriebenen Funktionen \u00fcberwiegend der Sensibilit\u00e4t des von den Muskeln bewegten Teiles zukommen, . . .\n. . ., dafs die Drehung des Gelenkendes mehr ist, als ein bequemes Vergleichsmittel f\u00fcr die Gr\u00f6fse der Bewegungen, n\u00e4mlich: der f\u00fcr das Entstehen der Bewegungsempfindung wesentliche Teil.\nDemgegen\u00fcber bin ich in der Lage, gerade das Gegenteil annehmen zn m\u00fcssen, bzw. feststellen zu k\u00f6nnen. Es ist stets etwas Mifsliches, \u00fcber Versuche zu urteilen, die man nicht aus eigener Anschauung kennt, sondern nur aus gedruckten, bilderlosen Beschreibungen. Denn aus solchen gewinnt man nicht ein gen\u00fcgend klares Bild von der Versuchsanordnung, von dem Bestreben, m\u00f6glichst viele Fehlerquellen auszuschalten usw. Ich vermeide deshalb auch jede Kritik und beschr\u00e4nke mich auf die Konstatierung der Tatsache, dafs ich auf Grund meiner Beobachtungen zu durchaus anderen Anschauungen gekommen bin, als Goldscheidee durch seine Experimente.\nVon den verschiedenen subjektiven Einzelerscheinungen, welche die Nachwirkung mit sich bringt, ist ferner bemerkenswert das zeitliche Differieren zwischen St\u00e4rke der Nachwirkungsempfindung und Gr\u00f6fse der tats\u00e4chlichen Bewegung. 15 bis 30 Sek. nach Beendigung der prim\u00e4ren passiven Bewegung ist\n1 Physiologie des Muskelsinnes. Leipzig. 1898. J. A. Barth.","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn bei passiven Bewegungen. 439\ndie Nachwirkung^ empf in dung bereits vorhanden und oft schon (nach 30\") an ihrem Maximum angelangt, w\u00e4hrend die objektive Bewegung zur gleichen Zeit \u00fcberhaupt erst gerade anf\u00e4ngt, nachweisbar zu werden. Weiterhin ist auffallend das wellenf\u00f6rmige St\u00e4rker- und Schw\u00e4cherwerden der Nachwirkungsempfindung; ob auch die tats\u00e4chliche Nachwirkungsbewegungen den gleichen Schwankungen unterliegen, vermochte ich noch nicht genau zu entscheiden. \u2014 Kam die Nachwirkungsempfindung nach dem Verlauf von Minuten scheinbar v\u00f6llig zur Ruhe, so konnte doch der kleinste \u00e4ufsere Anstofs (Ersch\u00fctterung des Apparates u. dergl.) sie wieder hervorrufen; auch trat sie einmal, nach einer Pause von 15 Min., scheinbar ganz spontan, wieder auf. Man kann also vielleicht von einer Latenz der Nachwirkungsempfindung sprechen.\nEine weitere beachtenswerte Erscheinung ist die, dafs jeder gewollte oder ausgef\u00fchrte motorische Impuls, speziell auch z. B. das Ansetzen zum Sprechen, die Nachwirkungsempfindung verst\u00e4rkt, bzw. wieder hervorruft, wenn sie scheinbar verschwunden war. Auch liefs sich dann in der Regel eine objektive Verst\u00e4rkung der Nachwirkung an der Trommel naehweisen. Durch solche motorische Impulse in die Sprach-, Atem- oder Handmuskulatur kam es ferner manchmal zu ungewollten Inner-vationsst\u00f6fsen in das \u00e4quilibrierte Bein, \u2014 St\u00f6fsen, welche gew\u00f6hnlich sehr lebhaft empfunden, wenn auch oft falsch in ihrer Gr\u00f6fse taxiert wurden, bisweilen aber auch der Beobachtung entgingen.\nFerner vermochte die Nachwirkungsempfindung unter Umst\u00e4nden auch zu T\u00e4uschungen in der Absch\u00e4tzung der Gr\u00f6lse aktiver Bewegungen zu f\u00fchren. Befand sich z. B. mein Unterschenkel innerhalb einer Nachwirkungsbewegung nach abw\u00e4rts, und erhielt ich die Aufforderung, in der gleichen Richtung aktiv das Bein so langsam und leise als m\u00f6glich fortzubewegen, so konnte es kommen, dafs ich die deutlichste Empfindung einer, nach und nach mehrere Grad betragenden, aktiven Beinbewegung hatte, w\u00e4hrend von einer solchen an der Trommel nichts registriert wurde.\nMeine Untersuchungen erstreckten sich ferner auch auf Absch\u00e4tzen von Gewichten durch die \u00e4quilibrierte Extremit\u00e4t, und zwar sowohl durch die entstehende passive Be-","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nM. Reichardt.\nwegung, wie auch durch aktive, bewufste Innervation. Erhebliche Sch\u00e4tzungsfehler waren auch hier sehr h\u00e4ufig.\nEndlich habe ich auch die gleichen Versuche mit passiven Bewegungen der \u00e4quilibrierten Extremit\u00e4t angestellt, nachdem bestimmte Muskeln (Deltoideus, Quadriceps) durch aktives Halten sehr schwerer Gewichte stark erm\u00fcdet waren. Die Nachwirkungsempfindung war dann so stark, wie sonst nie beobachtet.\nAus den Versuchen mit passiven Bewegungen des \u00e4quilibrierten Beines ergibt sich also, dafs den, als Nachwirkungsempfindungen beschriebenen, Sensationen, ein realer, objektiv darstellbarer Bewegungsvorgang entspricht. Doch erscheint die objektive Bewegung im Bewufstsein derartig ver\u00e4ndert, dafs man sehr wohl berechtigt ist, hierbei von Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn zu sprechen. Der Grund f\u00fcr diese auffallende Differenz zwischen objektiver Bewegung und Wahrnehmung derselben liegt meiner Ansicht nach im Muskel selbst. Riegee (1. c.) hat, durch die Entdeckung des \u201eGesetzes der Wendungen\u201c, \u00fcberzeugend dargetan, dafs w\u00e4hrend der Dehnung oder Verk\u00fcrzung durch passive Bewegungen der lebende Muskel sich anders verh\u00e4lt, als ein toter elastischer Strang (bei gleichbleibender Temperatur); der lebende Muskel entwickelt dabei unter Umst\u00e4nden eine Bremskraft, welche mefs-bar ist und eine aktive, mefsbare Arbeit leistet. Es kommt also im lebenden Muskel bei diesen passiven Bewegungen zu bestimmten eigent\u00fcmlichen Vorg\u00e4ngen, welche wahrscheinlich mit seiner elastischen Eigenschaft im engsten Zusammenhang stehen und ihren \u00e4ufseren, objektiven Ausdruck finden u. a. in der Nachwirkung und Bremsung. Diese Vorg\u00e4nge im Muskel sind es meiner Ansicht nach auch, welche die beschriebenen Sinnest\u00e4uschungen hervorrufen.\nDas \u201eGesetz der Wendungen\u201c ist von Herrn Prof. Riegee im Verlauf vieler Jahre an Hunderten von Menschen so ungez\u00e4hlte Male festgestellt worden, dafs man sagen kann: Bei der Mehrzahl aller Menschen l\u00e4fst sich dieses spezifische Verhalten des lebenden Muskels nachweisen. Dementsprechend glaube auch ich die zun\u00e4chst nur an mir, und einigen anderen Versuchspersonen (\u00c4rzten), festgestellten Nachwirkungs empfindungen auf fassen zu d\u00fcrfen als etwas, was \u00fcberall da zustande kommen kann, wo es \u00fcberhaupt im Muskel zu den Erscheinungen der Nachwirkung","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn bei passiven Bewegungen. 441\nselbst kommt, Es mufs aber, nach dem im folgenden Mitgeteilten, mit Recht bezweifelt werden, ob bei jedem Menschen die Nachwirkungs e m p findnng in der von mir empfundenen Weise nun auch ausnahmslos, oder in stets gleicher St\u00e4rke, zum Bewufstsein kommt. Ich werde sp\u00e4ter unzweifelhafte Beweise daf\u00fcr erbringen, dafs bei verschiedenen Menschen die Wahrnehmungsf\u00e4higkeit bestimmten Muskelzust\u00e4nden oder Muskelbewegungen gegen\u00fcber eine ganz verschiedene ist. So ist es mir auch denkbar, dafs bei einzelnen Menschen eine Nach-wdrkungs e m p f in dung an sich zwar ganz regelrecht zustande kommen k\u00f6nnte, weil der betreffende periphere Vorgang ordnungs-gem\u00e4fs zentripetal fortgeleitet wird, dafs aber (infolge eines umschriebenen psychischen Defektes? siehe sp\u00e4ter) die Nach wirkurig nicht, oder nur unvollkommen in das Bewufstsein tritt.\nEine Hauptbedingung f\u00fcr das Zustandekommen, bzw. den Nachweis der Nachwirkung und der Empfindung davon, ist das m\u00f6glichst passive Verhalten aller jener Muskeln, welche Unterschenkel oder Arm bewegen. Bei dem Streben nach Passiyi-t\u00e4t in jenen Muskeln treten nun eine Anzahl Verschiedenheiten zutage, nicht nur bei verschiedenen Personen, sondern auch bei den verschiedenen Muskelgruppen der gleichen Person. W\u00e4hrend ich die Oberschenkelmuskulatur jederzeit m\u00fchelos ohne aktive Muskelspannung sich selbst \u00fcberlassen kann, so dafs stets das gleiche Normaldiagramm entsteht \u2014 was durch willk\u00fcrliche Innervation niemals m\u00f6glich w\u00e4re \u2014, erscheint mir ein gleiches passives Verhalten des im Apparat \u00e4quilibrierten Armes insofern viel schwerer, als der Arm st\u00e4ndig die Neigung hat, ungewollte Bewegungen auszuf\u00fchren, welche durch keine Belastungs\u00e4nderung des Apparates, oder sonst einen \u00e4ufseren Grund veranlafst sein k\u00f6nnten. W\u00e4hrend der \u00e4quilibrierte Unterschenkel sich gewisser-mafsen im stabilen Gleichgewicht befindet, erscheint der Arm durchaus im labilen Gleichgewicht zu sein; ich habe in dem Arm stets das Gef\u00fchl der Unstetigkeit und Unsicherheit. Das gleiche ist mir auch von anderen Versuchspersonen berichtet worden. Es verursacht eine gewisse M\u00fche und energische Ablenkung der Aufmerksamkeit von den Sensationen, die vom \u00e4quilibrierten Arm ausgehen, damit dieser sich gen\u00fcgend passiv verh\u00e4lt und nicht den Sensationen nachgibt, welche ein Bewegtwerden des Armes in irgend einer Richtung Vort\u00e4uschen.\nMeistenteils ist es mir nun tats\u00e4chlich m\u00f6glich, den Arm so","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nM. Eeichardt.\nj^assiv zu lassen, dafs ein charakteristisches Diagramm entsteht (Fig. 1). Dieses abgebildete Diagramm ist bei dem gleichen Versuche nicht weniger als viermal in v\u00f6llig \u00fcbereinstimmender Form nnd Gr\u00f6fse gezeichnet worden, wodurch der Beweis von der gen\u00fcgenden Passivit\u00e4t des Armes erbracht scheint. Denn durch be-wufste Innervation w\u00e4re (ohne dafs man selbstverst\u00e4ndlich die Schreibfeder des Apparates sehen kann) die gleiche Leistung niemals zu erzielen.\nDie Nachwirkungsbewegung (horizontale Strichelung in Fig. 1) ist am Arm st\u00e4rker ausgepr\u00e4gt, als am Bein, und ebenso bei mir auch die Nachwirkungs empfind un g. Fehler im Absch\u00e4tzen der Lage und Winkelstellung treten am Arm \u00e4hnlich stark auf, wie am Bein. Kleinste passive Bewegungen werden am Arm deutlicher empfunden als am Bein (was auch Goldscheider nicht entgangen ist, S. 133 a. a. 0.), trotzdem die Gelenkfl\u00e4che des Schultergelenkes viel kleiner ist, als die des Kniegelenkes.\nManchmal dagegen ist es mir nicht gelungen, den \u00e4quilibrierten Arm l\u00e4ngere Zeit hindurch in derartiger Passivit\u00e4t zu lassen, dafs ein Normaldiagramm aufgezeichnet werden kann. Aus Gr\u00fcnden, welche mir v\u00f6llig unbekannt sind, ist bei manchen Versuchen die Passivit\u00e4t des Armes \u00e4ufserst mangelhaft gewesen, daf\u00fcr aber eine Unstetigkeit aufgetreten, welche sich dem n\u00e4hert, was sp\u00e4ter von anderen Versuchspersonen beschrieben werden soll. Befand sich der Arm z. B. in einem Winkel von 50 0 zur Horizontalen, so konnte, bei zunehmender Belastung des Apparates, das Gef\u00fchl der Nachwirkung so stark werden, dafs ein Zug am Arm nach oben vorget\u00e4uscht wurde. Tats\u00e4chlich wurde der Arm aktiv durch die Armheber gehoben, ohne dafs ein bewufster Wille zu dieser Bewegung den Anlafs gegeben h\u00e4tte. Sobald diese aktive, aber ohne","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\nUber Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn bei passiven Bewegungen. 443\ngewollte und bewufste Innervation zustande gekommene, Bewegung ihr Ende erreichte, liefs, im Bestreben der Passivit\u00e4t, die aktive Spannung in den Armhebern nach, und der Arm sank, bis er wieder im Gleichgewicht hing. Diese Bewegung nach unten l\u00f6fste nun ihrerseits eine Nachwirkung nach unten aus, die wiederum so stark werden kann, dais der Arm, in ganz der gleichen Weise, aktiv, aber ohne bewufsten Willen, nach abw\u00e4rts geht, um dann, nach Beendigung dieser Bewegung, das gleiche Spiel mit einer Bewegung nach oben fortzusetzen.\n\u2014 Ich habe mir also hier dieses Ph\u00e4nomen der Unstetigkeit\n\u2022 \u2022\ndes \u00e4quilibrierten Armes durch ein Uberm\u00e4chtigwerden der Nach-wirkungs empfind un g zu erkl\u00e4ren versucht, wodurch ein fremder Zug am Arm vorget\u00e4uscht wird. Aber ich kann nat\u00fcrlicherweise nicht sagen, ob diese Erkl\u00e4rung die richtige ist.\nJedenfalls aber zeigt sich, dafs derselbe Reiz \u2014 passive Bewegungen des \u00e4quilibrierten Gliedes \u2014 bei demselben Individuum am Arm und Bein verschiedene Wirkungen ausl\u00f6st und vielleicht quantitativ verschiedene Empfindungen hervorzurufen imstande ist. Ich habe gen\u00fcgenden Grund, anzunehmen, dafs dieses verschiedene Verhalten von Arm und Bein sich nicht nur bei mir findet, sondern auch bei vielen anderen Menschen. Doch vermag ich keine Ursache f\u00fcr diese Verschiedenheit zu nennen. Vielleicht ist sie mehr psychologisch zu erkl\u00e4ren, vielleicht anatomisch aus der Richtung und Anordnung der Muskeln, welche beim Knie-(Charnier-)gelenk nur in 2 Richtungen, beim Schulter-(Kugel-)gelenk dagegen in sehr vielen Richtungen auf die zu bewegende Extremit\u00e4t wirken. Oder aber: die einzelnen Muskeln des K\u00f6rpers sind funktionell (sowohl bez\u00fcglich der von ihnen ausgehenden Empfindungen, wie auch der Kraftentfaltung) \u00fcberhaupt nicht gleichwertig. Dann l\u00e4ge der Grund der genannten Verschiedenheiten in den Muskeln selbst.\nUntersucht man nun viele Menschen nach der gleichen Versuchsanordnung mit passiven Bewegungen der \u00e4quilibrierten Extremit\u00e4t, so ergibt sich, dafs die Mehrzahl der Menschen diesen Versuchen gegen\u00fcber sich insofern gleichartig verh\u00e4lt, als man, regelm\u00e4fsig vom Bein, gew\u00f6hnlich auch vom Arm, das \u201eNormaldiagramm\u201c bei ihnen erh\u00e4lt. Im Gegensatz zu dieser ersten Gruppe von Menschen stehen andere, welche bei ganz gleicher Versuchsanordnung ein durchaus anderes motorisches Verhalten zeigen. Das sind einmal (zweite Gruppe) die \u201eBremser\u201c,","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444\nM. Reichardt.\nvon denen Rieger in der erw\u00e4hnten Schrift spricht, und dann (dritte Gruppe) die \u201eUnsteten\u201c.\nUnter den \u201eBremsern\u201c sind solche Menschen zu verstehen, welche das m\u00f6glichst \u00e4quilibrierte Bein zwar passiv lassen wollen und es vielleicht auch passiv zu halten glauben; doch entwickelt hierbei die Streckmuskulatur des Oberschenkels eine der-\n\u2022 \u2022\nartige aktive Kraft, dafs eine Belastung zur \u00dcberwindung dieses Muskelwiderstandes notwendig ist, welche das 3- bis 4 fache von jener Belastung erreichen kann, die notwendig ist, um den Muskelwiderstand der Gruppe 1 zu \u00fcberwinden.\nBei den \u201eUnsteten\u201c hingegen ist eine regelrechte Untersuchung mit passiven Bewegungen, z. B. die Aufzeichnung eines Normaldiagrammes, deshalb nicht m\u00f6glich, weil die \u00e4quilibrierte Extremit\u00e4t alsbald in spontane, auf- und abw\u00e4rts gerichtete Bewegungen, verf\u00e4llt, die sogar den ganzen Quadranten durchlaufen und ohne Unterbrechung stundenlang fortdauern k\u00f6nnen.\nEhe ich aber n\u00e4her hierauf eingehe, m\u00f6chte ich einige andere Versuche kurz erw\u00e4hnen, die, ihrer Einfachheit wiegen, von jedermann leicht nachgeahmt werden k\u00f6nnen. Man verschaffe sich eine gew\u00f6hnliche Feder-(K\u00fcchen )wage, deren obere Wagschale durch ein ebenes Brett ersetzt wird, stellt die Wage so auf, dals bei aufrechter Stellung der Versuchsperson und bei horizontal seitlich ausgestrecktem Arm die Hand bequem auf der Wage liegt, und fordert dann die Versuchsperson auf, den Arm v\u00f6llig passiv auf die Wage zu legen. Die Versuchsbedingungen bez\u00fcglich der Stellung des K\u00f6rpers, Lage der Hand usw. m\u00fcssen nat\u00fcrlich stets einheitliche sein. Nun haben gewifs die einzelnen Menschen verschieden lange und schwere Arme; doch erkl\u00e4ren diese morphologischen und anatomischen Verschiedenheiten keineswegs die Unterschiede, welche sich zeigen, wenn man, bei ganz gleicher Versuchsanordnung, verschiedene Personen die Hand des seitlich ausgestreckten Armes auf die Wage legen l\u00e4fst, mit der Aufforderung der v\u00f6lligen Passivit\u00e4t des liegenden Armes.\nLege ich in der beschriebenen Weise meinen Arm passiv, d. h. ohne bewufste Muskelleistung, auf die Wage, deren Zifferblatt ich nicht sehen kann, dann zeigt die Wage, bei sehr vielen Versuchen, mit grofser Konstanz die Belastung von 2,2 kg an. Alsbald habe ich in dem betreffenden Arm die Empfindung einer starken Bewegung nach unten, w\u00e4hrend der Zeiger der","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn bei passiven Bewegungen. 445\nWage ein Anwachsen der Belastung um 300 g angibt. Die Empfindung dieses Sinkens des Armes nach unten ist bei mir aufserordentlich deutlich, die tats\u00e4chliche Bewegung der Hand samt der Wagschale nach unten ist dagegen minimal.\nBei einigen anderen Personen, welche bei dem Versuche ebenso das Bestreben der v\u00f6lligen Passivit\u00e4t der Schulter-und Oberarmmuskulatur hatten, zeigte die Wage hingegen Belastungszahlen, welche durch allf\u00e4llige Verschiedenheiten der L\u00e4nge und Schwere der Arme nicht zu erkl\u00e4ren waren :\nHerr Dr. E. 1 bis 1,5 kg. Dabei macht der Zeiger der Wage dauernd Bewegungen, welche Belastungsschwankungen bis zu 1/2 kg anzeigen. Diese Schwankungen, bzw. die betreffenden Armbewegungen kommen der Versuchsperson nicht zum Be-wufstsein.\nHerr Prof. R. 400 bis 500 g.\nHerr Dr. B. 200 bis 400 g.\nDiese Versuche sind sehr oft wiederholt worden und haben immer ann\u00e4hernd die gleichen Resultate ergeben. Solche Differenzen im Gewicht des nach bestem Willen passiv gehaltenen Armes sind nur dadurch m\u00f6glich, d\u00e4fs die Armmuskeln der verschiedenen Personen sich bei dem Versuche ganz verschieden verhalten. Lastet der Arm sehr schwer auf der Wage, dann ist wahrscheinlich vorwiegend nur die obere Muskelgruppe (Deltoideus) entspannt, w\u00e4hrend die untere das \u00dcbergewicht erh\u00e4lt und den Arm nach unten zieht. Erscheint der Arm auf der Wage besonders leicht, so entspannt die Versuchsperson vielleicht nur die untere Muskelgruppe v\u00f6llig, w\u00e4hrend die obere Gruppe aktiv den Arm teilweise h\u00e4lt, ohnedafs dies doch der Versuchsperson zum Bewufstsein kommt. Aber weshalb das alles so ist, vermag ich nicht zu entscheiden. Vielleicht haben die verschiedenen Menschen verschiedenartige Muskeln. Vielleicht besteht ein zu grofses MifsVerh\u00e4ltnis zwischen der Kraft des Agonisten und des Antagonisten. Oder es gehen verschiedene Empfindungen aus den einzelnen Muskelgruppen dem Gehirne zu, und zwar auf Grund von Verschiedenheiten, welche mehr peripher gelegen sind, oder zentral. Vielleicht sind manche Menschen infolge eines umschriebenen psychischen Defektes1\n1 Das Studium solcher ganz umschriebener, und zwar psychomotorischer, wie \u00fcberhaupt psychischer, Defekte geh\u00f6rt zu den reizvollsten Aufgaben der Psychologie und hat auch grofse Bedeutung f\u00fcr die Psychiatrie, speziell","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\nM. Reichardt.\neinfach nicht imstande, bestimmte willk\u00fcrlich bewegbare Muskeln\ngen\u00fcgend zu entspannen?\n\u2022 \u2022\n\u00c4hnlich wie bei diesem Versuch mit der Wage zeigen nun auch bei dem Bestreben, die \u00e4quilibrierte Extremit\u00e4t passiv zu lassen, eine Anzahl Menschen ein so abweichendes Verhalten, dafs z. B. die Aufzeichnung eines Normaldiagrammes unm\u00f6glich ist. Entweder entwickeln die Muskeln ohne bewufsten Willen der Versuchsperson eine ganz bedeutende Kraft, durch welche das Bein in irgend einer Winkelstellung fixiert wird, \u2014 oder es tritt jene oben schon kurz skizzierte Unstetigkeit auf, ein Ph\u00e4nomen, dessen Anblick jeden Unbefangenen in Erstaunen setzen mufs: die im Apparat m\u00f6glichst \u00e4quilibrierte Extremit\u00e4t f\u00fchrt, bei gleicher Belastung des Apparates, fortgesetzt spontane Bewegungen aus, manchmal durch den ganzen\nf\u00fcr das Verst\u00e4ndnis der Idiotie. ,.Idiotieist nicht die Bezeichnung einer einheitlichen Krankheit, sondern ein zusammenfassender Begriff f\u00fcr viele, von fr\u00fchester Kindheit an bestehende Schwachsinnsformen. Die gegenw\u00e4rtige Anschauung \u00fcber Idiotie scheint dahin zu gehen, dafs mangelhafte Keimanlage, krankhafte, vom Gef\u00e4fssystem ausgehende Prozesse, Hirnhautentz\u00fcndung etc. als Hauptursachen der Idiotie angesehen werden. Dementsprechend soll auch nur die pathologische Anatomie die geeignete F\u00fchrerin durch die verschiedenen Unterabteilungen der Idiotie sein k\u00f6nnen. Der von Sommer in seiner Diagnostik geschilderten sogenannten endogenen Idiotie (bei anatomischer Intaktheit des Gehirnes) gegen\u00fcber empfiehlt man eine gewisse Skepsis und ab wartendes Verhalten. Ich pers\u00f6nlich bin durchaus der Ansicht, dafs gerade diese endogene Form der Idiotie (bei anatomischer Intaktheit des Gehirnes) die bei weitem h\u00e4ufigste ist, allerdings nicht unter den Idioten der Idiotenanstalten, sondern unter denjenigen Idioten, welche frei umherlaufen und k\u00f6rperlich in jeder Beziehung durchaus normal gestaltet sind. Der Schl\u00fcssel zum Verst\u00e4ndnis solcher endogen Idiotischer, welche bei n\u00e4herer psychologischer Untersuchung ebenfalls die merkw\u00fcrdigsten umschriebenen Defekte und auch einseitige Begabungen aufweisen k\u00f6nnen, liegt meines Erachtens in der Tatsache, dafs wohl jeder geistesgesunde Mensch bestimmten Gebieten gegen\u00fcber durchaus Idiot ist. Nur wird man nicht annehmen d\u00fcrfen, dafs solchen umschriebenen psychischen Defekten bei Geistesgesunden irgend etwas anatomisch Nachweisbares zugrunde liegt. Wer will sich erk\u00fchnen, das Gehirn eines musikalisch Begabten von einem Unmusikalischen, oder \u00fcberhaupt eines Hochintelligenten von einem Dummen zu unterscheiden? Ebenso wie man bei den Defekten normaler Menschen ein anatomisch intaktes Gehirn erwarten darf, ebenso l\u00e4fst sich wohl, glaube ich, die Vermutung aussprechen, dafs die sogenannten endogenen Idioten ebenfalls ein anatomisch intaktes Gehirn besitzen. Ich gedenke, sp\u00e4ter eingehender auf dieses Thema zur\u00fcckzukommen.","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn bei passiven Bewegungen. 447\nQuadranten hindurch, \u2014 Bewegungen, welche ganz ohne den Willen der Versuchspersonen geschehen. Diese erkl\u00e4ren, einen Zug am Arm (Bein) nach oben oder unten zu versp\u00fcren, dem sie nachgeben m\u00fcssen. Derartige Versuche sind ein aufser-ordentlich anschauliches Beispiel f\u00fcr experimentell erzeugte Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn bei Normalen.\nIm folgenden gebe ich von drei Versuchspersonen (\u00c4rzten), welche diese Unstetigkeit im h\u00f6chsten Grade zeigten, einige Aufzeichnungen wieder, die ich w\u00e4hrend der Versuche gemacht habe.\n1. Herr Dr. R. (Verschiedene Versuche an Arm und Bein.) Die Extremit\u00e4t ist schwer in horizontaler Stellung zu \u00e4quilibrieren. Nachdem dies ann\u00e4hernd gelungen ist, wird durch Wegnahme des 1400-g-Gewichtes das Bein zum Sinken gebracht. Es sinkt bis zu einem Winkel von 45\u00b0. Alsbald beginnen die spontanen Bewegungen desselben. Das Bein ist andauernd in Bewegung, bald mehr gleichm\u00e4fsig, bald schnellend und stofsweise.\nDas Bein wird mit 1 kg \u00fcberlastet; es befindet sich nun nicht mehr im Gleichgewicht, sondern ist zu schwer. Aber auch so kommt es noch zu spontanen Bewegungen, mit Exkursionen vom rechten Winkel bis zu 55\u00b0 nach oben. \u2014\nT\u00e4uschungen in der Absch\u00e4tzung der Winkelstellung des Beines kommen auch hier im erheblichsten Mafse vor; eine Winkelstellung von 30\u00b0 wird als Horizontalstellung des Beines gesch\u00e4tzt usw. Liefs ich dagegen diese spontanen Bewegungen aktiv nachmachen, so geschah dies mit merkw\u00fcrdiger Genauigkeit; der Fehler betrug nur 2 bis 3\u00b0.\nArm wie Bein wurden je 1V2 Stunde im Apparat gelassen; die spontanen Bewegungen waren andauernd die gleichen. Trotzdem hierdurch eine erhebliche Arbeit geleistet wurde, fehlte bei Beendigung des Versuches auch das geringste Erm\u00fcdungsgef\u00fchl, oder irgend eine andere abnorme Sensation.\n2. Herr Dr. E. Die spontanen Bewegungen stellen sich sofort bei Beginn des Versuches ein und erhalten bald eine grofse Regelm\u00e4fsigkeit; auf der rotierenden Trommel entsteht eine wellenf\u00f6rmige Linie mit steilem Anstieg und Abfall. (Figur 2.) Rechenoperationen verst\u00e4rkten gew\u00f6hnlich die Bewegungen.\nStarke Fehler in der Sch\u00e4tzung der Lage und Winkelstellung der Extremit\u00e4t Bei einem Winkel von 25\u00b0 wird das Bein f\u00fcr \u00fcberstreckt, bei einem Winkel von 55 \u00b0 f\u00fcr rechtwinkelig gehalten.\nAlle Bewegungen geschehen ohne jede bewufste Willenszutat. Herr Dr. E. versichert auf das Bestimmteste, dafs er sich mit dem Versuche gar nicht besch\u00e4ftige, sondern nur das Bestreben habe, das Bein passiv zu lassen. Er f\u00fchle am Bein den Zug nach oben oder unten, dem er nachgeben m\u00fcsse. Dabei ist Herrn Dr. E., wie auch den anderen Versuchspersonen, die Einrichtung des Apparates durchaus bekannt, ebenso die Tatsache, dafs w\u00e4hrend ihrer spontanen Bewegungen die Belastung des, Zeitschr. f. Sinnesphysiol. 41.\t^","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\nM. Reichardt.\nApparates nicht ge\u00e4ndert wird. Von einer suggestiven Beeinflussung kann keine Rede sein.\nFig. 2.\nDer Versuch, den Arm horizontal passiv auf die Wage zu legen (siehe oben) gestaltete sich folgendem)afsen: Die Wage zeigt anfangs 1,5 kg Belastung an; nach etwa 1 Minute 2 kg; dann Schwanken zwischen 1,75 und 2 kg. Der Zeiger der Wage zittert best\u00e4ndig, was darauf hinweist, dafs der Arm nicht ruhig liegt, Die Wage zeigt allm\u00e4hlich zunehmende Belastung an (2,5 kg). Subjektiv: \u201eJetzt sinkt der Arm\u201c. (Die Versuchsperson kann das Zifferblatt der Wage nicht sehen.) Die objektive Bewegung des Armes und der Wagschale ist dabei selbstverst\u00e4ndlich minimal. St\u00e4ndig zeigt die Wage Belastungsschwankungen bis 250 g an, denen zweifellos Spannungs\u00e4nderungen in den Armmuskeln zugrunde liegen m\u00fcssen, von denen die Versuchsperson aber keine Empfindung hat. Der Versuch wird abgebrochen, nachdem die Belastung der Wage auf 3 kg gestiegen ist. Hiermit hat sich die Kraft, welche auf die Wage dr\u00fcckt, verdoppelt, ohne dafs dies der Versuchsperson zum Bewufstsein kommt; vielmehr glaubte diese st\u00e4ndig, den Arm v\u00f6llig passiv zu lassen.\n3. Herr Dr. B. Beginn des Versuches ebenso wie bei Nr. 2. Bei Wegnahme des 1400-g-Ge wich tes senkte sich das Bein aber nicht (wie bei den meisten Menschen) bis etwa 35\u00b0, sondern nur 5\u00b0 unter die Horizontale, um alsbald in einzelnen St\u00f6fsen sich wieder zur Horizontale zu erheben. Dann senkt sich das Bein. Subjektiv: \u201eEs zuckt das Bein\u201c. Nun stellen sich ebenfalls die spontanen Bewegungen ein, die z. T. mit grofser Kraft geschehen, aber v\u00f6llig ungewollt sind. Oft befragt, erkl\u00e4rt die Versuchs person stets, das Bein absolut passiv zu lassen und nicht an den Versuch zu denken. Die kleinsten objektiven Bewegungen werden empfunden, aber stark \u00fcbersch\u00e4tzt. Auch sonst starke T\u00e4uschungen in der Absch\u00e4tzung der Lage und Winkelstellung des Beines. \u2014 Dauer des Versuches 1 Stunde, w\u00e4hrend welcher die spontanen Bewegungen ohne Unterbrechung andauerten.","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn bei passiven Bewegungen. 449\nBei dem Versuch mit der Wage (siehe oben) zeigt die Wage 200 bis 400 g an; dann Ansteigen der Belastung auf 700 g und Zur\u00fcckgehen zur fr\u00fcheren H\u00f6he, alles ohne dafs die Versuchsperson nur die geringste Empfindung davon hat. Der Zeiger der Wage ist in st\u00e4ndigen Zitterbewegungen mit Ausschl\u00e4gen bis zu 50 g.\nAufserhalb dieser Versuche ist an den Versuchspersonen in psychomotorischer Hinsicht nichts iVuffallendes ; manuelle Geschicklichkeit, Gang usw. ist wie bei anderen Menschen. Die Sprache des einen ist sehr hastig, seine Schrift klein und unleserlich, sein Temperament cholerisch, \u2014 die Sprache des anderen langsam, dessen Schrift grofs und deutlich, und das Temperament durchaus phlegmatisch. Alle drei Herren geben an, \u201enerv\u00f6s\u201c zu sein. Doch bin ich selbstverst\u00e4ndlich weit davon entfernt, vorl\u00e4ufig zwischen dieser \u201eNervosit\u00e4t\u201c und dem geschilderten absonderlichen motorischen Verhalten w\u00e4hrend der Experimente einen kausalen Zusammenhang zu suchen, so dafs man vielleicht durch eine derartige Untersuchung imstande w\u00e4re, eine Diagnose auf \u201eNervosit\u00e4t\u201c zu stellen. Denn der n\u00e4chste Tag k\u00f6nnte mich belehren, dafs ganz das gleiche motorische Verhalten w\u00e4hrend der Versuche auch Vorkommen kann bei einem geistesgesunden Menschen ohne jede \u201eNervosit\u00e4t\u201c.\nMit dieser Schilderung sind die individuellen Eigent\u00fcmlichkeiten, wie sie bei den Versuchen mit \u00e4quilibrierter Extremit\u00e4t anzutref\u00fcen sind, nun keineswegs ersch\u00f6pft. So habe ich, leider nur einmal, einen anderen Herrn, Mediziner im Staatsexamen und ebenfalls sehr \u201enerv\u00f6s\u201c, untersuchen k\u00f6nnen, dessen Bein, trotz der Aufforderung, dasselbe passiv zu lassen, eine Anzahl meist stofsartiger spontaner Bewegungen ausf\u00fchrte, welche aber \u2014 im Gegensatz zu allen \u00fcbrigen untersuchten Personen \u2014 von dem betreffenden Herrn \u00fcberhaupt nicht empfunden wurden; vielmehr glaubte der Betreffende, das Bein sei v\u00f6llig bewegungslos. \u2014\nEs ist also hiermit bewiesen, dafs dieselben Versuche (mit \u00e4quilibrierter Extremit\u00e4t) bei den verschiedenen, v\u00f6llig geistesgesunden und intelligenten Versuchspersonen, zu ganz verschiedenen Reaktionen f\u00fchren. Die Mehrzahl der Menschen vermag ihre Muskeln gen\u00fcgend zu entspannen, so dafs z. B. ein Normaldiagramm aufgezeichnet werden kann, welches stets die gleichen charakteristischen Eigent\u00fcmlichkeiten aufweist. Bei allen diesen\nPersonen l\u00e4fst sich auch die sogenannte Nachwirkung nach-\n29*","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450\nM. Reichardt.\nweisen (vorhanden ist sie wohl stets im lebenden Muskel) ; und damit sind auch die peripheren Bedingungen daf\u00fcr gegeben, dafs die Nachwirkungs ein pf in dung ebenfalls zum Bewufstsein gelangen kann (Gruppe I). Andere Menschen verm\u00f6gen die gleichen Muskeln nicht zu entspannen; diese Muskeln entwickeln, ohne dafs es der Person zum Bewufstsein kommt, die kolossale Kraft bis zu 40\u201450 kg, wo die Mehrzahl der Menschen blofs 13 kg entwickelt (Gruppe II). Bei noch anderen Menschen ger\u00e4t das \u00e4quilibrierte \u2014 also der Einwirkung der Schwerkraft entzogene \u2014 Bein in dauernde spontane Bewegungen (Gruppe III).\nDas Verhalten des Bewufstseins allen diesen objektiv darstellbaren motorischen Besonderheiten gegen\u00fcber ist ein ganz eigenartiges. Fast stets zeigten sich irgend welche Differenzen zwischen der tats\u00e4chlichen Bewegung oder Muskelleistung, und den davon in das Bewufstsein tretenden Empfindungen. Diese Empfindungen t\u00e4uschen \u00fcber die Wirklichkeit; man kann sie deshalb als \u201eSinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn\u201c bezeichnen:\n1.\tVon der objektiv vorhandenen Nachwirkung tritt eine derart starke Empfindung in das Bewufstsein, dafs die Bewegung um ein vielfaches verst\u00e4rkt erscheint. Vermutlich sind auch die bei den Versuchen zu konstatierenden groben T\u00e4uschungen bez\u00fcglich der Lage und Winkelstellung der Extremit\u00e4t auf diese Sinnest\u00e4uschungen zur\u00fcckzuf\u00fchren.\n2.\tBei den \u201eUnsteten\u201c (Gruppe III) kann man insofern von Sinnest\u00e4uschungen sprechen, als die Betreffenden glauben, dafs ihre Extremit\u00e4ten bewegt werden, w\u00e4hrend die Bewegung der Glieder aktiv geschieht.\n3.\tVon dieser Aktivit\u00e4t der Muskelleistungen kommt aber weder bei den Unsteten, noch bei den \u201eBremsern\u201c dem Betreffenden etwas zum Bewufstsein, \u2014 also auch hier, wenn man will, Sinnest\u00e4uschungen.\nMan hat viel geschrieben \u00fcber \u201eMuskelfunktion und Bewufstsein\u201c und hat in manchmal geistreicher Weise leichte, luftige Phantasiegebilde auf gef\u00fchrt. Aber ich meine, dafs es in erster Linie notwendig sei, sich zu fragen, was eigentlich \u00fcberhaupt bei der Muskelfunktion in das Bewufstsein tritt, \u2014 eine Mahnung, die aus folgenden S\u00e4tzen der Arbeit von Rlegeb klingt.1\n1 Diese Zeitschrift 31, S. 42 u. 43.","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn bei passiven Bewegungen.\t451\n\u201eObgleich ich nur mit den einfachsten Begriffen von elastischer Zugkraft operiert habe, so mufs doch schon aus den schlichten Tatsachen, die ich dabei an das Licht gebracht habe, auch jedem denkenden Psychologen klar werden: dafs, zwischen der Wirklichkeit der \u00e4ufseren Welt und dem, was wir \u00fcber diese Wirklichkeit sagen k\u00f6nnen, Kr\u00e4fte in unserem Muskelsystem eingeschaltet sind, deren Bedingungen wir zuerst genau kennen m\u00fcssen, ehe wir weiteres behaupten k\u00f6nnen \u00fcber die Beziehungen der \u00e4ufseren Wirklichkeit zu dem, was der Mensch \u00fcber diese Wirklichkeit sagen kann. \u2014\n.... Und nunmehr ergibt sich f\u00fcr die Frage: Was wir von der \u00e4ufseren Wirklichkeit wahrnehmen? das ganz bestimmte Problem: wonach urteilen wir? nach den jeweiligen Zust\u00e4nden der elastischen Kraft innerhalb unserer Muskeln? oder nach dem, was aufserhalb des K\u00f6rpers wirkt?\u201c\nZu der Frage nach den Beziehungen zwischen Muskelfunktion und Bewufstsein sollen auch die oben gebrachten kurz geschilderten Beobachtungen einen bescheidenen Beitrag liefern. Vielleicht offenbart sich in der \u201eNachwirkungsempfindung\u201c \u2014 wenn auch derartige Sensationen f\u00fcr gew\u00f6hnlich stets unter der Schwelle des Bewufstseins bleiben \u2014, eine Einrichtung des Organismus, die f\u00fcr unseren gesamten Bewegungsapparat von grofser Bedeutung und Zweckm\u00e4fsigkeit ist, wenn sie auch unter Umst\u00e4nden durch T\u00e4uschungen \u00fcber die Lage der Glieder st\u00f6rend wirken kann. Vielleicht ist auch das, was an den Muskeln als \u201eNachwirkung\u201c in die Erscheinung tritt, \u00fcberhaupt eine Eigenschaft der lebenden Substanz, und auch des Gehirnes. Doch kann hier nicht die Spekulation aufkl\u00e4ren, sondern nur das geduldige und andauernde Experimentieren.\nNur das glaube ich jetzt schon bestimmt behaupten zu d\u00fcrfen, im Gegensatz zur herrschenden Meinung: Lediglich, oder vorwiegend durch die Sensibilit\u00e4t der bewegten Teile treten Lage- und Bewegungsempfindungen nicht in unser Bewufstsein; vielmehr haben Empfindungen von Vorg\u00e4ngen im bewegenden Muskel selbst einen hervorragenden Anteil am Zustandekommen unserer \u201eLage- und Be wegungs vor Stellungen\u201c. \u2014\nIch kann diese Arbeit nicht abschliefsen, ohne noch kurz an die Muskelzust\u00e4nde zu erinnern, die man bei der, Katatonie genannten, Geisteskrankheit findet. Die Frage, welche sich bei der Untersuchung Katatonischer immer wieder aufdr\u00e4ngen mufs, hat Rieger1 formuliert:\n1 Festschrift zu der Feier des 50j\u00e4hr. Bestehens der unterfr\u00e4nkischen Heil- und Pflegeanstalt Werneck. Jena, Fischer 1905. S. 30.","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452\nM. Reichardt.\n\u201eIst der Mensch starr, gerade so wie ein anderer epileptisch ist, ohne dafs er irgend etwas denkt, wTas als \u201eMotiv\u201c der Starrsucht betrachtet wrerden k\u00f6nnte? Ist die Starrsucht einfach ein direktes motorisches Symptom ?\nOder:\nhat der Starrs\u00fcchtige Wahnideen, die als \u201eMotive\u201c betrachtet werden d\u00fcrfen ?\u201c\nUnd zwar vielleicht Wahnideen, welche, zum Teil wenigstens, aus Halluzinationen im Gebiete des Muskelsinnes entspringen ?1\nVon den vielen Beispielen, die ich hier bringen k\u00f6nnte, f\u00fchre ich einige Stellen aus der Krankengeschichte eines vierzigj\u00e4hrigen Katatonikers an, welcher fr\u00fcher sehr intelligent gewesen war und auch zur Zeit der Beobachtung noch keineswegs bl\u00f6dsinnig genannt werden konnte ; zuweilen war eine ganz normale Unterhaltung mit ihm m\u00f6glich. In der Krankengeschichte finden sich nun folgende Angaben : Bis zum Schlufs des Aufenthalts war er in stets gleichem Negativismus in bezug auf Def\u00e4kation und Urinentleerung. Es gelang fast niemals zu erreichen, dafs er in das Klosett def\u00e4zierte oder urinierte. F\u00fcr den Urin gab man sich auch viele M\u00fche mit einem Gummirezipienten; er rifs ihn aber fast immer weg. \u2014 Wenn man aus ihm herausbringen wollte: ob er f\u00fcr diese konsequenten Verunreinigungen ein Motiv habe?, \u2014 so gelang es nie, aus seinem Munde eine Rede zu bekommen, die in dieser Kichtung eine Aufkl\u00e4rung h\u00e4tte geben k\u00f6nnen. Sondern in der Regel sagte er: Das sei nicht wahr; er lasse Kot und Urin nicht in das Bett und in die Kleider gehen. \u2014\nEr hatte auch katatonische Haltungen, f\u00fcr die jede ausreichende Erkl\u00e4rung fehlt. Im Bett legte er fast nie den Kopf auf das Kissen. Sondern er hielt den Kopf immer in die H\u00f6he. Die Musculi sterno-cleido-mastoidei sind immer stark gespannt. Wenn er aufser Bett ist, ist seine Haltung gleichfalls eine ganz auffallende und unnat\u00fcrliche. Auch zieht er meist die eine Schulter h\u00f6her, als die andere und macht deshalb einen ganz schiefen Eindruck.\nTrotz allem, was gedruckt wurde: \u201eZur Psychologie der katatonischen Symptome\u201c usw., ist die oben aufgeworfene Frage bis jetzt noch in keiner Weise irgend wie befriedigend entschieden. Man spricht von \u201eLagevorstellung\u201c und \u201eBewufst-seinsfeld\u201c bei Katatonischen und \u201eerkl\u00e4rt\u201c damit katatonische Symptome wie die Katalepsie usw. Aber was weifs man von \u201eLagevorstellungen\u201c und \u201eBewufstseinsfeld\u201c. bei Katatonischen?\nH\u00e4tte jemand die oben beschriebene \u201e Un Stetigkeit\u201c meiner Versuchspersonen zuf\u00e4llig zuerst bei Katatonischen beobachtet, so h\u00e4tte er gewifs gen\u00fcgend Grund gefunden, dies als krankhaft und als katatonisches Symptom, als \u201eexperimentell hervorgerufene\n1 Vgl. Cramer: Die Hallucinationen im Muskelsinn. Freiburg 1889.","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber Sinnest\u00e4uschungen im Mnskelsinn bei passiven Bewegungen. 453\nBewegungsstereotypie\u201c anzusehen. So aber fand sich diese Stereotypie bei v\u00f6llig Geistesgesunden und intellektuell Hochstehenden. Wir sind noch lange nicht so weit, abnorme Muskelzust\u00e4nde Katatonischer \u201eleicht\u201c zu verstehen; denn sogar die Muskelzust\u00e4nde der Normalen widersetzen sich vorl\u00e4ufig noch einer befriedigenden Erkl\u00e4rung.\nFig. 3.\nFig. 4.\nUntersucht man Katatonische auf die passiven Bewegungen ihrer \u00e4quilibrierten Extremit\u00e4ten, so l\u00e4fst sich sehr oft, ja nach den bisherigen Erfahrungen regelm\u00e4fsig, folgendes feststellen : W\u00e4hrend bei Normalen, welche das Bein gen\u00fcgend passiv zu lassen verm\u00f6gen, durch das Wegnehmen einzelner Gewichte an der rotierenden Trommel eine stufenf\u00f6rmige Figur entsteht, etwa folgender-mafsen :\nso bleibt bei Katatonischen die Extremit\u00e4t, trotz der Gewichtsverminderung, in gleicher H\u00f6he ; die Kurve sinkt nicht (erste Linie der Figur 3); aufserdem besteht die Tendenz, das vor\u00fcber-","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454\nM. Reichardt.\ngehende Sinken der Extremit\u00e4t (infolge des Wegnehmens einzelner Gewichte) durch ein gewisses elastisches Federn wieder mehr oder weniger auszugleichen. So entstehen in den Kurven die kleinen Einsenkungen, von denen die Figur 3 viele bringt.1 Die Kurven der Figur 3 stammen von einem Katatonischen, welcher aus einem 11/2 j\u00e4hrigen Stupor erwacht und scheinbar wieder ganz normal war. Er hatte noch etwas katatonische K\u00f6rperhaltung und Andeutung von Katalepsie. \u2014 Die auf einigen Kurven der Figur 3 sichtbaren Zitterbewegungen sind vielleicht als beginnende Erm\u00fcdungserscheinungen zu betrachten; denn das Bein mufste schliefslich stark belastet werden, damit die Kurven die gew\u00fcnschte H\u00f6he erhielten. Dieses belastete Bein hielt der Kranke gegen Ende des Versuches nach Art der \u201eBremser\u201c aktiv; bei den obersten Kurven der Figur 3 war dagegen das Bein noch v\u00f6llig \u00e4quilibriert.\nGanz \u00e4hnliche Figuren, wie Figur 3, kann man sehr leicht willk\u00fcrlich nachahmen, wenn man der im Apparat \u00e4quilibrierten Extremit\u00e4t eine bestimmte federnde Elastizit\u00e4t willk\u00fcrlich gibt. Die Kurve der Figur 4 ist von mir nachgeahmt worden.\n1 Diese Einsenkungen sind nicht zu verwechseln mit dem, was Ermes (Inaug. Dissert. Giefsen 1903) u. a. beschreibt, um \u201eden Negativismus zur Darstellung zu bringen\u201c. Die Kranken von Ermes hielten das Bein aktiv, w\u00e4hrend bei diesem Kranken hier das Bein \u00e4quilibriert ist.\n(Eingegangen am 16. Januar 1907.)","page":454}],"identifier":"lit33398","issued":"1907","language":"de","pages":"430-454","startpages":"430","title":"\u00dcber Sinnest\u00e4uschungen im Muskelsinn bei passiven Bewegungen","type":"Journal Article","volume":"41"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:17:53.592847+00:00"}

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