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{"created":"2022-01-31T14:42:05.454164+00:00","id":"lit33411","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Boswell, F. P.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 41: 119-126","fulltext":[{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"119\nIrradiation der Gesichtsempfindung.\nVon\nDr. F. P. Boswell.\nRochester, N. Y., U. S. A.\nIn den ersten Wintermonaten des Jahres 1904 war ich in\ndem psychologischen Laboratorium der Harvard-Universit\u00e4t mit\nArbeiten \u00fcber die Nachbilder bewegter Lichtquellen besch\u00e4ftigt.\nIm Laufe dieser Untersuchungen wurden Erscheinungen beob-\n\u2022 \u2022\nachtet, die wie mir schien, durch \u00dcbertragung des Erregungszustandes der Nervensubstanz in dem Sehorgan oder, wie man gew\u00f6hnlich sagt, durch Irradiation der Gesichtsempfindung erkl\u00e4rt werden konnten. Diese Erscheinungen lassen sich wohl am besten beobachten, wenn man, w\u00e4hrend das Auge einen Punkt fixiert, das Bild eines leuchtenden Gegenstandes \u00fcber die Netzhaut gleiten l\u00e4fst. Der Beobachter sieht nat\u00fcrlich, wenn ein solcher Gegenstand sich an seinen Augen vorbeibewegt, einen sich bewegenden Lichtstreifen, dessen vorderer Rand ann\u00e4hernd die Gestalt des vorderen Randes des Gegenstandes bietet, w\u00e4hrend der Rest aus einer Reihe von Nachbildern besteht, die oft in Form, Farbe und Helligkeit wesentlich voneinander abweichen. Der Vorteil dieser wohlbekannten Versuchsanordnung liegt darin, dafs die zeitlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Phasen der Erregung der Netzhaut sich \u00fcbertragen lassen auf die r\u00e4umlichen Beziehungen zwischen den Teilen des bewegten Lichtstreifens. Da n\u00e4mlich der leuchtende Gegenstand sich in einer Ebene vor dem Auge des Beobachters vorbeibewegt, so wird das Bild, dessen er sich zuerst bewufst wird, ihm auch r\u00e4umlich auf der Ebene voranzustehen scheinen. Der Beobachter hat also in der Reihe der Nachbilder die verschiedenen Phasen des Erregungszustandes vor sich ausgebreitet. Die Erscheinungen, die wir beobachtet haben, beziehen sich indessen","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nF. P. Bostvell.\nnur auf eine Phase des Erregungszustandes. Sie betreffen die scheinbaren Ver\u00e4nderungen der Gestalt des vorderen Randes des bewegten Bildes.\nDie leuchtenden Figuren, die als Erreger der Netzhaut gebraucht wurden, waren an dem Ende eines 2 m langen Pendels angebracht. Dieses Pendel bewegte sich in etwa 3 m Entfernung vor dem Auge des Beobachters hin und her. Die etwa 5 cm hohen Figuren wurden durch eine 15 cm lange\n\u00d6ffnung eines Schirms, der vor dem Pendel aufgestellt war, ___________ \u2022\u2022\nsichtbar. Das Bild der \u00d6ffnung in dem Schirm deckte auf der Netzhaut eine Winkelgr\u00f6fse von etwa 3 \u00b0. Die Bilder der Figuren, die allerdings verschieden grofs waren, deckten eine Winkelgr\u00f6fse von nicht mehr als 1 0 auf der Netzhaut. Die erregenden Figuren waren auswechselbar und unterschieden sich betr\u00e4chtlich nach Gestalt, Farbe und Helligkeit voneinander. Im Laufe der Versuche zeigte sich, dafs zur Beleuchtung der Figuren am besten ziemlich niedrige Lichtintensit\u00e4ten, bei weifsem Licht etwa die Intensit\u00e4t einer elektrischen Lampe von 8 Kerzen abgeblendet durch 3\u20148 Schichten matten Glases, angewendet werden. \u00dcber und unter der Bahn des bewegten Lichtstreifens waren zwei helle Fixationspunkte angeordnet, und das Auge wurde auf einen zwischen diesen Punkten liegenden gedachten Punkt gerichtet.\nAls nun das Pendel in Bewegung gesetzt worden war und die Figuren sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 35 cm in der Sekunde vorbeibewegten, wurden gewisse Ver\u00e4nderungen in der Gestalt des vorderen Randes der bewegten Bilder bemerkt. Eine kreisf\u00f6rmige Scheibe (Fig. la) erschien in der Form einer Mondsichel (Fig. lb). (Die Pfeile \u00fcber den Figuren zeigen die\nFig.\n1.\na\nb","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Irradiation der Gesichtsempfindung.\n121\nBewegungsrichtung an,) und zwar erschien der vordere Rand der Sichel st\u00e4rker gekr\u00fcmmt als das Kreissegment, dessen Abbild er war, und die Entfernung von einer Spitze der Sichel zur anderen l\u00e4nger als der Durchmesser der kreisf\u00f6rmigen Scheibe. Die Spitzen waren von blassen Lichth\u00f6fen umgeben, die sich nach aufsen und hinten in den dunklen Hintergrund hinein erstreckten. von Kries bemerkt1, dafs ein kreisf\u00f6rmiger bewegter Gegenstand als halbmondf\u00f6rmiges Bild mit konkavem hinteren Rand erscheint. Bei etwas erh\u00f6hter Geschwindigkeit der Bewegung konnten wir diese Erscheinung ebenfalls wahrnehmen. Dabei haben wir aber auch die schon erw\u00e4hnte st\u00e4rkere Kr\u00fcmmung des vorderen Randes, die vermehrte H\u00f6he des Bildes und die seitlich nachschleppenden Lichtb\u00fcschel an den Spitzen der Sichel beobachten k\u00f6nnen.\nUm wom\u00f6glich den Einflufs der Gestalt der Figur auf die Form des Bildes festzustellen, wendeten wir mehrere Figuren von verschiedenen Formen an. Eine l\u00e4ngliche an beiden Enden zugespitzte Figur nahm die Gestalt einer sehr stark gekr\u00fcmmten Mondsichel an. An einer sichelf\u00f6rmigen Figur (Fig. 2 a) zeigte sich eine sehr h\u00fcbsche Erscheinung. Wenn die Sichel sich mit ihrer konvexen Seite nach vorn (Fig. 2 b) bewegte, so erschien\na\tb c\nFig.'2.\nsie bedeutend st\u00e4rker gekr\u00fcmmt, bewegte sie sich dagegen mit ihrer konkaven Seite voran, so erschien sie viel gestreckter als die wirkliche Figur (Fig. 2 a). Eine einfache l\u00e4ngliche Figur\n1 y. Kries. \u00dcber die Wirkung kurzdauernder Lichtreize auf das Sehorgan. Diese Zeitschr. 12, S. 88. 1896.\t'\t-\u2022 -\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 41.\t9","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nF. F. Boswell.\n(Fig. 3 a) zeigte ebenfalls eine Kr\u00fcmmung des vorderen Randes und erschien unter gewissen Bedingungen fast in Sichelgestalt.\n\na\tb\nFig. 3.\nUnter den folgenden Voraussetzungen lassen sich, glaube ich, die scheinbaren Gestalt\u00e4nderungen der Figuren erkl\u00e4ren. Erstens m\u00fcssen wir annehmen, dafs der Erregungszustand der Nervensubstanz des Sehorgans sich von einem Teil der Netzhaut oder dem entsprechenden Teil des Zentralorgans auf den anderen bis zu einem gewissen Grade \u00fcbertr\u00e4gt. Jeder Punkt eines solchen Bildes wird dann nicht nur unmittelbar von der Lichtquelle gereizt werden, sondern der Reiz wird bis zu einem gewissen Grade von den umgebenden Punkten aus verst\u00e4rkt werden. Ein in der Mitte des Bildes liegender Punkt wird also f\u00fcr eine solche Verst\u00e4rkung der Erregung g\u00fcnstiger liegen als ein Punkt, der nach dem Rande des Bildes hingelegt ist. Denn hier ist jedes Bildteilchen nur von verh\u00e4ltnism\u00e4fsig wenigen anderen Teilchen umgeben, und diese liegen auch wesentlich nur in einer Richtung n\u00e4mlich nach der Mitte des Bildes hin. Zweitens nehmen wir an, dafs, da ein Teil der Figur eine besonders intensive Erregung der Nervensubstanz hervorruft, dieser Teil dem Beobachter auch schneller als andere. Teile der Figur zum Bewufstsein kommen wird. Dadurch w\u00fcrde die Wahrnehmung der einzelnen Teile sich der Zeit nach verschieben und scheinbare Form\u00e4nderungen der bewegten Figuren entstehen.\nDie l\u00e4ngliche Figur zum Beispiel w\u00fcrde mit ihrer Mitte die Netzhaut am heftigsten erregen und die Erregung w\u00fcrde nach den Enden des Bildes zu abnehmen. Wenn also die Figur an dem Beobachter vorbeischwingt, w\u00fcrde die Mitte des Bildes, die","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Irradiation der Gesichtsempfindung.\nihm zuerst zum Bewufstsein kommt, auch r\u00e4umlich am weitesten vorn erscheinen, w\u00e4hrend die nach den Enden zu liegenden Teile des Bildes sp\u00e4ter gesehen, und daher r\u00e4umlich weiter zur\u00fcckverlegt werden w\u00fcrden. Schliefslich w\u00fcrden die Enden selbst zuletzt wahrgenommen werden und auch am weitesten zur\u00fcckzuliegen scheinen, so dafs die ganze Figur nach vorn konvex gekr\u00fcmmt erscheinen w\u00fcrde, wie es auch tats\u00e4chlich der Fall ist.\nDafs von zwei Lichtquellen verschiedener Intensit\u00e4t die hellere dem Beobachter schneller zum Bewufstsein kommt als die schw\u00e4chere, ist ja selbstverst\u00e4ndlich eine wohlbekannte psychologische Tatsache. In dem vorliegenden Fall aber handelt es sich darum zu zeigen, dafs auch Lichtquellen, die in der Intensit\u00e4t nur sehr wenig voneinander abweichen, verschieden schnell wahrgenommen werden. Mit blofsem Auge ist es nicht m\u00f6glich, einen Unterschied in der Helligkeit der einzelnen Teile der angewendeten Figuren wahrzunehmen. Es m\u00fcfste also, falls die von mir vorgeschlagene Erkl\u00e4rung der beobachteten Erscheinungen richtig ist, nachgewiesen werden k\u00f6nnen, dafs Lichtquellen, deren Helligkeitsunterschied so gering ist, dafs er mit blofsem Auge nicht wahrgenommen wird, doch nacheinander und zwar in der Reihenfolge ihrer Helligkeiten in das Bewufstsein des Beobachters treten.\nDurch die folgenden Versuche glaube ich nun nachgewiesen zu haben, dafs von zwei Lichtquellen, deren Intensit\u00e4tsunterschied nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, die lichtstarkere zuerst in das Bewufstsein des Beobachters tritt, und, es scheint mir sehr wahrscheinlich, dafs die scheinbare Kr\u00fcmmung der Figuren auf der st\u00e4rkeren Erregung der Netzhaut durch die mittleren Teile des Bildes beruht, die durch die von den Enden des Bildes ausgehende Verst\u00e4rkung des Erregungszustandes der Nervensubstanz hervorgebracht wird.\nErster Versuch.\nIn dem ersten Versuch wurden drei Punkte von etwa 5 mm Durchmesser, die senkrecht \u00fcbereinander mit etwa 10 mm Abstand angeordnet waren, fixiert. An dieser Figur war keine Ver\u00e4nderung wahrzunehmen. Die Punkte bewegten sich an der \u00d6ffnung des Schirms genau senkrecht \u00fcbereinander vorbei. Vermutlich war die Entfernung zwischen ihnen so grofs, dafs keine \u00dcbertragung des Erregungszustandes stattfinden konnte. Als aber","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nF. P. Boswell.\nzwischen die beiden Endpunkte und den mittelsten noch je ein Punkt eingef\u00fcgt worden war (Fig. 4 a), erschien die Vorderseite der Punktreihe nicht mehr gerade, sondern ausgesprochen konvex, und zwar schien der mittelste Punkt etwa 10 mm vor den Endpunkten zu stehen (Fig. 4 b). Der einzige Unterschied\n<\na\tb\nFig. 4.\nin den Bedingungen dieser beiden Versuche war der, dafs bei der zweiten Anordnung Irradiation vermutlich stattfinden konnte, bei der ersten nicht,\nZweiter Versuch.\nDer zweite Versuch war eine Umkehrung des ersten und beweist, dafs wie ich angenommen hatte, auch Lichtquellen von fast gleicher Intensit\u00e4t doch verschieden schnell wahrgenommen werden. Es werden wieder wie vorher f\u00fcnf Punkte fixiert, von denen aber die mittleren soweit verdunkelt werden, dafs die bewegte Figur nicht mehr gekr\u00fcmmt, sondern senkrecht erschien. Dann wurde das Pendel angehalten und die Punktreihe genau betrachtet. Es liefs sich aber auf diese Weise kein Unterschied in der Helligkeit der mittleren und der Endpunkte wahrnehmen.\nDann wurde der zweite und der vierte Punkt bedeckt, so dafs\n\u2022 \u2022\nkeine \u00dcbertragung des Erregungszustandes mehr stattfinden konnte, das Pendel wurde abermals in Bewegung gesetzt, und nun schien der mittelste Punkt, statt in einer Reihe mit den beiden Endpunkten zu stehen, betr\u00e4chtlich hinter ihnen zur\u00fcckzubleiben. (Fig. 5.)","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Irradiation der Gesichtsempfindung.\n125\nAuch bei diesem Versuch war der einzige Unterschied in den Bedingungen der, dafs bei der ersten Anordnung Irradiation stattfinden konnte, bei der zweiten nicht mehr. In dem ersten Fall wurde vermutlich die Intensit\u00e4t des Bildes der mittleren Punkte durch Irradiation so verst\u00e4rkt, dafs sie ebenso schnell wahrgenommen wurden, wie die helleren Endpunkte. In dem zweiten Fall waren dagegen die drei Punkte soweit voneinander entfernt, dafs Irradiation wohl unm\u00f6glich war. Daher schien der mittelste Punkt, der tats\u00e4chlich weniger hell war und daher etwas sp\u00e4ter wahrgenommen wurde, als die beiden Endpunkte, hinter diesen zur\u00fcckzubleiben. Ferner wurde auch gefunden, dafs bei rechteckigen Figuren ebenso wie bei den Punktreihen durch passende Verdunkelung der Enden oder der Mitte die scheinbare Kr\u00fcmmung der Figuren vermehrt, ganz beseitigt oder auch in ihr Gegenteil verkehrt werden konnte.\nIm Laufe weiterer Untersuchungen mit diesen Figuren wurde gefunden, dafs die Kr\u00fcmmung einer solchen Figur sich \u00e4nderte, erstens mit der Geschwindigkeit ihrer Bewegung, zweitens mit der Intensit\u00e4t des Lichtreizes, drittens mit der Gr\u00f6fse des Netzhautbildes und viertens mit dessen Farbe; eine Figur von bestimmter Farbe und Lichtst\u00e4rke z. B. besafs einen anderen Grad von Kr\u00fcmmung als eine Figur von derselben Lichtst\u00e4rke aber einer anderen Farbe.\nWenn die Annahme richtig ist, dafs die scheinbaren r\u00e4umlichen Verschiebungen der Teile bewegter Figuren den Zeitr\u00e4umen entsprechen, die diese Teile gebrauchen, um in das Be-wulstsein des Beobachters zu gelangen, dann ist es denkbar, dafs von zwei Lichtquellen, die sich in der Helligkeit nur sehr wenig unterscheiden, die hellere um ein weniges schneller wahrgenommen wird als die dunklere. Man erh\u00e4lt auf diesem Wege zwar keine absoluten Werte f\u00fcr die Zeitr\u00e4ume, die n\u00f6tig sind, damit eine gegebene Lichtquelle wahrgenommen werde, wohl aber w\u00fcrde hier eine sehr feine Methode zur Vergleichung der Zeitr\u00e4ume gegeben sein, die zur Wahrnehmung von Lichtquellen fast gleicher Intensit\u00e4t n\u00f6tig sind.\nEine ausf\u00fchrlichere Beschreibung dieser Versuche findet der","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nF. P. Boswell.\nLeser in einem von mir in den \u201eHarvard Psychological Studies\u201c in englischer Sprache ver\u00f6ffentlichten Aufsatz (Vol. VII der \u201eMonograph Supplements of the Psychological Review).\nich m\u00f6chte nicht verfehlen, an dieser Stelle Herrn Professor Hugo M\u00fcnsterberg und Herrn Prof. Edwin B. Holt von der Harvard Universit\u00e4t f\u00fcr ihre freundliche Unterst\u00fctzung bei diesen Untersuchungen meinen verbindlichsten Dank auszusprechen. Auch den Herren Dr. Vaughan, Dr. Bell und Herrn Emerson, die mir bei den Versuchen als Beobachter dienten, sage ich meinen herzlichen Dank.\n(Eingegangen am 15. Februar 1906.)","page":126}],"identifier":"lit33411","issued":"1907","language":"de","pages":"119-126","startpages":"119","title":"Irradiation der Gesichtsempfindung","type":"Journal Article","volume":"41"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:42:05.454170+00:00"}