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{"created":"2022-01-31T16:14:35.758822+00:00","id":"lit33490","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Guttmann, Alfred","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 42: 24-64, 250-270","fulltext":[{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nUntersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\nVon\nDr. Alfred Guttmann (Berlin).\nAllgemeine Vorbemerkungen.\nDie ersten Mitteilungen \u00fcber meine im Herbst 1902 begonnenen \u201eUntersuchungen an sogenannten Farbenschwachen\u201c habe ich auf dem I. internationalen Psychologenkongrefs zu Giefsen Ostern 1904 gemacht. Die Resultate meiner seit nun. mehr 41/2 Jahren fortgesetzten Versuche im Zusammenhang zu ver\u00f6ffentlichen, hat mir bisher der Mut gefehlt. Fast jede neue Untersuchung brachte Tatsachen ans Licht, die sich mit den bisherigen Beobachtungen und theoretischen Anschauungen vielfach nicht deckten, Tatsachen, die h\u00e4ufig auch untereinander in einem zun\u00e4chst unl\u00f6sbaren Widerspruch zu stehen schienen. Erst in dem Mafse, wie es mir einerseits gelang, die einzelnen Symptome der Farbenschw\u00e4che zu isolieren und quantitativmessend zu bestimmen, andererseits die Beziehungen dieser Symptome untereinander zu erkennen, insofern sie sich zu einem gerade f\u00fcr die Farbenschw\u00e4che \u2014 und nur f\u00fcr diese \u2014 g\u00fcltigen Symptomenkomplex verkn\u00fcpfen, gewann ich Verst\u00e4ndnis f\u00fcr dies Problem. Meine Absicht war, diese Anomalie m\u00f6glichst nach allen Richtungen zu erforschen und dann in einer Monographie zu beschreiben. Ich habe diesen Plan aufgeben m\u00fcssen: einmal habe ich eingesehen, dafs dar\u00fcber noch Jahre vergehen w\u00fcrden, zweitens haben sich seit meiner ersten, vorl\u00e4ufigen Publikation eine gr\u00f6fsere Anzahl von Arbeiten anderer Autoren so h\u00e4ufig auf meine Untersuchungen bezogen, dafs ich verpflichtet bin, nun auch die zahlenm\u00e4fsigen Beweise f\u00fcr meine Behauptungen zu erbringen. Schliefslich aber \u2014 und das ist f\u00fcr mich ein sehr wichtiger Grund, meine Ergebnisse jetzt zu ver\u00f6ffentlichen \u2014 habe ich durch Massenuntersuchungen die","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n25\n\u00dcberzeugung gewonnen, dafs diese Farbenschw\u00e4che ungemein h\u00e4ufig, wohl etwa bei 4% aller M\u00e4nner, sich findet und in sozialer Hinsicht so wichtig ist, dafs die weitere Kenntnis ihres Symptomenkomplexes von allergr\u00f6fster Bedeutung ist.\nGegen diese Gr\u00fcnde mufs mein Wunsch zur\u00fccktreten, dieses Problem noch weiter durchzuarbeiten, es auch in theoretischer Hinsicht zu f\u00f6rdern und erst dann zu ver\u00f6ffentlichen. Mehr noch wie vor einigen Jahren, wo unsere ersten Farbentheoretiker, ich nenne den Physiologen von Kries und den Psychologen G. E. M\u00fcller, auf die immer komplizierter werdenden Verh\u00e4ltnisse in unseren Kenntnissen und Meinungen \u00fcber die Farbenempfindungen hinwiesen, ist heute alles im Fliefsen : was wir fast f\u00fcr dogmatisch fixiert halten durften, wird durch neuere, mit besseren Hilfsmitteln und wachsender Erkenntnis ausgef\u00fchrten Untersuchungen umgest\u00fcrzt. Darum scheue ich mich nicht, hier eine Anzahl, wie ich glaube, wichtiger und geeigneter Bausteine herbeizutragen und sie f\u00fcr einen sp\u00e4teren Baumeister aufzuschichten, der die L\u00fccken auszuf\u00fcllen und das Bauwerk einer alle Erscheinungen der Farbenempfindungen erkl\u00e4renden Theorie aufzurichten den genialen Blick haben wird. Wenn meine Arbeit zum Fundament mit benutzbar sein sollte, so ist ihr Zweck erf\u00fcllt.\nEinleitung.\nDie kleine Ver\u00e4nderung, die der jetzige Titel meiner Arbeit gegen die urspr\u00fcngliche Formulierung meines im Wintersemester 1903/4 verfafsten Vortrags1 erfahren hat, bedeutet keine Ver\u00e4nderung meiner Anschauungen, sondern eine Erweiterung. Ich hatte am Schlufs des Autoreferats folgendes gesagt: \u201eOb Farbenschw\u00e4che mit anomaler Trichromasie identisch ist, oder unabh\u00e4ngig von ihr, also ohne sie, Vorkommen kann, kann ich nicht entscheiden. Die (sc. von mir) untersuchten Personen mit verd\u00e4chtigem Farbensinn waren s\u00e4mtlich Farbenblinde oder anomale Trichromaten.\u201c Ich kann heute, wo ich \u00fcber 3000 Personen auf Farbensinnst\u00f6rungen untersucht habe, hinzuf\u00fcgen, dafs ich den obigen Satz ausnahmslos best\u00e4tigt fand und nunmehr diese Identit\u00e4t von Farbenschw\u00e4che und anomaler Trichromasie annehme.\n1 Alfred Guttmann : Untersuchungen an sogenannten Farbenschwachen. Bericht \u00fcb. d. I. Kongrefs f. exper. Psychol. Leipzig, J. A. Barth. 1904.","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nAlfred Guttmann.\nZun\u00e4chst scheinen mir einige Er\u00f6rterungen \u00fcber Definition und Geschichte des Begriffs \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c n\u00f6tig. W\u00e4hrend man seit Daltons grundlegender Entdeckung sich daran gew\u00f6hnt hat, unter dem Begriff \u201eFarbenblindheit\u201c die \u201epartielle Farbenblindheit\u201c, also Dichromasie (nach der Helmholtz-K\u00dfiEsschen Terminologie) oder Botgr\u00fcnblindheit resp. Blaugelbblindheit (nach Hering \u2014 M\u00fcller) zu verstehen, dagegen die eigentliche Farbenblindheit, die sehr seltene Monochromasie\n\u00f6\t7\n(Achromasie), immer als \u201etotale Farbenblindheit\u201c zu bezeichnen \u2014 herrscht grofse Uneinigkeit \u00fcber den Terminus \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c. In der Literatur sind eine Anzahl v\u00f6llig heterogener F\u00e4lle unter dem Sammelnamen \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c oder \u201eherabgesetzter (bzw. unvollkommener) Farbensinn\u201c sub-summiert. Das allen diesen F\u00e4llen gemeinsame Moment ist negativer Natur : weder sind diese Personen \u201efarbent\u00fcchtig\u201c, noch geh\u00f6ren sie einer der wohl definierten und differenzierten Gruppen der \u201eFarbenblinden\u201c an. Scheiden wir, aus rein logischen Gr\u00fcnden, zun\u00e4chst jene F\u00e4lle aus, deren Farbensinn zwischen dem der \u201epartiell Farbenblinden\u201c und der \u201etotal Farbenblinden\u201c steht. Diese Personen (wie sie von Hering, von Vintschgau, K\u00f6nig, Wehrli, Piper und dem Verfasser beobachtet und beschrieben worden sind) werden manchmal als \u201efarbenschwach\u201c bezeichnet. Aber es handelt sich hier um einige, \u00fcbrigens sehr seltene F\u00e4lle, deren Farbensinn eine Minderwertigkeit in dem Sinne zeigt, dafs er noch jenseits der \u201eFarbenblindheit\u201c in der Richtung nach der \u201etotalen Farbenblindheit\u201c zu rangiert. Unter dem Begriff der \u201eSchw\u00e4che\u201c eines Sinnes kann man doch aber nur eine Herabsetzung seiner Funktion, nicht deren Ausfall verstehen. Entspricht aber nun schon die einfache, partielle Farbenblindheit dem Ausfall der betreffenden Funktion, die totale Farbenblindheit hingegen dem Ausfall aller dieser Funktionen, so ist klar, dafs der Ausdruck \u201eSchw\u00e4che des Farbensinns\u201c\nf\u00fcr einen zwischen diesen beiden letzten Arten der Farbenblind-\n\u2022 \u2022\nheit stehenden Zustand unangebracht ist. \u00dcbrig blieben demnach f\u00fcr die Bezeichnung \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c nur diejenigen F\u00e4lle, die zwischen den Farbent\u00fcchtigen, mit normalem Farbensinn ausger\u00fcsteten Menschen einerseits und den \u201epartiell Farbenblinden\u201c andererseits stehen.\nDerartige F\u00e4lle waren, ebenfalls wenig zahlreich, wissenschaftlich beschrieben. Viel h\u00e4ufiger findet man in der Literatur","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n27\ndie Erw\u00e4hnung von eigenartigen Abweichungen im Farbensinn mancher, zweifellos nicht farbenblinder Personen. Dafs diese \u201everd\u00e4chtigen\u201c F\u00e4lle nicht eher als zusammengeh\u00f6rig erkannt worden sind, beruht auf zwei Gr\u00fcnden : einmal auf der mangelnden Kenntnis des diesen farbenschwachen Individuen gemeinsamen Symptomenkomplexes, sodann auf dem hieraus folgenden Mangel einer allgemeiner anwendbaren, diagnostischen Methode. Die fr\u00fcheren diagnostischen Methoden haben also die Farbenschwachen zum Teil zu den F\u00e4rb en t\u00fcchtigen, zum Teil zu den (partiell) Farbenblinden gerechnet. (N\u00e4heres in Prof. Nagels Arbeit S. 247\u2014249.)1\nDie einzige zuverl\u00e4ssige Methode, um einen von der Norm abweichenden Farbensinn zu studieren, beruht auf der M\u00f6glichkeit, ihn mit physikalisch genau bestimmbaren Farben und den durch Mischungen der Farben gewonnenen \u201eGleichungen\u201c zu pr\u00fcfen. So geht man von den physikalisch feststehenden, also durch theoretische Deduktionen unangreifbaren \u201eGesetzen der Lichtmischung\u201c aus, deren Kenntnis wir Newton, Grassmann, Helmholtz u. a. verdanken. Wir messen an diesem Mafsstab die Empfindungen; da die Zahl der qualitativ verschiedenen Empfindungen erheblich geringer ist, als die Zahl der verschiedenen physikalischen Reize, ist das sehr wohl m\u00f6glich. Ferner : so unsicher im allgemeinen der Schlufs von einem Farbenurteil auf die zugrunde liegende Empfindung ist, so sicher ist der Schlufs, wenn die Versuchsperson nur dar\u00fcber ein Urteil abgeben soll, ob zwei Dinge (Farben) gleich oder ungleich seien. Wenn jemand eine (gelbe) Farbe \u201egelb\u201c benennt, erlaubt uns das nicht, den Schlufs zu ziehen, dafs er sie als qualitativ verschieden von Orange und Gr\u00fcn empfindet; wenn dagegen jemand zwei nebeneinander befindliche, dem normalen Farbensinn gleich scheinende, gelbe Farben (von denen die eine aus homogenem, gelbem Licht besteht, die andere aus der Mischung zweier homogenen Lichter zu Gelb gewonnen ist) \u201eungleich\u201c nennt, so kann man aus diesem, vom Normalen abweichenden Urteil uneingeschr\u00e4nkt auf eine vom Normalen abweichende Empfindung schliefsen. Ebenso, wenn jemand zwei, dem Normalen ungleich scheinende Farben f\u00fcr gleich h\u00e4lt.\n1 W. A. Nagel: Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik der angeborenen St\u00f6rungen des Farbensinns. Diese Zeitschrift 41, Heft 4 u. 5.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nAlfred Guttmann.\nAuf diesem Prinzip beruht die Untersuchung am Spektralfarbenmischapparat, wie sie Lord Rayleigh 1 eingef\u00fchrt hat. Vor rund einem Vierteljahrhundert stellte er eine \u201eGleichung\u201c in seinem Farbenmischapparat her, die auf der einen Seite des zu betrachtenden Feldes ein homogenes gelbes Licht (etwa der FRAUNHOEERschen B- Linie entsprechend), auf der anderen die gelb aussehende Mischung eines roten und eines gr\u00fcnen Lichtes zeigte. Diese in Farbe, Helligkeit und S\u00e4ttigung f\u00fcr den Normalen v\u00f6llig gleichen Fl\u00e4chen erschienen nun 5 seiner Versuchspersonen v\u00f6llig ungleich, die Gelbmischung hielten sie f\u00fcr rot, das homogene Gelb erschien ihnen gr\u00fcn; f\u00fcr 2 weitere Personen erschien die RAYLEiGHsche Gleichung im entgegengesetzten Sinne falsch. Rayleigh erkl\u00e4rte den Farbensinn dieser Personen f\u00fcr \u201eim \u00fcbrigen normal\u201c. Wenige Jahre darauf pr\u00fcfte Donders1 2 diese Angaben nach. (Statt der von Rayleigh nicht bestimmt angegebenen Wellenl\u00e4ngen der verwendeten Lichter nahm Donders als homogenes Licht ein Gelb von 589 das der Lage der Natriumlinie entspricht, zur Gelbmischung benutzte er ein Rot von 670,5 das durch die Lithiumlinie bestimmt wird, und ein Gr\u00fcn von 535 das durch die Linie des Thalliums bestimmt wird. Dies war in diagnostischer Hinsicht eine erhebliche Verbesserung der RAYLEiGHschen Gleichung, wie Donders selbst hervorhob. Die von Rayleigh gefundenen Kategorien von Personen sind n\u00e4mlich, wenn man die Wellenl\u00e4ngen der Mischungslichter auch nur wenig anders w\u00e4hlt, als Donders angab, nicht mit Sicherheit zu finden. Das von Rayleigh angegebene Mischungsverh\u00e4ltnis von Rot: Gr\u00fcn gilt eben nur f\u00fcr die Wellenl\u00e4ngen des Rot und des Gr\u00fcn, die Rayleigh selbst angewendet hat. Es ist mir bei vielhundertfachen Einstellungen der Gleichung durch derartige Personen nicht m\u00f6glich gewesen, \u00fcbereinstimmende Resultate zu erhalten, wenn nicht die Komponenten der Mischung genau hergestellt worden waren. Da seit Donders die sogenannte \u201eRayleigh-Gleichung\u201c immer in der Form Li:T = Na angewendet wird, w\u00e4re es wohl auch der historischen Gerechtigkeit entsprechend, diese wichtigste diagnostische Gleichung \u201eRayleigh-Donders Gleichung\u201c zu nennen.) Donders fand ebenfalls derartige Per-\n1\tRayleigh: Experiments of colour. Nature XXV, S. 64ff., 1881.\n2\tDonders: Farbengleichungen. Archiv f. Anat. u. Physiol. Phys. Abt. 1884, S. 518 ff.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n29\nsonen, und zwar im ganzen 10. Die fast \u00fcberall in der Literatur stehende Angabe, er habe unter 60 Untersuchten nur 4 gefunden, ist nur insofern richtig, als sich das als das Resultat einer, im kleinsten Mafstabe angelegten Statistik ergab. Dondees gewann jedoch bei der Untersuchung dieser 4 Personen den Eindruck, dafs sie einen \u201eherabgesetzten Farbensinn\u201c hatten; dies veran-lafste ihn, eine Anzahl von Personen, deren herabgesetzter Farbensinn ihm von fr\u00fcher her bekannt war, nachzuuntersuchen, und nun fand er darunter weitere 5 dieser Kategorie angeh\u00f6rige Personen; auch eine 6. Person, deren Farbensinn jedoch \u201eso gut wie normal\u201c war, geh\u00f6rte zu dieser Gruppe. Der n\u00e4chste Forscher, der sich n\u00e4her mit diesen Personen besch\u00e4ftigte, war K\u00f6nig.1 Er fand unter 70 Personen 3. Fr schlug den Namen \u201eanomale trichro-matische Farbensysteme\u201c vor. Damit soll ausgedr\u00fcckt werden, dafs man f\u00fcr diese Personen nicht, wie f\u00fcr die Farbenblinden (Dichromaten), durch Mischung zweier geeignet gew\u00e4hlter Farben den Eindruck jedes beliebigen Lichtes hervorrufen kann, sondern dafs auch f\u00fcr sie, wie f\u00fcr die Farbent\u00fcchtigen, eine dreifach bestimmte Mannigfaltigkeit besteht: sie sind also \u201eTrichromaten\u201c. Von den \u201enormalen Trichromaten\u201c unterscheiden sie sich dadurch, dafs die Verteilung der Reiz werte im Spektrum f\u00fcr sie anders ist.2 K\u00f6nig schlofs sich der DoNDEESschen Auffassung von dem \u201eherabgesetzten Farbensinn\u201c der anomalen Trichromaten nicht an. Auf seine Gr\u00fcnde werde ich sp\u00e4ter einzugehen haben. Auch die folgenden Forscher, die sich mit dieser Anomalie besch\u00e4ftigten, stehen ausnahmslos auf dem Standpunkt Rayleighs und K\u00f6nigs, dafs die anomalen Trichromaten keinen \u201eschwachen Farbensinn\u201c besitzen. Ich nenne in erster Linie von Keies, der in \u201eseinen Beobachtungen hierf\u00fcr keinen Anhalt gefunden hat\u201c, wie er es noch zuletzt in seiner grofsen Arbeit \u00fcber \u201edie Gesichtsempfindungen\u201c in Nagels Handbuch der Physiologie3 formuliert\n1\tK\u00f6nig: Gesammelte Abhandlungen zur physiol. Optik. Leipzig, Joh. Arnbr. Barth. 1903.\n2\tDer von K\u00f6nig vor geschlagene Name beruht \u00fcbrigens auf der Voraussetzung einer \u201eeinzigen, aufserdem scharf abgegrenzten\u201c derartigen Gruppe. \u201eFinden sich, f\u00e4hrt K\u00f6nig fort, sp\u00e4ter mehrere derartige von der grofsen Mehrzahl abweichende Gruppen, so ist nat\u00fcrlich eine andere Bezeichnung zu w\u00e4hlen\u201c. A. a. O. S. 267.\n3\tHandbuch der Physiol, des Menschen, herausg. von W. A. Nagel, bei Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig 1904. Band III, erste H\u00e4lfte, S. 109\u2014282.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nAlfred Giittmann.\nh\u00e0t (S. 126). Im selben Sinne haben sich die KniES-Sch\u00fcler Lotze und Levy, selbst anomale Trichromaten, ge\u00e4ufsert. Letzterem geb\u00fchrt das Verdienst, die schon von Rayleigh entdeckte, aber wieder vergessene, zweite Form der anomalen Trichromasie an sich selbst genauer studiert zu haben.1\nIm Gegensatz zu dieser Auffassung steht die Meinung, die Professor Nagel und Verfasser seit mehreren Jahren vertreten, dafs n\u00e4mlich die anomalen Trichromaten ausnahmslos einen herabgesetzten Farbensinn haben. Diese Auffassung schliefst sich also der von Donders an, erweitert sie jedoch recht erheblich auf Grund neuer Versuchsergebnisse. Die Ansicht des Verfassers geht noch dahin, dafs alle Personen mit herabgesetztem Farbensinn, soweit sie nicht Dichromaten sind, anomale Trichromaten sind. Ich habe wenigstens unter mehreren tausend untersuchten Personen noch nie einen Fall von \u201evermindertem Farbensinn\u201c gesehen, der sich nicht bei n\u00e4herer Untersuchung mittels des Spektralapparates als \u201eanomaler Trichromat\u201c entpuppt h\u00e4tte. Wenn also von anderer Seite ein \u201efarbenschwaches, aber normales\u201c Individuum gefunden werden sollte, so w\u00fcrde ich das nur dann f\u00fcr bewiesen halten, wenn mittels spektraler Untersuchungen zugleich gezeigt w\u00fcrde, dafs f\u00fcr den Betreffenden der Reiz wert der spektralen Lichter resp. ihrer Mischungen normal ist. Einer falschen Diagnose ist durch die komplizierten Verh\u00e4ltnisse, wie sie bei der anomalen Trichromasie vorliegen, Tor und T\u00fcr ge\u00f6ffnet. Nur wenn der Untersucher die im folgenden zu beschreibenden Symptome und die sich ergebenden diagnostischen Kautelen genau kennt, wird er mit einiger Sicherheit eine richtige Diagnose stellen k\u00f6nnen. Jede auf andere Weise gestellte Diagnose w\u00fcrde ich nicht f\u00fcr bewiesen halten, da aufser durch \u201eFarbengleichungen\u201c die beiden Formen der bisher bekannten Gruppen anomaler Trichromaten nicht mit Sicherheit erkannt werden k\u00f6nnen.2 Zu ber\u00fccksichtigen ist allerdings, dafs es noch eine dritte Gruppe geben\n1\tMax Levy: \u00dcber einen zweiten Typus des anomalen triebromatischen Farbensystems. Dissert. Freiburg i. B., Speyer & Kaerner. 1903.\n2\tleb spreche hier nat\u00fcrlich von rein wissenschaftlicher Erkennung der anomalen Trichromaten. Die Diagnostizierung eines minderwertigen Farbensinnes f\u00fcr die Praxis unterliegt wesentlich anderen Bedingungen, wie Prof. Dr. Nagel in dieser Zeitschr. (41, besonders S. 249 ff.) ausgef\u00fchrt hat.","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n31\nkann, wo unsere bisherigen Kenntnisse versagen. Wir kennen bisher nur die zwei Gruppen von anomalen Trichromaten, die Rayleigh entdeckt hat. Wie ich in meinem Vortrag auf dem Kongrefs in Giefsen sagte, \u201ebilden sie gewissermafsen Ahnlichkeits-gruppen zu den beiden Typen der Farbenblinden. Ob es noch eine dritte Gruppe gibt, die das Analogon zum Tritanopen (Blaugelbblinden) bildet, ist z. Z. unbekannt, aber m\u00f6glich. Wie sich dieser hypothetische dritte Typus der anomalen Trichromaten verhalten w\u00fcrde, l\u00e4fst sich ebensowenig a priori Voraussagen, wie sich der Farbensinn der vorher erkannten Arten h\u00e4tte theoretisch reduzieren lassen. Ebensowenig l\u00e4fst sich etwas dar\u00fcber sagen, wie man das diagnostizieren soll.\u201c Es ist in der Tat h\u00f6chst wahrscheinlich, dafs, ebenso wie es drei Arten von Farbenblindheit (im Sinne der HELMHOLTZ-KaiESschen Auffassung) gibt, es drei, nicht zwei Arten von Farbenschw\u00e4che gibt. M\u00f6glicherweise haben manche Forscher (wie K\u00f6nig1, Knies, und Levy), derartige F\u00e4lle schon selbst in H\u00e4nden gehabt, ohne, mangels jeder diagnostischen Anschauung dar\u00fcber, sie erkannt zu haben. (Man hat offenbar auf manche Dinge im Gebiet dieser Anomalie bisher zu wenig geachtet und sich zuviel auf gewisse Fragen, wie z. B. Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farben u. dergl. beschr\u00e4nkt. Nur so ist es ja zu verstehen, dafs die Form der anomalen Trichromasie, wie sie Dr. Levy darstellt, fast v\u00f6llig unbeachtet blieb. Da ich derartige Personen beinahe ebenso h\u00e4ufig finde wie die der anderen Form, so halte ich es f\u00fcr sehr wahrscheinlich, dafs sie auch von anderen Forschern oft h\u00e4tten beobachtet werden k\u00f6nnen, bevor v. Kries in Dr. L. einen solchen fand.) Bei der Publikation eines von mir untersuchten Falles, in dem ich eine Gr\u00fcnblindheit2 (Deuteranopie) und eine Schw\u00e4che der Gelb- und Blauempfindung (Violettschw\u00e4che) neben anderem nachweisen konnte, sprach ich die Vermutung aus, \u201edafs hier m\u00f6glicherweise, verdeckt durch Komplikation mit Deuteranopie,\n1\tK\u00f6nig erw\u00e4hnt in einer Anmerkung einen Fall, dessen Spektralfarbenbezeichnungen mit denen der Yiolettblinden \u201evollkommen \u00fcbereinstimmten\u201c, sein Farbensystem war jedoch trichromatisch, wich aber von den K\u00f6nig bekannten trichromatischen Systemen \u201esehr betr\u00e4chtlich\u201c ab. Zu v\u00f6lliger Sicherheit und Klarheit kam K\u00f6nig infolge h\u00e4ufiger Widerspr\u00fcche in den Angaben u. a. nicht (a. a. O. S. 232).\n2\tAlfred Guttmann: Ein Fall von Gr\u00fcnblindheit (Deuteranopie) mit ungew\u00f6hnlichen Komplikationen. Diese Zeitschrift 41, S. 45 ff.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nAlfred Guttmann.\ndie dritte Form der anomalen Trichromasie vorliegen k\u00f6nnte\u201c. Ebenso haben Nagel und Collin einen Fall von (traumatisch entstandener) Violettblindheit publiziert, der im Heilungsverlaufe auch \u201eViolettschw\u00e4che\u201c-Symptome zeigte.1 Nachdem Prof. Nagel neuerdings seine Beobachtungen \u00fcber die eigent\u00fcmliche Verbindung zwischen einem clichromatischen und einer Art anomal-trichro-matischem Farbenapparat in seinem Auge ver\u00f6ffentlicht hat2, gewinnt meine Vermutung an Wahrscheinlichkeit. Eine Nachpr\u00fcfung ist mir leider unm\u00f6glich, da meine Versuchsperson nicht mehr hier lebt. Ob vielleicht die damals von mir konstatierte, mir unerkl\u00e4rliche Herabsetzung der Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Helligkeiten pathognostisch f\u00fcr die dritte Form der Farbenschw\u00e4che ist? Jedenfalls mufs bei der Suche nach der dritten Form der anomalen Trichromasie ber\u00fccksichtigt werden, dafs die RAYLEiGH-DoNDERSsche Gleichung daf\u00fcr nicht ausreicht. Mit ihr kann man nur die Normalen von den beiden bisher bekannten Typen der Anomalen differenzieren, bzw. diese beiden voneinander trennen. Wenn also ein \u201eFarbenschwacher\u201c die Normalen-Mischungs-Gleichung anerkennt, die der beiden Ano-malenarten aber verwirft, so ist damit noch nichts anderes bewiesen, als dafs er den beiden bisher bekannten Typen der Anomalen nicht angeh\u00f6rt. Er k\u00f6nnte trotzdem dem dritten Typus zugeh\u00f6ren. Diese diagnostische Gleichung ber\u00fccksichtigt eben nur die beiden ersten Komponenten, und f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn resp. ihr Verh\u00e4ltnis k\u00f6nnte der Farbensinn des hypothetischen dritten Typus dem des Normalen gleichen, w\u00e4hrend er im Blau resp. Violett ab weichen w\u00fcrde.\nDie Bezeichnungen, mit denen die beiden jetzt bekannten Gruppen der anomalen Trichromaten voneinander geschieden werden sollen, sind von v. Kries eingef\u00fchrt und scheinbar widerspruchslos acceptiert worden. Ich kann sie nicht f\u00fcr gl\u00fccklich gew\u00e4hlt halten. Der eine KRiESsche Vorschlag geht dahin, die zuerst n\u00e4her untersuchte Gruppe als \u201eerste Form der anomalen trichromatischen Systeme\u201c, die andere, von Levy genauer beschriebene, als \u201edie zweite Form der usw.\u201c zu bezeichnen. Da aber v. Kries selbst in seiner Termino-\n1\tCollin und W. A. Nagel: Erworbene Tritanopie (Violettblindbeit). Diese Zeitschrift 41, S. 74ft\n2\ta. a. 0. Teil IL","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n33\nlogie der Dichromaten sich nicht nach historischen R\u00fccksichten richtet, halte ich es f\u00fcr unzweckm\u00e4fsig, hier andere Kriterien einzuf\u00fchren, als bei den den Anomalen verwandten Dichromaten. Zudem entspr\u00e4che gerade dem \u201eProtanopen\u201c die \u201ezweite Form der Anomalen\u201c, dem \u201eDeuteranopen\u201c die \u201eerste Form\u201c \u2014 die Verwechslung wird dadurch sehr beg\u00fcnstigt. Die f\u00fcr den Sinnesphysiologen sehr einleuchtende und von v. Keies klar begr\u00fcndete Wahl der Ausdr\u00fccke \u201eProtanop\u201c und \u201eDeuteranop\u201c hat sich leider nicht eingeb\u00fcrgert. Um selbst im Kreise der Psychologen, die sich mit diesen Problemen besch\u00e4ftigen, verstanden zu werden, mufs man die, wenn auch mifsverst\u00e4ndlichen Bezeichnungen \u201erotblind\u201c und \u201egr\u00fcnblind\u201c in Klammern zum mindesten hinzuf\u00fcgen, wenn man von \u201eProtanopen\u201c und \u201eDeuteranopen\u201c schreibt. In Fachkreisen1 versteht man die deutschen Ausdr\u00fccke jetzt richtig dahin, dafs der Rotblinde eben nicht nur f\u00fcr Rot allein, der Gr\u00fcnblinde f\u00fcr Gr\u00fcn allein \u201eblind\u201c ist, sondern dafs Beide \u201eRot-Gr\u00fcn-VerWechsler\u201c sind2; bei dem Einen ist der Reizwert des roten Lichtes im Vergleich zu dem des gr\u00fcnen herabgesetzt, bei dem Anderen besteht das umgekehrte Verh\u00e4ltnis. In ganz \u00e4hnlicher Weise unterscheiden sich auch die beiden Typen der Anomalen, v. Keies macht nun der von ihm bek\u00e4mpften Terminologie selber eine Konzession, wenn er in zweiter Linie f\u00fcr die zwei Gruppen die \u201ek\u00fcrzeren und bezeichnenderen\u201c Namen der \u201eGr\u00fcnanomalen\u201c und \u201eRotanomalen\u201c vorschl\u00e4gt. Diese Nomenklatur ist schon aus sprachlichen Gr\u00fcnden angreifbar: die Bezeichnung \u201eprotanop\u201c ist sprachlich ebensogut, wie die Bezeichnung \u201erotblind\u201c ; dagegen ist die Vermengung des deutschen Farbennamens mit dem griechischen avcopalo\u00e7, das auf Deutsch \u201eungesetzlich\u201c heilst, nach meinem Sprachgef\u00fchl unm\u00f6glich. Die Anf\u00fcgung des Wortes \u201eanomal\u201c ent-\n1\tDas Bedenken, das v. Kries gegen die Mifsverst\u00e4ndlichkeit des Ausdrucks f\u00fcr Laien hegt, halte ich nicht f\u00fcr sehr wichtig. Ich habe in den Kreisen der gebildeten Laien, die sich mit den Fragen am meisten besch\u00e4ftigen, n\u00e4mlich unter Malern, eine derartige Unkenntnis und Verst\u00e4ndnislosigkeit f\u00fcr die einfachsten Probleme im Gebiet der Farbenempfindungen gefunden, dafs ich eine \u00c4nderung dieser Interesse- und Verst\u00e4ndnislosigkeit auch durch die beste Terminologie nicht erhoffe. Das Gros des Laienpublikums kommt nat\u00fcrlich noch weniger in Betracht.\n2\tDiese Bezeichnung wurde von K\u00f6nig schon 1884 vorgeschlagen (a. a. O. S. 12).\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 42.\n3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nAlfred Guttmann.\nspringt zudem dem Gedankenkreis und den Voraussetzungen der Dreikomponententheorie, da es der K\u00f6Nioschen Terminologie der \u201eanomalen Trichromasie\u201c entnommen ist. Darum k\u00f6nnten die Anh\u00e4nger der \u201eVierfarbentheorien\u201c diesen Ausdruck ablehnen, da er schon gewisse, von ihnen bestrittene, theoretische Voraussetzungen enth\u00e4lt. Ich w\u00fcrde somit Vorschl\u00e4gen, ein deutsches Wort zu w\u00e4hlen, das einmal anzeigt, dafs es sich um eine \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c, keine \u201eFarbenblindheit\u201c handelt, das ferner darauf hinweist, dafs diese Schw\u00e4che in einem Fall vorzugsweise das Rot, im anderen das Gr\u00fcn betrifft und das drittens keinerlei theoretische Voraussetzungen bedingt. Ich schlage somit die Ausdr\u00fccke \u201eRotschw\u00e4che\u201c und \u201eGr\u00fcnschw\u00e4che\u201c (resp. \u201eViolettschw\u00e4che\u201c), als Unterabteilungen des bereits gebr\u00e4uchlichen Allgemeinbegriffs \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c vor.\nMir scheint diese Wortbildung trotz ihrer Ungew\u00f6hnlichkeit besser geeignet, als die Wortbildung \u201erotanomal\u201c und \u201egr\u00fcnanomal\u201c, weil sie, im selben Sinne wie die KRiEsschen Vorschl\u00e4ge, einen \u201ebezeichnenderen\u201c Charakter hat, als die langen, wissenschaftlichen Namen; sodann weil sie sprachlich korrekter und allgemeiner verst\u00e4ndlich ist. Auch ist theoretisch mit den von mir vorgeschlagenen Namen nichts vorweggenommen. Ein anomaler Trichromat (Prof. Schumann) behauptet zwar, dafs er \u201egr\u00fcnblind\u201c sei.1 Indessen selbst nach dieser Auffassung w\u00fcrde man noch eine Differenz zwischen der \u201eGr\u00fcnblindheit\u201c \u2014 im \u00fcblichen Sinne des Wortes \u2014 und der ScnuMANNschen \u201eGr\u00fcnblindheit\u201c annehmen m\u00fcssen, also doch ein Wort, das einer Zwischenstufe entspricht, wie eben mein Wort \u201eGr\u00fcnschw\u00e4che\u201c, erfinden m\u00fcssen. Da das Wort \u201eSchw\u00e4che\u201c aber graduell sehr verschiedene Funktionsst\u00f6rungen umfasst, pafst es auch daf\u00fcr.\nDie MifsVerst\u00e4ndlichkeit der Namen \u201eRotblindheit\u201c wie \u201eGr\u00fcnblindheit\u201c vermeiden \u00fcbrigens sowohl die Vorschl\u00e4ge dea Hrn. von Kries, wie die meinigen.\nMeine im folgenden beschriebenen Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che beziehen sich in erster Linie auf die Gr\u00fcnschw\u00e4che. Als sich \u2014 gewissermafsen zuf\u00e4llig \u2014 herausgestellt hatte, dafs ich anomaler Trichromat sei, folgte ich der Anregung\n1 F. Schumann: Ein ungew\u00f6hnlicher Fall von Farbenblindheit. Bericht \u00fcb. d. I. Kongrefs f. exper. Psychol. Leipzig, J. A. Barth. 1904.","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber F\u00e4rb en schw\u00e4che.\n35\nvon Professor Nagel, meine Anomalie genauer zu untersuchen. Haupts\u00e4chlich war ich also meine eigene Versuchsperson. Es ist ja auch sonst kaum m\u00f6glich, eine Versuchsperson zu finden, die die Aufopferung besitzt, so m\u00fchsame und anstrengende Versuche einem Experimentator durch Monate und Jahre zu erm\u00f6glichen. Daneben habe ich mich aber bem\u00fcht, das Individuelle in meinen Resultaten dadurch zu paralysieren, dafs ich andere Versuchspersonen von meinem Typus zu Kontrollversuchen heranzog. Auch hatte ich das Gl\u00fcck, einige Monate nach Beginn der Untersuchungen einen intelligenten \u201eRotschwachen\u201c zu finden, mit dem ich eine Reihe von Untersuchungen vornehmen konnte. Der Herr war \u00fcbrigens Maler. Diesen Typus der Farbenschwachen genauer zu untersuchen, gab ich aber bald wieder auf, da Dr. Levy nach dem Erscheinen seiner Arbeit \u00fcber diese ihn nat\u00fcrlich mehr interessierende Seite der Frage im hiesigen physiologischen Institut zu arbeiten begann. Auch ergab sich bei einer gemeinsam ausgef\u00fchrten Untersuchung, \u00fcber deren ihn selbst betreffende Fragen Dr. Levy bereits publiziert hat1, die Unzweckm\u00e4fsigkeit von Parallel versuchen, weil die beiden Typen der Farbenschwachen vom Normalen aus ja gerade in entgegengesetzter Richtung abweichen, eine gemeinsame Versuchsanordnung also mit sehr grofsen Unbequemlichkeiten, besonders in technischer Hinsicht, verkn\u00fcpft, ja f\u00fcr verschiedene Dinge unausf\u00fchrbar war. Die Symptome der \u201eRotschw\u00e4che\u201c sind also gewissermafsen nebenher gewonnen worden. Allein abgesehen von dem erw\u00e4hnten Unterschied im Verh\u00e4ltnis der Reizwerte des roten und gr\u00fcnen Lichtes, der sich z. B. beim Einstellen der Rayleigh - Donde\u00e4s - Gleichung manifestiert, und einer verschiedenen Art der Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farben, \u00e4hnelt die Rotschw\u00e4che der Gr\u00fcnschw\u00e4che etwa ebenso, wie die Rotblindheit der Gr\u00fcnblindheit, unterscheidet sich auch von ihr in \u00e4hnlicher Weise. Ich glaube mich, zumal ich \u00fcber ein sehr grofses Material von Rotschwachen verf\u00fcge, berechtigt, im folgenden nicht nur allein von der \u201eGr\u00fcnschw\u00e4che\u201c sondern von der \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c zu sprechen.\nMeine Versuche sind zum gr\u00f6fsten Teil in der physikalischen Abteilung des physiologischen Instituts zu Berlin gemacht. Ich\n1 Max Levy : \u00dcber die Helligkeitsverteilung im Spektrum f\u00fcr das helladaptierte Auge. Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol, d. Sinnesorg. 86, Heft 1.\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nAlfred Guttmann.\nspreche an dieser Stelle also in erster Linie Hrn. Prof. Nagel, der mich dazu angeregt, in die Frage eingef\u00fchrt und durch Rat und Tat in der Durchf\u00fchrung unterst\u00fctzt hat, meinen Dank daf\u00fcr aus. Ebenso bin ich Hrn. Dr. Piper (Kiel), dem fr\u00fcheren Assistenten der Abteilung, der mir bei meinen Versuchen als Berater, Helfer und Versuchsperson wichtige Dienste geleistet hat, zu Dank verpflichtet.\nEinen grofsen Teil der Untersuchungen nahm ich \u2014 selbst\u00e4ndig \u2014 in den R\u00e4umen und mit den Apparaten des hiesigen psychologischen Instituts vor, die mir in liebensw\u00fcrdigster Weise von Hrn. Geheimrat Prof. Dr. Stumpe zur Verf\u00fcgung gestellt wurden, wof\u00fcr ich ihm auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank ausspreche. F\u00fcr meine sonstigen selbst\u00e4ndigen Untersuchungen konnte ich mich u. a. der Hilfe verschiedener Beh\u00f6rden bedienen. Meine Erfahrungen \u00fcber das Sehen der Anomalen wurden sehr gef\u00f6rdert durch die M\u00f6glichkeit, Studien auf See zu machen. Durch die Direktion des Norddeutschen Lloyd und die Liebensw\u00fcrdigkeit des Hrn. Kapit\u00e4n von Binzer, konnte ich auf der Kommandobr\u00fccke des Reichspostdampfer \u201ePrinz Ludwig\u201c wiederholt bei Nacht wichtige Untersuchungen machen, ebenso dank der Freundlichkeit vieler Kapit\u00e4ne auf Wattenmeerdampfern. Auch Hrn. Dr. M\u00fcller, der die Untersuchung s\u00e4mtlicher f\u00fcr die Hamburger Handelsflotte anzumusternden Mannschaften im Seemannshaus zu Hambuig leitet, verdanke ich mauche Erfahrung. F\u00fcr Massenuntersuchungen konnte ich das II. Garde-Regiment zu Berlin, das ich in Vertretung des damals beurlaubten Professor Nagel untersuchen durfte, benutzen. In noch gr\u00f6fserem Mafsstabe habe ich, dank dem Entgegenkommen der Schuldeputation zu Charlottenburg, an Schulkindern (Knaben und M\u00e4dchen) Erfahrungen gesammelt. Diesen Beh\u00f6rden und Personen auch hier meinen Dank auszusprechen, ist mir eine angenehme Pflicht.\nSchliefslich m\u00f6chte ich von den zahlreichen Versuchspersonen und beratenden Kollegen wenigstens den am meisten von mir in Anspruch Genommenen namentlich danken ; es sind dies, . neben Hrn. Dr. Piper, die Herren Dr. phil. Erich v. Hornbostel, cand. med. et phil. Oskar Peungst und Dr. med. Richard Simon, einer der K\u00f6NiGschen Mitarbeiter. Auch vielen Anderen, Ungenannten schulde ich Dank.","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n37\nSymptomatologie der Farbensehw\u00e4ehe.\nDie von mir zuerst in Giefsen vorgetragenen, in ihrer Zusammengeh\u00f6rigkeit den Symptomenkomplex der Farbenschw\u00e4che ausmachenden Symptome, sind in K\u00fcrze im mehrfach erw\u00e4hnten Kongrefsbericht publiziert1 und in Prof. Nagels wiederholt genannter Arbeit zitiert.2\nBei meinen Untersuchungen hat sich herausgestellt:\nI.\tdafs einige Symptome, deren Vorhandensein beim anomalen Trichromaten von fr\u00fcheren Autoren teils behauptet, teils bestritten wurde, immer vorhanden sind,\nII.\tdafs einige andere, bisher ganz unbekannte Symptome f\u00fcr die anomale Trichromasie essentiell sind,\nIII.\tdafs alle diese Symptome einen in sich geschlossenen Symptomenkomplex bilden, der eben das Wesen der Farbenschw\u00e4che ausmacht und sich bei allen anomalen Trichromaten findet.\nKapitel I.\nDie Unterschiedsempfmdlichkeit des anomalen Trichromaten f\u00fcr Farben verschiedener Wellenl\u00e4nge.\nDa man nach den bisherigen Untersuchungen als das Kriterium des herabgesetzten Farbensinnes die herabgesetzte Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Lichter verschiedener Wellenl\u00e4nge annahm, so seien in erster Linie hier die Abweichungen beschrieben, die ich in der Unterschiedsempfindlichkeit der anomalen Trichromaten gegen\u00fcber der des normalen Trichromaten fand. Ich werde mich in diesem Kapitel etwas k\u00fcrzer fassen, weil ich in einem sp\u00e4teren Kapitel fortgesetzt auf diese Resultate eingehen, sie erweitern und modifizieren mufs. Wenn der Leser auch sonst noch auf Wiederholungen und Vorwegnahmen stofsen wird, so m\u00f6ge er mir anrechnen, dafs ich \u00fcber einen grofsen Komplex von Symptomen zu schreiben habe, die einander in ganz eigenartiger\n1\ta. a. O. S. 15.\n2\ta. a. O. Heft IV, S. 254. Eine von Stabsarzt Dr. Collin publizierte Abhandlung \u201eZur Kenntnis und Diagnose der angeborenen Farbensinnst\u00f6rungen\u201c Berlin 1906, Hirschwald, enth\u00e4lt einige nicht ganz zutreffende Angaben \u00fcber diese Dinge. Ich gehe hier nicht im einzelnen auf diese Arbeit ein und verweise auf Prof. Nagels und meine eigenen Darlegungen.","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nAlfred Guttmann.\nWeise erg\u00e4nzen, sich teils additiv, teils subtraktiv, teils annullierend gegenseitig beeinflussen. Zum Verst\u00e4ndnis des Komplexes mufs ich eben manches aufserhalb des Zusammenhanges Vorbringen. Hier also sei zun\u00e4chst eines der wichtigsten Symptome der Farbenschw\u00e4che beschrieben : die herabgesetzte Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Wellenl\u00e4ngen.\nNach monatelangen Versuchen am Farbenkreisel, um zu erkennen, ob der Anomale (Verf.) gr\u00f6fsere Zus\u00e4tze einer fremden Farbe zu der einen Scheibe \u00fcbersah, als der Normale, wurde dieser Weg aufgegeben, da er wohl zur Erkennung der oben angedeuteten Wechselbeziehungen der einzelnen Symptome f\u00fchrte, jedoch keine eindeutigen Resultate erm\u00f6glichte. Ich benutzte sodann den (schon oft beschriebenen) HELMHOLTzschen Farbenmischapparat des physiologischen Instituts und pr\u00fcfte die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr 4 verschiedene Stellen des Spektrums, n\u00e4mlich f\u00fcr: rot, gelb, gr\u00fcn und blau. Zuerst verfuhr ich folgender-mafsen: in beiden Kollimatoren wurden Farben von derselben Wellenl\u00e4nge eingestellt und dann die Helligkeiten der beiden Halbkreise einander gleich gemacht ; so bildeten beide Halbkreise eine objektiv f\u00e4rb- und helligkeitsgleiche Fl\u00e4che f\u00fcr die normale wie anomale Versuchsperson, die durch den Okularspalt beobachtete. Hann wurde vom Versuchsleiter der eine Kollimator verstellt, so dafs auf der einen H\u00e4lfte eine andere Farbe sichtbar ward. Hie Aufgabe der Versuchsperson bestand nun darin, unter st\u00e4ndiger Kontrolle des Auges mittels einer Mikrometerschraube den Kollimator solange zu verstellen, bis beide Halbkreise einander wieder gleich schienen. Hurch Ablesen an der Skala konnte der Versuchsleiter dann konstatieren, ob die Versuchsperson genau die gleiche Farbe wieder eingestellt hatte, oder ob sie und um wieviel pp und nach welcher Richtung hin, abgewichen war.1 Hiese Versuchsreihen, bei denen ich mit Hr. v. Hornbostel, einem normalen Trichromaten, als Versuchsleiter und als Versuchsperson alternierte, ergaben folgende Resultate :\n1. Hie Abweichung des Normalen bei einem Rot von ca. 670 mi (Li.) betrug nicht ganz + 1\tdie des Anomalen\nweniger als + 1\u20142.\n1 Die Umrechnung der Teilstriche der Skala in fiu geschah in be kannter Weise.","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschiv\u00e4che.\n39\n2.\tDie Abweichungen des Normalen bei einem Gelb von\n589 nu (Na.) betrug + 1\u20142\tdie des Anomalen = + 12\u201413 UP-\n3.\tDie Abweichungen des Normalen bei einem Gr\u00fcn von 535 utL (T.) betrug + 1\u20145, die des Anomalen betrug + 4\u20145 ui1-\n4.\tDie Gr\u00f6fse der Herabsetzung meiner Unterschiedsempfindlichkeit im Blau resp. Violett habe ich nicht gemessen. Ich kann dar\u00fcber nur soviel aussagen, dafs ich vielfach nicht imstande bin, ein violettes Licht mit Sicherheit von einem blauen Licht zu unterscheiden. Ich kann am Spektralapparat zwischen zwei derartigen Lichtern, wenn ich sie auf scheinbare Helligkeitsgleichheit bringe, eine in jeder Beziehung befriedigende \u201eGleichung\u201c hersteilen, die dem Normalen helligkeitsgleich, aber farbverschieden erscheint. Nur sehr hell leuchtende, violette Farben kann ich von blauen (selber ebenso hellen) Lichtern unterscheiden.\nDarin liegt aber gerade die Schwierigkeit der Untersuchung in dieser Spektralregion. Bei den jetzt angewendeten Lichtquellen ist im Violett (resp. Blau violett) eine so geringe absolute Helligkeit vorhanden, dafs man mit sehr grofsen Spaltweiten operieren mufs. Dadurch wird die Reinheit des verwendeten Lichts sehr beeintr\u00e4chtigt. Eine Vermeidung dieser Fehlerquelle ist erst von dem Fortschreiten der Beleuchtungstechnik zu erwarten.\nDie unter 1. bis 3. gegebenen Zahlen sind aus Reihen von je zehn Einzeleinstellungen gewonnen, die unter sorgsamer Beobachtung der (Zimmer-) Helladaptation bei m\u00f6glichst kurzem Hineinsehen in das Okularrohr vorgenommen wurden. Die Zahlen geben die gr\u00f6fsten Differenzen an, um die die Extreme je einer Reihe voneinander ab wich en. Sie zeigen also, dafs im Rot kaum ein Unterschied in der Empfindlichkeit des Gr\u00fcnschwachen gegen die des Normalen besteht, wenigstens soweit die Genauigkeit der Skala ausreicht.1 Im Gelb dagegen ist die Unterschiedsempfindlichkeit um mehr als das Zehnfache im Vergleich zum Normalen herabgesetzt; und zwar geht die Strecke im Spektrum vom Natriumgelb aus ebensowohl nach dem Orange wie nach dem Gr\u00fcn zu. Im Gr\u00fcn\n1 Nach K\u00f6nig sind es in diesem Teil des Spektrums (\u00fcber 640 fiu) \u00fcberhaupt nur Intensit\u00e4tsunterschiede (Helligkeitsunterschiede), die die Verschiedenheit der Farbenempfindungen hervorbringen. A. a. O. S. 30.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nAlfred Guttmann.\nscheint kein wesentlicher Unterschied in der Empfindlichkeit des Normalen und Anomalen zu bestehen; in einer Versuchsreihe war die maximale Abweichung des Hrn. Dr. v. H. = 1, die meinige = 4, in einer anderen Reihe betrug die Abweichung des Dr. v. H. \u2014 5, die meinige nur \u2014 4. Manchmal hatte ich den Eindruck, dafs ich im Gr\u00fcn mehr Unterscheidungen machen konnte, als der Normale. Indessen wage ich nicht mit Sicherheit zu behaupten, dafs dem so sei, weil meine teilweise einander widersprechenden Versuchsreihen nicht zahlreich genug sind. Ich komme auf diese Frage in der Besprechung der diesbez\u00fcglichen Resultate und Schl\u00fcsse von K\u00f6xio zur\u00fcck.\nSoweit schienen die Versuche mir einwandsfrei, bis mir bei einer Versuchsreihe auffiel, dafs ich beim Einstellen der Gleichungen mehr auf die Helligkeitsgleichung, weniger auf die Farbgleichung achtete. Um diesen Fehler experimentell aus der Welt zu sch\u00e4ften, \u00e4nderte ich nun regelm\u00e4fsig auf der einen Seite Farbe und Helligkeit; die Aufgabe wurde dadurch f\u00fcr beide Versuchspersonen scheinbar gleichm\u00e4fsig insofern erschwert, als sie nun (mittels zweier Schrauben) zuerst durch Ver\u00e4nderung der Farbe und dann durch Ver\u00e4nderung der Helligkeit der einen Seite die Gleichung hersteilen mufsten. Diese Modifikation beeinflufste jedoch die Resultate der Einstellungen des Normalen nicht im geringsten; die Unsicherheit des Anomalen in der Gegend des \u201eGelb\u201c wuchs dagegen von 12 w.l bis zu einer Maximalabweichung von 20 m-i.\nDie Unterschiedsempfindlichkeit bei Rotschw\u00e4che habe ich systematisch nicht untersucht. Die einzige, dar\u00fcber vorliegende Untersuchung stammt von Levy. Er gibt an, dafs er, ebenfalls nach der Methode der Fehlermessung bei den Gleichungseinstellungen untersuchend, die ich anwendete, keine derartig herabgesetzte Unterschiedsempfindlichkeit fand, wie sie die Genauigkeit des von ihm benutzten HELMHOLTzschen Farbenmischapparates des Freiburger Physiologischen Instituts abzulesen gestattet h\u00e4tte. F\u00fcr ganz beweiskr\u00e4ftig sehe ich seine Folgerungen nicht an. Zwar, dafs im \u00fcbrigen Spektrum aufser im Rot (und Violett) seine Unterschiedsempfindlichkeit normal ist, halte ich f\u00fcr wahrscheinlich. Ob L. aber bei der Feststellung seiner nicht herabgesetzten Unterschiedsempfindlichkeit als Kriterium im Rot die Helligkeitsunterschiede, nicht aber die Farbtonunterschiede benutzt hat, scheint mir zweifelhaft. Da gerade im Rot f\u00fcr","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n41\nihn die Helligkeit in viel st\u00e4rkerem Mafse abnimmt, als f\u00fcr den Normalen, liegt es f\u00fcr den Rotschwachen nahe, diese f\u00fcr ihn sehr auff\u00e4lligen Unterschiede zur Urteilsbildung zu verwenden.1 Auch der Gr\u00fcnschwache hilft sich, wie oben ausgef\u00fchrt, im Gelb \u00e4hnlich. Wenn also nicht zugleich Farbe und Helligkeit in L.s Versuchen variiert wurde, was aus dem Wortlaut nicht klar hervorgeht2, so halte ich die normale Unterschiedsempfindlichkeit des Rotschwachen nicht f\u00fcr erwiesen. Ich selbst bezweifle sie nach meinen diesbez\u00fcglichen Beobachtungen sehr, wenn ich auch meine Zweifel nicht zahlenm\u00e4fsig belegen kann. Ebenso vermute ich, dafs die Unterschiedsempfindlichkeit des Rotschwachen in der Gegend des Blau-Violett herabgesetzt ist, wo sich die St\u00f6rung seiner Rotempfindung wieder bemerkbar machen mufs. Eine Nachpr\u00fcfung w\u00e4re sehr erw\u00fcnscht.\nIch begn\u00fcge mich an dieser Stelle mit dieser kurzen, weil zum Verst\u00e4ndnis des Folgenden notwendigen Beschreibung meiner herabgesetzten Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farben dieser Spektralregion und verweise auf Kapitel III, wo ich die Modifikationen dieses Symptoms der Farbenschw\u00e4che ausf\u00fchrlich behandle und auf die Literatur eingehe. Soviel l\u00e4fst sich schon aus meiner oben beschriebenen, herabgesetzten Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farben verschiedener Weilenl\u00e4nge sagen, dafs anomale Trichromaten meiner Art einen \u201eherabgesetzten Farbensinn\u201c haben.\nWenn diese Abweichung allein, wie meist angenommen wird, das Wesen der \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c ausmachte, so w\u00e4re letztere bei dem Anomalen allerdings nicht sehr erheblich. Jedoch werde ich im folgenden zeigen, dafs daneben andere Kriterien gelten. Es gibt noch mehrere \u201eSchwellen\u201c, aus deren Erh\u00f6hung man eine Herabsetzung der Funktion eines Organs erkennen kann.\n1\tDamit w\u00fcrde auch di\u00a9 auff\u00e4llige und sonst unerkl\u00e4rliche Beobachtung verst\u00e4ndlicher werden, die L. berichtet, aber nicht weiter bespiicht, dafs n\u00e4mlich seine Unterschiedsempfindlichkeit die des (ge\u00fcbten) Normalen\n\u201eteilweise noch \u00fcbertraU (a. a. O. S. 51).\n2\tL. sagt nur ganz allgemein : \u201e \u2014 unter gleichzeitiger Regulation der Helligkeit \u2014\u201c (a. a. O. S. 50) Ob er die Helligkeit f\u00fcr jede Reihe oder f\u00fcr jede Einstellung regulierte, ist das Entscheidende; und dar\u00fcber sagt er nichts.","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nAlfred GuUmann.\nUm eine dieser Schwellen handelt es sich nun, wo die Frage nach den Zeiten, die der anomale Trichromat zum Erkennen der Farben braucht, beantwortet werden soll.\nKapitel II.\nWelche Zeiten braucht der Farbenschwaehe* um Farben zu\nerkennen ?\nBekanntlich ist f\u00fcr den Normalen die geringste Zeit, in der er ein farbiges Licht als solches erkennen kann, aufserordentlich kurz ; es handelt sich um tausendstel Sekunden. Manche Lichter werden schneller, andere langsamer erkannt. Das ist leicht erkl\u00e4rlich : Die Leuchtkraft der verschiedenen Lichter ist sehr verschieden, ein Violett kann niemals die Intensit\u00e4t eines Gelb erreichen, ja, es wird selbst nicht so hell wie ein Gr\u00fcn herzustellen sein, wenn es nicht zugleich als Farbe unrein werden soll. Es erhebt sich nun die Frage: braucht der Anomale zum Erkennen einer Farbe l\u00e4ngere Zeit, als der Normale ?1 Zur Beantwortung dieser Frage schlug ich den im folgenden beschriebenen Weg ein.\n1 Den Zufall, der mich auf diese Fragestellung brachte, will ich beschreiben, weil er mir lehrreich war, wie man durch eine unscheinbare Beobachtung auf ein Problem gelenkt werden kann, das von eminenter Bedeutung ist. Ich fuhr an einem sonnigen Sommertage durch den Tiergarten, in die Lekt\u00fcre eines schwerverst\u00e4ndlichen Buches vertieft. Beim Nachdenken \u00fcber den Sinn eines Satzes hob ich den Blick einen Moment \u00fcber das Buch weg, ohne auf das zu achten, was ich dort sah. Erst als ich wieder in das Buch blickte, wurde mir klar, dafs ich eine Dame in einer roten Bluse gesehen haben mufste ; zugleich fiel mir auf, dafs ich die eigent\u00fcmliche, mir h\u00e4ufig sehr unangenehme Empfindung des Flimmerns (oder Schwankens) gehabt hatte, die ich beim Betrachten von aneinander angrenzenden gr\u00fcnen und roten, in derselben Ebene liegenden farbigen Fl\u00e4chen habe. W\u00e4hrend mir diese, mit der chromatischen Aberration zusammenh\u00e4ngende Eigent\u00fcmlichkeit wohl bekannt war, konnte ich mir das Ph\u00e4nomen hier nicht anders erkl\u00e4ren, als dafs die rote Bluse mir dicht vor der gr\u00fcnen Basenfl\u00e4che erschienen war. Um mich zu vergewissern, drehte ich mich schnell noch einmal um und erkannte nun, bei genauerem Hinsehen \u2014 ich war noch nahe genug, um es deutlich zu erkennen, \u2014 dafs die Bluse nicht rot, sondern rot und gr\u00fcn gestreift war! Daraus glaubte ich schliefsen zu d\u00fcrfen, dafs die Empfindung des Gr\u00fcn, da der periphere Apparat des Sehorgans schon auf Bot und Gr\u00fcn reagiert hatte, w\u00e4hrend zentral nur Bot perzipiert worden war im Verh\u00e4ltnis zu der des Bot wie bei \u201everlangsamter Leitung\u201c bei mir verlief. Da derartige Versuche","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n43\n\u00a7 1. Versuche mit Pigmentfarben.\nEine Anzahl von Pigmentpapieren wurde auf einer Tafel befestigt. In ca. 1 m Entfernung stellte ich ein kleines Fernrohr auf, in dem die eine oder andere Farbe, das Gesichtsfeld ausf\u00fcllend, erschien, wenn ich die Tafel verstellte. Das Fernrohr war leicht unscharf eingestellt, damit das Korn des Papieres nicht erkennbar w\u00e4re und keine R\u00fcckschl\u00fcsse erlaube ; die K\u00f6rnung der verschiedenen Papiere war nicht genau gleich. Zwischen Fernrohr und Farbentafel befand sich das von Prof. Schumann im obenerw\u00e4hnten Kongrefsbericht (S. 34) beschriebene Tachistoskop des Berliner psychologischen Instituts.* 1\nBefand sich das Tachistoskop in Bewegung, so wurde im Fernrohr die gerade dargebotene Farbe nur in dem Moment sichtbar, wo der in dem grofsen Rade befindliche Spalt zwischen Fernrohr und Farbe passierte. Dieser Zeitraum des Sichtbarwerdens war innerhalb sehr weiter Grenzen regulierbar 5 einmal dadurch, dafs man den Spalt weiter oder enger stellte, sodann durch Beschleunigung oder Verlangsamung der Tachistoskop-umdrehung. Getrieben wurde letzteres durch einen Helmholtz-schen, sehr genau arbeitenden Elektromotor, die Geschwindigkeiten wurden mittels einer Scheibe, die verschieden hohe \u00dcbertragungen erm\u00f6glichte, abgestuft 5 kontrolliert wurden sie mittels einer F\u00fcnftelsekundenuhr. So sah die Versuchsperson innerhalb einer genau bestimmbaren Zeit die Farbe einmal im Gesichtsfeld auftauchen; bevor das Tachistoskop eine weitere Umdrehung gemacht hatte, wurde die vordere \u00d6ffnung des Fernrohrs durch den Versuchsleiter verdeckt. Das Ganze befand sich in einem sehr hellen, weifs get\u00fcnchten Zimmer im dritten Stock des Geb\u00e4udes, das kein Gegen\u00fcber hatte ; die Versuche fanden meist mittags und im Sommer statt. Als Versuchspersonen dienten mehrere normal-trichromatische Mitglieder des psychologischen Instituts und zwei anomale Irichromaten\nbei Anomalen bisher nicht gemacht worden sind, ging ich daran, zu untersuchen, ob in der Tat die einzelnen Farben vom Anomalen verschieden schnell und abnorm perzipiert wurden. Wie ich im Laufe dieser Versuche noch auf andere Probleme kam, wird sp\u00e4ter ersichtlich werden.\n1 Alle tachistoskopischen Versuche durfte ich im hiesigen psychologischen Institut machen, dessen damaliger Assistent, Herr Prof. Schumann (Z\u00fcrich) mir stets in liebensw\u00fcrdigster Weise bei meinen dortigen Versuchen behilflich war.","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nAlfred Guttmann.\n(gelegentlich noch andere Normale und Anomale]. Es fanden stets Parallelversuehe statt: hatte eben ein Normaler alle Farben bei der geringsten Zeit richtig erkannt, so kam ein Anomaler an die Reihe. Auf diese Weise war ich am besten vor dem Versuchsfehler gesch\u00fctzt, der auf verschieden heller Beleuchtung beruht und sich bei allen Versuchen mit Tageslicht einschleichen kann. So lassen sich die Ergebnisse dieser Reihen gut miteinander vergleichen.\nIch lasse nun in Tabellenform einige dieser Resultate folgen : in der ersten Spalte ist die Zeit (in o) angegeben, die zur Beobachtung der Farbe zur Verf\u00fcgung stand. Sie wurde berechnet aus der Rotationsgeschwindigkeit des Tachistoskops und der jeweiligen Spaltweite unter Ber\u00fccksichtigung des dabei in Betracht kommenden konstanten Fehlers. In der zweiten Spalte sind die Farben angegeben. Ich benutzte nach l\u00e4ngerem Ausprobieren 6 Farben, die von allen Versuchspersonen mit geringen individuellen Abweichungen \u00fcbereinstimmend als \u201erot\u201c, \u201eorange\u201c, \u201egelb\u201c, \u201egr\u00fcn\u201c, \u201eblau\u201c und \u201eviolett\u201c bezeichnet wurden. Die zwei n\u00e4chsten Spalten bringen die Urteile zweier Normaler, die beiden letzten Spalten die Urteile zweier anomalen Trichromaten.\nDie zweite Tabelle, genau nach demselben Schema gefertigt, also die Fortsetzung der ersten, bringt die Urteile der zwei Anomalen bei noch l\u00e4ngeren Zeiten; die beiden Normalen sind hier fortgelassen, weil sie schon bei geringeren Zeiten alle Farben richtig erkannt hatten.\n(Siehe Tabelle I und II auf S. 45 und 46.)\n\u2022 \u2022\nDiese Tabellen zeigen auf den ersten Blick die \u00dcberlegenheit des Normalen \u00fcber den Anomalen. Bei der geringsten Zeit, die ich \u00fcberhaupt benutzte (10 o\\ machen die Farbent\u00fcchtigen schon Unterscheidungen. Die Benennungen der Farben sind zwar nur sehr ann\u00e4hernd richtig, aber immerhin ist ein farbiger Eindruck vorhanden. Die Sicherheit des Erkennens wird gr\u00f6fser bei 108/4 g und 11 ,*/4 <x, bei 12 o erkennen die beiden Normalen alle Farben richtig. (Ich gebe in den Tabellen die unkorrigierten Ausdr\u00fccke, die alle Versuchspersonen zu Protokoll gaben, genau wieder. So kann der Leser die mehr oder weniger bestimmte Erkennung der einzelnen Farben am besten aus der gr\u00f6fseren Bestimmtheit oder der Verklausulierung der Urteile erkennen. Nat\u00fcrlich spielt der Charakter der Versuchsperson dabei eine","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n45\nTabelle I.\nZeit in a\tFarbe\tAall\tPfungst\tSchumann\tVerfasser\n\tr.\tsehr blasses gelbrot\thellgrau\t\u2014\t\u2014\n\tor.\torange\thellgrau\t\u2014\t\u2014\n10\tgb.\tgelblich-br\u00e4unlich\tgr\u00fcnlich\t\u2014\t\u2014\n\tgr.\t\u2014\thellgrau\t\u2014\t\u2014\n\tbl.\tweifs\tbl\u00e4ulich\t\u2014\t\u2014\n\tV.\t\u2014 (graugelblich?)\tweifs\t\t\n\t\tr\u00f6tlich gelb, viel-\tweifslich, unge-\t\t\n\tr.\tleicht orange, sehr ges\u00e4ttigt\ts\u00e4ttigtes blau\t\t\n\tor.\tganz deutlich\tr\u00f6tlich (rot?)\t\u2014\t\u2014\n\t\torange\t\t\t\n\tgb.\tgelb\tbl\u00e4ulich oder\t\t\nio3/4\t\t\tgr\u00fcnlich\t\t\n\tgr.\tweifs\tgr\u00fcn\t\u2014\t\n\t\t\thellgr\u00fcn, weifs\t\t\n\tbl.\tgrauweifs\t(auf Frage: \u201ekeine\t\u2014\t\u2014\n\t\t\tSpur blau\u201c)\t\t\n\tV.\tgrau mit einem Strich ins Blau\tbl\u00e4ulich\t\u2014\t\u2014\n\tr.\trot\trot (violett?)\t\u2014\t\u2014\n\tor.\t\u2014\tziegelrot,zitronenfarbig\t\u2014\u2022\tgelblich\nIIV4\tgb.\tgelb\tgelb\t\u2014\tgelblich\n\tgr.\tgrau\tstark gr\u00fcn\t\u2014\t\u2014\n\tbl.\tgrau\tbl\u00e4ulich od. hellgrau\t\u2014\tbl\u00e4ulich\n\tV.\t\u2014\thellgrau\t\u2014\t\t*\n\tr.\tvakat\tvakat\tvakat\t\u2014\n\tor.\t\t\t\t\u2014\nll3/4\tgb.\t\t\t\tgelbgr\u00fcn (?)\n\tgr.\t\t\t\t\n\tbl.\t\t\t\tbl\u00e4ulich\n\ty.\t\t\t\tgelb (?)\n\tr.\trot\tdeutlich rot\t\u2014\t\u2014\n\t\t\t\tgelb resp. grau\tgelb\n\tor.\torange (?)\tziegelrot\tmit schwachem gelben Schimmer\t\n\t\t\t\t\t\n12\tgb.\tgelb\tdeutlich gelb\t\u00bb\t\n\tgr-\tgelb\tdeutlich gr\u00fcn\tgrau mit gelbem Schimmer\tgraugr\u00fcn\n\t\t\t\tgrau\tblau\n\tbl.\tbl\u00e4ulich\tblau\tmit schwachem blauen Schimmer\t\n\t\t\t\t\t\n\tV.\tpurpur\tviolett\t\tgr\u00fcn","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nAlfred Guttmann.\nTabelle IL\nZeit in o\tFarbe\tSchumann\tVerfasser\n\t\t\tI.\tII.\n\tr.\tetwas gelblich\torange-gelblich\tresp. rot\n\tor.\tgelb\tgelb\t\u201e gelb\n15\tgb.\tdeutlich gelb\tgelb\t,, gelb\n\tgr.\t\u2014\tgr\u00fcn\t\u201e gelb\n\tbl.\tblau, vieil, mit r\u00f6tl. Schimmer\tblau\t\u201e blau\n\tv.\t\u2014\tblaugr\u00fcn (blaugrau) \u201e gr\u00fcn\n\tr.\tschwaches Gelb\tr\u00f6tlich\n\tor.\tgelb mit dunklem Schein\tgelb\n20\tgb.\tgelb\tgelb\n\tgr.\tgrau, Spur gelb\tgr\u00fcn resp. orange\n\tbl.\tblau, vieil, mit r\u00f6tl. Schimmer\tblau\n\tV.\tgrau\tgelblich\n\tr.\t\u00c4hnlichkeit m. gelb, vieil, rot\trot\n\tor.\tgelb\u00e4hnlich, nach orange\tdunkelgelb (keine Spur rot)\n26\tgb.\tgelb\tgelb\n\tgr.\tgrau, Spur gelblich\tgelbgr\u00fcn\n\tbl.\tblau\tblau\nj\tV.\tgrau\t?\n\tr.\trot\trot\n\tor.\tetwas dunkles Gelb (also wohl\torange\n\t\torange\t\n31\tgb.\tgelb\tgelb\n\tgr.\tgelblich grau\tgr\u00fcn (?)\n\tbl.\tblau\tblau\n\tv\tgrau (vielleicht Schimmer von\tviolett\n\t\tgelb oder blau)\t\n\tr.\tgelblich\torange\n\tor.\tdunkelgelb (also wohl orange)\tgelb\non\tgb.\tgelb\tgelb\noi\tgr.\tgrau, Spur gelb\tgelbgr\u00fcn\n\tbl.\tblau, vielleicht Spur r\u00f6tlich\tblau\n\tv.\tgrau, Spur bl\u00e4ulich\tviolett\n\tr.\trot (etwas gelblich)\trot (mit gelbem Ton)\n\tor.\tgelb (der Nuance nach orange)\tgelb\n\tgb.\tgelb\tgelb\noo\tgr.\tgrau, eine Spur gelb\tgr\u00fcn (?)\n\tbl.\tdeutliches Blau, eine Spur rot\tblau\n\tV.\teine Spur bl\u00e4ulich\tviolett","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n47\ngewisse Rolle, immerhin kann man, wenn auch mit Vorsicht, Schl\u00fcsse ziehen. Dafs Dr. Aall gr\u00fcn \u201egelb\u201c nannte, ist kein falsches Urteil, er gab auch bei viel l\u00e4ngeren Expositionszeiten nicht zu, dafs diese Farbe \u201egr\u00fcn\u201c sei, sondern nannte es immer \u201egr\u00fcnliches Gelb\u201c, das er jedoch von dem eigentlichen Gelb deutlich unterscheiden konnte.)\nVergleichen wir mit diesen beiden Normalen, deren Urteile trotz individueller Abweichungen so gut \u00fcbereinstimmen, die beiden Anomalen (Prof. Sch\u00fcmann undVerf.) so sehen wir, dafs bei den oben genannten ersten Expositionszeiten von 10\u2014103/4 o gar keine Farbenempfindung auftaucht. Wenn \u00fcberhaupt eine \u00c4nderung bemerkt wird, so ist es nur eine Aufhellung oder Verdunkelung des Gesichtsfeldes in dem Moment, als der Spalt vor der Farbe passiert. Es war \u00e4hnlich der Erscheinungsweise der Farben in der tiefsten D\u00e4mmerung. Bei IIV4 0 erkennt Prof. Sch. noch nichts, ich mache die ersten Unterscheidungen, die sich \u2014 charakteristischerweise \u2014 nur auf die Empfindungsart des Farbenblinden bezogen: ich unterscheide deutlich in warme und kalte Farben. Orange und Gelb nenne ich \u201egelblich\u201c, Blau \u201ebl\u00e4ulich\u201c. Rot, Gr\u00fcn und Violett geben \u00fcberhaupt keinen Farbeneindruck. (Bei 12 o beginnt Prof. Schumann ebenfalls Unterscheidungen in \u201egelbliche\u201c und \u201ebl\u00e4uliche\u201c Nuancen von \u201egrau\u201c zu machen.)\nEine Besserung der Unterscheidungsf\u00e4higkeit tritt bei mir auch bei 113/4 o nicht auf. Violett wird sogar mit Gelb verwechselt.\nDagegen erkenne ich bei 12 g Gelb als einzige Farbe mit ziemlicher Sicherheit (Prof. Sch. unsicherer) \u2014 wobei noch unentschieden bleibt, ob gelb nicht als relativ hellste der vorhandenen Pigmentfarben auf andere Weise denn als Farbenqualit\u00e4t erkannt wurde. Blau wird, wenngleich unsicherer, auch schon manchmal erkannt. Violett, die dunkelste der gezeigten Pigmentfarben, wird mit Gr\u00fcn verwechselt.\nBei 15 g werden gelb und blau nun sicher von beiden Anomalen erkannt; merkw\u00fcrdigerweise wird einmal von Prof. Sch. ein r\u00f6tlicher Schimmer bei Blau vermutet, w\u00e4hrend Violett, das doch ein r\u00f6tliches Blau ist, nicht erkannt wird. Zur Erkl\u00e4rung scheint mir die Tatsache heranziehbar, dafs bei kurzer Exposition das Blau verh\u00e4ltnism\u00e4fsig dunkel erschien und nun der Anomale daraus schlofs, dafs es kein reines (helles)","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nAlfred Guttmann.\nBlau, sondern vermutlich Violett sei, welch letztere Farbe f\u00fcr den Anomalen dem dunklen Blau fast gleich ist, wie im Kap. I ausgef\u00fchrt.1 Violett selbst wird bei dieser Expositionszeit v\u00f6llig verkannt; Kot und Gr\u00fcn sind ganz unsicher.\nWenig anders ist es bei 20 g. (Man kann \u00fcberhaupt f\u00fcr den Anomalen keine ganz scharf begrenzte Zeit bestimmen, innerhalb deren er eine Farbe sicher erkennt. Wurde z. B. bei 15 o Gr\u00fcn einmal erkannt, einmal \u201eGelb\u201c genannt, so wurde es nun bei 20 o zwar einmal \u201eGr\u00fcn\u201c, dann aber \u201eOrange\u201c genannt. Wurde hier Rot wenigstens als \u201er\u00f6tlich\u201c und bei 26 a und 31 g als \u201eRot\u201c bezeichnet, so wurde es bei 37 o wieder mit Orange verwechselt.)\nEtwas besser wird die Erkennung m\u00f6glich bei 26 <x, die Urteile kommen der Wahrheit n\u00e4her bei Rot und Orange, Gelb und Blau werden weiter gut erkannt, Gr\u00fcn und Violett \u00fcberhaupt nicht.\nAuch bei 31 o wird Gr\u00fcn von Prof. Sch. nicht erkannt, von mir vermutet, die \u00fcbrigen Urteile werden, soweit sie es noch nicht waren, etwas sicherer. Bei Darbietung von Violett zeigt sich wieder deutlich, wie unbestimmt diese Farbenempfindung ist: Prof. Sch. nennt es zweimal \u201eGrau\u201c, das eine Mal vermutet er einen gelben, das andere Mal jedoch einen blauen Schimmer dabei!\nBei 37 o sind die Urteile eher wieder schlechter als besser, ein Zeichen daf\u00fcr, dafs der Zufall des Ratens, das Benutzen sekund\u00e4rer Kriterien bei der Erkennung der Farben eine grofse Rolle spielt. Auf einem Fehler der Versuchsanordnung beruht diese Erscheinung sicher nicht, wie ich aus meinen sehr zahlreichen Protokollen ersehen kann, die das Schwankende im Urteil der Anomalen aufserordentlich typisch zeigen. Ich verdoppelte, um nun endlich eine Zeit zu finden, wo alle Farben richtig erkannt werden, die Spaltweite, was einer Zeit von 53 g entsprach. Aber selbst diese Zeit gen\u00fcgte nicht, um alle Farben deutlich erkennbar zu machen. Gr\u00fcn wird von beiden Anomalen bei kurzer Exposition nie mit Sicherheit erkannt. Auch im Orange sind sie nicht immer imstande,\n1 Eine anomale Versuchsperson, damals Gymnasialdirektor, kannte den Namen Violett wohl, war jedoch nie imstande, eine violette Farbe als solche zu erkennen, weder bei Spektral-, noch bei Pigmentfarben, auch nicht bei einer Beobachtungszeit von mehreren Sekunden.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n49\nzwischen einer Verdunkelung und einem R\u00f6terwerden einerseits, andererseits zwischen Aufhellung und Weniger-Rot- (d. h. Gelber-) Werden zu unterscheiden. Das ist allerdings selbstverst\u00e4ndlich bei der \u2014 im vorigen Kapitel besprochenen \u2014 herabgesetzten Unterschiedsempfindlichkeit. Abgesehen von dieser Einschr\u00e4nkung ist das jedoch ungef\u00e4hr die Schwelle, oberhalb deren die Anomalen eine kurz dargebotene Pigmentfarbe, wie ich sie f\u00fcr meine Versuche benutzte, erkennen. Die Normalen brauchen also erheblich\n\u2022 \u2022\nk\u00fcrzere Zeiten. Zur besseren \u00dcbersicht stelle ich im folgenden eine kleine Tabelle zusammen, auf der ich in den ersten 4 Reihen die Zeiten wiedergebe, die 4 Normale brauchten, um die betreffenden Farben zu erkennen ; die n\u00e4chste Reihe gibt die Mittelwerte an; dann folgen 2 Anomale (Gr\u00fcnschwache), dann deren Durchschnitt und sodann ein Deuteranop (Gr\u00fcnblinder).\nTabelle III.\n\u00dcbersichtstabelle der Erkennungszeiten (in o).\nFarben\tNormale Tricbromaten\t\t\t\t\tAnomale Trichromaten\t\t\tDichromat\n\tPf.\tv. H.\tA.\tSch.\tMittel\tProf. Sch.\tVerf.\tMittel\tProf. N.\nRot\t11 Vi\t12\t1174\t1174\t11,44\t31\t26\t287,\t\t\nOrange\t1174\t12\t10\t1174\t11,12\t26\t31\t287,\t\u2014\nGelb\t1174\t12\tios/4\t1174\t11,31\t15\t15\t15\tio74\nGr\u00fcn\t103/4\t12\t12\t1174\t11,50\t\u2014\t53\t53\t\u2014\nBlau\t1174\t12\t12\t1174\t11,62\t15\t15\t15\t1074\nViolett\t12\t12\t12\t1174\t11,81\t\u2014\t31\t31\t\u2014\nDie Tabelle zeigt also, dafs die Zeiten, die die Anomalen zum Erkennen einer Farbe brauchen, erheblich gr\u00f6fser sind, als die der Normalen. Bemerkenswert ist Gleichm\u00e4fsigkeit der Minimalzeiten der Normalen f\u00fcr alle Farben, sowie die geringen individuellen Abweichungen. Die Zahlen der Anomalen weichen sowohl f\u00fcr die einzelnen Farben wie f\u00fcr die Versuchspersonen erheblich mehr voneinander ab. Interessant ist die geringe Zeit, die der Farbenblinde (Prof. Nagel) brauchte, um die beiden einzigen ihm m\u00f6glichen Unterschiede : \u201eblau (kalt) und gelb (warm) zu machen. Die Aufgabe ist f\u00fcr ihn, dessen Unterscheidungsm\u00f6glichkeiten auf zwei reduziert sind, eben unendlich viel einfacher, als f\u00fcr die anderen Versuchspersonen. Gelb und Blau sind \u00fcbrigens auch die Farben, die die Anomalen in der k\u00fcrzesten Zeit erkennen k\u00f6nnen.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 42.\n4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nAlfred G-uttmann.\nEine Erg\u00e4nzung dieser an zwei Gr\u00fcnschwachen gewonnenen Resultate gelang mir bei sp\u00e4terer Gelegenheit: bei einem Vortrag benutzte ich zur Demonstration der Differenzen in den Erkennungszeiten der normalen und anomalen Trichromaten den Projektionsapparat, in den ich abwechselnd rote, gelbe, gr\u00fcne und blaue Gl\u00e4ser stellte. Davor befand sich das Tachistoskop. Nachdem nun auf dem Projektionsschirm f\u00fcr wenige o eine farbige, kreisrunde Fl\u00e4che sichtbar geworden war, richtete ich an das Auditorium die Frage, welche Farbe zu sehen gewesen sei. W\u00e4hrend die Mehrzahl alle Farben sicher erkannt hatte, hatte eine Anzahl von Personen bei dieser kurzen Exposition nur den Eindruck der Helligkeit, nicht der Farbe gehabt; bei etwas l\u00e4ngeren Expositionen unterschieden sie dann nur, ob eine \u201ewarme\u201c oder eine \u201ekalte\u201c Farbe dargeboten war. Unter diesen Personen, die also scheinbar die gleichen Farbenempfindungen hatten, befanden sich nun aber folgende Typen: Gr\u00fcnblinde, Rotblinde, Gr\u00fcnschwache und Rotschwache \u2014 und zwar recht zahlreich. Dieser \u201eMassenversuch\u201c best\u00e4tigte also die Beobachtung, die ich schon an zwei Gr\u00fcnanomalen einige Jahre vorher gemacht hatte, vollkommen.\n\u00a7 2. Versuche mit Spektralfarben.\nNach Abschlufs obiger Versuche machte ich eine gr\u00f6fsere Zahl von Versuchsreihen, bei denen an die Stelle der Pigmentfarben Spektralfarben traten. Neben anderen Gr\u00fcnden, die mir die Ausdehnung dieser Versuche auch auf spektrale Lichter ratsam erscheinen liefsen (z. B. die gr\u00f6fsere Reinheit der spektralen Farben, ihre leichte Identifikation, Unabh\u00e4ngigkeit vom wechselnden Tageslicht u. a.), war es in erster Linie der Vorteil, dafs ich hierbei, ohne die Qualit\u00e4t der Farbe zu \u00e4ndern, in ziemlich erheblichem Mafse \u00c4nderungen der Helligkeiten vornehmen konnte, indem ich den Spalt des Spektralapparates verengerte oder erweiterte. Die Gr\u00fcnde f\u00fcr diese Modifikation sind bereits im Kap. I, S. 38 betont. Ich werde sie noch in extenso bei sp\u00e4terer Gelegenheit besprechen. So war es m\u00f6glich, z. B. ein Gelb von 589 pp (Na.) dunkler erscheinen zu lassen, als ein Orange, oder ein Blaugr\u00fcn dunkler als ein Blau kurz jene Fehlerquelle aus der Welt zu schaffen, auf die ich im vorigen Kapitel hinwies: die M\u00f6glichkeit, Pigmentfarben nicht sowohl an ihrer Qualit\u00e4t als an anderen Merkmalen zu","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n51\nerkennen. Trotz aller Bestrebungen, m\u00f6glichst mit den Pigmenten\nzu variieren, gelang es ja doch nach einiger Zeit, aus diesen\nsekund\u00e4ren Kriterien gewisse Schl\u00fcsse zu ziehen. Wenn die\nVersuchsperson einen Eindruck von gr\u00f6fserer Helligkeit gehabt\nhatte, so war es klar, dafs es sich nicht um Rot oder Violett\n\u2022 \u2022\nhandeln konnte; auch konnte sich aus der \u00c4hnlichkeit mancher Eindr\u00fccke untereinander (z. B. gelb und orange) im Zusammenhang mit den Helligkeitsunterschieden manches erschliefsen lassen \u2014 Dinge, die eben auf der Unm\u00f6glichkeit beruhen, die Helligkeiten von Pigmentfarben zu ver\u00e4ndern, ohne zugleich ihre Qualit\u00e4t zu ver\u00e4ndern. Ich h\u00e4tte mir ja auch mit Farbkreisein helfen k\u00f6nnen; jedoch w\u00e4re dies Verfahren sehr umst\u00e4ndlich und nicht so reinlich, wie bei Spektralfarben gewesen. Die Versuchsanordnung war ganz \u00e4hnlich, wie bei den oben beschriebenen Versuchen.\nF\u00fcr diese ebenfalls im hiesigen psychologischen Institut ausgef\u00fchrten Versuche benutzte ich ein mir von Prof. Nagel freundlichst geliehenes Koenigsches Spektralphotometer. Ich konnte nach jedesmaliger Aichung mittels der Na-Linie, nachdem ich einmal alle in Betracht kommenden Linien bestimmt hatte, an der Skala des Apparats die ungef\u00e4hre Wellenl\u00e4nge der Farbe ablesen, die ich einstellte. Um nicht durch die, bekanntlich recht betr\u00e4chtlichen individuellen Abweichungen der Farbenbezeichnungen meiner Versuchspersonen zu falschen Schl\u00fcssen auf abweichende Farbenempfindungen zu gelangen, stellte ich zun\u00e4chst fest, welche Wellenl\u00e4ngen von allen in Betracht kommenden Personen \u00fcbereinstimmend benannt wurden, wenn sie kurze Zeit, etwa eine Sekunde, betrachtet wurden. So wurde consensu omnium bestimmt, dafs Rot zu sehen war, wenn die Skala etwa von 300\u2014375 zeigte, Orange war dann bei ca. 395, Gelb bei 408(Na-Linie) \u2014410, Gr\u00fcn etwa bei 470\u2014490, Blau begann bei 560.1 Diese Farben wurden nun bei kurzen Expositionen beurteilt. Zwischenstufen wurden fortgesetzt ebenfalls dargeboten, um die Versuchspersonen zu verwirren resp. die Bildung sekund\u00e4rer Kriterien zu verhindern; aus eben diesem Grunde wurden auch die Farben in 3 verschiedenen Helligkeiten gezeigt.2 Wie diese\n1\tViolett mufste ich ganz fortlassen, weil es zn dunkel ist, um bei kurzer Exposition \u00fcberhaupt bemerkt zu werden.\n2\tIn den Tabellen sind die 3 Helligkeitsgrade mit h{= hell) m(= mittel) und d(\u2014 dunkel) bezeichnet.\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nAlfred Guttmann.\nbeiden Erschwerungen die Urteilsbildung beeinflussen, wird in den Tabellen ersichtlich sein.\nMeine Y er Suchsanordnung, um diese Farben bei kurzen Expositionen darzubieten, bestand darin, dafs ich das Tachisto-skop zwischen Spektralapparat und Lichtquelle (Gasgl\u00fchlicht hinter einer Mattglasscheibe) einschaltete. Die Regulierung und Messung der Geschwindigkeit geschah in der gleichen Weise, wie bei den Pigmentfarbenversuchen. Auch diese Versuche fanden bei Tageslicht im gleichen Zimmer, wie die fr\u00fcheren Versuche, und unter sorgf\u00e4ltiger Aufrechterhaltung der (Zimmer-) Helladaptation statt.\nTabelle IV.1\nZeit: 15,7 o.\nSkalenteil1 2\tObjektive Farbe\tNormale Versuchsp. v. H.\tAnomale Versuchsp. : Verf.\n350\trot\trot\tgr\u00fcn\n\t\trot\talabaster\n\t\trot\tgelb vermutl. rot\n380\torange\torange\torange\n\t\torange\tgelbgr\u00fcn\n\t\trotgelb\tgelb\n391\tNa.-Linie\tr\u00f6tlich gelb\talabaster\n\t\tgelb\tblaugr\u00fcn\n\t\tNa.-gelb\talabaster\n425\tgr\u00fcn\tgr\u00fcn\talabaster\n500\tblau\tschwaches, gr\u00fcnl. blau\tblaugr\u00fcn\n\t\tblau\tblau\n\t\tblau\tvermutl. blau\nZeit: 7 o.\n350\trot\tr\u00f6tlich\t?\n380\torange\trotgelb\t?\n391\tNa.-Linie\tgelb\talabaster\n425\tgr\u00fcn\tgr\u00fcnlich\t?\n430\tgr\u00fcn\tblau\t\n1\tAus Gr\u00fcnden der \u00fcbersichtlichen Darstellung w\u00e4hle ich f\u00fcr die Tabellen der Spektralfarbenversuche die Reihenfolge, dafs ich, mit den gr\u00f6fseren Zeiten beginnend, mit den Minimalzeiten schliefse \u2014 entsprechend der Reihenfolge der Versuche selbst.\n2\tBei dieser Versuchsreihe lagen die Metalllinien, mit denen ich die Wellenl\u00e4ngen der verwendeten Lichter feststellte, anders als bei allen folgenden Versuchen; diese Skalenzahlen weichen also von den genannten etwas ab.","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n53\nDiese Tabelle stammt aus Parallel versuch en zwischen einem Anomalen und einem Normalen. Sie ist aus der ersten Reihe von Versuchen entnommen, die ich im Sommersemester 1903 ausf\u00fchrte und zeigt in aufserordentlich charakteristischer Weise, dafs der Anomale einem kurz dauernden farbigen Reiz gegen\u00fcber (7 a), den der Normale schon gut erkennt, v\u00f6llig dem Totalfarbenblinden gleicht. Dafs im Gesichtsfeld eine Ver\u00e4nderung in dem Moment vorgeht, wo die Farbe sichtbar wird, bemerkt er wohl. Er erkennt, dafs eine mehr oder weniger grofse Aufhellung stattfindet, die st\u00e4rkste bei Gelb; aber dafs eine Farbe erscheint, ist ihm v\u00f6llig unbemerkbar. Noch weniger vermag er nat\u00fcrlich anzugeben, welcher Art diese Farbe war.1 F\u00fcr eine gr\u00f6fsero Zeit (15,7 o) zerfallen die Farben in eine Kategorie einander sehr \u00e4hnlicher Farben \u2014 vom Rot bis zum Gr\u00fcn bzw. Blaugr\u00fcn \u2014 und das von jenen v\u00f6llig abweichende Blau. Im ganzen \u00e4hnelt seinSehenalso hierdemdes(Partiell-)Farbenblinden: er trennt ausschliefslich in warme und kalte Farben. Innerhalb der \u201ewarmen Farben\u201c verwechselt er also Rot, Orange, Gelb und Gr\u00fcn untereinander. Seine Urteile sind nur vielleicht noch etwas unsicherer ; einmal wird das warme Na.-Gelb mit \u201eBlaugr\u00fcn\u201c (also einer kalten Farbe verwechselt). Auf die Gr\u00fcnde daf\u00fcr habe ich weiter oben schon hingewiesen. Prof. Schumann verhielt sich ganz \u00e4hnlich ; bei 20 \u00f6 z. B. nannte er alle diesseits vom Skalenteil 425 liegenden Farben \u201egelblich\u201c, alle jenseits liegenden \u201ebl\u00e4ulich\u201c.\nDafs diese \u00c4hnlichkeit zwischen den Farbenempfindungen der Farbenschwachen und Farbenblinden bei kurz dauernden Reizen ganz allgemein ist, zeigt auch mein oben beschriebener Massenversuch.\nIch komme nun zu den ausf\u00fchrlichen Versuchsreihen, die ich abwechselnd als Versuchsleiter und als Versuchsperson mit Hrn. Kollegen Pfungst im Psychologischen Institut ausf\u00fchrte (Sommer 1906). Wir waren beide etwa gleich ge\u00fcbt.2 Die Versuche sind an sch\u00f6nen, hellen Tagen kurz hintereinander vorgenommen worden. Sie geben also am besten ein Bild von\n1\tDen Ausdruck \u201ealabaster\u201c gab ich h\u00e4ufig zu Protokoll, um damit auszudr\u00fccken, dafs ich den Eindruck einer hellen, transparenten, v\u00f6llig farblosen Fl\u00e4che hatte, die mich lebhaft an die Fl\u00e4che eines Alabaster-Photometers erinnerte.\n2\tDer Einflufs der \u00dcbung zeigt sich in der Verminderung der Erkennungszeiten im Vergleich zu den oben genannten Zeiten.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nAlfred Guttmann.\nden Unterschieden in den Erkennungszeiten der Farben f\u00fcr Normale und Anomale. Vielleicht sind diese Differenzen noch gr\u00f6lser, als es mir festzustellen gelang. Hr. P. konnte bei den geringsten Zeiten manche Unterscheidungen noch mit ziemlicher Sicherheit machen, als das Tachistoskop, das f\u00fcr derartige Geschwindigkeiten nicht konstruiert ist, in St\u00fccke sprang. Da dies, aus Gr\u00fcnden der Zentrifugalkraft, mit einer gewissen Unannehmlichkeit f\u00fcr die Glieder der Beteiligten verbunden war, sah ich davon ab, die Schnelligkeit (nach Reparatur des Apparates) noch mehr zu steigern. Der Spalt liefs sich auch nicht mehr verengern, also war eine k\u00fcrzere Zeit nicht zu erreichen. Indessen sind auch so schon die Differenzen zwischen den beiden Versuchspersonen aufserordentlieh grofs. Die Schwelle der Farbenempfindung f\u00e4llt offenbar beim Normalen mit der Schwelle der Lichtempfindung zusammen. Die folgende Tabelle, ebenso konstruiert, wie die vorige, zeigt die Urteile des Normalen von 0,87 g an bis zu der k\u00fcrzesten von mir erreichten und gemessenen Expositionszeit, die etwa\tSekunde\nbetr\u00e4gt.\nTabelle V.\nVersuchsperson: Hr. P.\nZeit = 0,87 o.\nSka- len- teil\tObjektive Farbe\tUrteile\tBemerkungen\n395\tOrange\tStarkes Botgelb. Orange.\t\n408\tNa.-L.\tNa.-Gelb.\t\n425\tGr\u00fcngelb\t\tAlles sicher!\n468\tGr\u00fcn\t> Alles richtig.\t*\n560\tBlau\t\t\t\nZeit = 0,69 o.\n350\\ 360) 395\tRot Orange\tRot \u2014 Typisches Rot \u2014 R\u00f6tl. Gelb. R\u00f6tl. Gelb, noch nicht\t\t\n\t\tOrange. Sicher Rot. Rot, etwas nach Gelb. R\u00f6tl. Gelb, nicht Orange\t\t\n\t\t\t\t\n\t\t(h.), Orange (d.).\tRot sicher, Orange,\t\n400 408\tGelborange Na.-L.\tR\u00f6tl. Gelb, kein Orange. Gelb. Br\u00e4unlich, etwa Na.-Gegend (h.).\tGelb gr\u00fcn\tund Gelbunsicher.\n\t\tGelb, ins Gr\u00fcnliche spielend (d.). Na-Gelb (m.).\t\t\n\t\t\t\t\n425\tGr\u00fcngelb\tFahles, Gr\u00fcnlich-Blau.\t\t\n468\tGr\u00fcn\tGr\u00fcn. Sehr deutlich Gr\u00fcn.\t\t","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n55\nZeit = 0,55 o.\nSka- len- teil\tObjektive Farbe\tUrteile\tBemerkungen\n395\tOrange\tRot. Orange (h.). R\u00f6tlich, dem Rot nahe. Orange. Gelb. R\u00f6tl. Gelb. Bl\u00e4uliches Rot (d.). Hellrot (h.). Rot (in.). Orange.\tDie gleiche Unsicherheit wie bei 0,69 a.\n408\tNa.-L.\tNa.-Gelb oder Orange. Fahles, etw. gr\u00fcnl. Gelb. Gelb (h.). Etwas r\u00f6tliches Gelb (d.). Na.-Gelb (h.). Na.-Gelb (d.). Na.-Gelb (m.).\t\n500\tGr\u00fcn\tLichtschwaches Gr\u00fcn.\t\n560\tBlau\tDunkles Blau.\t\nZeit = 0,41 \u00f6.\n395\tOrange\tRot. Stark r\u00f6tliches Gelb.\tRot, Orange und\n408\tNa.-L.\tNa.-Gelb. R\u00f6tliches Gelb.\tGelb\twerden also nicht sicher\n468\tGr\u00fcn\tGr\u00fcn.\tunterschieden.\n560\tBlau\tBlau\t\nZeit = 0,2 o.\n380\tRot\tRot.\t\n395\tOrange\tRot. Rot, ziemlich Gelb.\tFortsetzung des\n408\tNa.-L.\tNa.-Gelb.\tVersuchs durch L\u00e4sion desTachi-\n425\tGr\u00fcnl. Gelb\tNa.-Gelb.\tstoskops unm\u00f6g-\n480\tBl\u00e4ul. Gr\u00fcn\tGr\u00fcnlich-bl\u00e4ulich.\tlieh.\n560\tBlau\tBlau\t\nDie folgende Tabelle gibt die Urteile des Anomalen.\nTabelle VI.\nVersuchsperson: Verfasser.\nZeit = 38 a.\nSka- len- teil\tObjektive Farbe\tUrteile\n350\tRot\tDunkles Rot.\n375\tRotorange\tSehr dunkles Orange. Orange.\n375\tRot\tGelb. R\u00f6tl. Gelb.\n410\tNa.-L.\tSicher Gelb. Sehr farbloses Gelb (also wohl Gr\u00fcn?).\n450\tGelbgr\u00fcn\tGelb.\n480\tGr\u00fcn\tFast rein Gr\u00fcn, Spur gelblich.\n490\tGr\u00fcn\tFarblos (also Gr\u00fcn). Farblos (also Gr\u00fcn).\n500\tGr\u00fcn\tGr\u00fcn (weil farblos).\n560\tBlau\tBlau","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nAlfred Guttmann.\nZeit = 17,5 o.\nSka- len- teil\tObjektive Farbe\tUrteile\n350\tRot\tRot (m.). Farblos (h.). Farblos (d.).\n375\tRotorange\tOrange.\n390\tOrange\tGelb nach Orange zu. Orange.\n395\tOrange\tOrange. Gelb. Fahles Orange. Gelb.\n410\tNa.-L.\tTeil gelblich, teils farblos. Dunkelgelb (Orange?)\n485\tGr\u00fcn (h.)\tFast farblos, etwas gelblich.\n490\tGr\u00fcn (d.)\tGanz dunkle, \u201ekalte\u201c Farbe. Farblos (Spur gelblich?)\n500\tGr\u00fcn (m.)\tV\u00f6llig farblos.\n510\tGr\u00fcn (m.)\tV\u00f6llig farblos.\n520\tBlaugr\u00fcn\tEine Spur bl\u00e4ulich.\n560\tBlau\tBlau.\nZeit = 10,8 6.\n375\tRotorange\tR\u00f6tlich-Gelb.\n395\tOrange\tDeutlich Gelb.\n410\tNa.-L.\tSehr fahl, gelblich. Dunkles Gelb (eher nach Rot zu?)\n490\tGr\u00fcn\tFarblos. Ganz farblos. V\u00f6llig farblos.\n560\tBlau\tBlau.\nZeit = 4,1 o.\n350\tRot\tFarblos, br\u00e4unlich.\t\n375\tRotorange\tOrange\t\n395\tOrange\tSehr unges\u00e4ttigtes Gelb.\tDunkles Gelb (d.). Rot (m.).\n\t\tHellrot, vielleicht Orange (h.).\t\n410\tNa.-L.\tSchmutzig Gelb. Farbloses, br\u00e4unliches Gelb. Orange.\t\n480\tGr\u00fcn\tSchwaches Blau.\t\n485\tGr\u00fcn\tGanz Grau.\t\n490\tGr\u00fcn\tFarblos. Ganz farblos.\t> Neutrale Strecke!\n500\tGr\u00fcn\tFarblos.\t\n510\tGr\u00fcn\tFarblos.\t\n560\t1 Blau\tSpur bl\u00e4ulich. Blau.\t\nZeit = 2,5 o.\n350\tRot\tV\u00f6llig Farblos. Farblos. Farblos, aber \u201eWarm\u201c. Rot?\n375\tRotorange\tRot oder Orange. Hellrot oder Dunkelorange.\n395\tOrange\tOrange? R\u00f6tlicher als Na. Farblos, aber \u201eWarm\u201c. Lehmfarben. Lehmgelb. Unges\u00e4ttigtes Gelb.\n410\tNa.-L.\tGelb. Farblos (wie heller Lehm). Farblos (Gelb?)\n490\tGr\u00fcn\tV\u00f6llig farblos.\n560\tBlau\tBlau. Blau.\nZur Diskussion der Tabellen: Der Normale, der bei 0,87 o alles sicher erkannt hat, wird zuerst im Orange bei 0,69 o unsicher, insofern als er es manchmal f\u00fcr Rot h\u00e4lt, Na-Gelb","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n57\nwird f\u00fcr ein \u201eins Gr\u00fcnliche spielendes Gelb\u201c gehalten, das eigentliche Gr\u00fcngelb f\u00fcr \u201eGr\u00fcnlichblau\u201c ; bei 0,55 g wird auch Gelb oft nicht richtig erkannt, es wird mit r\u00f6tlichem wie gr\u00fcnlichem Gelb verwechselt ; bei 0,41 g werden Rot \u2014 Gelb \u2014 Gr\u00fcn noch unterschieden, das Na.-Gelb allerdings \u201er\u00f6tlich\u201c, das Rot \u201egelblich\u201c genannt. Noch weniger genau ist die Erkennung bei 0,2 a, indessen werden 3 Unterscheidungen: \u201erot\u201c, \u201egelb\u201c, \u201egr\u00fcnlichbr\u00e4unlich\u201c gemacht. Die Differenzierungen sind also qualitativ v\u00f6llig anders, als bei einem Dichromaten.\nGanz anders sowohl in quantitativer, wie qualitativer Art verh\u00e4lt sich der anomale Trichromat. Bereits seine Minimalzeiten f\u00fcr das Erkennen aller Farben (mit Ausnahme von Gr\u00fcn) sind fast 50 mal so grofs, wie die des Normalen, mit abnehmenden Expositionszeiten wird das Mifsverh\u00e4ltnis noch viel gr\u00f6fser. Schon bei der relativ langen Expositionszeit von 38 g ist er unsicher. Das Na.-Gelb erscheint ihm einmal so farblos, dafs er \u201eGr\u00fcn\u201c vermutet. Bei 17,5 g w\u00e4chst die Unsicherheit und \u2014 sehr charakteristischerweise \u2014 zeigt sich eine ganze Zone \u201ev\u00f6lliger Farblosigkeit\u201c (455\u2014510) die dem Gr\u00fcn und Gelbgr\u00fcn entspricht. Erst im Blaugr\u00fcn (bei 520) bemerkt er wieder eine Farbe, die er \u201eblau\u201c nennt. Etwa ebenso ist es bei 10,8 g. Bei 4,1 g verliert Rot seinen Charakter: \u201ebr\u00e4unlich\u201c oder \u201efarblos\u201c wird es genannt; die Bezeichnung \u201eOrange\u201c wird oft f\u00fcr Rot wie f\u00fcr Orange und f\u00fcr Na.-Gelb gebraucht, Gr\u00fcn wird als \u201eBlau\u201c oder \u201efarblos\u201c bezeichnet, Blau selbst wird richtig erkannt. Bei 2,5 g geht alles durcheinander, die meisten Farben erscheinen grau, farblos, etwa in der Art, wie eine nasse, lehmige Landstrafse aussieht; nur manchmal werden Ausdr\u00fccke wie \u201eindifferente, aber warme Farbe\u201c angewendet, in gleicher Weise f\u00fcr Rot wie f\u00fcr Gelb; nur Blau wird immer richtig, als etwas typisch von allen anderen (warmen) Farben verschiedenes, erkannt. Vgl. Tabelle auf S. 52.\nDie zunehmende Unsicherheit bei geringer werdenden Expositionszeiten gibt die n\u00e4chste kleine Tabelle \u00fcbersichtlich wieder, die aus obiger Tabelle gewonnen ist. In der ersten Rubrik stehen die objektiven Bezeichnungen der Farbe, in den n\u00e4chsten Reihen die subjektiven Bezeichnungen derselben Farbe bei abnehmenden Expositionszeiten.","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nAlfred Gruttmann.\nTabelle VIL Urteile des Anomalen.\nObjektiv\t38 a\t17,5 a\t10,8 o\t4,1 (7\t2,5 a\nRot\tRot\tSehr farblos, dunklesOrange. Rot. Orange.\tR\u00f6tlich gelb.\tOrange.\tRot oder Orange.\nOrange\tOrange Gelb\tOrange. Gelb.\tDeutliches Gelb.\tSehr unges\u00e4ttigtes Gelb. Rot. Hellrot, vielleicht orange. Dunkles Gelb.\tOrange? R\u00f6tlicher als Na.-Gelb. Farblos, aber \u201ewarm\u201c.\nNa.-Gelb\tSicher Gelb Sehr farbloses Gelb (also wohl Gr\u00fcn ?)\tTeils gelblich, teils farblos. Dunkelgelb (also Orange?)\tSehr fahl, gelblich. Dunkles Gelb, (eher nach Rot?)\tSchmutziggelb. Farbloses, br\u00e4unliches Gelb. Orange.\tGelb. Farblos. Farblos (gelb ?)\nGr\u00fcn\tFast reines Gr\u00fcn. \u2014 \u201eFarblos, also gr\u00fcn\u201c.\tFarblos (manchmal eine Spur gelblich,manchmal eine Spur bl\u00e4ulich).\tV\u00f6llig farblos.\tSchwaches Blau.\tV\u00f6llig farblos.\nBlau\tvakat.\tBlau.\tBlau.\tSpur bl\u00e4ulich. Blau.\tBlau.\nEs hat sich auch aus dem in diesem Paragraphen besprochenen Teil meiner Versuche eine sehr deutliche Minderwertigkeit des Anomalen einem kurz dauernden Farbeneindruck gegen\u00fcber ergeben. Diese Schw\u00e4che des Farbensinns zeigte sich besonders bei Spektralfarben; sie ging bei einer Verringerung der Expositionszeiten in eine Empfindungsweise \u00fcber, die bisher als eigent\u00fcmlich f\u00fcr den Farbenblinden (Dichromaten) erschien. Bei einer weiteren Verminderung der Zeit, innerhalb deren ein Farbenreiz sichtbar wurde, gelang es, einen Zustand herzustellen, wobei der Anomale wohl noch eine Helligkeitsempfindung, aber keine Spur einer Farbenempfindung hatte ; damit ist die Analogie","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n59\nzum Totalfarbenblinden (Monochromaten) gegeben. Auch eine Beziehung zum D\u00e4mmerungssehen ist erkennbar. Es l\u00e4fst sich also der Farbenschwache experimentell1 gewissermafsen in einen Farbenblinden verwandeln. Ich komme in einem sp\u00e4teren Kapitel (Abh\u00e4ngigkeit der Farbenempfindung von der Gr\u00f6fse und Form der farbigen Fl\u00e4che) auf diese wichtige Frage zur\u00fcck.\nVergleicht man die Resultate der mit Spektralfarben an-gestellten Versuche mit den an Pigmentfarben gewonnenen, so f\u00e4llt zweierlei auf: einmal die grofse absolute Differenz der Erkennungszeiten der beiden Versuchsabteilungen; zweitens^ aber die unverh\u00e4ltnism\u00e4fsig viel ung\u00fcnstigere Stellung des Anomalen bei den Versuchen mit Spektralfarben im Vergleich zum Normalen. \u2014 Das erstere erkl\u00e4rt sich zwanglos aus der bei weitem gr\u00f6fseren Leuchtkraft und Reinheit der Spektralfarben. Der zweite Punkt wird erkl\u00e4rt, wenn ich daran erinnere, dafs der Anomale in weit h\u00f6herem Mafse auf Grund sekund\u00e4rer Kriterien urteilt, als auf Grund des eigentlich in Frage stehenden Kriteriums der Farbenqualit\u00e4t. Nun fehlen aber bei den Spektralfarben solche sekund\u00e4ren Kriterien v\u00f6llig, bei den Pigmentfarben sind sie dagegen, wie oben ausgef\u00fchrt, in hohem Mafse vorhanden (vgl. S. 51 f.). Daher geben eigentlich nur die mit Spektralfarben vorgenommenen Versuche ein richtiges Bild von der Minderwertigkeit des Anomalen farbigen Reizen gegen\u00fcber. Bei den Pigmentfarbenversuchen m\u00fcfste man noch den Faktor der sekund\u00e4ren Kriterien in Rechnung bringen.\n\u00a7 3. Versuche mit zwei (resp. mehreren) gleichzeitig sichtbar werdenden Pigmentfarben.\nZur Untersuchung dieser Frage wurde ich durch folgende \u00dcberlegung angeregt: wenn der Farbenschwache zum Erkennen einer Farbe das Mehrfache der Zeit des Normalen braucht, so ist damit ja noch nicht ohne weiteres gesagt, ob dieser Mehrverbrauch an Zeit etwa in geometrischer oder arithmetischer Progression mit der Zahl der zu erkennenden Farben w\u00e4chst. Brauchte z. B. der Normale, um Rot oder Gelb zu erkennen je 10 ex, der Anomale je 50 ex, so k\u00f6nnte der Normale f\u00fcr Rot und Gelb, wenn sie\n1 Dieser experimentellen Anordnung entsprechen in praxi die sogenannten \u201eBlinkfeuer\u201c auf See; das sind ganz kurz aufblitzende, farbige und farblose Leuchtturmsignale, die h\u00e4ufig die besonders gef\u00e4hrlichen Einfahrten u. dgl. kennzeichnen.","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nAlfred Guttmann.\ngleichzeitig sichtbar wurden, 2 X 10 o brauchen, der Anomale 2 X 50 o usw. ; aber es w\u00e4re auch denkbar, dafs der Anomale durch die simultane Sichtbarkeit zweier Farben in ganz anderer Weise beeintr\u00e4chtigt w\u00fcrde, als der Normale. Jedenfalls mufste experimentell ergr\u00fcndet werden, wie sich der Anomale in einer Situation verhielt, die derjenigen sehr \u00e4hnlich war, in die man im t\u00e4glichen (oder besser \u201en\u00e4chtlichen\u201c) Leben h\u00e4ufig kommt: mehrere farbige Lichter gleichzeitig nebeneinander zu sehen und erkennen zu m\u00fcssen. Auf wiederholten, n\u00e4chtlichen Schiffsfahrten hatte ich, noch mehr als auf Bahnh\u00f6fen oder auf strafsen-bahnfeichen Verkehrswegen, bemerkt, dafs ich nicht imstande bin, mehrere Farben, die ich gleichzeitig sehe, sofort richtig zu erkennen. Ich mufs mir erst \u00fcber die eine klar werden, ehe ich meine Aufmerksamkeit auf die andere richten darf. Es ist aber gerade in diesen Situationen f\u00fcr gewisse Kategorien von Berufsklassen von der allerh\u00f6chsten Bedeutung, \u201eim Augenblick\u201c mehrere Farben zu erkennen und danach zu handeln. Ich mufs das, soweit es die Schiffart betrifft, f\u00fcr nautisch unerfahrene Leser erl\u00e4utern : bei Nacht werden Gr\u00f6fse und Fahrtrichtung eines Schiffes durch die 3 Positionslaternen gekennzeichnet; w\u00e4hrend eine rote Laterne sich auf der linken (Backbord-)Seite befindet, zeigt die gr\u00fcne Laterne die rechte (Steuerbord-)Seite an, ein farbloses (gelbliches) Licht bezeichnet die H\u00f6he (Kommandobr\u00fccke). Diese Positionslaternen, die nach internationalen Abmachungen bei allen Kulturv\u00f6lkern gleich sind, bieten die Gew\u00e4hr f\u00fcr die Fahrtrichtung. Von welcher vitalen Bedeutung f\u00fcr die ganze Schiffahrt daher die Erkennung dieser Farben durch die verantwortlichen F\u00fchrer des Schiffes ist, kann eigentlich nur ermessen, wer, wie Verf., h\u00e4ufig nachts bei schlechtem Wetter auf belebten, engen Fahrstrafsen, auf Binnengew\u00e4ssern und auf See gefahren ist und gesehen hat, dafs ohne dies oft blitzschnell n\u00f6tige Erkennen der Signalfarben ein Schiff verloren sein kann. Indessen geh\u00f6ren diese Beobachtungen nicht in diese Zeitschrift. Ich habe sie kurz schon in einer Fachzeitschrift ver\u00f6ffentlicht1, glaubte aber hier begr\u00fcnden zu sollen, warum ich diese f\u00fcr die Theorie vielleicht weniger interessanten Versuche begann und warum ich gerade auf sie solchen Wert lege.\nDiese Versuche f\u00fchrte ich im Physiologischen Institut aus.\n1 Hansa. Deutsche nautische Zeitschrift. Hamburg. Jahrg. 44, Nr. 15.","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n61\nDa ich bald erkannte, dafs ich recht lange Zeiten, f\u00fcr die das Tachistoskop nicht gen\u00fcgte, n\u00f6tig hatte, ging ich zu folgender Versuchsanordnung \u00fcber: an dem unteren Ende eines 21I2 m langen, pendelartig auf geh\u00e4ngten Stabes befestigte ich eine grofse Papptafel mit einem durch einen Schieber variablen Schlitz. Diese Pendelvorrichtung hing ich mitten an der Supraporte einer zwei Arbeitszimmer trennenden T\u00fcr auf. Freischwebend befand sich der Schlitz gerade vor dem in der T\u00fcr angebrachten Tableau mit Farben, das ich sogleich beschreiben werde. Wenn ich diese Pendelvorrichtung seitlich (z. B. nach rechts) zog, so verdeckte die (linke) Seite der Pappscheibe das Tableau. Ich brachte nun auf der rechten Seite der T\u00fcr eine Arretierung an, die die Papptafel in dieser Lage festhielt. L\u00f6ste man die haltende Schnur, so schlug der Pendel nach links aus und dabei passierte die Papptafel resp. der Schlitz darin vor dem Tableau, so dafs die Farben eine kurze Zeit im Schlitz sichtbar waren. Auf der linken Seite der T\u00fcr befand sich nun eine zweite Arretierung, die den Pendel auffing und festhielt, so dafs nun die Papptafel mit ihrer rechten H\u00e4lfte das Tableau verdeckte. Die Zeit, innerhalb deren im Schlitz die Farben sichtbar waren, wurde folgendemafsen gemessen: unterhalb des Weges, den der Pendel zur\u00fccklegte, befand sich ein langer Tisch; auf diesem standen zwei Wippen, die nur bei einer gewissen Stellung einen Stromkreis bildeten, in den ein HiPPsches Chrono-ekop eingeschlossen war. Standen die beiden Wippen z. B. nach rechts oder beide nach links, so war kein Strom vorhanden ; wenn jedoch die rechte Wippe nach links und die linke nach rechts stand, war der Strom geschlossen und das Chronoskop lief so lange, wie diese Stellung der Wippen andauerte. An dem Pendel befestigte ich nun eine geeignete Vorrichtung, die dies Umwerfen der beiden, nach rechts stehenden Wippen besorgte, w\u00e4hrend der Pendel dar\u00fcber hinwegglitt. Jetzt mufsten die beiden Wippen nur soweit voneinander entfernt aufgestellt werden, dafs der Pendel den Strom in dem Augenblick schlofs, wo die Farben im Schlitz sichtbar wurden und in dem Augenblick wieder \u00f6ffnete, als die Farben wieder verschwanden, \u2014 dann konnte man am Chronoskop die Zeit ab lesen, innerhalb derer die Farben sichtbar gewesen waren. Dafs diese Versuchsanordnung nicht \u201ebis auf die f\u00fcnfte Dezimale44 genaue Resultate abzulesen gestattet, ist klar. Indessen kommt es ja hierbei nur auf die Relation der Erkennungszeiten des","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nAlfred Guttmann.\nNormalen und Anomalen an. Und diese w\u00fcrden auch mit noch viel einfacheren Methoden zu erkennen sein, wie aus den Resultaten ersichtlich sein wird. Auch die von mir benutzten Farben sind, da es keine Spektralfarben waren, qualitativ nicht genau zu bestimmen. Die farbigen Lichter f\u00fcr diese Versuche stellte ich mir so her : in eine Pappscheibe von etwa 40: 50 cm Gr\u00f6fse schnitt ich eine grofse Anzahl kreisf\u00f6rmiger L\u00f6cher von etwa 2 cm Diameter; \u00fcber diese L\u00f6cher klebte ich farbige und farblose Gl\u00e4ser und Gelatineplatten und zwar in den verschiedensten Helligkeiten (durch \u00dcbereinanderkleben). So hatte ich auf dem Tableau z. B. drei verschieden helle, aber qualitativ gleiche Rot, zweierlei Gelb, deren Helligkeiten zwischen denen der roten Kreise standen u. a. Von diesen vielen kreisrunden Farbfl\u00e4chen wurden durch eine Schiebervorrichtung immer nur zwei zu gleicher Zeit sichtbar gemacht ; es liefsen sich alle Kombinationen hersteilen. Dies Tableau wurde, wie oben erw\u00e4hnt, in die Trennungst\u00fcr zwischen zwei Zimmer eingelassen und mit einer Auerlampe von r\u00fcckw\u00e4rts beleuchtet. Die im Nebenzimmer sitzende Versuchsperson sah also die zwei Farben nur in der Zeit, w\u00e4hrend der Schlitz der Pappscheibe sich vorbeibewegte. Diese Zeit wurde ausschliefslich dadurch variiert, dafs der Schlitz in seiner Breite ver\u00e4ndert wurde ; die Amplitude des Pendels war konstant. Es gelang, nach manchen mifslungenen Vorversuchen, eine Schwingung zu finden, innerhalb deren f\u00fcr den Normalen wie f\u00fcr den Anomalen zwei Farben nur durch Enger- oder Breitermachen des Schlitzes eben deutlich sichtbar gemacht werden konnten. Als Versuchspersonen fungierten Dr. Piper, der damalige Assistent der physikalischen Abteilung des physiologischen Instituts, als Normaler und ich selbst als Anomaler. Die Versuche wurden als Parallel versuche unter den bereits genannten Kautelen ausgef\u00fchrt.\nSehr bald zeigte sich eine eigent\u00fcmliche Erscheinung: zwar, dafs der Normale bei einer bestimmten Zeit (die z. B. einer Schlitzweite von 6,5 cm entsprach) die Kombinationen rot-gr\u00fcn, gelb-gr\u00fcn, gelb-rot richtig erkannte, w\u00e4hrend der Anomale eine viel l\u00e4ngere Exposition (Schlitz = 25,5 cm) brauchte, um zu verh\u00e4ltnism\u00e4fsig deutlichen Farbeneindr\u00fccken zu gelangen, war zu erwarten \u2014 jedoch dieser subjektiven Sicherheit entsprach durchaus nicht die objektive Richtigkeit: denn die Kombination rot-gelb wurde immer f\u00fcr rot-gr\u00fcn erkl\u00e4rt. Dieser Fehler blieb","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n63\nkonstant, so sehr auch die Expositionszeit verl\u00e4ngert wurde. Er ist auch nicht zu eliminieren, denn er beruht (wie ich hier vorwegnehmen mufs) auf einer Erscheinung, die beim Anomalen immer vorhanden ist : dem gesteigerten Simultankontrast. Ihmzufolge nennt der Anomale nie eine zugleich mit Rot gezeigte Farbe von Orangegelb (\u00fcber Gelb, Gelbgr\u00fcn) bis zum wirklichen Gr\u00fcn, anders als \u201eGr\u00fcn\u201c. (Ebenso wird die Weifs-Schwarz-Reihe und Mischfarben, wie Braun, f\u00fcr den Anomalen dadurch lebhaft ver\u00e4ndert. N\u00e4heres in dem Kapitel \u00fcber den gesteigerten Simultankontrast.)\nDamit w\u00e4re eigentlich die Frage nach den Zeiten, die der Anomale braucht, um zwei (oder mehr) Farben zu erkennen, umzu\u00e4ndern in die Frage : \u201ewelche Zeiten braucht der Anomale, um die ihm \u00fcberhaupt erkennbaren Kombinationen zweier (oder mehrerer), simultan nebeneinander dargebotenerer Farben zu erkennen?\u201c Schr\u00e4nken wir also einmal die Forderung ein und rechnen wir die Kombinationen: \u201erot-gr\u00fcn\u201c und \u201erot-gelb\u201c (bzw. rot-orange) als eine dem Anomalenfarbensinn gem\u00e4fse Kategorie zusammen, so kommen wir \u00fcberhaupt erst zu der M\u00f6glichkeit, zahlenm\u00e4fsige Belege f\u00fcr die Minderwertigkeit des anomalen Farbensinns gegen\u00fcber mehreren gleichzeitig sichtbaren Farben zu geben. Danach erkannte der Normale zwei simultan sichtbare Farben bei ca. 18 u, der Anomale bei 760 er ! Alle Versuche, 3 Farben innerhalb einer 1\u20142 Sek. langen Zeit zu erkennen, mifslangen, wie zu erwarten. Eine weitere Ausdehnung der Versuche h\u00e4tte nicht mehr den Wert einer exakten Messung gehabt, da die Versuchsperson sonst mit dem Auge von einer zur anderen Farbe h\u00e4tte hin- und zur\u00fcckgehen k\u00f6nnen. Damit aber w\u00e4re die Forderung der Erkennung \u201eauf den ersten Blick\u201c, die ja den Sinn der Fragestellung ausmacht, umgangen worden. Unsere Frage mufs also nun dahin beantwortet werden, dafs der Anomale verschiedene Kombinationen zweier Pigmentfarben auf den ersten Blick \u00fcberhaupt nicht, die ihm erkennbaren Farbenkombinationen erst in einer gegen den Normalen rund um das Vierzigfache gr\u00f6fseren Zeiteinheit erkennt. Auf Spektralfarben habe ich diese Untersuchungen nicht ausgedehnt; es leuchtet ohne weiteres ein, dafs diese Differenzen dabei noch viel gr\u00f6fser sein w\u00fcrden.\nIch fasse die Resultate des Kapitels III zusammen: meine Versuche haben die Best\u00e4tigung meiner Ver-","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nAlfred G-uttmann.\nmutung ergeben, dafs der Gr\u00fcnschwaehe l\u00e4ngere Zeit znm Zustandekommen der Gr\u00fcnempfindung als der Rotempfindung braucht. Es hat sich fernerhin herausgestellt, dafs auch die \u00fcbrigen Farben, wenngleich s\u00e4mtlich schneller als Gr\u00fcn, doch vom Anomalen viel langsamer erkannt werden, als vom Normalen.\nMit anderen Worten: die Dauerschwelle des Anomal en f\u00fcr Farbenempfindungen ist erheb lieh erh\u00f6ht.\n(Fortsetzung folgt.) (Eingegangen am 20. Februar 1907.)","page":64},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nUntersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\nVon\nDr. Alfred Guttmann (Berlin)\n(Fortsetzung.)1\nKapitel III.\nWelche Winkelgr\u00f6fsen braucht der Farbenschwache, um Farben\nzu erkennen ?\n\u00a7 1. Versuche mit Spektralfarben.\nDas auff\u00e4lligste Symptom der Farbenschwachen im t\u00e4glichen Leben ist ihre Minderwertigkeit gegen\u00fcber farbigen Objekten geringer Winkelgr\u00f6fse. Die Farbenschwachen berichten fast ausnahmslos, dafs sie die Farben der Strafsenbahnlaternen in einiger Entfernung schlecht erkennen k\u00f6nnten. Dafs sie gerade diese verh\u00e4ltnism\u00e4fsig grofsen, nur durch die Entfernung (subjektiv) kleinen Objekte nennen und nicht vielmehr auf ihre Unsicherheit gegen\u00fcber (objektiv) kleinen farbigen Gegenst\u00e4nden, Edelsteinen, Ebereschen oder Kirschen am Baum hinweisen, liegt daran, dafs sie gerade Strafsenbahnenlaternen h\u00e4ufiger \u201ein Parallelversuchen\u201c\n1 Im Anschlufs an den ersten Teil dieser Arbeit polemisiert Prof. Nagel in einem Artikel \u201eZur Nomenklatur der Farbensinnst\u00f6rungen\u201c gegen die von mir vorgescblagene Terminologie. Gleichzeitig macht er auch einige allgemeinere Bemerkungen \u00fcber die theoretische Bedeutung meiner Untersuchungen. Auf diesen, mir vor seinem Erscheinen unbekannten Artikel schon jetzt einzugehen, ist mir im Rahmen meiner in sich geschlossenen Arbeit nicht m\u00f6glich, zumal da ich den gr\u00f6fsten Teil der von mir gefundenen Tatsachen und meine davon abzuleitenden theoretischen Folgerungen noch gar nicht publiziert habe. Ich behalte mir daher eine Entgegnung vor, die ich dem Schlufsteil dieser Arbeit als Anhang beif\u00fcgen will.","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschiv\u00e4cJie.\n251\nbeobachten als andere farbige Objekte und dadurch auf ihre Minderwertigkeit aufmerksam werden.1\nDer genaueren Untersuchung dieses Sympt\u00f4mes dienten die nun zu beschreibenden Versuche. Wie ich bereits oben (S. 40 f.) ausf\u00fchrte, hatten meine Versuche \u00fcber die herabgesetzte Unterschiedsempfindlichkeit eine recht auff\u00e4llige Inkonstanz des Grades dieser Minderwertigkeit ergeben. Die dort angegebenen Zahlen bezogen sich auf Einstellungen von farbigen Fl\u00e4chen gleicher Helligkeit und erheblicher Winkelgr\u00f6fse. Ganz anders wurden die Resultate einmal bei wechselnder Helligkeit2, sodann bei V erring er ung der Winkelgr\u00f6fse. Zur quantitativen Messung der Unterschiede zwischen normalen und anomalen Trichromaten bei kleinen, fovea-grolsen Farbenfl\u00e4chen bediente ich mich nach den oben beschriebenen Erfahrungen nunmehr vorzugsweise der Spektralregion, die dem Natriumgelb entspricht. An dieser Stelle ist die Minderwertigkeit des Anomalen meines Typus auch gegen\u00fcber grofsen Fl\u00e4chen am st\u00e4rksten : sowohl einen erheblichen Gr\u00fcnzusatz, als auch einen nicht geringen Rotzusatz bemerkt er nicht. Das zeigt er am Spektralapparat dadurch, dafs er sowohl Gelbgr\u00fcn und Gr\u00fcn wie Orange als \u201eGleichung\u201c zum Na.-Gelb einstellt. Gerade diese f\u00fcr ihn ung\u00fcnstigste Stelle im Spektrum zu w\u00e4hlen, war zweckm\u00e4fsig, weil hier die Differenz zwischen ihm und dem Normalen am deutlichsten in die Erscheinung treten mufste. Auch an anderen Stellen des Spektrums h\u00e4tte sich ja eine Minderwertigkeit \u2014 vgl. Kap. I \u2014 ergeben; aber es h\u00e4tte sehr viel m\u00fchsamerer und ausf\u00fchrlicherer Versuche bedurft, um diese kleinen Minderwertigkeiten zahlenm\u00e4fsig zu belegen und sie von den physiologischen Schwankungen sicher zu unterscheiden. Ferner liegt gerade an dieser Stelle des Spektrums eins der beiden Maxima der Feinheit in der Unterschiedsempfindlichkeit\n1\tIch spreche nat\u00fcrlich von meinen Berliner Versuchspersonen; Seeleute und Inselbewohner w\u00fcrden von ihrer Unsicherheit Schiffslaternen gegen\u00fcber, Landleute vielleicht gerade von Schwierigkeiten beim Obstsuchen zu erz\u00e4hlen wissen. Die Objekte, an denen das Versagen des Farbensinnes bemerkbar werden kann, sind ja unz\u00e4hlbar. Je nach der Lebensart und dem Beruf sowie der Selbstbeobachtung des einzelnen Farbenschwachen wechseln sie.\n2\tZusammenh\u00e4ngend behandle ich dies Symptom im Kap. VII; einige Bemerkungen dar\u00fcber habe ich im Kap. I gemacht und mufs diese Frage hier kurz streifen und im Kap. IV ausf\u00fchrlicher behandeln.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nAlfred Gutbmann.\ndes Normalen f\u00fcr Farbent\u00f6ne. Nach Uhthoee 1 betr\u00e4gt in der Gegend der Na.-Linie der ebenmerkliche Unterschied nicht ganz 1\tUm so deutlicher mufste sich die Abweichung zeigen.\nN\u00e4heres \u00fcber Versuche mit anderen Farben berichte ich im \u00a7 2.\nDie f\u00fcr meine nun folgenden Parallelversuche angewendete Untersuchungsmethodik mittels Farbengleichungen war dieselbe, wie im Kapitel I, S. 38 beschrieben. Die Winkelgrofse der Farbe war foveal, sie liefs sich nach der Skala der am Okular-rohr befindlichen Irisblende leicht berechnen und sehr genau einstellen.\nDiese auf kleinem Gesichtsfelde gewonnenen Gleichungsresultate zeigen nun deutliche Differenzen im Verh\u00e4ltnis der normalen zu den anomalen Trichromaten. Erstere wurden in der Sicherheit ihrer Einstellungen nicht im geringsten beeinflufst : eine unge\u00fcbte Versuchsperson schwankte um 2 in maximo, eine andere, ge\u00fcbte (Dr. v. Hornbostel) um 1 pi-f eine dritte (Dr. Abelsdoree) stellte in einer Versuchsreihe jedesmal genau die Na.-Linie ein. Der Anomale aber stellte hier Farben als gleich ein, die um 20 mx entfernt lagen, ja eine Reihe zeigte sogar eine Abweichung bis zu 41 pfi. Diese Zahlen geh\u00f6ren also einer anderen Gr\u00f6fsenordnung an. Die Differenzen zwischen Normalen und Anomalen bei Einstellungen dieser Farbe mit grofsem Gesichtsfeld betrugen, wie erinnerlich, erheblich weniger. Gelegentliche Versuche mit anderen Anomalen meiner Art zeitigten entsprechende Resultate.\nWie erkl\u00e4rt sich nun diese auff\u00e4llig grofse Minderwertigkeit des Farbensinns der Fovea des Anomalen? Die Vermutung lag nahe, dafs die anatomische Sonderstellung der Fovea das Charakteristikum dieser Art der Farbenschw\u00e4che ausmache. Ergab sich, dafs die Unterschiedsempfindlichkeit nur in der Fovea so stark herabgesetzt sei, so liefsen sich wichtige theoretische Schl\u00fcsse ableiten. Von diesem Gedanken ausgehend wollte ich die Netzhaut nach folgenden Gesichtspunkten pr\u00fcfen; einmal sollten, nachdem ich bisher Fovea -f- extrafoveale Netzhautteile sowie die isolierte Fovea untersucht hatte, nunmehr allein die extra-fovealen Teile in toto, sodann aber parafoveale Teile, von der\n1\tUhthofe: Archiv f. Ophthalm. 34.\n2\tDer von mir benutzte HELMHOi/rzsche Farbenmischapparat erm\u00f6glicht jedoch nicht, an dieser Stelle weniger als 1 p,u abzulesen.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschiv\u00e4che.\n253\nGr\u00f6fse (resp. Form) der Fovea auf ihre Unterschiedsempfindlichkeit gepr\u00fcft werden.\nZum Zwecke der extrafovealen Unterschiedsempfindlichkeitsmessung hing ich im Ende des Okularrohres, in das der Beobachter am Farbenmischapparate hineinsieht, an einem aus zwei d\u00fcnnen Haaren gebildeten Fadenkreuz eine aus Zinnfolie ausgeschnittene, kreisf\u00f6rmige Scheibe auf, deren Gr\u00f6fse so gew\u00e4hlt war, dafs sie die Fovea verdeckte, wenn ihre Mitte fixiert wurde. Das letztere wurde dadurch erm\u00f6glicht, dafs man das Zinnbl\u00e4ttchen mit einer feinen Nadel in der Mitte perforierte ; der so gewonnene feine, auf der Grenzlinie der beiden Farbenhalbkreise liegende Fixierpunkt war v\u00f6llig farblos. Die Versuchsperson fixierte nun diesen Punkt und stellte in grofsem Felde eine Gleichung her; dazu beobachtete sie mittels des weitaus gr\u00f6fsten Teil der farbenempfindlichen Netzhaut, jedoch ausschliefslich der Fovea centralis. Wiederum zeigte sich eine deutliche Differenz zwischen normalen und anomalen Versuchspersonen: ein Normaler (Dr. v. H.) schwankte in maximo um 3 n/i, ein anderer (Dr. Piper) um 2 ^u, der Anomale (Verf.) um 16 (als bestes Ergebnis verschiedener Reihen) bis 19 uu (gr\u00f6fste Abweichung).\nNach diesem Ergebnis konnte man geneigt sein, folgenden Schlufs zu ziehen: wenn beim Anomalen die Unterschiedsempfindlichkeit der Fovea geringer ist, als die der extrafovealen Netzhautpartien, so mufs die anatomische Sonderstellung der Fovea die Veranlassung sein; mit anderen Worten: die Minderwertigkeit des Farbensinns der anomalen Trichromaten kann nicht ausschliefslich beruhen auf dem als Substrat der Farbenempfindung geltenden Zapfenapparat, sondern auch auf einer, des n\u00e4heren noch unbestimmbaren Mitwirkung der St\u00e4bchen. Diese Hypothese, die mit der KaiEsschen Duplizit\u00e4tstheorie unvereinbar w\u00e4re, wurde auch durch die folgenden Versuche nicht widerlegt, wenn auch nicht bekr\u00e4ftigt. Ich stellte mir, unter Benutzung der Zinnfolienscheibe ein schmales, ringf\u00f6rmiges, zirkumfoveales Feld her, indem ich, unter Beibehaltung der oben beschriebenen Versuchsanordnung, die am Okularrohr befindliche Irisblende verengerte. Wenn die Versuchsperson sich jetzt des Fixierpunktes bediente, so sah sie die dargebotenen Farben mit den unmittelbar um die Fovea gelegenen Netzhautpartien. Die gesamte sichtbare Fl\u00e4che d\u00fcrfte die Gr\u00f6fse des fovealen Bezirkes nicht erheblich \u00fcberschritten haben. Das Resultat war, dafs die normalen Ver-","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nAlfred G-uttmann\nsuchspersonen (Dr. v. H. und Dr. A.) um 2 pp in ihren Einstellungen schwankten; der Anomale (Verf.) wich um 25\u201441^ von der wirklichen Gleichung ab.\nAus dem Vergleich der Resultate dieser drei Versuchsanordnungen ergibt sich zun\u00e4chst die bisher beim anomalen Trichromaten meiner Art nicht beobachtete Tatsache, dafs seine an sich schon verminderte Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr diese Spektralregion durch eine Verkleinerung des Gesichtswinkels noch mehr herabgesetzt wird. Auff\u00e4llig war aber noch, dafs es f\u00fcr den Grad dieser Herabsetzung gleichg\u00fcltig schien, ob man foveal oder parafoveal beobachtete. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Versuchsanordnungen mit kleinem Gesichtswinkel bestand nun offenbar ferner in der verschiedenen Form der dargebotenen Farbfl\u00e4chen: der fovealen Betrachtung hatte eine kreisf\u00f6rmige Fl\u00e4che, der zirkumfovealen aber eine ringf\u00f6rmige Fl\u00e4che gedient. Die Entscheidung, ob nicht die hierdurch bedingte, verschiedenartige gegenseitige Beeinflussung der einzelnen Netzhautelemente eine Rolle spielte, liefs sich erst geben, wenn man mit der Sehweise der Fovea die Sehweise einer direkt daneben liegenden foveagrofsen, auch in der Form der Fovea entsprechenden Netzhautpartie verglich. Sehr leicht liefs sich aus Zinnfolie eine derartige Maske herstellen: wenn die Versuchsperson den Fixierpunkt benutzte, bot sich ihr nur eine dicht neben der Fovea liegende ann\u00e4hernd runde Fl\u00e4che dar. Im ersten Vorversuch stellte ich diese Fl\u00e4che gr\u00f6fser, als dem Gesichtswinkel der Fovea entspricht, her. Schon dabei trat eine deutliche Fierabsetzung der Unterschiedsempfindlichkeit des Anomalen im Vergleich zum Normalen in die Erscheinung : Dr. Pipees Einstellungen differierten in maximo um4^, die des Verf.s um 48,^. Der Versuchsleiter (Dr. P.), \u00fcberrascht durch die von ihm nicht erwartete Gr\u00f6fse der Herabsetzung meiner Unterschiedsempfindlichkeit, liefs mich alle diese \u201eGleichungen\u201c unwissentlich nochmals betrachten: ich fand alles g\u00fcltig. Als ich sie dagegen dann foveal betrachten mufste, bemerkte ich deutlich die Verschiedenheit der extremen Ein-Stellungen. Nun wurde das parafoveale Feld durch Uberkleben mit Staniol soweit verkleinert, dafs es der Foveagr\u00f6fse entsprach. Wieder betrug die Abweichung des Normalen 4 pp (Dr. P.) bis 5 pp (Dr. v. H.), die des Anomalen wuchs auf 127 pp. Die extremsten Einstellungen waren 649 pp, ein beinahe rotes Orange, und 522 pp, ein jenseits der Thalliumlinie liegendes Gr\u00fcn !","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n255\nDas sind Verwechslungen, wie sie sonst nur beim Farbenblinden (Dichromaten) beobachtet werden. Hier liefs sich also das Sehen des anomalen Trichromaten experimentell wiederum in ein dichromaten\u00e4hnliches Sehen verwandeln, wie es in analoger Weise bei Verk\u00fcrzung der Sehzeit gelungen war.\nDiese enorme Herabsetzung der Unterschiedsempfindlichkeit bei der letztbeschriebenen Versuchsanordnung gibt aber auch zugleich den Schl\u00fcssel. Ausschlaggebend f\u00fcr den Grad der Verminderung der Unterschiedsempfindlichkeit des anomalen Trichromaten ist die Winkel-gr\u00f6fse der dargebotenen Farbfl\u00e4che. Je kleiner die Fl\u00e4che wird, um so gr\u00f6fser wird die Minderwertigkeit der Farbenempfindungen. Beim Vergleich der Fovea mit einer gleichgrofsen para-fovealen Netzhautpartie derselben Form zeigt sich,\ndafs die Fovea den parafovealen Teilen \u00fcberlegen\n\u2022 \u2022\nist. Diese \u00dcberlegenheit kann man (experimentell) verdecken, wenn man extrafoveale Fl\u00e4chen von mehr als foveagrofser Ausdehnung mit der Fovea vergleicht; ja es kann sogar die Leistung der Fovea als minderwertig erscheinen, wenn sie isoliert mit der Gesamtleistung der \u00fcbrigen Netzhaut verglichen wird. Jedenfalls ergibt sich aus allen diesbez\u00fcglichen Versuchen, deren Deutung vor diesem Abschlufs h\u00f6chst unklar war, mit Evidenz, dafs auch f\u00fcr die Netzhaut des Anomalen der Satz gilt, dafs die Farbenempfindungen der Fovea besser sind, als die der exzentrischen Netzhautpartien. Die Schwierigkeit, dies zu erkennen, lag darin, dafs man, um die Fovea gesondert zu pr\u00fcfen, gleichzeitig das Gesichtsfeld so klein machen mufste, dafs sich die hier beschriebene Minderwertigkeit der anomalen Trichromasie geltend machte, die vorher weder mir noch anderen Experimentatoren bekannt war.1\nDie Verkleinerung des Gesichtswinkels spielt f\u00fcr den normalen Farbensinn gar keine Rolle, vorausgesetzt, dafs die\n1 Ich m\u00f6chte hier darauf aufmerksam machen, dafs eine grofse Erschwerung der Diagnose der anomalen Trichromasie mittels der Gelb -Gleichung auf diesem Symptom beruht. Die R,AYLEiGH-DoNDEES-Gleichung wdrd h\u00e4ufig den Anomalen von Untersuchern in fovealer Feldgr\u00f6fse gezeigt. Die Sicherheit der Einstellungen, besonders seitens Unge\u00fcbter, leidet darunter sehr. Sobald man die Gleichung auf grofsem Feld zeigt, stellt sie auch der unge\u00fcbte Anomale in charakteristischer Weise ein.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nAlfred Guttmann.\nfarbigen Objekte nicht zugleich zu dunkel sind. So kann der Normale die Sterne, die kleinsten farbigen Objekte, die wir kennen, deutlich in r\u00f6tliche, gelbliche, gr\u00fcnliche und bl\u00e4uliche resp. weifse trennen. Der Farbenschwache sieht nur, dafs manche Sterne \u201ebl\u00e4ulich\u201c sind, alle anderen k\u00f6nnen beliebig als gr\u00fcnlich, gelblich, r\u00f6tlich aufgefafst werden. Diese Minderwertigkeit haben alle von mir daraufhin untersuchten Anomalen ; der in Erdn\u00e4he besonders deutlich rot erscheinende \u201eMars\u201c wurde von einem zum guten Durchschnitt z\u00e4hlenden Farbenschwachen f\u00fcr \u201egr\u00fcn\u201c gehalten.\nDafs die Form der dargebotenen Farbfl\u00e4che eine gewisse Rolle spielt, m\u00f6chte ich nach obigen Versuchen fast vermuten. Ich komme darauf sp\u00e4ter zur\u00fcck.\n\u00a7 2. Versuche mit Pigmentfarben.\nEine weitere, recht ausgedehnte Reihe von Versuchen mit verschiedenen Farben nahm ich mit farbigen Sehzeichen vor. Ich brachte in einer T\u00fcr zwischen zwei Zimmern des physiologischen Instituts ein Tableau mit einer Anzahl von farbigen, teils durch Gelatine, teils durch bunte Gl\u00e4ser hergestellten Fl\u00e4chen an. Davor befand sich eine aus Metall bestehende, drehbare Scheibe, in welcher 6 j\u201c-Haken in verschiedener Gr\u00f6fse (PFL\u00dcoEEsche Optotypen), jeder doppelt so grofs als der vorige, ausgestanzt waren. Es war f\u00fcr die im einen Zimmer sitzende Versuchsperson immer nur ein farbiges Zeichen sichtbar, wenn hinter dem Tableau im Nebenzimmer eine geeignete Beleuchtung angebracht war. Blieb die Entfernung der Versuchsperson von den Sehzeichen konstant, so gab die Winkelgr\u00f6fse des Hakens, der als der kleinste in seiner Farbe richtig erkannt wurde, den Mafsstab ab. Noch feiner war eine Abstufung m\u00f6glich, wenn bei konstanter Winkelgr\u00f6fse der farbigen Fl\u00e4che, die Entfernung gemessen wurde, die gerade zur Erkennung gen\u00fcgte. Gezeigt wurden 4 Farben : Rot, Gelb, Gr\u00fcn, Blau.1\nWiederum zeigte sich die \u00dcberlegenheit des Normalen in jeder Beziehung: fast alle Sehzeichen wurden von ihm, sowie sie\n1 Gew\u00f6hnliche blaue Gelatineplatten oder Gl\u00e4ser wurden auf gr\u00f6fsere Entfernung auch vom Normalen h\u00e4ufig mit Gr\u00fcn verwechselt. Erst als ich eine violette Gelatineplatte hinter der blauen anbrachte, war die Farbe ein von Gr\u00fcn deutlich verschiedenes \u201eBlau\u201c.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farben schw\u00e4che.\n257\n\u00fcberhaupt sichtbar wurden, in ihrer spezifischen Farbe erkannt. Die kleinsten von den 6 vorhandenen Sehzeichen (ich nenne sie Nr. VI) wurden vom Normalen (Dr. P.) in ca. 10 m Entfernung richtig erkannt, wenn sie rot oder gelb waren ; das doppelt so grofse Zeichen V wurde n\u00f6tig, um Gr\u00fcn auf 10 m Distanz zu erkennen und Blau, die dunkelste der dargebotenen Farben mufste mit Nr. III (dem drittgr\u00f6fsten Zeichen) gezeigt werden, um erkannt zu werden. Der Anomale (Verf.) konnte bei Darbietung der 3 kleinsten Zeichen (Nr. IV, V und VI) keine Farbe erkennen; bei Gr\u00f6fse Nr. III erkannte er Rot und Blau und zwar nur in der Entfernung von 21/2 m; Gelb erst, in derselben Entfernung, bei Zeichen II und Gr\u00fcn sogar erst bei Zeichen I in 3 in Entfernung. Auf eine gemeinsame Einheit umgerechnet, w\u00fcrde diese Versuchsreihe das Resultat ergeben, dafs der Anomale Rot erst erkennt, wenn es in 32 f\u00e2cher, Gelb wenn es in 65 f\u00e2cher, Gr\u00fcn wenn es in 50 f\u00e2cher, Blau wenn es in 4 f\u00e2cher Gr\u00f6fse erscheint, als f\u00fcr den Normalen gen\u00fcgt. Indessen zeigt eine andere Reihe, dafs in einem Parallelversuch der Anomale (Verf.) erheblich besseres leistete, w\u00e4hrend der Normale (Dr. P.) genau dieselben Resultate erzielte, wie in dem eben beschriebenen, wenige Tage zur\u00fcckliegenden Versuch. Das aus dem zweiten Versuch berechnete Ergebnis w\u00fcrde sein, dafs der Normale Rot in der 8 fachen, Gelb in der 16 fachen, Gr\u00fcn in der 8 fachen und Blau in der doppelten Gr\u00f6fse wie der Normale erkannte.1 Merkw\u00fcrdig ist, dafs die Gr\u00fcnerkennung des Verf. etwas besser war, als seine Gelberkennung. Diese Tatsache wird erkl\u00e4rbar, wenn man sich erinnert, dafs der Anomale sich oft sekund\u00e4rer Kriterien bedient; so hier wohl der \u201eFarblosigkeit\u201c des gr\u00fcnen Sehzeichens. Immerhin kommt h\u00e4ufig ein vollkommenes Raten heraus, wie es ja auch viele Farbenblinde anwenden; denn anders als mit diesem Moment lassen sich die Unregelm\u00e4fsigkeiten im Verh\u00e4ltnis zum Normalen nicht gut erkl\u00e4ren: das eine Mal brauchte der Anomale die 50fache, das andere Mal nur die 8fache Gr\u00f6fse des gr\u00fcnen Lichtes, um zu einem Urteil zu kommen. Man k\u00f6nnte einwenden, dafs diese Besserung als Effekt der \u00dcbung zu bezeichnen sei. Indessen ist ja meine \u00dcbung im Beurteilen von Farben bei allen ___________ *!*\n1 Man h\u00e4tte eigentlich erwarten m\u00fcssen, dafs der Anomale Blau ebensogut wie der Normale erkennen w\u00fcrde. Indessen war ja das von mir benutzte \u201eBlau\u201c nicht rein, sondern etwas r\u00f6tlich.","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nAlfred Guttmann.\ndiesen jahrelang fortgesetzten Versuchen damals (Februar 1905) auf zu grofser H\u00f6he gewesen, als dafs eine mehrt\u00e4gige Besch\u00e4ftigung speziell mit diesen Versuchen eine so erhebliche\nBesserung der Leistungen h\u00e4tte bewirken k\u00f6nnen. Ich glaube\n\u2022 \u2022\t~~\n\u00fcberhaupt, dafs die \u201e\u00dcbung\u201c, durch die der Farbenschwache seine Leistungsf\u00e4higkeit Pigmentfarben gegen\u00fcber h\u00e4ufig verbessert, gar keinen Einflufs auf eine Besserung der Farbenempfindung hat. Mit Hilfe dieser \u00dcbung kommt der Farbenschwache eben, bewufst und unbewufst, zur Kenntnis einer gr\u00f6fseren Anzahl sekund\u00e4rer Hilfsmittel, mittels deren er dann Andere oder sich selbst betr\u00fcgen kann. An Spektralfarben gelingt es auch durch die gr\u00f6fste \u00dcbung nicht, bessere Resultate zu erzielen, weil da die sekund\u00e4ren \u201eHilfen\u201c v\u00f6llig versagen.\nDieselbe Versuchsanordnung benutzte ich noch zu einer erg\u00e4nzenden Untersuchung der \u201eFarbensehsch\u00e4rfe\u201c, indem ich zugleich die \u201eFormensehsch\u00e4rfe\u201c, die eigentliche Sehsch\u00e4rfe, pr\u00fcfte. Die Versuchsperson mufste nach bekannter Weise angeben, ob der E-Haken mit der offenen Seite nach oben, unten, rechts oder links zeigte. Hierbei ergab sich, dafs der Anomale (Verf.) die Formen der farbigen Haken besser erkannte, als der Normale (Dr. P.), w\u00e4hrend sie ihm zugleich farblos schienen. Die Umrechnung ergibt, dafs der rote Haken vom Anomalen 1,2 mal besser erkannt wurde als vom Normalen, der gelbe 2,4 mal besser, der gr\u00fcne 1,2 mal, der blaue 1,5 mal besser. Die bessere Sehsch\u00e4rfe n\u00fctzte also dem Verf. gar nichts zum Erkennen der Farben in grofser Entfernung. Dem Physiologen erscheint das wohl nicht weiter auff\u00e4llig. Jedoch war mir der experimentelle Beweis aus R\u00fccksicht auf die praktischen Konsequenzen, besonders was die Untersuchungsmethoden f\u00fcr die Marine betrifft, recht wichtig. Eventuell k\u00f6nnte man eine diagnostische Methode darauf aufbauen, indem man bildliche Darstellungen konstruiert, auf denen der Anomale wohl die Formen, nicht aber deren Farben in bestimmter Entfernung deutlich erkennt. Damit k\u00f6nnte man also gleichzeitig Sehsch\u00e4rfe und Farbensinn pr\u00fcfen, wie dies in anderer Weise schon in den 70 er Jahren Pfl\u00fcger versucht hat. Benutzt wird die Winkelgr\u00f6fse der Farben auch in Stillings isochromatischen Tafeln, \u2014 ohne dafs ihr Autor und die Untersucher sich dessen bewufst sind, welche Rolle die Entfernung spielt \u2014 und in Nagels auch damit rechnenden Farbenkreisen, die auf dem Prinzip Stillings fufsen, aber dessen Fehler vermeiden.\nDiese experimentell leicht zn demonstrierende Umwandlung des anomal - trichromatischen Farbensehens in ein dichromaten\u00e4hnliches Farbensehen mittels Verkleinerung der farbigen Fl\u00e4che ist f\u00fcr die Frage der Farbenschw\u00e4che im t\u00e4glichen Leben von der allergr\u00f6fsten Bedeutung. Haben wir diese Reduktion der Leistungen des Anomalen schon bei der Besprechung der k\u00fcrzesten,","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n259\nzum Erkennen der Farben n\u00f6tigen Zeiten n\u00e4her erl\u00e4utert,1 so ist es hier auch f\u00fcr einen mit den Anforderungen der Farbenerkennung auf Eisenbahnstrecken und auf See nicht genauer Vertrauten ohne weiteres klar, dafs diese Eigent\u00fcmlichkeit die Anomalen am st\u00e4rksten in ihren Leistungen herabsetzt. Sie k\u00f6nnen die Farben der Signallichter erst in so geringer Entfernung erkennen, dafs sie f\u00fcr diese Berufe praktisch minderwertig sind.\nDaher ist schon fr\u00fch, besonders von Ophthalmologen, diese Frage experimentell untersucht worden. Nachdem die Physiologen Albert und y. Wittich bereits 1864 nach Plateaus Vorgang quantitative Messungen der zum Erkennen der Farben notwendigen kleinsten Gesichtswinkel gemacht hatten, untersuchten nach diesen Methoden Ende der 70 er Jahre Donbers und seine Assistenten 2300 Eisenbahnbeamte auf ihre praktische Farbent\u00fcchtigkeit.2 Nach dieser (mir erst mehrere Jahre nach meinen \u00e4hnlichen Versuchen im Original zu Augen gekommenen) Arbeit fand Donbers unter Best\u00e4tigung der eingangs erw\u00e4hnten Beobachtung, dafs Farben \u201eeinen Augenblick, nachdem das Licht bemerkt wurde,\u201c erkannt wurden, \u201eeine Anzahl von Personen, die betr\u00e4chtlich n\u00e4her an die Farben herantreten mufsten, um sie zu erkennen\u201c. Donbers fand alle \u00dcberg\u00e4nge vom normalen Gesichtswinkel bis zur Notwendigkeit der gr\u00f6fsten Ann\u00e4herung. Nach unseren heutigen Erfahrungen k\u00f6nnen wir sagen, dafs es sich neben den Dichromaten3 in erster Linie um anomale Trichro-maten gehandelt hat. Donbers hat nur die F\u00e4lle extremster Art selber untersucht \u2014 in denen es sich also um typische Farbenblinde handelte. Die \u00dcbergangsformen haben ihn offenbar damals nicht interessiert, er hat sie, mit Recht, aus praktischen Gr\u00fcnden in die grofse Rubrik des \u201eunvollkommenen Farbensinns\u201c verwiesen. Theoretisch hat er nichts daraus ableiten wollen.4 Insbesondere hat er an einen Zusammenhang zwischen\n1\ts. oben S. 58 ff.\n2\tDonders: Quantitative Bestimmung des Farbenunterscheidungsverm\u00f6gens. Graefes Archiv f. Ophthalm. 23, 1877, S. 282 ff. \u201eMeine Untersuchungen gingen von der Frage aus, welche Anforderungen man betreffs des Erkennens der Signale an das Eisenbahnpersonal stellen m\u00fcsse.\u201c\n3\tDonders spricht es ausdr\u00fccklich von der \u201esogenannten Farbenblindheit\u201c : \u201eich wollte den Grad dieser St\u00f6rung n\u00e4her bestimmen.\u201c\n4\ta. a. O. : \u201eEs lag nicht in meiner Absicht, jene Resultate hier in extenso mitzuteilen (das tat D. in einem Bericht an die Vorgesetzte Be-","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nAlfred Guttmann.\ndiesem Symptom und der anomalen Trichromasie schon aus dem Grunde nicht denken k\u00f6nnen, weil diese Anomalie erst 5 Jahre sp\u00e4ter yon Rayleigh entdeckt wurde. Auch in seinen sp\u00e4teren Arbeiten \u00fcber die anomale Trichromasie hat Donders nicht einmal angedeutet, dafs er dieses Symptom in Beziehung zu unserer Anomalie brachte. Seine vorsichtigen Hinweise zeigen \u00fcbrigens, dafs er an ganz andere Gr\u00fcnde dachte.\nEs ist also historisch unrichtig, wenn Nagel in seiner oben zitierten Arbeit die Entdeckung dieses Symptoms der anomalen Trichromasie Donders zuschreibt. Charakteristisch daf\u00fcr, dafs weder von Donders, noch von allen sp\u00e4teren Forschern, die sich mit der anomalen Trichromasie n\u00e4her besch\u00e4ftigten, diese Eigent\u00fcmlichkeit richtig gedeutet wurde, ist ja die Tatsache, dafs sie f\u00fcr die Wissenschaft bis in die neueste Zeit v\u00f6llig in Vergessenheit geriet.* 1 2 Insbesondere sind Versuche \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit der Farbenempfindungen vom Gesichtswinkel mit Spektralfarben, wie sie schon 1878 von Donders als zur Theorie notwendig erkl\u00e4rt wurden, aufser den meinigen meines Wissens nie ausgef\u00fchrt worden.\nErst seit in neuerer Zeit die Farben schwachen als zusammengeh\u00f6rig erkannt wurden, hat man auch dies praktisch wichtigste Symptom, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Diensttauglichkeit f\u00fcr Eisenbahn und Marine, von neuem untersucht. Zuerst Levy in seiner erw\u00e4hnten Dissertation, dann Feilcheneeld 2 und sp\u00e4ter Nagel.3 Ersterer pr\u00fcfte es nur bei sich, Feilcheneeld benutzte Dr. Levy und mich als Versuchspersonen, Nagel endlich unter-\nh\u00f6rde), noch weniger, theoretische Betrachtungen daran zu kn\u00fcpfen\u201c. Und weiter: \u201e\u2014 um indessen f\u00fcr die Theorie wichtige Resultate ziehen zu k\u00f6nnen, wird man Spektralfarhen anwenden m\u00fcssen.\u201c\n1\tF\u00fcr die Praxis allerdings war dies Moment so wichtig, dafs sich vor, mit und nach Donders viele Ophthalmologen damit besch\u00e4ftigten. Bemerkte doch schon im Jahre 1877 v. Michel, dafs manche Personen n\u00e4her an die HoLMGRENSchen Farbenproben herangehen wollten, um sie besser zu erkennen; infolgedessen stellte er die Forderung auf, dafs bei der Untersuchung der Zwischenraum zwischen Farbe und Auge bewahrt bleiben m\u00fcsse. Dieselbe Bedingung stellt bekanntlich Nagel f\u00fcr seine diagnostischen Methoden zur Erkennung der anomalen Trichromasie.\n2\tFeilchenfeld. Sind die anomalen Trichromaten tauglich zum Eisenhahndienst? Archiv f. Augenheilkunde 50, S. 48.\n3\tW. A. Nagel. Versuche mit Eisenbahn - Signallichtern an Personen mit normalem und abnormem Farbensinn. Diese Zeitschrift 41, S. 455.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n261\nsuchte vergleichsweise beide Typen der Dichromaten und der Anomalen. Genau vergleichbar sind die Resultate dieser drei Arbeiten mit dem meinigen nicht, insofern als die zwei letzteren, die beiden Arten der Anomalie ber\u00fccksichtigenden Arbeiten auf Grund ihrer speziellen Fragestellung m ehre re Symptome der anomalen Trichromasie zugleich pr\u00fcften. Feilchenfeld kombinierte die Verkleinerung mit einer Verdunklung der Farbenfl\u00e4che (vgl. \u00fcber die Wirkung des Letzteren Kap. IV dieser Arbeit), Nagel arbeitete mit kleinen und sich durch ihren Kontrast beeinflussenden Farbenfl\u00e4chen (vgl. dar\u00fcber Kap. V dieser Arbeit). Beide fanden eine deutliche Minderwertigkeit bei beiden Anomalen-typen. Allerdings m\u00f6chte ich mit Nagel annehmen, dafs Anomale meiner Art nicht so schlecht abschneiden w\u00fcrden, wie der von Nagel als \u201eextrem Gr\u00fcnanomaler\u201c bezeichnete, als einziger Vertreter der Gr\u00fcnanomalie untersuchte Herr. Levys eigene Untersuchungen an Pigmentfarben ergaben seine Unterwertigkeit in der Erkennung gewisser Pigmente \u201eunter objektiv gleichen (sc. Helligkeits-) Bedingungen\u201c ; bei subjektiv gleichen (Helligkeits-) Verh\u00e4ltnissen fand er keinen wesentlichen Unterschied. Lew gibt f\u00fcr seine \u201escheinbare Unf\u00e4higkeit, sehr kleine rote Objekte in ihrer Farbe erkennen zu k\u00f6nnen\u201c recht feinsinnige Gr\u00fcnde an, um sie als unwirklich zu beweisen; indessen die Tatsache einer objektiven Minderwertigkeit besteht. Zudem hat er nur mit Pigmentfarben Versuche dar\u00fcber gemacht' und meint selbst, auf das jeweilige Pigment geschlossen, nicht aber, es als spezifisch empfunden zu haben. Er stellt sich damit in Gegensatz zu Trendelenburgs Meinung, mit dessen Hilfe er im Freiburger Institut arbeitete. Die Richtigkeit seiner Annahme wird f\u00fcr seinen eigenen Farbensinn auch durch die erw\u00e4hnten Feilchen-FELDschen Versuche, bei denen dies \u201eSchliefsen\u201c so gut wie unm\u00f6glich war, erh\u00e4rtet. Ich pflichte seiner Ansicht, wTie mehr-\n\u2022 *\nfach erw\u00e4hnt, v\u00f6llig bei. Uber diese diffizilen Dinge k\u00f6nnen \u00fcberhaupt nur auf Grund geschulter Selbstbeobachtung die Anomalen selber urteilen.\nIch mufs also nun die im Kap. I beschriebene Farbenschw\u00e4che der anomalen Trichromaten in dem dort angedeuteten Sinne folgendermafsen erweitern: 1. Die Herabsetzung der Unterschiedsempfindlichkeit der Farbenschwachen ist einmal zu konstatieren gegen\u00fcber farbigen Reizen, die die ganze farbent\u00fcchtige Netzhaut, Fovea und extrafoveale Teile, affizieren. 2. Diese\nZeitschr. f. Sinnespbysiol. 42.\t18","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nAlfred Guttmann.\nHerabsetzung wird noch erheblich gr\u00f6fser, wenn r\u00e4umlich geringer ausgedehnte farbige Lichter dargeboten werden. 3. Entspricht diese Ausdehnung der Winkelgr\u00f6fse der Fovea, so wird die Unterschiedsempfindlichkeit wiederum verringert. 4. Wird die Farbe bis zum geringsten, dem Normalen eben noch farbig erkennbaren Gesichtswinkel verkleinert, so ist sie f\u00fcr den Anomalen wohl sichtbar, jedoch farblos.1 Es geht also Hand in Hand mit jeder Verringerung der Gr\u00f6fse der farbigen Fl\u00e4che eine Verminderung der Unterschiedsempfindlichkeit der Farbenschwachen.\nUnd ferner : abgesehen von dieser allgemeinen Herabsetzung der Unterschiedsempfindlichkeit ist der Anomale noch relativ minderwertig insofern, als er mit parafovealen, foveagrofsen Netzhautstellen, wie sie f\u00fcr den Normalen v\u00f6llig zum Zustandekommen ausgiebiger Farbenempfindungen gen\u00fcgen, Verwechslungen von der Art der Farbenblinden macht.\nF\u00fcr den anomalen Trichromaten kann man aus meinen obigen Versuchen folgende wichtige These ableiten:\ndie Raumschwelle des Farbenschwachen f\u00fcr Farbenempfindungen ist erheblich erh\u00f6ht.\nEine perimetrische Untersuchung mit kleinen farbigen Objekten ergab daher f\u00fcr Yerf. eine deutliche konzentrische Einschr\u00e4nkung des Gesichtsfeldes f\u00fcr die meistpn Farben. Nur Blau wird wie vom Normalen erkannt, Gelb wird nur innerhalb eines verengten Gesichtsfeldes, Rot noch viel weiter zentral und Gr\u00fcn \u00fcberhaupt nur foveal erkannt. (F\u00fcr den Rotschwachen liegen die Dinge, mutatis mutandis, \u00e4hnlich.) F\u00fcr die ophthal-mologische Praxis beruht darin vielleicht eine M\u00f6glichkeit, anomale Trichromaten beider Typen mangels spezieller Apparate mittels des Farbenperimeters zu diagnostizieren.\nEs w\u00e4re eine sehr lohnende und relativ einfache Aufgabe, diese Einengung des Farbengesichtsfeldes f\u00fcr kleinere Fl\u00e4chen f\u00fcr die einzelnen Farben messend zu bestimmen. Ich selbst bin aus \u00e4ufseren Gr\u00fcnden nur zu einer kurzen quantitativen Pr\u00fcfung dieser klinisch wie theoretisch gleich interessanten Frage gekommen.\nEine sehr wichtige Aufgabe w\u00e4re es ferner, f\u00fcr alle Spektralfarben messend festzustellen, bei welchem Minimalwinkel sie vom normalen und anomalen Trichromaten spezifisch erkannt werden. Dafs der Normale sogar die Farben der \u201eObjekte ohne scheinbaren Durchmesser\u201c, der Sterne (bis\n1 \u201eFarblos\u201c ist hier wie immer in dem Sinne des Farbenblinden (Dichromaten) gebraucht, d. h. es ist nur die Unterscheidung in \u201ewarme\u201c und \u201ekalte\u201c Farben m\u00f6glich.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n263\nzur 9. Gr\u00f6fse) erkennt, wurde oben angef\u00fchrt. Offenbar f\u00e4llt eben die generelle Schwelle (die der Sichtbarkeit eines farbigen Objektes) mit der spezifischen Schwelle (die der Erkennung der Farbe des Objektes) beim Normalen zusammen, wenn die Intensit\u00e4t der Farbe grofs genug ist.\nKapitel IV.\nWelche Intensit\u00e4ten braucht der Farbenschwache,\num Farben zu erkennen?\nDie Frage nach den Intensit\u00e4ten,1 die znm Erkennen der Farben seitens der Normalen n\u00f6tig sind, ist sehr h\u00e4ufig experimentell in Angriff; genommen, jedoch noch nicht in befriedigender Weise gel\u00f6st worden. Im allgemeinen kann man sagen, dafs jede bei geringster Intensit\u00e4t \u00fcberhaupt sichtbare Farbe nur in einem minimalen Intervall farblos erscheint, bei der kleinsten Steigerung der Intensit\u00e4t jedoch spezifisch erkannt wird. Nach Koenig tritt fast jede foveal gesehene Farbe sofort farbig auf. Bei sehr grofser Steigerung der Intensit\u00e4t verschwindet schliefslich infolge der Blendungserscheinungen die Farbigkeit. F\u00fcr meine Fragestellung spielt jedoch die Distanz dieser beiden Grenzen keine Rolle. Wie ich mehrfach erw\u00e4hnt habe, will ich keinerlei absolute Mafse \u00fcber die verschiedenen Schwellen der Farbenempfindung geben, sondern ausschliefslich die Relation zwischen den Farbenschwellen normaler und anomaler Tri-chromaten. Daher bestehen f\u00fcr die von mir ausgef\u00fchrten Untersuchungen eine Anzahl von Problemen schwieriger Art gar nicht. So konnte ich also die beiden Intensit\u00e4tsgrenzen, innerhalb derer der Normale die Farben erkennt, als das Gegebene annehmen, und damit jene Intensit\u00e4tsschwellen vergleichen, bei\n1 Unter \u201eIntensit\u00e4t\u201c (nach Grassmann) oder \u201eLichtst\u00e4rke\u201c (nach Helmholtz) versteht der Physiologe und der Physiker das, was der Psychologe \u201eHelligkeit\u201c nennt. Eine Trennung der \u201eHelligkeit\u201c von der \u201eS\u00e4ttigung\u201c ist nat\u00fcrlich nur begrifflich m\u00f6glich, weil jede \u00c4nderung der \u201eHelligkeit\u201c in praxi mit einer \u00c4nderung der \u201eS\u00e4ttigung\u201c untrennbar verkn\u00fcpft ist. Man macht also, um mit Aubert zu sprechen, \u201eBruttobestimmungen\u201c, wenn man quantitative Untersuchungen \u00fcber Helligkeit (resp. S\u00e4ttigung) vornimmt; um \u201eNettobestimmungen\u201c zu erhalten, m\u00fcfste man eben den Einflufs der S\u00e4ttigung (resp. Helligkeit) abziehen \u2014 und das ist technisch unausf\u00fchrbar.\n18*","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nAlfred G-uUmann.\ndenen ceteris paribus die Farben vom Anomalen erkannt und differenziert werden.\n\u00a7 1. Versuche mit Spektralfarben.\nWenn man dem Farbenschwachen ein Spektrum von mittlerer Helligkeit, dessen Farben er richtig erkennen kann, etwas dunkler oder heller darbietet, so tritt an\u2018die Stelle der deutlichen Farbenempfindung zun\u00e4chst eine gewisse Unsicherheit, die die Gegend der orange-gelb-gr\u00fcnen Lichter betrifft. Steigert oder verringert man die Helligkeit noch mehr, so erscheinen diese Farben dem Anomalen v\u00f6llig farblos; die Erkennung von roten, blaugr\u00fcnen und violetten Lichtern wird unsicher. Es ist jedoch nicht m\u00f6glich, jede einzelne Farbe durch Intensit\u00e4ts\u00e4nderung in jeder der beiden Richtungen farblos zu machen : ein spektrales Rot z. B. kann aus physikalischen Gr\u00fcnden nicht so hell dargestellt werden, dafs es den Eindruck der Farblosigkeit erweckt; ebensowenig gelingt es, im Spektrum jenseits vom Blau ein durch Helligkeitsvermehrung bedingtes Farbloserscheinen zu erzeugen, da man sonst unreine Farben erh\u00e4lt. Wohl aber gelingt es, durch Verdunkeln alle Spektral-f\u00e4rben farblos zu machen. Am leichtesten kann (f\u00fcr den Gr\u00fcnschwachen) Gr\u00fcn farblos gemacht werden, dann folgt Gelb, dann Orange, Rotorange, Rot. (F\u00fcr den Rotschwachen ist die Reihenfolge nat\u00fcrlich anders.) Es gen\u00fcgt, um jede spezifische Erkennung der Farben durch den Anomalen zu verhindern, einfach, den Spalt etwas enger oder weiter zu machen. Was der Normale dann immer noch sicher als \u201ehellgr\u00fcn\u201c, \u201edunkelgr\u00fcn , \u201ehellorange\u201c, dunkelorange\u201c usw. identifiziert, wird vom Anomalen \u201ehellgrau\u201c, \u201edunkelgrau\u201c oder \u201ehellgelb\u201c resp. \u201edunkelgelb\u201c genannt (dies nat\u00fcrlich nur aus dem Grunde, weil eine \u201eGraumischung bekanntermafsen nicht in Frage kommen konnte). Alle diese Farben erscheinen gleichm\u00e4fsig indifferent, neutral-hell oder neutral-dunkel und werden entsprechend miteinander verwechselt. Ebenso gelingt es noch, durch Verringerung der Helligkeit Farblosigkeit im Blaugr\u00fcn vorzut\u00e4uschen, durch Steigerung der Helligkeit dagegen kaum. Im Violett ist letzteres unm\u00f6glich, wohl aber wurde ein verdunkeltes Violett einmal f\u00fcr \u201eGraugr\u00fcn\u201c d. h. dunkles Gr\u00fcn gehalten. Die Unterschiedsempfindlichkeit wird also durch Verminderung (oder Steigerung) der Helligkeit stark herabgesetzt.\nDurch Vergleich mit einem Normalen wurde jedesmal fest-","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchung eil \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n265\ngestellt, dafs diese Verminderung resp. Vermehrung der Intensit\u00e4t gar keinen Einflufs auf die Sicherheit seiner Farbenurteile hatte.1\nDen Unterschied zwischen Normalen und Anomalen kann man leicht bei gemeinsamem Betrachten eines lichtschwachen Spektrums, des Regenbogens, beobachten. Wenn man den unbefangenen Farbenschwachen fragt, wieviel Farben er in einem abblassenden Regenbogen sieht, so erh\u00e4lt man meist die Antwort: \u201eDrei: rot, gelb, blau\u201c. Die orangefarbenen T\u00f6ne werden n\u00e4mlich teils zum Rot, teils zum Gelb gerechnet, die gr\u00fcnen T\u00f6ne teils zum Gelb, teils zum Blau, Violett wird f\u00fcr dunkles Blau gehalten. Die gleiche Antwort w\u00fcrde \u00fcbrigens anch wohl ein unbefangener Dichromat geben, f\u00fcr den ja zwischen Rot und Gelb ebenfalls ein deutlicher (Helligkeits-)Unterschied besteht. Der Normale sieht auch im blassen Bogen \u201ealle Regenbogenfarben\u201c.\n\u00a7 2. Versuche und Beobachtungen an\nPigmentfarben.\nNoch viel einfacher l\u00e4fst sich diese Minderwertigkeit am Farbenkreisel mit Pigmentfarben beweisen. Man mufs nur einer beliebigen Farbe einen gen\u00fcgend grofsen Sektor weifsen oder schwarzen Papiers beif\u00fcgen, um ein Grau herzustellen, das der Anomale f\u00fcr v\u00f6llig indifferent h\u00e4lt, w\u00e4hrend es der Normale als \u201egraugr\u00fcn\u201c oder \u201egraugelb (braun)\u201c \u201egraurot (rosa)\u201c u. dgl. erkennt. Nur mufs dann f\u00fcr einen neutralen Hintergrund und Abwesenheit deutlich farbiger Objekte in gr\u00f6fserer N\u00e4he des Farbenkreisels gesorgt\n1 Wiederum m\u00f6chte ich hier auf eine h\u00e4ufige, unabsichtliche Erschwerung der RAYLEiGH-DoKDEBS-Gleichung aufmerksam machen. Wenn der Untersucher dem Anomalen diese Gleichung nur um ein Geringes zu hell darbietet, so erscheinen diesem bei seiner hierdurch verminderten Unterschiedsempfindlichkeit orangegelbe und gelbgr\u00fcne Mischungen als dem Gelb gleich, die er unter g\u00fcnstigeren Umst\u00e4nden niemals anerkennen w\u00fcrde. So kann es auch einmal dazu kommen, dafs ein notorischer Anomaler die Normalengleichung anerkennt, also f\u00fcr normal erkl\u00e4rt wird \u2014 oder aber, wenn er selbst einstellen soll, so differente Verh\u00e4ltniszahlen Li : TI als Gleichung zum Na einstellt, dafs er als Dichromat erscheint bzw, dafs eine Diagnose unm\u00f6glich ist. Dafs die Gleichung zu dunkel gezeigt wird, kommt kaum vor; es w\u00fcrde auch dem Anomalen auffallen und ihn zum Protest veranlassen. Dafs jedoch eine den Normalen nicht st\u00f6rende Helligkeit f\u00fcr ihn objektiv zu grofs ist, kommt ihm nicht zum Bewufstsein. Und darauf beruht eine grofse Fehlerquelle f\u00fcr die Diagnose der Anomalie.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nAlfred Guttmann.\nwerden; sonst tritt der gesteigerte Farbenkontrast, von dem ich sp\u00e4ter zu sprechen habe, st\u00f6rend dazwischen und verhindert den Eindruck der Farblosigkeit. Auch andere subjektive St\u00f6rungen treten hier beim Anomalen h\u00e4ufig auf; sie kennzeichnen sich in der Unbestimmtheit des Farbeneindrucks: ein objektiv graues Pigment nennt er einmal \u201er\u00f6tlich-grauund dann wieder \u201egr\u00fcnlich-grau\u201c; ein sicheres Urteil \u201ereines Grau\u201c wird man selten h\u00f6ren.\nGenauere Angaben \u00fcber den Grad der Minderwertigkeit Anomaler haben daher vielleicht weniger Wert, als einige z. T. meiner fr\u00fcheren klinischen T\u00e4tigkeit entnommenen Beobachtungen, die eine Vorstellung von der Gr\u00f6fse des Unterschieds geben.\nBei chemischen Arbeiten ist es mir nie m\u00f6glich gewesen, genau zu titrieren. Bekanntlich befindet sich hierbei in einem durchsichtigen Glasgef\u00e4fs aufser der zu untersuchenden Fl\u00fcssigkeit ein Indikator, z. B. Rosols\u00e4ure, der die Fl\u00fcssigkeit gelblich f\u00e4rbt, solange sie saure Reaktion hat; bei tropfenweisem Zusatz der neutralisierenden Alkalil\u00f6sung schl\u00e4gt im Moment der Reaktions\u00e4nderung die Farbe in Hellrot (Rosa) um. Diesen Umschlag in der F\u00e4rbung, der f\u00fcr das normale Auge sehr deutlich ist, kann ich nicht erkennen. Ich setze ruhig noch ein paar Tropfen mehr zu, bis es mir doch verd\u00e4chtig vorkommt. Ich gehe dann \u00fcber den nach meiner Vermutung \u00fcberschrittenen Nullpunkt zur\u00fcck, indem ich wieder S\u00e4ure tropfenweise zusetze, bis ich \u00fcberzeugt bin, nun wieder gelbe F\u00e4rbung zu sehen und setze dies Probieren mehrmals fort, indem ich jene unsichere Strecke allm\u00e4hlich einenge. Ohne den Rat eines f\u00e4rb en t\u00fcchtigen Kollegen habe ich jedoch nie ein sicheres Resultat erlangen k\u00f6nnen.\nNoch schlimmer befand ich mich bei Untersuchungen am Polarisationsapparat. H\u00e4tte ich nicht einen farbent\u00fcchtigen Laboratoriumsdiener zu meiner Unterst\u00fctzung gehabt, so h\u00e4tte ich bei keiner der vielen von mir fr\u00fcher ausgef\u00fchrten Harnuntersuchungen eruieren k\u00f6nnen, ob resp. wieviel Prozent Zucker darin waren.1\nEiner un\u00fcberwindlichen Schwierigkeit stand ich sodann bei mikroskopisch-f\u00e4rberisehen Untersuchungen gegen\u00fcber. Einmal wegen der Kleinheit der Objekte: Bazillen, Coccen usw. in ihrer\n1 Aus Gr\u00fcnden \u00fcbersichtlicher Darstellung erw\u00e4hne ich hier auch Spektralfarbenbeobachtungen.","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che..\n267\nspezifischen, gerade f\u00fcr die Differenzialdiagnose oft eminent wichtigen Farbe sicher zu erkennen ist f\u00fcr den Farbenschwachen nat\u00fcrlich kaum m\u00f6glich. Dar\u00fcber klagen alle farbenschwachen Mediziner, besonders die Rotschwachen. Aber auch bei Blutuntersuchungen kam ich h\u00e4ufig in Verlegenheit. Die h\u00e4ufig hellen\n\u2022 \u2022\nund unges\u00e4ttigten Farben der bei Ol - Immersionsvergr\u00f6fserung gar nicht kleinen Blutk\u00f6rperchen kann ich bei den meisten F\u00e4rbemethoden nicht unterscheiden.1\nUnverst\u00e4ndlich war es mir auch, warum die anderen Kollegen auf den ersten Blick so h\u00e4ufig leichte Entz\u00fcndungen (R\u00f6tungen) der Haut und besonders der Schleimh\u00e4ute sahen, die ich nicht bemerken konnte; warum ich das wichtige Fr\u00fchsymptom des Typhus, die hellroten Roseolaflecke, niemals diagnostizieren konnte ; warum ich mir so schwer ein Urteil bilden konnte, ob die Gesichtsfarbe eines Patienten besser (d. h. r\u00f6ter) oder schlechter (d. h. grauer) geworden sei, warum ich immer die Gelbf\u00e4rbung der Sklera und der Haut bei beginnendem Ikterus \u00fcbersah.2\nIn allen derartigen F\u00e4llen handelte es sich um gr\u00f6fsere farbige Gesichtsfelder von zu grofser oder zu geringer Helligkeit. Das Extrem der Helligkeit bezeichnet wohl das Glas, das nach Angaben der Physiker etwas gr\u00fcnlich sein soll, dem Farbenschwachen aber geradezu als das Paradigma der Farblosigkeit erscheint. Den Gegensatz dazu bilden dunkle farbige Objekte von r\u00e4umlich grofser Ausdehnung. Ich nenne da: Kleider-\n1\tln sehr unangenehmer Erinnerung steht mir ein Erlebnis, das ich als Volont\u00e4r einmal mit dem Assistenten der Abteilung hatte. Dieser nahm an, ich h\u00e4tte ein kostbares Blutpr\u00e4parat \u2014 es handelte sich um eine bereits letal verlaufene akute Leuk\u00e4mie \u2014 aus Nachl\u00e4ssigkeit oder gar absichtlich so schlecht gef\u00e4rbt; denn nur ein Farbenblinder k\u00f6nne derartige F\u00e4rbungen verwechseln ; das sei ich doch aber anerkanntermafsen nicht. Da ich selbst damals nichts von meiner Anomalie wufste, habe ich lange Zeit unter jenem Vorfall gelitten, weil ich mich nie von dem Verdacht reinigen konnte.\n2\tWieviele farbenschwache \u00c4rzte m\u00f6gen noch unter \u00e4hnlichen Beeintr\u00e4chtigungen in ihrer Berufst\u00fcchtigkeit und -Freudigkeit leiden! Sie beobachten bei vielen Gelegenheiten ihre Minderwertigkeit und \u2014 k\u00f6nnen nichts dagegen tun. Hoffen wir, dafs in sp\u00e4teren Generationen die Wichtigkeit der intakten Farbenempfindung f\u00fcr die Berufswahl besser als bisher erkannt wird und dafs bereits alle farbenblinden und -schwachen Sch\u00fcler von Amts wegen vor dem Ergreifen ungeeigneter Berufe gewarnt und von denjenigen, in denen sie gef\u00e4hrlich wirken k\u00f6nnen, ferngehalten werden.","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nAlfred Guttmann.\nStoffe, lackierte Gegenst\u00e4nde, B\u00fcchereinb\u00e4nde, Lederwaren, farbige Laternen, die durch mangelhafte Lichtquelle, schmutzige Gl\u00e4ser, Rauch und Nebel verdunkelt werden. Besonders auff\u00e4llig ist mir stets gewesen, wie auf dem Wasser farbige Bojen und Laternen bei tr\u00fcbem Wetter oder in der D\u00e4mmerung und sogar an sonnigen Tagen im Schatten f\u00fcr mich farblos werden, w\u00e4hrend die Normalen deutlich die Farben erkennen. Ich spreche hier nat\u00fcrlich von relativ grofsen, in ganz geringer Entfernung verkannten farbigen Objekten. Ich habe gerade derartige Beobachtungen jahrelang als F\u00fchrer eines eigenen Motorbootes gemacht, so dafs ich bestimmt glaubte, nun gegen so grobe Fehler gesch\u00fctzt zu sein wie fr\u00fcher einmal, wo ich eine rote Boje an wichtiger Stelle aus grofser Entfernung f\u00fcr einen grauen (jungen) Schwan hielt. Trotzdem ist es mir noch in aller j\u00fcngster Zeit passiert, dafs ich, gegen die Sonne zu fahrend \u2014 also nur den im Schatten liegenden Teil der Boje vor mir \u2014 ganz dicht an eine mir \u201eschwarz\u201c erscheinende Boje heranfuhr, bis mir ein mitfahrender Normaler auf meine Frage Bescheid gab, dafs dies die \u201erote Boje\u201c sei. Die leuchtend-rote Farbe auf der Schattenseite hatte ich f\u00fcr schwarz gehalten.1 Als Gegenst\u00fcck erw\u00e4hne ich, dafs ich erst k\u00fcrzlich im Hamburger Hafen auf ein unrichtiges F\u00e4hrboot stieg, weil ich glaubte, es tr\u00fcge eine (helL)gr\u00fcne Fahne, w\u00e4hrend es tats\u00e4chlich eine weifse, durch Rauch und Schmutz hellgraue Fahne f\u00fchrte.\nIn der Abh\u00e4ngigkeit der Farbenschwachen von der Helligkeit und S\u00e4ttigung der Farben sehe ich auch den Hauptgrund, warum sie die STiLLiNoschen Tafeln nicht lesen k\u00f6nnen. W\u00e4hrend Nagel annimmt, dies sei die Folge der verlangsamten Erkennung der einzelnen Punkte, meine ich vielmehr, dafs die Farbenschwachen \u00fcberhaupt nicht imstande sind, die einzelnen sehr unges\u00e4ttigten und hellen roten (rosa) Punkte richtig zu erkennen resp. von br\u00e4unlichen, orangefarbenen oder anderen derartigen Punkten zu differenzieren. Auch der gesteigerte Kontrast st\u00f6rt sie oft. Wenn alle Punkte, wie Nagel glaubt, richtig, aber zu langsam erkannt w\u00fcrden, so m\u00fcfste doch bei jedem nicht ganz vergefslichen anomalen Leser nach h\u00e4ufiger Lekt\u00fcre das Bild der farbigen Zahl allm\u00e4hlich erinnerlich\n1 H\u00f6chst \u00fcberrascht war ich auch, als ich vor kurzem erfuhr, dafs mein lange Zeit benutztes \u201eschwarzes Portemonaie\u201c \u2014 \u201edunkelgr\u00fcn\u201c sei.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n269\nbleiben. Aber selbst ich kann trotz wochenlanger Versuche, bei denen ich t\u00e4glich eine halbe Stunde \u201elesen \u00fcbte\", noch heute keine Zahl (unwissentlich) erkennen. Nat\u00fcrlich weifs ich das Bild einiger sehr h\u00e4ufig gelesenen Zahlen und kann dann die \u00fcbrigen Punkte erraten, wenn ich die markantesten gefunden habe. Erkennen kann ich jedoch aufser auf Tafel I und X keine Zahl.\nHabe ich bisher ausschliefslich von mir, dem Gr\u00fcnschwachen, gesprochen, so kann ich mit wenigen Worten vom Rotschwachen reden. Er ist nach meinen Erfahrungen ebenfalls nicht imstande, bessere Unterscheidungen zu machen, als der Gr\u00fcnschwache, ja er ist noch insofern schlechter gestellt, als das Rot f\u00fcr ihn an sich weniger hell erscheint und somit durch geringere Grade der Verdunklung als f\u00fcr den Gr\u00fcnschwachen \u201efarblos\u201c gemacht werden kann \u2014 so \u201efarblos\u201c, dafs es ihm gelegentlich neben einem f\u00fcr ihn deutlichen Rot durch Kontrast \u201egr\u00fcn\u201c erscheinen kann! Diese h\u00e4ufig zu der Fehldiagnose \u201eDichromasie\u201c f\u00fchrende Verwechslung habe ich \u00f6fters bemerkt, wie \u00fcberhaupt diese Anomalie mir gar nicht selten zur Beobachtung kommt. Ich fand bisher auf 100 Gr\u00fcnschwache ca. 30 Rotschwache.\nUntersuchungen anderer Autoren \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit der Farbenempfindungen anomaler Trichromaten von den Intensit\u00e4ten der dargebotenen Farben sind mir nicht bekannt.\nDafs es sich bei der Verdunklung der Farben nicht um ein abnormes Verhalten gegen\u00fcber dem P\u00fcRKiNjEschen Ph\u00e4nomen handelt, brauche ich wohl kaum zu erw\u00e4hnen. Bekanntlich wird ja das farblose Intervall bei zunehmender Dunkeladaptation auch beim Normalen gr\u00f6fser. In unserem Fall aber handelt es sich um eine dunkle farbige Fl\u00e4che, die bei Helladaptation von Normalen gesehen und sofort erkannt, vom Anomalen zwar wahrgenommen aber nicht (spezifisch) erkannt wird. An dieser Stelle will ich auch darauf hinweisen, dafs meine Dunkeladaptation, die von Dr. Piper genau untersucht worden ist, v\u00f6llig normal verl\u00e4uft. Ich verwaise auf die betr. Stellen in Pipers Arbeiten (vgl. Bd. 31 dieser Zeitschrift, S. 192 ff.).\nEs handelt sich bei der Intensit\u00e4tsschwelle nun nicht, wie bei r\u00e4umlicher und zeitlicher Schwelle der Farbenempfindung um eine Schwelle, unterhalb derer die Reize unmerklich sind, oberhalb derer sie jedoch bei jeder weiteren Steigerung nicht mehr verschwinden. Bei der Intensit\u00e4t liegt zwar eine Schwelle ebenfalls da, wo der untermerkiiche Minimalreiz ebenmerklich wird, eine zweite Schwelle liegt jedoch dort, wo bei weiterer Steigerung die Intensit\u00e4t einen so hohen Grad erreicht, dafs infolge von Biendungs-","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nAlfred Gutlmann.\nerscheinungen die Farbenempfindung wieder aufh\u00f6rt. Wir haben es also mit einem beiderseits begrenzten Spatium zwischen den zwei Schwellen zu tun. Dies Spatium ist nun, wie oben ausgef\u00fchrt, f\u00fcr den normalen Farbensinn sehr ausgedehnt, f\u00fcr den anomalen Farbensinn aber ist es erheblich eingeengt, indem die beiden Schwellen einander gen\u00e4hert sind. Diese Strecke, innerhalb derer der Anomale \u00fcberhaupt Farben erkennen kann, f\u00e4llt zusammen mit dem Optimum der normalen Intensit\u00e4tsbreite.\nMit anderen Worten: die Intensit\u00e4tsschwelle des Farbenschwachen f\u00fcr Farbenempfindungen ist erheblich erh\u00f6ht.\nAus den Ergebnissen dieser 4 Kapitel l\u00e4fst sich zweierlei ableiten :\nThese I. Die Unterschiedsschwelle des anomalen Trichromaten ist nicht nur betr\u00e4chtlich h\u00f6her, als die des Normalen; sie steigt auch bei Herabsetzung des Reizes in irgend einer seiner Qualit\u00e4ten, d. h. in der r\u00e4umlichen Ausdehnung, zeitlichen Dauer und dem Optimum der Intensit\u00e4t, weit st\u00e4rker als die Unterschiedsschwelle des Normalen.\nThese II. W\u00e4hrend die Schwelle der Sichtbarkeit eines farbigen Reizes, die sogenannte generelle Schwelle (v. Kries), in allen Qualit\u00e4ten f\u00fcr normale und anomale Trichromaten identisch ist, liegen die Schwellen der spezifischen Erkennung einer Farbe beim Anomalen wesentlich h\u00f6her.\nAus diesen beiden Thesen ergibt sich\nThese III. Alle Schwellen der Farbenempfindungen anomaler Trichromaten (Farbenschwacher) sind gegen\u00fcber der Norm wesentlich erh\u00f6ht.","page":270}],"identifier":"lit33490","issued":"1908","language":"de","pages":"24-64, 250-270","startpages":"24","title":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che [In zwei Teilen]","type":"Journal Article","volume":"42"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:14:35.758832+00:00"}