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Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie und seine Beziehung zur Entwicklungslehre

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{"created":"2022-01-31T16:21:21.877219+00:00","id":"lit33402","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Asher, Leon","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 41: 157-181","fulltext":[{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"(Ans dem physiologischen Institut der Universit\u00e4t Bern.)\nDas Gesetz der spezifischen Sinnesenergie und seine Beziehung zur Entwicklungslehre.1\nVon\nLeon Asker.\nDie nicht geringe Zahl prinzipieller Untersnchnngen, welche \u00fcber das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie vorliegen, spricht daf\u00fcr, einerseits dafs noch verschiedenes kontrovers ist, andererseits dafs man sich einen Nutzen f\u00fcr die Erkenntnis aus der kritischen Er\u00f6rterung des in jenem Gesetz Ausgesagten verspricht. Der Physiolog insbesondere hat schon deshalb Ursache, eine ganz unzweideutige Stellung zum Gesetz der spezifischen Sinnesenergie einzunehmen, weil die sich auf den Boden dieses Gesetzes stellende Forschung die fruchtbringendsten, tats\u00e4chlichen Erkenntnisse erworben hat. Es sei an dieser Stelle nur erinnert an die Entdeckung der K\u00e4lte- und W\u00e4rmepunkte durch Blix und Goldscheider, der Druckpunkte durch Blix, der Schmerzpunkte durch v. Frey und der differenten Geschmackspunkte durch Oehrwall. Auf die hohe erkenntnistheoretische Bedeutung der Annahme oder Verwerfung des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergie will ich an dieser Stelle nicht eingehen, da die nachfolgende Er\u00f6rterung hierauf nicht R\u00fccksicht zu nehmen braucht.\nDer wesentliche Inhalt des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergie ist die Aussage, dafs die Qualit\u00e4t einer Empfindung nicht von aufsen her, sondern von innen her bedingt wird. Diese ganz allgemeine Fassung gestattet jede der Lehrmeinungen,\n1 Nach einem auf dem II. Kongrefs f\u00fcr experimentelle Psychologie zu W\u00fcrzburg gehaltenen Vortrag.\nZeitsclir. f. Sinnesphysiol. 41.\n11","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nLeon Asher.\nwelche \u00fcber den Zusammenhang von Sinnesreiz und Sinnesempfindung ge\u00e4ufsert worden sind, in einfacherWeise zu gruppieren. Diejenigen, welche Gegner des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergie sind, behaupten, dafs etwas, was dem Reize selbst zu eigen sei, beispielsweise seine Form oder Periodik, demnach etwas von aufsen her Kommendes, bestimmend f\u00fcr die Qualit\u00e4t der Empfindung sei. Im Gegensatz hierzu sind die Anh\u00e4nger des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergie dar\u00fcber einig, dafs nichts aufserhalb des Organismus Gelegenes die Eigenart der Qualit\u00e4t verursache. Hingegen sind die Meinungen dar\u00fcber geteilt, welches innere Moment als mafsgebend zu erachten sei. Die einen verlegen es in die peripheren Sinnesorgane, welche die Aufgabe haben sollen, den dem Zentralorgan zugeleiteten Vorg\u00e4ngen gewissermafsen ein charakteristisches Gepr\u00e4ge zu verleihen, die anderen in chemische Vorg\u00e4nge, welche der Gesamtheit der zu einem Sinnesorgane geh\u00f6rigen Sinnessubstanz zu eigen sind, wieder andere ausschliefslich in die Zellen des zentralen Nervensystems, beim Menschen insbesondere in die Hirnrinde. Am sch\u00e4rfsten begrifflich ausgesprochen findet sich der Gegensatz zwischen aufsen und innen bei Forschern wie v. Uexk\u00fcll und C. Schneider. Diesen sind die gesamte Nervensubstanz, die physikalischen und chemischen Prozesse auch der Hirnrinde der Empfindung gegen\u00fcber nichts weiter als Aufsenwelt. Gehirn und BewufstseinsVorg\u00e4nge lassen sich nach v. Uexk\u00fcll nicht kausal miteinander verkn\u00fcpfen, Erkanntes und Erkennendes stehen in einem zwar festen, aber inkommensurablen Verh\u00e4ltnis. Wer gewillt ist, diese zuletzt genannte Auffassung, welche prinzipiell mit der von Helmholtz stets mit Nachdruck vertretenen identisch ist, anzuerkennen, wird deshalb nicht der Aufgabe enthoben, den in der Organisation gelegenen Ursachen der Verschiedenartigkeit der Empfindungen nachzugehen. Eine konsequent durchgef\u00fchrte strenge Losl\u00f6sung der Bewufstseinsvorg\u00e4nge von den Vorg\u00e4ngen in der Nervensubstanz ist vom heuristischen Standpunkte aus ein Hemmschuh f\u00fcr die Erkenntnis, da dann beide Gebiete gewissermafsen in der Luft h\u00e4ngen. Es w\u00e4re dann ein vergebliches Bem\u00fchen, je nach der Zug\u00e4nglichkeit des einen oder anderen Gebietes unseren Standpunkt zu wechseln, um Erkenntnisse zu gewinnen, welche f\u00fcr beide gemeinsam gelten. Die Forschung verzichtet nicht gern auf einen Weg, bis dessen v\u00f6llige Unfruchtbarkeit f\u00fcr die Erfahrung mit Sicherheit er-","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Das Gesetz d. spez. Sinnesenergie u. seine Beziehung zur Entioicklungslehre. 159\nwiesen ist. Vor allem aber ergibt sich durch die Analyse der Empfindung, dafs gewisse bemerkenswerte Empfindungstatsachen sich aus den Eigenschaften der Empfindungen selbst gar nicht erkl\u00e4ren lassen, w\u00e4hrend die gleichzeitige Ber\u00fccksichtigung der im Nervensystem sich abspielenden Vorg\u00e4nge eine zurzeit durchaus befriedigende Aufkl\u00e4rung liefert. Ich will hierf\u00fcr aus dem bestuntersuchten Sinne, dem Gesichtsinne, ein beweiskr\u00e4ftiges Beispiel Vorbringen. Die Tatsache, dafs blau und gelb, rot und gr\u00fcn miteinander kontrastieren, l\u00e4fst sich aus irgend welchen Eigenschaften dieser Empfindungen selbst absolut nicht ableiten. Hingegen wird die so leicht zu konstatierende Tatsache des Kontrastes sofort verst\u00e4ndlich, wenn wir entgegengesetzte Prozesse in der nerv\u00f6sen Substanz dem Kontrastvorgange zugrunde liegend uns vorstellen. Wie sehr auch der Kontrast, der eine bei vielen Sinnesempfindungen vorkommende und nicht immer hinreichend gew\u00fcrdigte Erscheinung ist, ein psychisches Ph\u00e4nomen sein mag, so ist er trotzdem aus dem Psychischen heraus schlechterdings nicht ableitbar. Dieses eine Beispiel m\u00f6ge gen\u00fcgen, um die Bedeutung der Erforschung der physiologischen Vorg\u00e4nge f\u00fcr die Sinnesempfindungen zu beleuchten.\nAus den dargelegten Gr\u00fcnden erscheint es daher geboten, den augenblicklichen Stand unserer Kenntnisse von denjenigen Teilen zu \u00fcberblicken, die wir in engerem Zusammenhang mit unseren Empfindungen zu bringen gewohnt sind.\nAm raschesten l\u00e4fst sich das Verhalten der peripheren Sinnesorgane erledigen. Tatsache ist, dafs sich dieselben in ihrem anatomischen Aufbau aufserordentlich voneinander unterscheiden, und dafs sie eine wunderbare Anpassung an die der Aufsenwelt angeh\u00f6rigen Reizvorg\u00e4nge offenbaren. Trotzdem ist die spezifische Energie nicht etwa eine solche eben der peripheren Sinnesorgane. Hiergegen sprechen eine Reihe gewichtiger Tatsachen. Erstens sind auch die niedriger entwickelten Sinnesorgane bef\u00e4higt, wenn sie von durchaus unad\u00e4quaten Reizen betroffen werden, nur eine dem betreffenden Sinne eigene Empfindung auszul\u00f6sen. Es bedarf also zu dieser Erscheinung nicht der hohen Entwicklung, wie sie im Auge und Ohr verwirklicht ist. Zweitens kommen die Empfindungen zustande auch ohne jede Mitwirkung der peripheren Sinnesorgane. Diese fundamentale, schon von Johannes M\u00fclleb, festgestellte und in ihrer ganzen Bedeutung erkannte\nTatsache hat seither in ihrer Beweiskraft, trotz dieser und jener\n11*","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nLeon Asher.\nspekulativen Erw\u00e4gung, nicht im mindesten eingeb\u00fcfst. Drittens, selbst wenn das periphere Sinnesorgan dem in ihm ausgel\u00f6sten Erregungsvorgange Eigenheiten verliehe, welche diesen Erregungsvorgang von allen anderen unterschiede, w\u00e4re nicht viel damit gewonnen. Denn wir m\u00fcfsten immer noch Einrichtungen postulieren, welche die dort entstandenen Unterschiede im ganzen Zentralnervensystem aufrecht erhielten. Da gerade die Anh\u00e4nger der Anschauung, dafs die spezifische Sinnesenergie im peripheren Endorgan lokalisiert sei, andererseits eine Verschiedenheit im Zentralnervensystem nicht annehmen, leuchtet hieraus die bestehende Schwierigkeit deutlich hervor. Die Aufgabe der peripheren Sinnesorgane ist tats\u00e4chlich eine ganz andere und mit v. Uexk\u00fcll und 0 ehe wall pr\u00e4zisieren wir sie am einfachsten in folgender Weise: Erstens sind die peripheren Sinnesorgane Einrichtungen mit m\u00f6glichster Anpassung unter normalen Bedingungen an eine einzige Reizart, zweitens Einrichtungen, um andere Reizarten als die sog. ad\u00e4quaten, solange normale Bedingungen bestehen, nicht zur Wirkung gelangen zu lassen. Je h\u00f6her ein Sinnesorgan entwickelt ist, um so sch\u00e4rfer tritt diese Doppelaufgabe zutage. Diese beiden scheinbar beschr\u00e4nkten Funktionen der peripheren Sinnesorgane leisten in Wirklichkeit aufserordentlich viel f\u00fcr die Bed\u00fcrfnisse des Organismus. Dadurch, dafs in der Regel \u2014 abgesehen von k\u00fcnstlich herbeigef\u00fchrten experimentellen Bedingungen \u2014 nur eine einzige Reizart, vermittels des peripheren Sinnesorgans, den Sinnesnerv zu affizieren vermag, wird der Zusammenhang zwischen der geweckten Empfindung und dem Vorg\u00e4nge aufserhalb des Organismus, dessen Zeichen die Empfindung ist, ein fester. Die scheinbare Schwierigkeit, welche das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie durch die Behauptung der Inkommensurabilit\u00e4t zwischen Empfindung und verursachendem Vorgang aufserhalb des Organismus f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis der Zweckm\u00e4fsigkeit unserer Handlungen schafft, f\u00e4llt, durch die eben angestellte Betrachtung, dahin. Eigentlich sollte es nicht mehr n\u00f6tig sein, diesen Gedankengang wieder in Erinnerung zu rufen, nachdem Helmholtz in \u00fcberzeugender Klarheit auseinandergesetzt hat, dafs selbst das Erkennen der Gesetzm\u00e4fsigkeit des Naturgeschehens \u2014 sicher eine der h\u00f6chststehenden Leistungen \u2014 durch die skizzierte Einrichtung hinreichend gew\u00e4hrleistet ist.\nNach den peripheren Sinnesorganen sind es zun\u00e4chst die","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Das Gesetz d. spez. Sinnesenergie u. seine Beziehung zur Entioicklungslehre. I\u00dfl\neinzelnen Sinnesnerven, deren strukturelle, physikalische und chemische Eigenschaften daraufhin zu pr\u00fcfen sind, inwieweit durch diese etwa eine Verschiedenheit der Leistung bedingt sein k\u00f6nnte. Feinere strukturelle Unterschiede der einzelnen Sinnesnerven werden zwar bei genauerer Beobachtung nicht vollst\u00e4ndig vermifst, aber die Unterschiede sind nicht derart, dafs man auf sie Gewicht zu legen irgend eine Berechtigung h\u00e4tte. Im gegenw\u00e4rtigen Augenblicke ist es \u00fcberhaupt mifslich die Diskussion auf das Gebiet des strukturellen zu leiten, da unter den malsgebenden Histologen ein unentschiedener Kampf dar\u00fcber wogt, welches das eigentlich leitende Element der Nervenfaser sei.. Die einen erblicken es in den bis jetzt noch nicht als strukturell differenziert erkannten Neurofibrillen, die anderen in dem Protoplasma, welches die Fibrillen begleitet.\nDie physikalischen Erscheinungen am Nerven sind es bekanntlich gewesen, welche die Grundlage f\u00fcr die sehr weit verbreitete Lehre von der Gleichartigkeit der peripheren Nervenfasern gebildet haben. Jeder Nerv zeigt die gleichen elektrischen Zustands\u00e4nderungen ; quantitative Unterschiede ergeben sich fast nur durch den gr\u00f6fseren oder geringeren Markreichtum der einzelnen Nerven. Freilich ist mit dem Nachweis eines \u00fcberall gleichen physikalischen Geschehens durchaus nicht der Beweis f\u00fcr die Gleichartigkeit aller Nerven erbracht. Es hat Ewaed Heeino nachdr\u00fccklich hervorgehoben, dafs dem gleichen physikalischen Geschehen ein durchaus verschiedenes chemisches Geschehen in den einzelnen Nerven zugrunde liegen kann.\nEs ist das Verdienst des eben genannten grofsen Sinnesphysiologen als erster systematisch in der Lehre von der Sinnesempfindung das chemische Geschehen beim Studium der Prozesse in der Nervensubstanz in den Vordergrund ger\u00fcckt zu haben,. Weit sind die Ausblicke, welche sich der chemischen Betrachtungsweise er\u00f6ffnen, einer Betrachtungsweise, welche auf allen Gebieten der modernen Biologie ungemein befruchtend gewirkt hat. Bei vorsichtiger Erw\u00e4gung alles dessen, was wir \u00fcber den Chemismus der nerv\u00f6sen Substanz positiv wissen, mufs man sich bescheiden eingestehen, dafs wir vorl\u00e4ufig wenig in H\u00e4nden haben. Der Einfachheit halber kann hier gleich die periphere und die zentrale Nervensubstanz gemeinsam abgehandelt werden. Die Erforschung der chemischen Zusammensetzung des Nerven^ syst\u00e8mes hat noch keine wesentlichen Unterschiede in den ein-","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nLeon Asher.\nzelnen Teilen aufdecken k\u00f6nnen. Die Arten der chemischen Prozesse in der nerv\u00f6sen Substanz sind auch noch nicht als wesentlich verschieden von denjenigen erkannt worden, welche in jeglicher lebenden Substanz waltend sich nachweisen lassen. Die chemische Dynamik vollends der Prozesse in den Nerven ist \u00fcberhaupt noch nicht in Angriff genommen worden. Es ist vielleicht \u00fcberhaupt fraglich, ob auf dem Wege, welchen bisher die chemischen Erforscher der lebendigen Substanz haben notwendigerweise, den bew\u00e4hrten Methoden ihrer Wissenschaft folgend, wandeln m\u00fcssen, dasjenige zu erreichen ist, was denen als Ideal vorschwebt, die alle Empfindungen getragen wissen wollen von chemischen Prozessen in der Nervensubstanz. Vielleicht darf man hoffen, dafs eine reichere Ausbeute an Erkenntnissen aus dem Studium der \u00fcberraschenden Eigenschaften der h\u00f6heren Eiweifsk\u00f6rper erw\u00e4chst, welche die sogenannte biologische Methode enth\u00fcllt hat. Wenn wir sehen, dafs die Eiweifsk\u00f6rper der einzelnen Zellen, welche auf Grund der chemischen Analyse als gleich oder mindestens verwandt bezeichnet werden m\u00fcssen, durch die biologische Reaktion im Tierk\u00f6rper ungemein fein differenzierte, spezifische Eigenschaften verraten, so dafs sie funktionell als durchaus wesensungleich erscheinen, so darf gehofft werden, dafs der sinngem\u00e4fse Verfolg dieser Dinge im Nervensystem entsprechende Ergebnisse zeitigen wird. F\u00fcr den Augenblick mufs jedoch konstatiert werden, dafs die Hauptgrundlage der Anschauung von der Korrespondenz verschiedener Empfindungen mit verschiedenem chemischen Geschehen beruht auf der Lehre vom Parallelismus zwischen physischem und psychischem Geschehen und abgeleitet ist durch R\u00fcckschluss von den Empfindungen auf deren physisches Substrat, ein R\u00fcck-schlufs, dessen Berechtigung in der Analogie mit unserem auf allen anderen Gebieten der Biologie ge\u00fcbten und bew\u00e4hrten Denkweise liegt.\nIn j\u00fcngster Zeit ist der Versuch gemacht worden die Frage nach der Gleichheit oder Ungleichheit der einzelnen Nervenfasern nicht auf dem Wege der physikalischen oder chemischen Analyse, sondern auf demjenigen der funktionellen mit Hilfe des Experimentes am lebenden Nerven selbst zu entscheiden. Da die Frage nach der Gleichheit oder Ungleichheit der Nervenfaser von je her eine Rolle bei dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergie gespielt hat, scheint es geboten jede neue Er-","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Das Gesetz d. spez. Sinnesenergie u. seine Beziehung zur Entwicklungslehre. 163\nfahrung, selbst wenn sie ganz unabh\u00e4ngig von dem uns hier interessierenden Probleme gewonnen wurde, in Erw\u00e4gung zu ziehen. Das um so mehr, als unzweifelhaft die hier mitzuteilenden neuen Tatsachen im passenden Momente, sowohl von den Anh\u00e4ngern wie auch von den Gegnern des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergie, ihre Verwertung finden werden. J. N. Langley hat in einer musterg\u00fcltig angelegten und in umfassender Weise durchgef\u00fchrten Versuchsreihe gezeigt, dafs alle vom Zentralnervensystem ausgehenden, sogenannten efferenten Nervenfasern, funktionell gleich sind. Der Beweis gr\u00fcndet sich darauf, dafs die verschiedenen efferenten Nervenfasern miteinander zur Verheilung gebracht werden k\u00f6nnen, und dafs nach der Verheilung des zentralen Anteils eines Nerven mit dem peripheren St\u00fccke eines anderen Nerven die Funktion bestimmt wurde durch das periphere Endorgan, mit welchem der verheilte Nerv in Verbindung gebracht worden war. Auf diese Weise war es z. B. gelungen einen vorher gef\u00e4fserweiternden zu einem gef\u00e4fs-verengernden Nerven zu machen, oder einen Kontraktion quergestreifter Muskeln ausl\u00f6senden Nerven zu einem Erreger peripherer Ganglien umzugestalten. Diese Tatsachen scheinen sehr daf\u00fcr zu sprechen, dafs .die hier in Betracht kommenden Nervenfasern gleich sind, beziehentlich, dafs sie den gleichen Vorgang leiten: der Unterschied in der Funktion beruht nur auf dem peripheren Organe, in welches ein Nerv einm\u00fcndet. Diese Folgerung ist unabweisbar, wenn man nicht etwa folgende Hypothese sich noch vorbeh\u00e4lt. Es liefse sich vorstellen, dafs doch die in den Nervenfasern ablaufenden Vorg\u00e4nge verschiedener Art sein k\u00f6nnen, dabei aber trotzdem im st\u00e4nde w\u00e4ren, ein Erfolgsorgan, mit welchem sie sonst nicht in Verbindung stehen, in Erregung zu versetzen. Die ausgel\u00f6ste Erregung aber kann sich nur \u00e4ufsern gem\u00e4fs den innewohnenden Eigenschaften des betroffenen peripheren Organes. Aber auch ohne diese Hypothese l\u00e4fst sich feststellen, dafs die Gleichartigkeit der efferenten Nerven nicht notwendigerweise die Ungleichartigkeit der verschiedenen Sinnesnerven ausschliefst. Alle efferenten Nerven l\u00f6sen in ihren Endorganen Vorg\u00e4nge aus, zu deren zustande\nkommen alle Bedingungen den Endorganen selbst inne wohnen ; \u2022 \u2022\t__\nalle Aulserungen des Eigenlebens derselben sind in ihnen vorgebildet, so dafs der vom Nerven anlangende Prozefs nichts hierzu wesentliches beizutragen in der Lage ist. Ferner geh\u00f6ren","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nLeon Asher.\ndie Endorgane, zn welchen sich die efferenten Nerven begeben, ganz anderen Gewebssy steinen an als die Nerven, stellen ganz anders geartete und funktionierende Apparate dar. Hingegen liegen die Verh\u00e4ltnisse bei den Sinnesnerven wesentlich anders. Diese haben ihre Endst\u00e4tten in Apparaten, welche zum gleichen Gewebssystem geh\u00f6ren. Daher ist die Annahme, dafs die zu einem Sinnesorgane geh\u00f6rende Endst\u00e4tte und ihr Zuleitungsweg, ihr Nerv, gemeinsame, sie von anderen Sinnesorganen unterscheidende Eigenschaften bes\u00e4fse, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Die grolsen offenkundigen Unterschiede in den Erfolgsorganen der efferenten Nerven, welche, wie wir sahen, eine Verschiedenheit der anlangenden Nervenprozesse \u00fcberfl\u00fcssig machen kann, findet sich in den Endorganen der Sinnesnerven, was ihre Struktur betrifft, nicht in diesem Mafse; hieraus folgt wiederum, dafs die Gleichartigkeit der Nervenfasern nicht als etwas mehr oder weniger selbstverst\u00e4ndliches hingestellt werden kann. Ich res\u00fcmiere die hier vor gebrachten Er\u00f6rterungen dahin, dafs die Frage der Gleichartigkeit und der Ungleichartigkeit der Vorg\u00e4nge in den einzelnen Nerven f\u00fcr die Sinnesnerven durch die bedeutsamen Untersuchungen Langleys nicht erledigt ist, will aber gleichzeitig betonen, dafs dieses R\u00e9sum\u00e9 kein positives Argument zugunsten der Un gleich artigkeit der sensorischen Nervenfasern sein soll. Weit eher spricht immer noch zugunsten der Gleichartigkeit auch der Sinnesnerven, erstens dafs die Sinnesempfindungen rein zentral, ohne Mitwirkung der Sinnesnerven zustande kommen k\u00f6nnen, und zweitens dafs man tats\u00e4chlich mit der Annahme der Gleichartigkeit der sensorischen Nervenfasern den beobachtbaren Erscheinungen keinen Zwang antut. Wir bescheiden uns also diese ganze Frage noch als eine offene zu behandeln.\nDie engsten Zusammenh\u00e4nge bestehen naturgem\u00e4fs zwischen der Lehre von den spezifischen Sinnesenergien und dem jeweiligen Stand unserer Erkenntnisse \u00fcber die Funktion des Zentralnervensystems, insbesondere der Hirnrinde. In der Literatur unseres Gegenstandes spielt, wie bekannt, die Beziehung auf die Lokalisationslehre der Hirnphysiologen keine geringe Rolle. Es ist bezeichnend, dafs der hervorragendste Gegner des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergie gleichzeitig auch sich skeptisch gegen die Lehre von der weitgehenden strukturellen und funktionellen Differenzierung der Teile des Zentralnervensystems verh\u00e4lt. Im","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Das Gesetz d. spez. Sinnesenergie u. seme Beziehung zur Entwicklungslehre. 165\nAugenblick neigt sich die Wagschale zugunsten der Lokalisationslehre. Einen m\u00e4chtigen Impuls hat die Lehre von der Verschiedenheit des strukturellen Aufbaues des Zentralnervensystems in entschiedener Weise durch die Befunde von Paul Flechsig-erhalten. Durch diese ist gezeigt worden, erstens, dafs die Endigungen der Sinnesleitung in der Hirnrinde sich zeitlich unterscheidbar voneinander entwickeln; zweitens, dafs nur ganz bestimmte Teile der Hirnrinde mit den peripheren Sinnesorganen in Verbindung stehen, w\u00e4hrend andere sehr grofse Partien der Hirnrinde keinerlei direkten Zusammenhang mit der Peripherie haben; drittens, dafs diese entwicklungsgeschichtlich, also durch einen Naturprozefs abgrenzbaren Bezirke, im Prinzip, nicht in den Details, \u00fcbereinstimmen mit den Ergebnissen der Lokalisationslehre, wie sie durch Beobachtungen im Experiment und am Krankenbett gewonnen werden ; viertens, dafs die anatomisch aufgefundenen Sinnessph\u00e4ren auch im feineren Aufbau Unterschiede aufweisen, welche sie speziell charakterisieren. Es mufs zugegeben werden, dafs das auf jedem Erfahrungswege gewonnene Ziel die Aussicht auf die so dringend postulierten Unterschiede im Zentralnervensystem deutlicher als bisher er\u00f6ffnet. Aber die Vorsicht erheischt auch der Kehrseite dieser Dinge nicht zu vergessen. Der Vergleich zwischen den anatomischen Unterschieden einerseits in peripheren, andererseits in zentralen Organen, deckt doch unvergleichlich gr\u00f6fsere Differenzen an der Peripherie als im Zentrum auf. Die anatomische und experimentell physiologische Methode lehrt uns unzweifelhaft Tatsachen, welche an die Realit\u00e4t der Ungleichartigkeit einzelner Regionen des Zentralnervensystems nicht mehr zu zweifeln gestatten. Trotzdem mufs man zugestehen, dafs man aus dem vorhandenen Materiale die tiefgreifenden Unterschiede der Sinnesempfindungen nicht abzuleiten vermag. Hier bew\u00e4hrt sieh die alles \u00fcberragende Bedeutung der Funktionsanalyse, welche genau das ergibt, was in klassischer Weise Johannes M\u00fcller in den knappen S\u00e4tzen niederlegte, in denen er das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie aussprach und begr\u00fcndete. Auf dem Wege des Ausschlusses gelangen wir zu dem Resultate, dafs die Bedingungen f\u00fcr die Eigenart der Qualit\u00e4t einer Empfindung von einem Innenmomente abh\u00e4ngen, welches nicht gelegen ist in den peripheren Sinnesorganen, wahrscheinlich nicht in den peripheren Nervenfasern, vielmehr seinen Sitz hat im Z entra\u00eener vensvstem.","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nLeon Asher.\nNicht ohne Absicht habe ich in den ganzen voraufgehenden Darlegungen mit m\u00f6glichster Reserve diejenigen Momente unserer inneren physiologischen Organisation besprochen, welche in Zusammenhang mit der Entstehung der verschiedenen Empfindungen gebracht werden. Es geschah dies vor allem deshalb, weil die Anerkennung des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergie durchaus nicht verhindern soll den ber\u00fchrten Schwierigkeiten ins Gesicht zu sehen. Der gegenw\u00e4rtige Stand unserer Kenntnisse ist eben, trotz aller Fortschritte, ein solcher, dafs die Schwierigkeiten noch im vollen Umfange bestehen.\nEs k\u00f6nnte an dieser Stelle die Frage aufgeworfen werden, ob es nicht richtiger w\u00e4re, allen diesen Problemen dadurch ein f\u00fcr allemal auszuweichen, indem man das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie einfach verwirft und behauptet, dafs die Verschiedenheit der Empfindung von der Verschiedenheit der einwirkenden Reize herr\u00fchre. Dieser von Wundt u. a. eingeschlagene Weg ist aber ungangbar. Ich halte es f\u00fcr unangebracht, meine Darstellung mit der Wiederholung aller der Argumente zu belasten, welche zugunsten des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergie vorgebracht worden sind. Wer vorurteilsfrei den Darlegungen von Johannes M\u00fcller, von Helmholtz, Hering, Oehrwall und v. Uenk\u00fcll gefolgt ist, wird sich der Erkenntnis nicht ver-schliefsen k\u00f6nnen, dafs die Wucht ihrer Tatsachen und die Eindringlichkeit ihrer kritischen Erw\u00e4gungen durch keinerlei Einw\u00e4nde der Gegner im mindesten abgeschw\u00e4cht worden sind. Ich will daher nur einige der Argumente anf\u00fchren, welche auf Grund neuerer Erfahrungen in recht pr\u00e4gnanter Weise zum Beweise dienen k\u00f6nnen. Die Qualit\u00e4t der Empfindung soll nach den Anschauungen der oben erw\u00e4hnten Gegner prim\u00e4r durch Eigenschaften des einwirkenden Reizes bedingt sein. Nun treten aber unter bestimmten Umst\u00e4nden Empfindungen auf, denen direkt kein von aufsen her ein wirkender Reiz zugrunde liegt: hierher geh\u00f6ren z. B. die schon fr\u00fcher erw\u00e4hnten Kontrastempfindungen. Einer im Nachbild des geschlossenen Auges erscheinenden Kontrastfarbe entspricht gar kein von aufsen her wirkender Vorgang, dessen Eigenschaften irgendwie in der Empfindung sich wiederspiegeln k\u00f6nnten ; denn diese Kontrastfarben entwickeln sich kraft innewohnender Eigenschaften des Auges. Unter den Raumempfindungen des Auges finden sich gleichfalls recht bemerkenswerte Beispiele daf\u00fcr, dafs eine Zur\u00fcckf\u00fchrung einer Sinnes-","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Das Gesetz d. spez. Sinnesenergie u. seine Beziehung zur Entwicklungslehre. 107\nqualit\u00e4t auf Eigenschaften des sie ansl\u00f6senden Reizes nicht m\u00f6glich ist. Die einfachen Richtungsempfindungen z. B. sind das Resultat einer eigent\u00fcmlichen funktionellen Verkn\u00fcpfung des Doppelauges und es d\u00fcrfte schwer sein, eine Definition desjenigen\nzu geben, was dem zugeh\u00f6rigen Aufsenvorgange die Bef\u00e4higung\n* \u00bb\nzur Erzeugung einer Richtungsempfindung verleiht. \u00c4hnliches liefse sich auch f\u00fcr andere Raumempfindungen anf\u00fchren. Natur-gem\u00e4fs k\u00f6nnen die hier aus der Lehre vom Raumsinn des Auges an gedeuteten Beispiele nur f\u00fcr diejenigen Beweiskraft haben, welche das R\u00e4umliche einer Empfindung ebenso f\u00fcr eine Qualit\u00e4t halten wie das Helle, das T\u00f6nende oder das Duftende. Ein weiteres typisches Beispiel ist die Empfindung des Glanzes. Der Glanz, welcher als Empfindung etwas durchaus Einfaches ist, kommt bekanntlich zustande durch zwei verschiedene gleichzeitige Einwirkungen auf beide Augen, von denen jede einzelne f\u00fcr sich etwas ganz anderes verursacht. Der aus dieser Kombination resultierenden Empfindung haftet nichts an, was dazu berechtigte, ihre Qualit\u00e4t aus irgend einer Eigenschaft des Aufsen-vorganges abzuleiten. Mit Recht haben die Anh\u00e4nger des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergie auf die hohe Bedeutung des Nachweises der W\u00e4rme- und K\u00e4ltepunkte hingewiesen. Dabei wurde bisher immer besonderer Nachdruck auf die Tatsache gelegt, dafs die Temperaturpunkte, gleichg\u00fcltig ob sie mit dem ad\u00e4quaten oder nichtad\u00e4quaten Reize gereizt wurden, soweit sie reagierten, immer mit der ihnen spezifischen Energie antworteten. Das Postulat, dafs verschiedenen Sinnesqualit\u00e4ten auch verschiedene Sinnesapparate zugeh\u00f6ren m\u00fcssen, ist also durch die Entdeckung von Blix und Goldscheider vollauf im Sinne von Johannes M\u00fcller erf\u00fcllt worden. Aber man kann auch die neugewonnene Anschauung von der vollkommenen Trennung des K\u00e4lte- und W\u00e4rmesinnes in zwei durchaus selbst\u00e4ndige Sinne nach einer anderen Richtung hin benutzen, die nicht minder wertvoll als St\u00fctze f\u00fcr die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien ist. Betrachten wir die objektiven oder physikalischen Vorg\u00e4nge, welche den ad\u00e4quaten Reiz der beiden Temperatursinne ausmachen, so stellen sie durchaus ein Kontinuum qualitativ gleicher und quantitativ nicht sehr verschiedener Geschehnisse dar. Ganz im Gegensatz hierzu springen wir bei den hierbei ausgel\u00f6sten Empfindungen geradezu, wie man mit Oehrwall annehmen mufs, von einer Modalit\u00e4t in die andere \u00fcber; dem-","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nLeon Asher.\nnach haben wir auf der einen Seite ein Kontinuum, auf der anderen jenen tiefgreifenden und un\u00fcberbr\u00fcckbaren Unterschied, der unser Sinnesleben auszeichnet. Man darf wohl die Frage aufwerfen, welche Eigenschaft ist es, die dem engen hier in Betracht kommenden Bereiche wohl charakterisierter Bewegungs-Vorg\u00e4nge die F\u00e4higkeit verleiht, Grundlage heterogener Gef\u00fchlsmodalit\u00e4ten zu sein. Man sieht leicht ein, dafs die vollst\u00e4ndige Diskrepanz der Empfindungen und im Gegensatz hierzu der enge Zusammenhang der verursachenden Reiz Vorg\u00e4nge am einfachsten verst\u00e4ndlich ist durch die v\u00f6llige Unabh\u00e4ngigkeit der Empfindungsqualit\u00e4t von den Eigenschaften des Reizes. Die Beispiele, welche ich hier angef\u00fchrt habe, liefsen sich beliebig vermehren, was ich aber nicht f\u00fcr n\u00f6tig erachte. Ich will zum Schlufs vielmehr nochmals auf einen ganz allgemeinen Gesichtspunkt hinweisen, der am sch\u00e4rfsten wohl von Oehrwall zum Ausdruck gebracht worden ist. Bei n\u00e4herem Zusehen findet sich n\u00e4mlich, dafs wir gar nicht in der Lage sind, die Reize aus sich selbst heraus zu definieren, vielmehr wir stets die Empfindungen selbst dabei zu Hilfe nehmen m\u00fcssen.\nEin letzter schwerer Einwand, welcher gegen die G\u00fcltigkeit des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergie erhoben wird, ist dessen angebliche Unvereinbarkeit mit der in der modernen Biologie herrschenden Entwicklungslehre. Vornehmlich bei Wtjndt scheint dieser Punkt der eigentlich ausschlaggebende gewesen zu sein f\u00fcr die energische Verwerfung, welche er unserem Satze in allen Auflagen seines klassischen Lehrbuches der physiologischen Psychologie hat angedeihen lassen. Da, wie man zugestehen mufs, der auf die Entwicklungslehre sich gr\u00fcndende Widerspruch keine ernstliche Widerlegung bisher erfahren hat, hat die W\u00fcNDTsche Kritik an vielen Orten Schule gemacht. Ehe ich den Versuch machen kann zu zeigen, wie die richtige Anwendung der Entwicklungsidee durchaus im Einkl\u00e4nge mit dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergie steht, habe ich zu vorderst einige Folgerungen aus dem bisher Dargelegten abzuleiten.\nWie wir sahen, m\u00fcssen wir bei der Einteilung unserer Sinne ausgehen von den Empfindungen, welche durch sie vermittelt werden. Die Bewufstseinsinhalte nun, die wir gemeinhin als Empfindungen ansprechen, sind zumeist von sehr zusammengesetzter Natur. Daher mufs die wissenschaftliche Analyse als erste Aufgabe die l\u00f6sen, jene komplizierten Erscheinungen in","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Das Gesetz d. spez. Sinnesenergie u. seine Beziehung zur Entwicklungslehre. 169\nihre einfachen Elemente aufzul\u00f6sen. Bei dem Versuch aber, die Elemente der Empfindungen festzustellen, stofsen wir auf eine bekannte eigent\u00fcmliche Schwierigkeit. Ein sog. Element der Empfindung ist durchaus nur Sache der Abstraktion. Allein durch das Experiment gelingt es, einfache Empfindungen m\u00f6glichst isoliert ins Bewufstsein treten zu lassen; aber selbst wenn die objektiven Bedingungen des Versuchs und der subjektive Zustand der Versuchsperson die denkbar g\u00fcnstigsten sind, ist das Resultat immer noch ein Eindruck, an dem sich mehr als ein Bestandteil unterscheiden l\u00e4fst. An einer m\u00f6glichst isolierten Lichtempfindung z. B. haftet unl\u00f6sbar noch eine Raumempfindung. Nur dadurch, dafs wir in zusammengesetzten Empfindungskomplexen einen einzelnen bestimmten Bestandteil mit Hilfe des Experimentes getrennt f\u00fcr sich variieren k\u00f6nnen, sind wir in der Lage, gewisse Elemente der Sinnesempfindungen zu unterscheiden. Aus dieser Schwierigkeit oder, wenn man will, Unm\u00f6glichkeit isolierte Empfindungen nachzuweisen, ergibt sich meines Erachtens ein schwerwiegender Einwand gegen die Anschauung, dafs die Empfindungen die letzten Elemente seien, aus denen sich unsere Psyche auf baut. Wenn, wie soeben gezeigt wurde, keine einzige Qualit\u00e4t als selbst\u00e4ndiges Element vorkommt, scheint es mir ein Widerspruch zu sein, die Qualit\u00e4ten als die Bausteine dessen zu beanspruchen, was unsere geistige Pers\u00f6nlichkeit ausmacht.\nDie M\u00f6glichkeit, experimentell innerhalb der oben angegebenen Grenzen Empfindungen zu isolieren, h\u00e4ngt von drei Momenten ab :\n1.\tVon der Gliederung der peripheren Aufnahmeapparate;\n2.\tvon der Eigenart der Empfindung selbst;\n3.\tvon der Entwicklungsh\u00f6he des betreffenden Sinnes.\nDie Gliederung des peripheren Aufnahmeapparates ist insofern von Einflufs, als von ihr abh\u00e4ngt, ob die \u00e4ufsere Einwirkung mehr oder weniger isoliert angreifen kann. Auge und Ohr sind durch ihren Bau davor gesch\u00fctzt, dafs beliebige Vorg\u00e4nge der Aufsenwelt auf sie ein wirken k\u00f6nnen ; hingegen sind die auf dem nicht abgegrenzten weiten Areale der Haut liegenden verschiedenen Hautsinnesorgane auch den verschiedensten Einfl\u00fcssen gleichzeitig ausgesetzt. Ein und derselbe Vorgang der Aufsenwelt vermag auch unter normalen Bedingungen gleichzeitig mehrere Sinnesapparate mit verschiedenen Qualit\u00e4ten zu erregen. Dies","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nLeon Asher.\nist auch einer der Gr\u00fcnde gewesen, welcher die Trennung der verschiedenen Hautsinnesqualit\u00e4ten so lange erschwert hat. Denn das durch periphere Ursachen bedingte gemeinsame Auftreten mehrerer verschiedener Sinnesqualit\u00e4ten in demselben Eindr\u00fccke, wie es hier ungemein h\u00e4ufig vorkommt, bedingt nat\u00fcrlich eine gewohnheitsm\u00e4fsige psychische Verkettung, die erst besonderer Mittel zur L\u00f6sung bedarf.\nDie Eigenart einer Empfindung ist von grofser Bedeutung daf\u00fcr, ob man die Qualit\u00e4t derselben mit gr\u00f6fserer oder geringerer sinnlicher Sch\u00e4rfe von allem anderen, was sonst dem Eindruck anhaftet, losl\u00f6sen kann. Vor allem kommt hierbei der Gef\u00fchlston der betreffenden Empfindung in Betracht. Bei allen solchen Empfindungen, welche das Gef\u00fchl des Individuums lebhaft affizieren, tritt die Qualit\u00e4t vergleichsweise in den Hintergrund. Sehr auffallend kommt dieses Moment bei dem Vergleich zwischen der Gesichts- und der Geh\u00f6rsempfindung zur Geltung. Es ist kein Zufall, dafs die experimentelle Analyse bei den Gesichtsempfindungen sehr viel weit gehender durchgef\u00fchrt ist, als selbst beim Ohre, dessen physiologische Bef\u00e4higung gerade zur Analyse stets hervorgehoben wird. Eine Geh\u00f6rsempfindung affiziert sehr viel mehr die ganze Pers\u00f6nlichkeit als z. B. eine Farbenempfindung; die letztere ist, wie man sich ausar\u00fccken kann, sehr viel affektloser als die erstere. Nat\u00fcrlich spielt bei der Beziehung zwischen Qualit\u00e4t und Gef\u00fchlston der individuelle Faktor eine recht erhebliche Rolle ; doch d\u00fcrfte es keine Schwierigkeiten machen diesem individuellen Faktor im einzelnen Fall Rechnung zu tragen. Es wird sogleich noch einmal auf die biologische Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Qualit\u00e4t und Gef\u00fchlston zur\u00fcck zu kommen sein. Zu dem, was ich als Eigenart der Empfindung bezeichnen m\u00f6chte, geh\u00f6rt aber noch manches andere, beispielsweise die F\u00e4higkeit zu kontrastieren oder zu irradiieren. Zwei miteinander kontrastierende Qualit\u00e4ten lassen sich nat\u00fcrlich viel leichter isolieren als andere.\nDie Entwicklungsh\u00f6he schliefslich eines Sinnes hat einen grofsen Einflufs darauf in wie weit man experimentell die einzelnen Bestandteile isolieren kann. An dieser Stelle ist nun der Ort, wo wir von der Entwicklungsh\u00f6he eines Sinnes reden, die oben zur\u00fcckgestellte Frage nach der M\u00f6glichkeit der Anwendung der Entwicklungsidee geh\u00f6rig zu er\u00f6rtern. Die Sprache bedient sich des Ausdrucks h\u00f6here und niedere Sinne, aber vermeidet","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Das Gesetz d. spez. Sinnesenergie u. seine Beziehung zur Entwicklungslehre. 171\nmit Recht die Bezeichnung h\u00f6here und niedere Empfindungen. Vergleicht man n\u00e4mlich die einzelnen Sinnesqualit\u00e4ten im Zustande einer so weit wie m\u00f6glich durchgef\u00fchrten Isolierung miteinander, so l\u00e4fst sich schlechterdings nicht die eine Qualit\u00e4t als hoch, die andere als niedrig bezeichnen. Blau, warm, salzig m\u00fcssen als gleichwertig bezeichnet werden. Aus dieser Feststellung geht hervor, dafs die Frage nach der Entwicklung der Qualit\u00e4ten, eine falsch gestellte Frage ist, denn sie setzt voraus, dafs es niedere Qualit\u00e4ten gibt, die zu h\u00f6heren entwickelt werden k\u00f6nnen.\nEs ist nicht schwer sich dar\u00fcber klar zu werden, welche Momente es sind, die einen Sinn zu einem h\u00f6heren machen. Es sind dies vor allem psychische Verkettungen und die daraus resultierenden Verwertungen f\u00fcr die Bed\u00fcrfnisse des Individuums. Besonders wichtige Beispiele solcher psychischen Verkettungen sind einmal die Verbindung mit dem, was wir Ged\u00e4chtnis nennen; je sch\u00e4rfer das Ged\u00e4chtnis f\u00fcr eine bestimmte Empfindungskategorie entwickelt ist, desto h\u00f6her ist auch der betreffende Sinn. Sodann geh\u00f6rt hierzu die F\u00e4higkeit einer Sinnesqualit\u00e4t mit anderen in Verbindung zu treten und zu h\u00f6heren psychischen Qualit\u00e4ten zu verschmelzen.\nDer Aufbau der geistigen Pers\u00f6nlichkeit geschieht nun wesentlich mit Hilfe von Ged\u00e4chtnis und Assoziation. Der Anteil, den hieran ein Sinn hat, bestimmt seine Rangordnung, ob er hoch oder niedrig sei. Die Qualit\u00e4t als solche hat hiermit, was ausdr\u00fccklich betont werden soll, nichts zu tun.\nIn welcher Art und Weise die Entwicklungsidee in der Sinnesphysiologie Anwendung zu finden hat, l\u00e4fst sich mit Hilfe der vergleichenden Sinnesphysiologie ermitteln. Wir sind in der gl\u00fccklichen Lage den grofsen Schwierigkeiten, welche die vergleichende Sinnesphysiologie darbietet, dadurch aus dem Wege zu gehen, dafs wir an uns selbst Vergleiche machen k\u00f6nnen. Wie v. Uexk\u00fcll eindringlich gezeigt hat, mufs man sich davor h\u00fcten, von den Sinnesempfindungen anderer Lebewesen als m\u00f6glichen Erfahrungstatsachen zu reden. Bei anderen Lebewesen k\u00f6nnen wir nur von der biologischen Bedeutung eines Sinnes reden, d. h. von den Beziehungen, die ein Sinnesorgan zu dem Milieu des Lebewesens vermittelt. Unter Verzicht auf jede Aussage \u00fcber die etwaigen Qualit\u00e4ten oder Empfindungen, welche die eben genannte Inrelationssetzung von Tier mit Milieu begleiten,","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nLeon Asher.\n. kann man wertvolle entwicklungsgeschichtliche Daten zur Sinnes* physiologie erhalten und diese bei dem Vergleich an uns selbst in geeigneter Weise verwerten. Die vergleichende Physiologie lehrt uns, dafs die niedrigste Art von Inrelationssetzung zwischen Tier und Umgebung in Form der richtenden Tropismen auftritt. Die Tropismen sind nun auch bei den h\u00f6chststehenden Lebewesen noch wiederzufinden. Vorhof und Bogeng\u00e4nge des inneren Ohres sind Tropismen vermittelnde Apparate. Hier und da taucht gelegentlich ein Zweifel dar\u00fcber auf, ob wirklich die Leistungen des Vorhof und Bogengangapparates als Leistung eines echten Sinnes aufzufassen seien. Nach dem, was ich oben als das biologische Charakteristikum eines Sinnes angef\u00fchrt habe, kann dar\u00fcber kein Zweifel bestehen. Wodurch zeichnet sich nun dieser recht tiefstehende Sinn aus? Offenbar dadurch, dafs an ihm keinerlei ins Bewufstsein tretende Qualit\u00e4t auffindbar ist. Es l\u00e4fst sich nur konstatieren, dafs nachdem vermittels dieser Organe etwas v\u00f6llig Qualit\u00e4tloses rezipiert worden ist, eine Reaktion erfolgt in \u00e4hnlicher Art und mit gleichem Ziel wie bei anderen nicht blofs rezipierenden, sondern auch perzipierenden Sinnesorganen. Die somit gewonnene Erkenntnis von der tiefsten Form, in welcher ein Sinn oder vom vergleichenden physiologischen Standpunkt das Analagon zu einem Sinn auftritt, leitet auch zu einer brauchbaren Analyse der anderen Sinne. Wir sehen, dafs bei denjenigen Sinnen, welche wir gemeinhin als die tieferen bezeichnen, im Vergleich zu h\u00f6heren die Qualit\u00e4t des Sinnes sehr erheblich zur\u00fccktritt. Sie fehlt nicht etwa, aber sie ist von vergleichsweise geringer Bedeutung. Bei den Empfindungen der Temperatur, bei einer ganzen Reihe Empfindungen des Tastsinnes, bei den Empfindungen des Geschmacks und des Geruches, ist der Eindruck, den das rein Qualitative dabei macht, etwas ziemlich Unbestimmtes und Nebens\u00e4chliches. Man k\u00f6nnte den Tatbestand so ausdr\u00fccken: die Affizierung der Pers\u00f6nlichkeit, der Effekt, der auf die Stimmung gemacht wird, beherrscht so sehr das Bild, dafs das Qualitative dabei unter der Schwelle bleibt. Ich habe vorhin ausgef\u00fchrt, dafs eine Erschwerung der Isolierung einzelner Qualit\u00e4ten dadurch bedingt wird, dafs gewisse Empfindungen eine st\u00e4rkere Gef\u00fchlst\u00f6nung haben als andere, ein Verhalten, welches bei all den letzt gemannten Sinnen zutreffend ist. Der ungemeine Reichtum z. B. des Geruchsinnes an Qualit\u00e4ten ist denen nicht verborgen ge-","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Das Gesetz d. spez. Sinnesenergie u. seine Beziehung zur Entwicklungslehre. 173\nblieben, welche sich der M\u00fche unterzogen haben rein experimentell den Geruchssinn zu analysieren. Dieser Reichtum entzieht sich vollkommen unter gew\u00f6hnlichen Bedingungen unserer Erkenntnis, weil wir keine Veranlassung haben auf denselben zu achten. Alle diese niederen Sinne haben das gemeinsam, dafs sie f\u00fcr die Erhaltung der Existenz, insbesondere der zum nackten Leben allerunentbehrlichsten, nur maschinenm\u00e4fsig ab-laufenden Lebens Vorg\u00e4nge n\u00fctzlich und n\u00f6tig sind. Um diese \u00e4ufserst bedeutsame biologische Funktion zu erf\u00fcllen, bedarf es offenbar nicht des Hervortretens der Qualit\u00e4t, sondern es gen\u00fcgt eine Affizierung des Individuums zu energischer Reaktion, die besonders in der Int\u00e4tigkeitsetzung der Schutzmittel besteht, welche dem Organismus zur Verf\u00fcgung stehen. Dem Einwande, dafs das qualitative Moment der zuletzt genannten Empfindungen gerade dasjenige sei, welches den bestimmenden Anteil an der Reaktion bes\u00e4fse, l\u00e4fst sich durch eine neuere sehr bemerkenswerte Erfahrung von Sherrington begegnen. Dieser Forscher zeigte, dafs am R\u00fcckenmarkshunde, bei dem wir die Existenz von Empfindungsqualit\u00e4ten zu leugnen berechtigt sind, an derselben Stelle der Haut angebrachte Reize verschiedene Reaktionen ausl\u00f6sten, je nachdem der Reiz ein solcher war, der am unversehrten Tiere eine Ber\u00fchrungs- oder Schmerzempfindung ausgel\u00f6st h\u00e4tte. Wir sehen also, dafs zum Zustandekommen eines \u201enoci-receptiven\u201c und eines \u201etango-receptiven\u201c Reflexes alles in Bereitschaft und ausf\u00fchrbar ist, ohne jede Beihilfe einer besonderen Empfindungsqualit\u00e4t. Diese genetischen Betrachtungen \u00fcber die Sinne f\u00fchren zu einer sehr verwandten Auffassung der Elemente des psychischen Geschehens, wie sie vor langen Jahren E. Pel\u00fcger in seinen klassischen Studien \u00fcber die R\u00fcckenmarksreflexe vertreten hat. Bekanntlich nimmt Pel\u00fcger im Gegensatz zu sehr vielen anderen Physiologen eine \u201eR\u00fcckenmarksseele\u201c an, d. h. ein an die Existenz des R\u00fcckenmarks gekn\u00fcpftes, zwar sehr tief stehendes psychisches Geschehen, aber trotzdem seinem Wesen nach ein Geschehen nicht prinzipiell verschieden von dem, welches an die Existenx h\u00f6herer Hirnteile gebunden gedacht wird. Er spricht von einem dumpfen Bewufstsein, \u00e4hnlich demjenigen, wie es gelegentlich im Schlafe auftauchen kann. Dieser PEL\u00dcGERsche Gedankengang h\u00e4tte wohl mehr Zustimmung gefunden, wenn man nicht zumeist von der Vorstellung ausgegangen w\u00e4re, dafs die deutlich ausgepr\u00e4gten Empfindungsquali-\nZeitschr. f. Sirmespliysiol. 41.\t12","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nLeon Asher.\nt\u00e4ten die Elemente des psychischen Geschehens seien, ohne deren Vorhandensein von einer Psyche nicht geredet werden k\u00f6nne. Alle neueren Erfahrungen aber, welche in der Physiologie des Zentralnervensystems gemacht worden sind, sprechen daf\u00fcr, dafs seelische Leistungen noch nachweisbar sind, wenn durch nat\u00fcrliche oder experimentelle Bedingungen das Vorhandensein von Empfindungsqualit\u00e4ten ausgeschlossen wird. Die Belege f\u00fcr diese Behauptung finden sich in den sch\u00f6nen Studien von Goltz \u00fcber den grofshirnlosen Hund und in Paul Flechsigs bedeutsamer Monographie \u201eGehirn und Seele\u201c. Namentlich in letzterer Schrift wird der hier angedeutete Gedankengang nicht allein auf anatomischer, sondern auch auf einer Basis experimenteller und pathologischer Erfahrungen gegr\u00fcndet. Ganz im Gegensatz zu den niederen Sinnen ist bei den h\u00f6heren Sinnen die Qualit\u00e4t der Empfindung ein sehr hervorstechendes Merkmal. Bei Auge und Ohr tritt hingegen alles das zur\u00fcck, was bei den niederen Sinnen das auffallendste war: die Lebenswichtigkeit, die Gef\u00fchlst\u00f6nung \u2014 nat\u00fcrlich ist hier von der k\u00fcnstlerischen Gef\u00fchlst\u00f6nung absolut nicht die Bede \u2014 die Erweckung der Triebe. Vielleicht w\u00e4re es richtiger sowohl hier wie auch an fr\u00fcheren Stellen, wo ich von Gef\u00fchlsausl\u00f6sung durch die Sinne gesprochen habe, eher von einer solchen der Triebe zu reden. Der Anteil, den Auge und Ohr an der Gesamtheit der psychischen Erscheinungen des Menschen nimmt, ist tats\u00e4chlich aufgebaut aus einzelnen Bausteinen, welche repr\u00e4sentiert werden durch die leicht voneinander zu unterscheidenden, sinnf\u00e4llig deutlichen, und deshalb auch im Ged\u00e4chtnis fest haftenden Qualit\u00e4ten, der Farben und der T\u00f6ne.\nEs ist nicht schwer bei diesen h\u00f6heren Sinnen niedere und h\u00f6here Entwicklungsstufen zu unterscheiden, wenn man die Analyse dieser Sinne nicht von einem physikalischen, sondern von einem biologischen und psychologischen Standpunkte aus durchf\u00fchrt. Da bei dem Gesichtssinne diese letztere Art der Analyse in sehr vollkommener Weise vorliegt, will ich einige Beispiele diesem Sinne entnehmen. Die Empfindungen des Hellen und Dunkeln sind offenbar die fr\u00fcher entwickelten. Daf\u00fcr spricht, dafs alle Orte der Netzhaut bef\u00e4higt sind die Empfindungsreihe des Hellen und Dunkeln auszul\u00f6sen, und ferner dafs diese Empfindungen auch unter Bedingungen zu st\u00e4nde kommen k\u00f6nnen, wo die Farbenqualit\u00e4ten absolut aus-","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Das Gesetz d. spez. Sinnesenergie u. seine Beziehung zur Entwicklungslehre. 175\ngeschlossen sind. Eine andere St\u00fctze f\u00fcr die Annahme, dafs hell und dunkel genetisch die fr\u00fcher existierenden Qualit\u00e4ten sind, entnehme ich Beobachtungen an seelenblinden Personen. Bei dieser ist die Unterscheidung von hell und dunkel noch deutlich vorhanden, ja die Unterschiedsempfindlichkeit in der schwarz-weifs Reihe ist eine nicht unbetr\u00e4chtliche, w\u00e4hrend die Farbenwahrnehmung geschwunden ist.\nAnmerkung: Ich verdanke Herrn Professor Dr. Fr. M\u00fcller, Direktor der II. medizinischen Klinik in M\u00fcnchen die Gelegenheit an einem sehr instruktiven Falle von Seelenblindheit einige Untersuchungen \u00fcber Licht und Farbenempfindungen haben anstellen zu d\u00fcrfen. Mit den Holmgren-schen Wollproben untersucht, ergab sich zun\u00e4chst das typische Bild der Botgr\u00fcnblindheit. Sehr ges\u00e4ttigt blaue Farben wurden als bl\u00e4ulich anerkannt, die gelben Wollstreifen aber als hell bezeichnet. Es scheint demnach, dafs von den Farbenqualit\u00e4ten die Blau- und Gelbempfindung noch schwach vorhanden war. Kleine Papierscheiben von barytweifs wurden prompt als weifs angegeben. In einer Serie von Scheiben grauen Papiers verschiedener Helligkeit und Dunkelheit wurden die verschiedenen Helligkeitsstufen mit einer jedenfalls gr\u00f6fseren Sicherheit unterschieden, wie die Farbenqualit\u00e4ten, soweit sie noch vorhanden waren.\nIn einer Studie von Fr. M\u00fcller (Ein Beitrag zur Kenntnis der Seelenblindheit, Arch. f. Psychiatrie 24) finden sich sehr wertvolle Beobachtungen und Analysen \u00fcber die Beziehungen zwischen St\u00f6rungen des Farbensinns und Seelenblindheit. Es ist mit R\u00fccksicht auf das hier gesagte interessant zu erfahren, dafs M\u00fcller bei seinen F\u00e4llen auf das gute Sehverm\u00f6gen neben der St\u00f6rung des Farbensinns hinweist.\nWenn ich im letzten Abschnitte gewisse Qualit\u00e4ten genetisch als die \u00e4lteren bezeichnete, so darf daraus ja nicht gefolgert werden, dafs die j\u00fcngeren irgendwie aus den \u00e4lteren sich entwickelt h\u00e4tten. Ganz im Gegenteil zielten alle meine Betrachtungen \u00fcber die Anwendung der Entwicklungsidee in der Sinnesphysiologie dahin, zu zeigen, dafs jede Qualit\u00e4t f\u00fcr sich autochthon ist. Es ist meines Erachtens ganz ausgeschlossen, dafs aus einer Qualit\u00e4t mehr elementarer und unbestimmter Natur sich etwa andere herausdifferenziert h\u00e4tten. Diesen Gedanken hat Wundt, dem sich fr\u00fcher Nagel mit der Hypothese der Wechselsinnesorgane angeschlossen hat, vertreten. Vielleicht wurde er hierzu bewogen, weil er dadurch seiner Annahme, dafs etwas dem Reiz-vorgange Anhaftendes die Qualit\u00e4t der Empfindung bestimme, Rechnung tragen konnte. Auf jener Annahme fufsend konnte behauptet werden, dafs sich die lange Zeit den verschiedenen\n\u00e4ufseren Reizvorg\u00e4ngen ausgesetzten Sinnesorgane allm\u00e4hlich\n12*","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nLeon Asher.\ndenselben anpafsten und durch diese Anpassung auch die urspr\u00fcnglich gleichartigen Empfindungen umwandelten in die Verschiedenartigkeit, wie sie jetzt vorgefunden wird. Das Unzutreffende der Voraussetzung sowie der Folgerung wurde im Vorauf gegangenen darzulegen versucht. Die Qualit\u00e4ten h\u00e4ngen nicht vom Reizvorgang ab; der Reizvorgang hat daher auch keinen Einflufs auf ihre Entwicklung gehabt. Keine Qualit\u00e4t hat sich aus der anderen entwickelt, sondern die Qualit\u00e4ten sind einzeln sekund\u00e4r hinzugekommen zu einem Bewufstseinsinhalte, welcher das Prim\u00e4re an dem Sinneseindruck war. Dieses Prim\u00e4re ist ein Etwas, was zur Erweckung von Trieb und Affekt notwendig und hinreichend ist. Die Qualit\u00e4ten hingegen dienen h\u00f6heren Funktionen und sind, je feiner sie entwickelt und demzufolge erkennbar und unterscheidbar sind, der Sph\u00e4re des Triebes und des Affektes entr\u00fcckt. Ich glaube durch alle diese Betrachtungen gezeigt zu haben, dafs die Entwicklungsidee und das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie in keinerlei Widerspruch miteinander stehen. Mit diesem Nachweise ist der Haupteinwand gegen das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie hinf\u00e4llig geworden.\nUnser Erkl\u00e4rungsbed\u00fcrfnis verlangt nat\u00fcrlich nach einer Vorstellung, wie etwa die einzelnen Qualit\u00e4ten entstanden sein k\u00f6nnen. Wir m\u00fcssen, um hierzu zu gelangen, einen sehr grofsen Sprung machen, wie das so oft in der Biologie notwendig ist, einen Sprung vom Geistigen zum K\u00f6rperlichen hin\u00fcber. Auch auf dem Gebiete des K\u00f6rperlichen ist unsere Kenntnis von dem Modus, wie eine neue Funktion oder eine neue oder abge\u00e4nderte Eigenschaft eines Organes sich entwickelt, recht mangelhaft. Es gibt nun eine Erscheinungsreihe, wo wir nicht gezwungen sind, rein historisch zu verfahren, sondern das Auftreten ganz neuer Eigenschaften im lebendigen K\u00f6rper durch experimentelle Eingriffe vor unseren eigenen Augen entstehen sehen k\u00f6nnen. Die neuere Immunit\u00e4tslehre hat uns derartige \u00fcberraschende Beob achtungen erm\u00f6glicht. Durch Injektionen der verschiedensten Eiweifsk\u00f6rper, Fermente, Toxine usw. gewinnen die S\u00e4fte und wohl auch die Zellen des Organismus ganz neue und spezifische Wirkungen, welche vorher gar nicht vorhanden waren, ja von denen es sogar ganz unverst\u00e4ndlich ist, dafs die Entwicklungsm\u00f6glichkeit dazu \u00fcberhaupt vorhanden ist. Denn viele dieser k\u00fcnstlich herbeigef\u00fchrten neuen Funktion bzw. Eigenschaften sind entstanden unter Bedingungen, von deren Vorgesehensein","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Das Gesetz d. spez. Sinnesenergie u. seine Beziehung zur Entwicklungslehre. 177\nim Bauplan der Organismen etwas zu ahnen nichts uns berechtigte. Wir sehen daher, dafs im Organismus aufser den realen aktiven Funktionen gewissermafsen auch noch virtuelle, schlummernde Funktionen vorhanden sind. Ich m\u00f6chte, um diesen einen Namen zu geben, dieselben als vitale Potenzen bezeichnen. Diese vitalen Potenzen entstehen, wie das Experiment uns lehrt, ganz sprunghaft, etwa so, wie sich nach der von de Vries begr\u00fcndeten Mutationslehre die Entwicklung der Organismen gestaltet. Ganz \u00e4hnlich hat man sich die Entstehung der einzelnen spezifischen Energie zu denken. In jenem gemeinsamen Boden, in dem die einzelnen Empfindungsqualit\u00e4ten wurzeln, sind auch die Bedingungen gegeben f\u00fcr die Entstehung aller m\u00f6glichen Qualit\u00e4ten je nach den Bed\u00fcrfnissen d\u00e9s Organismus. Die spezifischen Energien sind gewissermafsen, ehe sie in die be-wufste Erscheinung treten, im Nervensystem vorgebildet als virtuelle Energien. Die biologischen Erfordernisse des Organismus lassen sie, auf eine uns noch unbekannte Art, zur Entstehung gelangen. Die Hypothese, welche ich skizziert habe, vermag erstens zu veranschaulichen, wie jede einzelne Qualit\u00e4t, unabh\u00e4ngig von den anderen Qualit\u00e4ten, als etwas Autonomes und Urspr\u00fcngliches entstanden ist, und zweitens die Tatsache dem Verst\u00e4ndnis n\u00e4her zu r\u00fccken, dafs in Wahrheit der Qualit\u00e4tenkreis eine schier unbegrenzte Mannigfaltigkeit ist. Die Mannigfaltigkeit, welche der Farbensinn bei farbent\u00fcchtigen Individuen haben kann, ist bekannt. In recht zutreffender Weise scheint mir Nagel die Verh\u00e4ltnisse beim Geruchsinn geschildert zu haben: \u201eDer Geruchsinn nimmt darin eine Sonderstellung unter den Sinnen ein, dafs jeder Mensch t\u00e4glich in die L\u00e4ge kommen kann, neue Qualit\u00e4ten dieses Sinnes zu empfinden, d. h. neue Ger\u00fcche kennen zu lernen, die er bisher nie empfunden hat. Daraus ergibt sich schon, dafs im Geruchsorgan die Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen fast unendlich mannigfaltiger Empfindungen gegeben sind, die tats\u00e4chlich bei sehr vielen Menschen nur zu einem kleinen Teil wirklich einmal ausgel\u00f6st werden.\u201c Ich glaube, dafs die Hypothese, welche ich \u00fcber die Entstehungsm\u00f6glichkeit der einzelnen Qualit\u00e4ten gegeben habe, diese von Nagel dargelegten Verh\u00e4ltnisse dem Verst\u00e4ndnis erheblich n\u00e4her zu r\u00fccken vermag. Aus der von Wundt und anderen Gegn\u00e9rn der spezifischen Sinnes\u00e9n\u00e9rgie vertretenen Auffassung \u00fcber die angebliche Entwicklung der h\u00f6heren aus tieferen","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nLeon Asher.\nmehr allgemeineren Qualit\u00e4ten und \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit dieser Entwicklung von der Anpassung an die Reizvorg\u00e4nge der Aufsen-weit kann der Sachverhalt jedenfalls nicht erkl\u00e4rt werden.\nVon allen Seiten her betrachtet besteht das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie nach wie vor zu Recht. Keine Erfahrung und keine theoretische Betrachtungsweise, welche seit der Aufstellung dieses Gesetzes durch Johannes M\u00fcller zutage getreten ist, hat die G\u00fcltigkeit desselben ersch\u00fcttern k\u00f6nnen. Daher wird dasselbe auch fortfahren m\u00fcssen, den Ausgangspunkt zu bilden f\u00fcr die weitere Erforschung unserer Sinnesempfindung. Der Erforschung wird keineswegs durch Festhalten an diesem Gesetze ein Weg vorgeschrieben, wodurch dieselbe in enge Schranken gebannt und an ein Vordringen zu neuen Erkenntnissen gehemmt w\u00fcrde. Gleich wie die Erforschung des Lebendigen keinen Schaden gelitten hat, dafs wir verzichtet haben, das Lebende anders entstanden uns zu denken als wiederum aus lebendigem, vielmehr wir damit, soweit naturwissenschaftliche Erfahrung reicht, vollauf auskommen, ebenso d\u00fcrfte die Lehre, dafs die Empfindungen Sch\u00f6pfungen seien, die im Tr\u00e4ger der Empfindungen entstehen, allen Anforderungen der experimentellen Sinnesphysiologie gen\u00fcgen. Denn es ist derselbe Grundsatz, den wir mit Erfolg bei allen anderen Funktionen des Lebendigen anwenden.\nDie praktischen Folgen f\u00fcr diejenigen, welche das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie zur Grundlage der allgemeinen Sinnesphysiologie machen, sind nicht gering. In j\u00fcngster Zeit hat besonders Oehrwall in scharfsinniger Weise darauf aufmerksam gemacht, dafs die Klassifikation der einzelnen Sinne des Menschen ausschliefslich nach den Qualit\u00e4ten zu erfolgen habe. Schwierigkeiten entstehen erst da, wo es sich um die Abgrenzung dessen handelt, was Helmholtz als Modalit\u00e4t und Qualit\u00e4t unterschieden hat. Die HELMHOLTzschen Qualit\u00e4ten\nsind, wie sich Oehrwall ausgedr\u00fcckt hat, dadurch ausgezeichnet,\n\u2022 \u2022\ndafs man im Bewufstsein einen kontinuierlichen \u00dcbergang von der einen zur anderen beobachten kann ; s\u00e4mtliche derartige kontinuierlich zusammenh\u00e4ngende Qualit\u00e4ten geh\u00f6ren demnach einer und derselben Modalit\u00e4t, einem und demselben Sinne an. Die Modalit\u00e4ten hingegen w\u00e4ren diejenigen Bewufstseinsinhalte, welche g\u00e4nzlich voneinander verschieden, unvermittelt, ohne jeden \u00dcbergang bestehen. Diese Definitionen von Oehrwall","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"Das Gesetz d. spez. Sinnesenergie u. seine Beziehung zur Entwicklungslehre. 179\nhaben etwas sehr Ansprechendes und die praktische Anwendung, die er macht, f\u00fchrt zu einer recht konsequenten Einteilung der Sinne. Vielleicht w\u00e4re es aber in mancher Hinsicht einfacher, die Unterscheidung von Modalit\u00e4t und Qualit\u00e4t fallen zu lassen und nur von Qualit\u00e4ten zu reden. Die im Bewufstsein auftretenden Qualit\u00e4ten w\u00fcrden sich gliedern in solche, welche durch einen gemeinsamen Bestandteil etwas Verwandtes an sich h\u00e4tten, und solche, welche keinerlei Verwandtschaft mit irgend einer anderen bes\u00e4fsen. Alle Qualit\u00e4ten, welche einen gemeinsamen Empfindungsbestandteil erkennen lassen, geh\u00f6ren zu einem und demselben Sinn. Ohne weiteres ist ersichtlich, dafs allen Farbenempfindungen und allen Geh\u00f6rsempfindungen je ein gemeinsames Moment anhaftet ; ebenso leicht ist das gemeinsame in den Tast- oder Druckempfindungen nachweisbar. Hingegen ist das Fehlen irgend einer Gemeinsamkeit zwischen z. B. einer Farbenoder Druckempfindung ohne weiteres einleuchtend. Es k\u00f6nnte nach dem soeben Gesagten scheinen, als ob die Unterlassung der Unterscheidung zwischen Modalit\u00e4t und Qualit\u00e4t und die Ersetzung durch die Begriffe verwandte und nicht verwandte Qualit\u00e4ten, nur ein Unterschied in der Nomenklatur und nicht in der Sache sei. Das ist aber nicht der Fall. Schon bei der Analyse des Geschmack- und Geruchsinns zeigt sich ein Vorzug der hier vorgeschlagenen Einteilungsart vor der anderen. Es ist gar nicht leicht, die begrifflich so wohl definierte Einteilung von Oehrwall bei diesen Sinnen durchzuf\u00fchren, und tats\u00e4chlich haben einige Forscher als Modalit\u00e4t bezeichnet, was andere nur als Qualit\u00e4t gelten lassen. Es wurde oben gezeigt, dafs ein Empfindungselement, bis zu welchem man eigentlich f\u00fcr eine rationelle Einteilung vorzudringen h\u00e4tte, nur begrifflich und nicht tats\u00e4chlich realisierbar ist, und dafs die relative Isolierung einer einzelnen Qualit\u00e4t sehr erschwert ist durch eine Reihe von Bedingungen, welche gerade bei den niederen Sinnen am meisten vorhanden sind. Vieles bei diesen niederen Sinnen scheint verwandt und wird zum Qualit\u00e4tenkreis gerechnet, einfach weil nicht zur Qualit\u00e4t geh\u00f6rige Teile des Bewufstseinsinhaltes. mit der Qualit\u00e4t verkn\u00fcpft auftreten. Die betreffenden Qualit\u00e4ten aber, allein f\u00fcr sich untersucht, zeigen gar nichts Verwandtes. Andererseits mag der eine oder der andere Forscher das Gemeinsame oder Verwandte in zwei Qualit\u00e4ten nicht anerkannt haben, und sie deshalb zu den Modalit\u00e4ten gerechnet haben, weil wiederum","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nLeon Asher.\netwas, was nicht zum Qualit\u00e4tenkreise geh\u00f6rt und der Empfindung anhaftet, das Gemeinsame unterdr\u00fcckt hat. Noch viel wichtiger ist aber folgendes. Je zwei m\u00f6glichst voneinander isolierte Qualit\u00e4ten sind gleich verschieden, ob sie nun zu einem und demselben oder zu zwei verschiedenen Sinnen geh\u00f6ren. Es ist nur der Umstand, ob zu je zwei solchen Eindr\u00fccken etwas beiden Gemeinsames oder nicht Gemeinsames hinzutritt, der entscheidet ob man die Empfindungen als verwandt oder nicht verwandt bezeichnet. Demnach besteht der Unterschied zwischen den Modalit\u00e4ten und den Qualit\u00e4ten nicht in ihren letzten Elementen, die man in der Abstraktion isolieren kann, sondern in etwas drittem, was hinzutritt oder fehlt. Es scheint mir daher geratener, nur von Qualit\u00e4ten zu sprechen und von Qualit\u00e4ten mit gemeinsamen und nicht gemeinsamen Bestandteilen zu reden. Als Physiolog wird man das Bed\u00fcrfnis empfinden, diese Ausf\u00fchrungen nicht blofs als theoretische Betrachtungen gelten zu lassen, sondern sich auch einer praktischen Nutzanwendung derselben zu versichern. Jede Reaktion der nerv\u00f6sen Substanz auf einen \u00e4ufseren Anstofs wird eine spezifische sein, und u. a. die Entstehung einer bestimmten Qualit\u00e4t f\u00f6rdern. Je h\u00f6her entwickelt nun eine nerv\u00f6se Substanz ist, desto mehr wird sie bef\u00e4higt sein zur Ausl\u00f6sung verschiedener Qualit\u00e4ten; aber neben diesen verschiedenen Qualit\u00e4ten wird die zu ein und demselben Sinne geh\u00f6rende Nervensubstanz etwas Gemeinsames in der Reaktion haben, was auch in den zugeh\u00f6rigen Qualit\u00e4ten als Gemeinsames zum Ausdruck gelangt. Man sieht ferner, dafs die Unterlassung der Klassifizierung in Modalit\u00e4ten und Qualit\u00e4ten einen weiteren Einwand beseitigt, der gegen die allgemeine Durchf\u00fchrbarkeit des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergie erhoben wird. Man behauptet (z. B. Weinmann und Nagel), dafs das M\u00fcLLEitsche Prinzip durchbrochen wird, wenn es im Sinne von Helmholtz und Hering auf die Qualit\u00e4ten eines einzelnen Sinnesgebietes ausgedehnt wird. Es ist dem nicht so, weil die Qualit\u00e4ten desselben und zweier verschiedener Sinne, soweit sie sich in der Abstraktion isolieren lassen, einen gleich grofsen Unterschied voneinander zeigen.\nZum Schl\u00fcsse noch eine Bemerkung theoretischer Natur betreffend die allgemeine Sinnesphysiologie. Aus der Annahme, dafs im Tr\u00e4ger der Empfindung bzw. in dessen nerv\u00f6ser Substanz di\u00ab Bedingungen hegen f\u00fcr die Eigenart der Empfindung,","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"Das Gesetz d. spez. Sinnesenergie u. seine Beziehung zur Entwicklungslehre. 131\ndafs jede einzelne Sinnessubstanz ihre eigene Reaktion besitzt, folgt, dafs wir eine f\u00fcr ein bestimmtes Sinnesorgan g\u00fcltige Theorie nicht ohne weiteres auf ein anderes Sinnesorgan \u00fcbertragen d\u00fcrfen. Wenn irgendwo, so ist f\u00fcr die Sinnesempfindlingen Individualisierung und nicht Verallgemeinerung Gebot.\nLiteraturverzeichnis.\nP. Flechsig, Gehirn und Seele. Leipzig 1896.\nH. v. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik. Berlin 1896.\nE. Hering, \u00dcber die spezifische Energie des Nervensystems. Lotos. N. F., V, 1884.\nE. Mach, Analyse der Empfindungen. Jena 1902.\nJ. M\u00fcller, Handbuch der Physiologie des Menschen. Koblenz 1838.\nW. Nagel, Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien. Handbuch der Physiol, d. Menschen. Braunschweig 1905.\nDerselbe, Der Geruchsinn. Ebda.\nH. Oehrwall, \u00dcber die Modalit\u00e4ts- und Qualit\u00e4tsbegriffe in der Sinnesphysiologie. Skand. Arch. f. Physiologie II, 1901.\nJ. v. Uexk\u00fcll, Psychologie und Biologie in ihrer Stellung zur Tierseele. Ergebnisse der Physiologie II, 1902.\nR. Weinmann, Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien. Leipzig 1895. W. Wundt, Physiologische Psychologie. Leipzig 1902.\n(Eingegangen am 25. Mai 1906.)","page":181}],"identifier":"lit33402","issued":"1907","language":"de","pages":"157-181","startpages":"157","title":"Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie und seine Beziehung zur Entwicklungslehre","type":"Journal Article","volume":"41"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:21:21.877224+00:00"}

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