Open Access
{"created":"2022-01-31T16:32:08.012752+00:00","id":"lit33497","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Schorstein, Josef","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 42: 124-129","fulltext":[{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nZur Deutung der Netzhautstr\u00f6me.\nVon\nJosef Schokstein, Wien.\nDie Untersuchung der Kathodenstrahlen hat bekanntlich zur Entdeckung und Berechnung elektrisch geladener Massenteilchen gef\u00fchrt, deren Atomgewicht nur V2000 des Wasserstoff-Atomgewichtes betr\u00e4gt, deren elektrische Ladung aber ebensogrofs ist wie die des Wasserstoffions, n\u00e4mlich 3,4 -10~10 elektrostatische Einheiten = 1,56-IO-20 elektromagnetische Einheiten \u2014 1,56-10~19 Coulomb. Diese Korpuskeln, welche Elektronen genannt werden, sind die kleinsten nicht weiter zerlegbaren elektrischen Atome, und sie nehmen offenbar einen wesentlichen Anteil am Aufbaue der chemischen Atome aller Elemente. Im Jahre 1904 haben gleichzeitig J. J. Thomson und Nagaoka \u00fcber die Art der Zusammensetzung der Elemente aus Elektronen Hypothesen aufgestellt, die eine merkw\u00fcrdige \u00c4hnlichkeit miteinander auf weisen, obwohl die genannten Forscher von ganz verschiedenen Ph\u00e4nomenen ausgegangen waren, n\u00e4mlich Thomson von den Kathodenstrahlen, Nagaoka aber von den spektralen Eigenschaften der Materie.1 Diese Hypothesen sind noch nicht vollst\u00e4ndig ausgebaut, doch wird als erwiesen allgemein angenommen, dafs durch Lostrennung bzw. Addition eines einzigen Elektrons von resp. zu einem elektrisch neutralen Atom dessen Umwandlung in ein einwertiges Ion zustande kommt, welches chemisch aktiv ist. W\u00e4hrend also im elektrisch-neutralen Atom die Anzahl der mit ihm ver-\n1 Die Literatur hier\u00fcber findet sich in S. Aeeheeius : \u201eTheorien der Chemie\u201c, Leipzig, 1906, S. 77ff. und G. C. Schmidt: \u201eDie Kathodenstrahlen\u201c, Braunschweig, 1904. Vgl. auch: H. A. Loeentz: \u201eErgebnisse und Probleme der Elektronentheorie\u201c, Berlin, 1906; Dr. Otto Sackue \u201e\u00dcber die Bedeutung der Elektronentheorie f\u00fcr die Chemie\u201c, Halle a. S., 1906 usw.","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Deutung der Netzhautslr\u00f6me.\n125\nbnndenen Elektronen gerade hinreicht, die positive und negative Elektrizit\u00e4t desselben gegeneinander abzus\u00e4ttigen, ist \u201edas Ion\u201c, wie G. C. Schmidt definiert, \u201eein chemisches Atom oder eine chemische Atomgruppe mit ein, zwei, drei oder mehr Elektronen\u201c.\nDie optischen Eigenschaften der Materie, der Zusammenhang zwischen Elektrizit\u00e4ts- und W\u00e4rmeleitung, die Radioaktivit\u00e4t, und viele andere Probleme der Physik der Strahlung lassen sich mit Hilfe der Elektronen befriedigend verst\u00e4ndlich machen. Im folgenden soll versucht werden die chemischen Vorg\u00e4nge beider Lichtperzeption im Auge im Sinne dieser neuen Anschauungen zu erkl\u00e4ren.\nBekanntlich wurde bei der Belichtung von Froschaugen die Wahrnehmung gemacht, dafs die St\u00e4rke des elektrischen Stromes, welcher durch sie in der Netzhaut entsteht, nach kurzer Belichtungsdauer ein Maximum erreicht, und sodann rasch abf\u00e4llt; dafs jedoch die Stromst\u00e4rke neuerlich ansteigt, wenn in an das Frosch auge verdunkelt. Trug Ishihaka 1 die Zeit als Abszisse und die Stromst\u00e4rke als Ordinate auf, so erhielt er bei der Verdunklung eine Kurve, welche derjenigen ganz \u00e4hnlich gestaltet war, wie sie sich bei der Belichtung ergab, nur waren s\u00e4mtliche Stromst\u00e4rken bei der Verdunklung etwas geringer. Intermittierendes Licht brachte die Stromst\u00e4rken zu auffallendem Anschwellen. Desgleichen wuchs die elektromotorische Kraft, wenn die Lichtquelle im Kreise bewegt wurde.\nUm diese Ph\u00e4nomene zu erkl\u00e4ren, erinnere man sich zun\u00e4chst, dafs die Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion der Anzahl der Ionen direkt proportional ist, die dabei beteiligt sind. Photochemische Vorg\u00e4nge werden daher ohne Zweifel durch pl\u00f6tzliche Bildung neuer Ionen aus elektrisch neutralen Atomen zu denken sein. Auch gibt es keine elektromotorische Kraft ohne Ionen.\nStellen wir uns ein chemisches Gleichgewicht vor, das dadurch gest\u00f6rt wird, dafs das Licht, und sonst kein anderes Agens hinzugetreten ist, und dafs diese St\u00f6rung durch Ionisierung der Atome hervorgerufen wird, so ergibt sich mit zwingender Notwendigkeit die Folgerung, dafs gewisse Elektronen durch das Licht in eine Bewegung geraten sein m\u00fcssen, die die Lostrennung derselben von ihren Zentralk\u00f6rpern, den lichtempfindlichen Atomen\n1 Pf l\u00fcg er s Archiv, 1905.","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nJosef Schorstein.\n(oder Atomgruppen) bewirkte. Nun ist aber jedenfalls der photoehemische Prozefs im Auge ein in hohem Grade reversibler, wie das ja auch iu der \u00dcEEiNGschen Theorie angenommen wird. Es w\u00e4re ja undenkbar, dafs die lichtempfindlichen Stoffe im Auge etwa so, wie ein Haloidsalz des Silbers bei einmaliger Belichtung dauernd ver\u00e4ndert w\u00fcrden.1 Das w\u00fcrde dem Zwecke des Sehorganes ganz zuwiderlaufen. Wir m\u00fcssen uns daher vorstellen, dafs bei der Verdunklung (der Einfachheit halber wird hier vorl\u00e4ufig nur von weifsem Licht und seinem Gegensatz, der Dunkelheit gesprochen) \u00e4hnlich so wie etwa bei der Polymerisation des Anthracens, eine nahezu vollst\u00e4ndige R\u00fcckbildung der durch das Licht hervorgerufenen Ver\u00e4nderung erfolgt, eine R\u00fcckbildung (Assimilation) in den urspr\u00fcnglichen Zustand. Diese Synthese ist leicht zu erkl\u00e4ren, wenn man sich vorstellt, dafs die Elektronen, die sich von den Atomen entfernt hatten, infolge ihrer dem Zeichen nach ungleichen elektrischen Ladung von diesen ihren Zentralk\u00f6rpern wieder zur\u00fcckgezogen werden, sobald das Licht erlischt. Daraus erkl\u00e4rt sich aber ganz einfach der elektrische Strom, den man bei der Verdunklung des Froschauges konstatierte. Ebenso einfach ist die Erkl\u00e4rung f\u00fcr die Vergr\u00f6fserung der Stromst\u00e4rken bei bewegter Lichtquelle. In diesem Falle treffen die Lichtstrahlen eine gr\u00f6fsere Anzahl von Atomen ; die Reaktion wird daher vergr\u00f6fsert ; (ebenso, wie die Aufl\u00f6sung eines K\u00f6rpers in bewegtem Wasser rascher vor sich geht, als in ruhigem). Auch die intermittierende Beleuchtung vergr\u00f6fserte die Stromst\u00e4rke gewifs infolge seitlicher Bewegungen der Molek\u00fcle, und langsamerer Assimilation im Dunkeln im Vergleiche zur rascheren Dissimilation im Lichte usw. Bez\u00fcglich der Perzeption der Farbenempfindungen nimmt bekanntlich Ewald Hering an, dafs dieselben durch die Gegenwart von sechs lichtempfindlichen Stoffen erm\u00f6glicht wTerden, von denen je zwei miteinander in der Weise korrespondieren, dafs die Zersetzung des einen mit einer Synthese des anderen, und umgekehrt, die Assimilation des einen mit einer Dissimilation des anderen kausal verbunden ist. \u201eDie so zustande kommenden drei Paare einfacher Empfindungen sind rot und gr\u00fcn, gelb und blau, weifs und schwarz.\u201c\n1 In neuerer Zeit ist \u00fcbrigens auch der Prozefs oAgJAgJ% -f-- 2Ag2J als reversibel befunden worden. (H. W. Vogel, Pliotocbemie Berlin, 1906.)","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Deutung der Netzhautstr\u00f6me.\n127\nHierzu bemerkt v. Bunge 1 : \u201eGegen diese Lehre Herings habe ich das folgende Bedenken niemals unterdr\u00fccken k\u00f6nnen: Dafs zwei so \u00e4hnliche Agentien wie rotes und gr\u00fcnes Licht einen ganz entgegengesetzten Prozefs bewirken, das eine eine Spaltung, das andere eine Synthese derselben chemischen Verbindung, ist ohne Analogie auf dem ganzen weiten Gebiete der gesamten Chemie.\u201c\nDieses Bedenken Prof. v. Bunges l\u00e4fst sich jedoch heutzutage durch folgende Betrachtung zunichte machen:\nWenn man CIH und SO\u00e0H2 mit Wasser und KOH zusammenbringt, so werden, dem Avidit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse der genannten S\u00e4uren entsprechend, etwa 74 Kaliumionen zum Sulfation und 100 Kaliumionen zum Chlorion wandern, und es wird sich ein chemisches Gleichgewicht bilden, welches nur dann \u201ezugunsten\u201c der einen oder der anderen der miteinander um das Kaliumion ringenden S\u00e4uren gest\u00f6rt werden k\u00f6nnte, wenn es gel\u00e4nge neue Anionen der einen oder der anderen S\u00e4ure in das Gemenge hineinzubringen.\nNun denke man sich statt der Schwefels\u00e4ure die rotempfindlichen, statt der Salzs\u00e4ure die gr\u00fcnempfindlichen Molek\u00fcle und statt des Kaliumhydroxyd jenen Stoff im Auge, dessen Verbinduug mit einer der zwei eben genannten Molek\u00fclarten die Ausl\u00f6sung der Sehempfindung veranlafst. Tritt z. B. gr\u00fcnes Licht ins Auge, so werden \u201egr\u00fcnempfindliche Atome\u201c ionisiert, und das chemische Gleichgewicht verschiebt sich zugunsten der gr\u00fcnen Reaktion, w\u00e4hrend das umgekehrte der Fall ist, wenn rote Strahlen ins Auge dringen. Hierbei ist es ganz klar, dafs die Zersetzung der einen Verbindung mit einer Synthese der anderen in unmittelbarer Beziehung steht, denn die Avidit\u00e4t der zwei Stoffe, n\u00e4mlich der gr\u00fcnenrpfindlichen und der rotempfindlichen h\u00e4ngt ja nur von der Anzahl ihrer Ionen ab, die sich in dem Gemenge befinden, ebenso wie dies in unserem Gleichnisse bei den zwei S\u00e4uren der Fall ist. Die Atome der gr\u00fcnempfindlichen Molek\u00fcle haben eben eine andere \u201ekorpuskul\u00e4re Temperatur\u201c1 2 als jene der rotempfindlichen und daher kommt es, dafs sie just\n1\tyon Bunge: \u201eLehrbuch der Physiologie des Menschen\u201c, Leipzig, 1901, S. 116.\n2\tJ. J. Thomsom, \u201eElektrizit\u00e4t und Materie\u201c, Braunschweig, 1904, S. 61, bezeichnet mit diesem Ausdrucke die kinetische Energie der Korpuskeln innerhalb des Atoms.","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nJosef Sehorstein.\nnur von den gr\u00fcnen Lichtstrahlen ionisiert werden, und die rotempfindlichen eben nur von den roten Strahlen. Das \u201eatomare Kovolumen\u201c,1 d. h. der Elektronenraum ist der Ort, wo die Energie der Licht welle ihre Wirkung aus \u00fcbt,, indem sie eine \u201eKorpuskel\u201c oder ein \u201eValon\u201c vom neutralen Atome wegschleudert und dasselbe dadurch in ein Ion verwandelt. Jetzt ist das Atom imstande eine neue chemische Verbindung einzugehen.\nBei den hierauf folgenden Wechselwirkungen werden nur wenige Stoffe dauernd im Auge verbraucht. Die geringere Stromst\u00e4rke bei der Verdunklung gegen\u00fcber jener bei der Belichtung gibt das Mafs f\u00fcr die Energiemenge, die zur Ausl\u00f6sung der Sehempfindung n\u00f6tig war, und tats\u00e4chlich f\u00fcr den Nutzeffekt verwendet wurde. Die reversible Elektronenbewegung beim Eindringen von Licht ins Auge gleicht der Bewegung eines automatischen T\u00fcrschliefsers, bei welcher der Eintretende gezwungen ist, die Arbeit des Zuschliefsens anticipando zu verrichten. W\u00e4re das Auge nicht so eingerichtet, so w\u00e4re es ihm unm\u00f6glich, einerseits den ganzen Tag \u00fcber unbeschadet Licht in sich aufzunehmen, und andererseits einen Stern 6. Gr\u00f6fse noch wahrnehmen zu k\u00f6nnen, der nur eine Energie von 0,6 -10~8 erg pro Sekunde (in mechanischem \u00c4quivalente ausgedr\u00fcckt) bei einer 3 mm weiten Pupillen\u00f6ffnung ins Auge schickt.2 3 4\nDie Entstehung elektromotorischer Kr\u00e4fte durch Lichtwirkung ist an iodierten Silberplatten von Edmund Becquerel 1843 studiert worden. Zahlreiche andere Forscher haben nach ihm dasselbe Ph\u00e4nomen beobachtet, und Griveaux 3 versuchte 1888 eine Theorie hierf\u00fcr zu entwickeln. \u00dcber letztere geht W. Ostwald 4 mit den Worten hinweg: \u201eDoch ist alles von der Zukunft zu erwarten\u201c.\nIch glaube gezeigt zu haben, dafs diese Zukunft heute nicht mehr ferne ist. Denn, wenn wir uns die Bildung neuer Ionen durch das Licht erkl\u00e4rt haben, so verstehen wir auch, dafs der osmotische Druck in dem Stoffgemenge, welches Licht en er gie in sich aufnimmt, wachsen mufs, (denn jedes neuhinzutretende Ion wirkt osmotisch wie ein neues Molek\u00fcl), und damit ist nicht\n1\tJ. Traube, Jahrbuch f\u00fcr Radioaktivit\u00e4t und Elektronik, 1907.\n2\tDrude, Optik, Leipzig, 1908, S. 472.\n3\tCompt. rend. 107, S. 837.\n4\tElektrochemie, 1896, S. 1087.","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Deutung der Netzhautstr\u00f6me.\n129\nnur die Entstehung der elektromotorischen Kraft der \u201eNetzhaut-str\u00f6me\u201c begreiflich gemacht, sondern auch manch anderes physiologische Ph\u00e4nomen, z. B. die Vergr\u00f6fserung der Turgeszenz der Pflanzenzelle w\u00e4hrend ihrer Lebenst\u00e4tigkeit bei der Assimilation im Lichte.1\nDie Fruchtbarkeit der Elektronentheorie auf physiologischem Gebiete verspricht eine recht befriedigende zu werden, und wir d\u00fcrften z. B. mit gr\u00f6fstem Interesse Versuchen entgegensehen, die den Einflufs der neuen Strahlen auf Enzyme und Katalysatoren zum Gegenst\u00e4nde h\u00e4tten.\n1 Man erinnere sich an die Gr\u00f6fsenbestimmung f\u00fcr die elektromotorische Kraft im galvanischen Elemente:\nF= 23\u00d67TLP I (! \u2014 m)di+ j (1 \u2014 m) i d lg nat c [> (Volt),\nCi\n/<\nCo\nworin i = osmotischer Druck, m die Anzahl der Grammionen, c = Konzentration bedeuten. Siehe: Arrhenius, Elektrochemie, 1901, S. 205.\n(.Eingegangen am 22. Mai 1907.)","page":129}],"identifier":"lit33497","issued":"1908","language":"de","pages":"124-129","startpages":"124","title":"Zur Deutung der Netzhautstr\u00f6me","type":"Journal Article","volume":"42"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:32:08.012758+00:00"}