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{"created":"2022-01-31T16:07:39.266428+00:00","id":"lit33498","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Lohmann, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 42: 130-153","fulltext":[{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\n(Aus der kgl. Universit\u00e4ts-Augenklinik M\u00fcnchen [Vorstand: Prof. Dr. Eversbusch]).\nZur Frage\nnach der Ontogenese des plastischen Sehens.\nVon\nPrivatdozent Dr. W. Lohmann.\nOberarzt an der K\u00f6nigl. Universit\u00e4ts-Augenklinik M\u00fcnchen.\nMit 3 Figuren und 2 Tabellen.\nInhalts \u00fcb er sicht.\nI. Gegens\u00e4tzliche Anschauungsweisen der Ontogenese der Raumanschauung.\nII. Herings Nativismus und Hillebrands Erg\u00e4nzung desselben.\nIII.\tDie Beziehungen der Muskelgef\u00fchle zur Raumanschauung.\nIV.\tAllgemeine Einwendungen gegen die HERiNGschen eingeborenen Tiefengef\u00fchle der Netzhaut und Labilit\u00e4t derselben.\nV.\tDie Ursache der Querdisparation der Netzhautbilder in vertikalen Reihen und empirische Momente f\u00fcr ihre Verschiebung bei der Konvergenz.\nVI.\tRein l\u00e4ngsdisparate Bilder werden nicht einheitlich perzipiert; Grund hierf\u00fcr.\nVII.\tEine Sonderstellung der Netzhautl\u00e4ngsreihen vor den horizontalen l\u00e4fst sich vermittels der Pr\u00fcfung der Lageverschiebung nicht nach-weisen.\nVIII.\tSchlufsfolgerungen.\nI.\nWie es kommt, dafs wir \u00fcberhaupt eine Raumanschauung haben, ist eine Frage, deren Beantwortung in spekulativen Bahnen sich bewegen mufs. Zwei entgegengesetzte Antworten sind m\u00f6glich. Entweder stellt man sich auf den Standpunkt : nil est in intellectu, quod non prius fuerat in sensu oder man nimmt eine \u201epr\u00e4stabilierte Harmonie\u201c an, ist also der Meinung, dafs in der organischen Materie die M\u00f6glichkeit einer Raumanschauung schl\u00e4ft und durch die Sinnesorgane zum Bewufstsein erweckt wird.","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage nach der Ontogenese des plastischen Sehens.\n131\nW\u00e4hrend die Phylogenese der Raumanschauung unserer Beobachtung und mithin einer exakteren Analyse entr\u00fcckt ist, \u2022erscheint die Frage, wie \u2014 die M\u00f6glichkeit r\u00e4umlichen Empfindens vorausgesetzt \u2014 in unserem Sonderleben das plastische Sehen in die Erscheinung tritt, f\u00fcr eine Beantwortung greifbarer.\nDa man noch h\u00e4ufig nicht ganz klaren Vorstellungen \u00fcber die Berechtigung empiristischer und \u00fcber diejenige nativistischer Auffassungsweise f\u00fcr die vorliegende Frage begegnet, erscheint eine zusammenstellende und abw\u00e4gende Untersuchung nicht \u00fcberfl\u00fcssig zu sein. Freilich haften einer solchen Untersuchung, wenn sie \u2014 wie in den folgenden Zeilen \u2014 in Form einer Diskussion gef\u00fchrt wird, die Spuren und M\u00e4ngel eigenen Denkens an; in gleichem Mafse werden L\u00fccken in der Gedankenreihe und nur f\u00fcr individuelles Denken berechtigte Argumente als solche hervortreten. Dadurch w\u00fcrde Widerspruch erregt und vielleicht zu gegens\u00e4tzlichen Auseinandersetzungen Anlafs gegeben werden. Auch so w\u00fcrde diese Untersuchung eine Ann\u00e4herung f\u00fcr das gesetzte Ziel herbeif\u00fchren k\u00f6nnen.\nW\u00e4re die Frage diese: Ist die Raumanschauung in uns an eine bestimmte Konstruktion des Sehorgans \u2014 in weitestem Sinne \u2014 gekn\u00fcpft, oder liegen die Bedingungen zum r\u00e4umlichen Sehen nicht in anatomisch vorgebildetem Organ, sondern sind lediglich Folge von Erfahrungen?, so w\u00fcrde ohne weiteres einleuchten, dafs die natheistische Anschauung zu Recht bestehen mufs, insofern n\u00e4mlich die M\u00f6glichkeit der Raumanschauung an unsere Organisation, den Bau der Augen und ihre zentrale Verbindung mit der Hinterhauptsrinde, sowie an die Assoziationsund Kommissurenfasern des Cerebrums gekn\u00fcpft sein mufs.\nAber der Nativismus behauptet vor allen Dingen, dafs nur in einer bestimmten Struktur des Auges das Zustandekommen des k\u00f6rperlichen Sehens beschlossen liegt. W\u00e4hrenddes sucht der Empirismus die Bedingungen zum k\u00f6rperlichen Sehen in der R\u00e4umlichkeit des Objektes, die durch die zweckm\u00e4fsigst gestalteten Sinnesorgane auf dem Wege der Erfahrung dem Zentralorgan \u00fcbermittelt und ontogenetisch erst allm\u00e4hlich zur r\u00e4umlichen Anschauung gebracht wird. Dem Empirismus ist also auch die M\u00f6glichkeit der Raumvorstellung durch unsere Organisation, im Zentralorgan, bzw. im Sinnesorgan, Bedingung.\nZeitsclir. f. Sinnesphysiol. 42.\t9","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nW. Lohmann.\nIL\nBesonderer Zuneigung erfreut sich der Nativismus, seit Hering in seinen bahnbrechenden Arbeiten f\u00fcr ihn eintrat. Sachlich bedeuten Herings Versuche Fortf\u00fchrungen und Erg\u00e4nzungen der Lehre von den identischen Netzhautpunkten, wie sie Joh. M\u00fcller inauguriert und Pan um modifiziert hatte.\nHering unterscheidet Richtungswerte f\u00fcr H\u00f6he und Breite, die gleichsinnig in den beiden Netzh\u00e4uten angeordnet sind; ihnen steht ein zweites System von Raumgef\u00fchlen oder Tiefenwerten zur Seite, die gegensinnig angeordnet sind. W\u00e4hrend die Richtungswerte nur ein zweidimensionales Bild des Sehraumes liefern w\u00fcrden, vermitteln die Raumgef\u00fchle die Anschauung der dritten Dimension.\nDie Auffassung der HERiNGschen Schule findet einen sehr pr\u00e4gnanten Ausdruck in folgender Formel Tschermaks : \u201eDas Doppelauge ist von vorneherein so organisiert, dafs korrespondierende L\u00e4ngsreihen von Elementen bei gleichzeitiger und wesentlich gleichartiger, l\u00e4ngerdauernder Erregung ihre Eindr\u00fccke als gerade vertikale Linien in einer und derselben frontalen Ebene erscheinen lassen: die paarweise Erregung nicht korrespondierender, sogenannter disparater L\u00e4ngsreihen von Elementen erzeugt hingegen Eindr\u00fccke vor oder hinter jener Ebene. Nasaldisparate Linien vermitteln den Eindruck ferner, temporaldisparate vermitteln den Eindruck n\u00e4her.\u201c\nAn dieser Stelle m\u00f6chte ich nicht unerw\u00e4hnt lassen, dafs Gg. Hirth (\u201edas plastische Sehen als Rindenzwang\u201c, ferner das Kapitel \u00fcber plastisches Sehen in \u201eEnergetische Epigenesis\u201c) unabh\u00e4ngig von Hering zu der Erkenntnis kam, dafs querdisparate Eindr\u00fccke nur unter Gewinnung der Anschauung der dritten Dimension binokular verschmolzen werden. Die Tatsachen, die sich ihm bei analytischen Untersuchungen mit dem Stereoskop ergaben, fafste er in ein Gesetz zusammen, dessen Wortlaut ich wiedergebe : \u201eDie Vereinigung der beiden Netzhautbilder und die Wahrnehmung scheinbar verschiedener Tiefen im Sammelbilde erfolgt durch einen nerv\u00f6sen Zwang. Hierbei werden nicht allein solche Partien, welche nur dem rechten oder dem linken Auge sichtbar sind, dem Sammelbilde als Bestandteile mit gr\u00f6fserer Tiefenwirkung eingef\u00fcgt, sondern es tritt auch bez\u00fcglich der beiderseits gesehenen, korrespondierenden Lichter","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage nach der Ontogenese des 'plastischen Sehens.\n133\nund Kontrastf\u00fchrungen mit rechts und links verschieden breiter Erstreckung eine unterschiedliche N\u00e4herempfindung ein, und zwar immer in der (auf der Netzhaut) temporalen Richtung des breiteren Netzhautbildes.\u201c\nSieht man sich die von Hirth (auf S. 175 der \u201eenergetischen Epigenesis\u201c) als Beispiel gegebenen Figuren an, so erkennt man, dafs Huit ns Gesetz mit den von Hering f\u00fcr das plastische Sehen als mafsgebend angegebenen Regeln \u00fcbereinstimmen.\nDie \u201eRaumgef\u00fchle\u201c sind nach Hering Imponderabilien der Netzhaut, und zwar zeigen sie in ihr eine angeborene L\u00e4ngsstreifung und bez\u00fcglich denen der anderen Netzhaut eine Gegen-sinnigkeit. Das Raumsehen ist angeboren ; aber in einem solchen primitiven Raumsehen existiert \u201ekeine Beziehung auf fern und nah, diese kommt erst dadurch hinein, dafs sich das Ich den Anschauungsbildern gegen\u00fcberstellt.\u201c (Physiol. Beitr\u00e4ge V, S. 327.)\nIm ausgebildeten Raumsehen ,,wird der gesamte Sehraum gleichsam als ein festes Ganzes relativ zum Ich verschoben\u201c. Die Raumgef\u00fchle haben quantitative Werte, die relativ zu den Tiefenwerten der Kernebene sind. ,,Die Lokalisation des Kernpunktes ist abh\u00e4ngig teils von den Raumgef\u00fchlen, welche die das Sensorium beherrschenden Netzhautbilder ausl\u00f6sen, teils von der aus irgendwelchen Motiven der Erfahrung resultierenden Vorstellungen, die wir uns von der Lage des fixierten Punktes machen, Erfahrungsmotiven, die entweder aus fr\u00fcherer Zeit stammen, oder soeben erst bei einer mit Hilfe der Augen-bewTegung angestellten Durchmusterung des Sehraums gewonnen wurden.\u201c (Physiol. Beitr\u00e4ge V, S. 345.)\nMan ersieht aus diesen Zeilen, dafs Herings Standpunkt\nnicht rein nativistisch ist ; er mufs, um die Bedingungen unseres\nRaumsehens v\u00f6llig erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen, eine Anleihe bei der\nErfahrung und zwar der des Einzelindividuums machen. Gegen\nden Vorwurf, dafs das HERiNGsche System von Raumgef\u00fchlen\nalso gewissermafsen in der Luft hinge, suchte Hillebrand\nfolgendes geltend zu machen: \u201eDie allern\u00e4chsten Objekte sind\nunter den sichtbaren Teilen des K\u00f6rpers (Nase, Stirn) zu suchen ...\nWenn ich von einer absoluten Lokalisation des Kernpunktes\nspreche, so meine ich damit nicht eine Lokalisation, die sich\nauf den wirklichen Raum bezieht, sondern auf den Sehraum . . .\nDie absolute Lokalisation des Kernpunktes ist in Wahrheit gar\nkeine absolute, sondern offenbar eine Lokalisation relativ zum\n9*","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nW. Lohmann.\neigenen K\u00f6rper. Die Tiefenbeziehung des Kernpunktes zum eigenen ist nur ein Spezialfall des Sehens mit disparaten Netzhautstreifen.\u201c {Zeitschrift f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorgane 26, S. 139.) Nach Hillebrand sind also als Basis mafsgebend f\u00fcr die Tiefengef\u00fchle jene Punkte der Retina, auf denen sich Stirn und Nase abbilden. Da auch die Lage des Kernpunkts von ihnen abh\u00e4ngig ist, so stehen nicht die Tiefengef\u00fchle der L\u00e4ngsstreifen in Relation zu letzteren, sondern eigentlich zu jenen peripheren Retinalpunkten.\nIch teile hier eine entoptische Wahrnehmung mit, die ich unl\u00e4ngst gemacht habe, und die dem HiLLEBRANDschen Standpunkt gem\u00e4fs zu sein scheint.\nBlicke ich auf den hellen Himmel, so bemerke ich entoptisch eine feine, fadenf\u00f6rmige Glask\u00f6rpertr\u00fcbung nahe dem Fixierpunkt, und zwar mit jedem Auge. Wende ich meine Aufmerksamkeit ihnen bei binokul\u00e4rer Betrachtung zu, so kann ich nicht wissen, wo der Kernpunkt f\u00fcr meine Augenstellung ist. F\u00fchre ich nun eine forcierte Konvergenzbewegung aus, so sehe ich, wie die entoptisch gesehenen F\u00e4den deutlich n\u00e4her auf mich zuzukommen scheinen. Die Glask\u00f6rpertr\u00fcbungen sind dabei entweder auf derselben Netzhautstelle abgebildet, oder auf peripherere gefallen. Als Beziehung bleiben, da der Kernpunkt durch ein in dem Kreuzungspunkt der Sehlinien sich findenden Objekt fehlt, nur die Umrisse der Stirn und Nase \u00fcber, die bei der Konvergenz auf andere Netzhautstreifen fielen. L\u00e4fst sich diese Wahrnehmung sehr wohl mit dem HiLLEBRANDschen Standpunkt vereinigen, so versagt dieser bei dem folgenden einfachen \\ ersuch, den ich mitteile.\nIch nehme ein Papier mit einem in der Mitte befindlichen Buchstaben. Jetzt bewaffne ich das eine Auge mit einem Prisma, so dafs der Buchstabe querdisparat zur Perzeption kommt. Dabei soll ein zwischen den Buchstaben liegender Punkt fixiert werden. Obwohl die Buchstaben querdisparat perzipiert werden, tritt keine Tiefenwahrung ein; der Buchstabe bleibt stets in der Ebene des Papiers. Hillebrand m\u00fcfste, um diesen Versuch mit seiner Auffassung in Einklang zu bringen, wiederum auf die Erfahrung zur\u00fcckgreifen, deren Korrektur es nicht dahingelangen lasse, dafs die angeborenen Raumgef\u00fchle rein im Anschauungsbild zur Geltung k\u00e4men.\nFolgender Versuch spricht noch eindringlicher gegen Hille-","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage nach der Ontogenese des plastischen Sehens.\n135\nbrands Erkl\u00e4rung. Ich verschaffe mir im v\u00f6llig verdunkelten Raum ein intensives beid\u00e4ugiges Nachbild einer elektrischen Birne. Wenn ich darauf die Birne l\u00f6sche, so gewahre ich im Dunkeln ein Nachbild von der Gr\u00f6fse, wie mir die Birne w\u00e4hrend des Gl\u00fchens des Fadens erschienen war. Weder intensive N\u00e4heroder Fernvorstellungen verm\u00f6gen die scheinbare Gr\u00f6fse des Nachbildes zu beeinflussen, noch der Versuch zu konvergieren bzw. zu akkommodieren. Komme ich jedoch dem Konvergieren und Akkommodieren, wie es sich im Hellen findet, dadurch zu Hilfe, dafs ich einem schwachroten Punkt mich n\u00e4here oder mich davon entferne, so nimmt auch die scheinbare Gr\u00f6fse des Nachbildes entsprechend zu. Ja, sogar wenn ich den Punkt l\u00f6sche und fortfahre mit dem N\u00e4hern und Entfernen, tritt noch einen Augenblick die Verschiebung der Gr\u00f6fse des Nachbildes bei mir ein. In diesem letzteren Falle k\u00f6nnten die Netzhautstellen keine Relation zum Kernpunkt, \u00fcberhaupt aber keine Relation zu peripheren Punkten, auf denen Nase und Stirn sich abbilden zeigen, sondern sie m\u00fcssen in Beziehung zu der Vorstellung bzw. dem Gef\u00fchle des Ann\u00e4herns und Sich-entfernens gebracht werden.\nIII.\nDas beid\u00e4ugige Sehen ist f\u00fcr die Tiefenwahrnehmung von solcher Bedeutung, dafs dieser Tatsache bei der Untersuchung der Genese der Raumanschauung unbedingt Rechnung getragen werden mufs. Dafs der doppel\u00e4ugige Eindruck des k\u00f6rperlichen Sehens ein unmittelbarer ist, wird einem besonders klar, wenn man ein Auge schliefst und zun\u00e4chst sich Rechenschaft gibt \u00fcber die absolute und relative Tiefe der uns umgebenden Gegenst\u00e4nde. Wenn man den Blick ruhig h\u00e4lt, so kann man sich leicht vergewissern, wie man nur auf dem Wege des Uberlegens, also mittelbar, \u00fcber die Tiefe der Gegenst\u00e4nde sich Auskunft erteilen kann. Viel unmittelbarer wird hingegen der Eindruck, wenn man beide Augen \u00f6ffnet, und eine sozusagen in die Augen springende Plastizit\u00e4t der Dinge wahrnimmt.\nGegen die Behauptung, dafs die volle plastische Empfindung an den beid\u00e4ugigen Seheindruck gebunden ist, k\u00f6nnte man vielleicht einwenden, dafs Ein\u00e4ugige, die zuvor im Besitz beider Augen standen, nach einiger Zeit wieder plastisch sehen lernten.","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nW. Lohmann.\nDagegen ist zn sagen, dafs eine empirische Ausn\u00fctzung von par ataktischen Bewegungen des Kopfes und anderer Daten noch nicht dem unmittelbaren beid\u00e4ugigen Eindruck gleichzukommen braucht.\nIn dem Unterschied zwischen monokularem und binokularem Tiefenunterscheidungsverm\u00f6gen liegt schon der Grund, warum die von empiristischer Seite f\u00fcr das plastische Sehen als bedeutungsvoll erachteten Muskelgef\u00fchle der Akkommodation und Konvergenz nicht ausschliefslich und f\u00fcr das feinere Tiefensehen \u00fcberhaupt nicht in Betracht kommen k\u00f6nnen. \u201eDafs wir vom Zustande unserer Akkommodation eine Empfindung haben, die auch nur entfernt f\u00fcr die Feinheit der Tiefenwahrnehmung verantwortlich gemacht werden kann, ist schon deshalb irrig, weil die Tiefenwahrnehmung sensu strictiori monokular gleich 0 ist, obwohl Akkommodationszustand und -Empfindung in gleicher Weise wie beim binokularem Sehen vorhanden sind. . . . Wenn wir ein Auge verdecken, so ist unter physiologischen Bedingungen (auch) Konvergenzzustand und Konvergenzempfindung beider Augen der n\u00e4mliche wie beim Sehen mit beiden Augen, die Tiefen Wahrnehmung ist aber gleich 0.\u201c (Heine : Sehsch\u00e4rfe und Tiefenwahrnehmung, Gr\u00e4fes Archiv f\u00fcr Ophthalmologie 51, 1.)\nBei \u00e4lteren Versuchen, die den Einflufs der Akkommodation und Konvergenz auf die Tiefenempfindung dartun sollten, wie sie z. B. Wundt anstellte, ist, wie Hillebeand (.Zeitschrift f\u00fcr Psych, u. Phys. 7 u. 26) hervorhebt, die alleinige M\u00f6glichkeit der Muskelempfindungen nicht herausgesch\u00e4lt und das Sehen mit querdisparaten Stellen und andere Erfahrungsmotive nicht ausgeschaltet worden.\nSo untersuchte Hillebband den Einflufs von Akkommodation und Konvergenz, indem er monokulare Bestimmungen machte und seine Beobachtungen an schwarzen Kartons vornahm, die vor weifsem Grund verschieblich waren. Er kam zu dem Ergebnis, dafs die Muskelgef\u00fchle bei weitem nicht die Feinheit bes\u00e4fsen, die ihnen zugesprochen worden seien und dafs sie eine relative Tiefenwahrnehmung nur in bescheidenem Mafse, eine absolute Tiefenempfindung gar nicht vermittelten.\nMan k\u00f6nnte jedoch geltend machen, dafs es keineswegs einerlei sei, die Muskelgef\u00fchle ganz losgel\u00f6st von den Bedingungen und Empfindungen, die in ihrer Gesamtheit den k\u00f6rperlichen Eindruck hervorrufen, zu untersuchen. W\u00fcrde es sich heraus-","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage nach der Ontogenese des plastischen Sehens.\n137\nstellen, dafs ein Pferd, welches ein auf gestelltes Karussel zu schnellen Umdrehungen zu bringen vermag, im Sande nicht imstande w\u00e4re, die Bestandteile des Karussels zusammen fortzubewegen, so d\u00fcrfe man daraus doch nicht schliefsen, dafs seine Kraft aufserstande sei, das aufgestellte Karussel zu bewegen.\nIndes sind dies Argumente, die f\u00fcr eine physiologische Betrachtung wenig stichhaltig und kaum dazu geeignet scheinen, einen Standpunkt, wie er sich in den oben mitgeteilten Zeilen He [In es ausspricht, zu widerlegen.\nWenn es demnach nicht anzunehmen ist, dafs die Feinheiten unserer Raumanschauung auf Muskelgef\u00fchle zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, so ist damit doch andererseits nicht entkr\u00e4ftet, dafs empirische Momente (Muskelgef\u00fchlsempfindungen, wie sie sich aus Konvergenz und Akkommodation ergeben oder besser gesprochen : mit Konvergenz und Akkommodation verkn\u00fcpfte Gef\u00fchlsempfindungen), bei der ontogenetischen Raumanschauung eine Rolle gespielt haben und noch immer, wenn auch nicht als ausschliefsliche, so doch als mitbestimmende Faktoren bei der Erkl\u00e4rung des Zustandekommens des k\u00f6rperhaften Sehens mit in Rechnung gezogen werden m\u00fcssen. Daf\u00fcr kann man geltend machen, dafs man im fremden Gel\u00e4nde viel sichereres Tiefenempfinden bekommt, wenn man die zu sch\u00e4tzenden Strecken mit dem Auge durchl\u00e4uft. \u2014 Auch versuche man sich einmal Rechenschaft \u00fcber die Entfernung des in temporaldisparaten Doppelbildern erscheinenden vorgehaltenen Fingers zum Fixierpunkt zu geben ; man wird eine \u201eEmpfindung\u201c haben bzw. vorstellen, die jenen Empfindungen an den Augen, wie sie der Konvergenzakt vom fixierten Punkt zur Fixation des Fingers hervorruft, \u00e4hnlich ist.\nHauptbedingung f\u00fcr das k\u00f6rperliche Sehen ist die Querdisparation der Bilder, die sich beim binokul\u00e4ren Gesichtseindruck ergeben. Es ist Herings Verdienst, in einer Reihe exakter Arbeiten die Bedeutung dieses Faktors klar gelegt und bewiesen zu haben. Aber ebensowenig wie die Anerkennung der Entwicklungslehre in der Biologie eine Annahme der DARWiNschen Selektionstheorie erheischt, ebensowenig erfordert die Anerkennung des f\u00fcr das plastische Sehen bedeutungsvollen querdisparaten Seheindrucks die Annahme von Herings nativistischer Auffassung des Sehorgans.","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nW. Lohmann.\nIV.\nDie angeborenen Tiefenwerte sind nach Hering gegensinnig. Nehmen wir nun einmal an, ein Punkt erschiene uns in Doppelbildern und zwar so, dafs die Differenz der gegenseitigen Tiefenwerte seine Lage zum Kernpunkt bestimmt, so setzt seine Tiefen Verlegung notwendig voraus, dafs sie erst zentral von einer Stelle, in welcher die Leitung jener disparaten Punkte einm\u00fcnden, zustande kommt. Der Tiefeneindruck, der sich auf einen Vergleich gr\u00fcndet, ist also ein Aperzeptum, eine Anschauung, die wir als Verstandest\u00e4tigkeit nicht sowohl uns als angeboren vorhanden zu denken verm\u00f6gen.\nAber das behauptet Hering auch gar nicht. Er nimmt ein angeborenes, primitives Raumsehen an, in dem noch keine Beziehungen auf Nah und Fern vorhanden sind. Diese werden erst, wie wir sahen, durch Erfahrung hinzugesellt, damit unsere Raumanschauung m\u00f6glich ist.\nDer angeborene r\u00e4umliche Charakter der Empfindung nach Hering mufs relativ sein. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie diese angeborene r\u00e4umliche Empfindung zu denken sei. Gegen die theoretischen Bedenken, die man gegen die M\u00f6glichkeit und Denkbarkeit angeborener Tiefenwahrnehmung Vorbringen k\u00f6nne, erinnert Hering \u201ean die bekannte Tatsache, dafs bei gewissen Tieren ein angeborenes und bereits weit entwickeltes Verm\u00f6gen zur Tiefenwahrnehmung vorkommt, wie jeder weifs, der z. B. frisch ausgeschl\u00fcpfte H\u00fchnchen beobachtet hat\u201c.\nHamburger (Klinische Monatsbl\u00e4tter f\u00fcr Augenheilkunde, Beilageheft 1905) berichtet \u00fcber Versuche, die er mit im Dunkeln ausgebr\u00fcteten H\u00fchnchen angestellt hat. \u201eSehr merkw\u00fcrdig und durchaus im Sinne der nativistischen Theorie war die auffallend richtige Beurteilung von Abgr\u00fcnden, wie man sie leicht hersteilen kann durch zwei, mit einigen Zentimeter Abstand beisammengestellte St\u00fchle; man sah das Tier deutlich nach den Griesk\u00f6rnern \u00e4ugen, die auf dem jenseitigen Stuhle sich befanden \u2014 den Abgrund wagte es erst dann zu \u00fcberschreiten, als die St\u00fchle bis fast zur Ber\u00fchrung gen\u00e4hert waren.\u201c\nDiese Analogie zugunsten des HERiNGschen Nativismus ist insofern nicht einwandsfrei, als doch auch das ausgeschl\u00fcpfte H\u00fchnchen das statische Gleichgewichtsgef\u00fchl und die F\u00e4higkeit zu gehen besitzt, der Mensch hingegen bei der Geburt nicht.","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage nach der Ontogenese des plastischen Sehens.\n139\nSicherlich zeigen die \u00dcberlegungen, dafs Tiefenempfindnngen angeboren sein k\u00f6nnen ; nur sagen sie nichts f\u00fcr den Menschen aus. Die geistigen Eigenschaften und F\u00e4higkeiten sind bei einem Huhne so gering, dafs sie sehr wohl in extenso vererbt gedacht werden k\u00f6nnen. Es ist nicht ang\u00e4ngig, eine dem H\u00fchnchen angeborene Tiefenempfindung auch beim Menschen als von Haus aus mitgegeben anzunehmen.\nSehr wichtig gegen Herings Nativismus erscheint mir der von Wundt (Physiolog. Psychol.) erhobene Einwand zu sein, der sich auf das Verschwinden von Metamorphopsien bezieht, die sich beim Tragen von Prismen zuerst einstellen.\nSetzt man ein Prisma vor ein Auge, so erscheint eine senkrechte Fl\u00e4che nach oben und unten zur Seite verzogen. Offenbar kommt diese Verzerrung dadurch zustande, dafs die Hornhaut gew\u00f6lbt ist; die Lichtstrahlen, die das Prisma passiert haben, treffen in verschieden weit erfolgter Ablenkung auf die Hornhaut, bevor sie durch den dioptrischen Apparat des Auges gebrochen werden. Die peripheren Teile einer durch das Prisma gesehenen Linie gelangen also auf solche Netzhautl\u00e4ngsschnitte, die der brechenden Kante des Prismas gen\u00e4hert sind.\n\u00d6ffnet man nun auch das zweite Auge, so sieht man die senkrechte Fl\u00e4che vorgebaucht. Wenn man eine solche Brille dauernd tr\u00e4gt, verschwinden nach Wundt die Verzerrungen nach einigen Tagen. Die Anpassung der Netzhautelemente an diese neuen Bedingungen spricht also nicht f\u00fcr eine den Netzhautelementen angeborene Tiefenempfindung.\nIch m\u00f6chte ferner noch auf folgendes hinweisen. Entfernt man das Prisma, durch welches einem die senkrechte Fl\u00e4che vorgebaucht erschien, schnell, so erscheint diese sogar f\u00fcr einen Augenblick konkav ausgebaucht. Der L\u00e4ngsschnitt, der durch den fixierenden Punkt geht, und den relativen Tiefenwert : 0 hatte, hat also in so kurzer Zeit schon den Tiefenwert: \u2014 angenommen !\nDer Annahme von Raumgef\u00fchlen, die der Netzhaut eingeboren sein sollen, d\u00fcrften fernerhin die Diskongruenzen im Wachstum der Netzhaut Schwierigkeiten bereiten. W\u00e4hrend n\u00e4mlich die Netzhaut gem\u00e4fs dem Gr\u00f6fserwerden des Bulbus an Fl\u00e4chendimension zunimmt, \u201eist die Fovea centralis des Neugeborenen schon ebensoweit von der Mitte des Sehnerven entfernt wie beim Erwachsenen\u201c. (Merckel und Kallius, makroskopische","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nW. Lohmann.\nAnatomie des Auges in Gr\u00e4fe - S\u00e4mischs Handbuch der Augenheilkunde, II. Auflage.)\nEndlich will ich noch eine ganz besondere Schwierigkeit hervorheben, die die Annahme retinaler Tiefenwerte bietet. Helmholtz sagt (Physiol. Optik II, S. 964): \u201eSolange die Eindr\u00fccke der einen Netzhaut mit korrespondierenden oder disparaten Stellen der anderen Netzhaut sich vereinigen, wo es sich nur um die Differenz der Tiefengef\u00fchle beider Stellen handelt, tritt, soweit ich sehe, keine wesentliche Schwierigkeit ein.\u201c Wie aber wird die Sache, wenn die Objekte im jeweiligen Horopter des Auges liegen?\nH\u00f6ren wir Hering selber. Er sagt (Physiol. Beitr\u00e4ge, S. 326) : \u201eIdentische Stellen haben entgegengesetzte Tiefenwerte, daher ihre Bilder nur dann in der Kernfl\u00e4che des Sehraumes erscheinen, wenn ihre beiden Tiefenwerte sich eben zu 0 ausgleichen. Dies ist der Fall, wenn beide Bilder einander m\u00f6glichst gleich sind. Sobald aber beide Bilder ungleich sind und das eine das andere im Wettstreit \u00fcbert\u00f6nt, sobald wird das Bild auch infolge seines siegreichen Tiefenwertes vor oder hinter der Kernfl\u00e4che erscheinen. Hierdurch wird das Tiefensehen m\u00f6glich.\u201c Und an anderer Stelle (S. 315) heilst es: \u201eSiegen aber, wie dies f\u00fcr gew\u00f6hnlich der Fall ist, die Konturen der einen Netzhaut \u00fcber die identisch liegende gleichm\u00e4fsige F\u00e4rbung der anderen, so beh\u00e4lt jeder in den gemeinsamen Sehraum eintretende Kontur seinen Nah- oder Fernwert bei und wird demnach aufserhalb der Kernfl\u00e4che des Sehraumes gesehen.\u201c\nSobald also die Bilder ungleich sind, findet sich durch Wettstreit ein Sieg der Konturen, der zugleich einen Sieg der \u2014 monokularen! \u2014 Tiefen werte bedeutet. Wie wenig pr\u00e4gnant aber diese supponierten monokularen Tiefenwerte der Netzhaut sind, geht daraus hervor, dafs sie nach Hering der Erfahrung zuliebe modifiziert werden, wTenn man nur ein Auge \u00f6ffnet und mit dem anderen allein irgend eine frontale Ebene betrachtet, die ihre richtige Lage beh\u00e4lt und nicht gem\u00e4fs den Tiefengef\u00fchlen nasen-w\u00e4rts gegen die Gesichtslinie geneigt erscheint (nach Helmholtz).\nAuch abgesehen hiervon mufs es verwunderlich erscheinen, dafs jeweils der Kontur jener Netzhauth\u00e4lfte zum Sieg der Tiefenwerte gelangt, deren Vorzeichen der wirklichen Lage des Objektes zum Kernpunkt entspricht.\nLetzthin m\u00f6chte ich noch einen einfachen Versuch anf\u00fchren,","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage nach der Ontogenese des plastischen Sehens.\n141\nder vom Standpunkt eingeborener Tiefengef\u00fchle der Netzhaut recht schwierig zu erkl\u00e4ren sein d\u00fcrfte. Man fixiere einen Punkt etwa 1 m von sich entfernt und halte seitlich den Finger senkrecht so vor sich, dafs er f\u00fcr das andersseitige Auge eben \u00fcber der Nase hervorragt. Jetzt drehe man \u2014 bei gleicher Fixation \u2014 den Kopf so zur entgegengesetzten Seite, dafs der Finger wegen der Nase nur noch f\u00fcr das gleichseitige Auge sichtbar ist. Wohl verliert der Finger seinen plastischen binokularen Tiefenwert, beh\u00e4lt jedoch seinen Nahewert bei, obwohl der gereizten Netzhautstelle das Gef\u00fchl ,,ferner als der fixierte Punkt\u201c innewohnen soll,\nDer von Tschermak angegebene Wheatstone - PANUMsche Grenzfall (I. Kongrefs f\u00fcr experimentelle Ps)Tchologie, Giefsen 1904; ferner H\u00f6eer: Archiv f. d. gcs. Physiologie 113) w\u00e4re bei der Annahme angeborener Netzhauttiefenwerte leichter zu erkl\u00e4ren. \u201eH\u00e4lt man 2 Finger mit etwa 20 cm Distanz so hintereinander, dafs der vordere den hinteren f\u00fcr das linke Auge v\u00f6llig verdeckt, so erscheint der hintere Finger doch zwingend in einer bestimmten Entfernung hinter dem vorderen.\u201c Die monokular gereizte Netzhautstelle liegt also in diesem Fall nasal von der Papille, entspricht also den angenommenen Fernergef\u00fchlen der Netzhautl\u00e4ngsstreifen.\nDafs die Hering sch en Tiefengef\u00fchle nur unter Zuhilfenahme von empirischen Eindr\u00fccken unsere Raumanschauung erkl\u00e4ren k\u00f6nnen, ist im Abschnitt II erw\u00e4hnt worden; auch ist an jener Stelle der HiLLEBRANDsche Versuch, die Tiefengef\u00fchle nur aus den Netzhautempfindungen erkl\u00e4ren zu wollen, als nicht zutreffend dargetan worden. In diesem (IV.) Abschnitt sollte besonders die Ohnmacht und Labilit\u00e4t der Tiefengef\u00fchle der Netzhaut in jenen F\u00e4llen betont wrorden, wenn von Momenten, die durch eine Erfahrung gegeben sind, eine andere Tiefenverlegung erfordert wird, als sie jenen angenommenen Tiefengef\u00fchlen gem\u00e4fs sind.\nV.\nNach Er\u00f6rterung dieser mehr allgemeinen Einwendungen soll im folgenden untersucht werden, ob notwendigerweise eine angeborene L\u00e4ngsstreifung der Netzhaut mit Stereoskopiefunktion angenommen werden mufs. Diese Frage soll von zwei Gesichtspunkten aus beleuchtet werden. Zun\u00e4chst von folgendem: L\u00e4fst Bich die Tatsache, dafs das k\u00f6rperliche Sehen auf querdisparaten","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nW. Lohmann.\nBildern beruht, nur mit der Annahme einer L\u00e4ngsstreifung der Netzhaut vereinigen, und bietet sie einer empiristischen Auffassung der Ontogenese des k\u00f6rperlichen Sehens bedeutende Schwierigkeiten (V.)? Als zweite Unterfrage soll untersucht werden, ob zwingende Tatsachen vorhanden sind, die die Auffassung angeborener L\u00e4ngsstreifung der Netzhautelemente gerechtfertigt erscheinen lassen (VI. und VIL).\nWorauf mufs letzten Endes die von Hering angenommene L\u00e4ngsstreifung der Netzh\u00e4ute beruhen? Man mache folgenden einfachen Versuch. Zwei starke Linsen stehen in einer solchen Entfernung vor einem Schirm, dafs das Bild einer Kerzenflamme scharf auf diesen entworfen wird. Die Mitten der Linsen sollen eine horizontale Linie bilden und in gleicher Ebene mit der Mitte der Kerzenflamme stehen. Nun bringe man vor eine Linse ein so starkes Prisma, dafs beide, von den Linsen entworfene Bilder zusammenfallen. Jetzt halte man senkrecht vor die Flamme einen Stab ; man wird ihn auf dem Schirm rechts und links von der Flamme wahrnehmen. Einen wagerechten Stab wird man hingegen nur als eine Linie wahrnehmen. Ist er kurz, so werden freilich auch seine senkrechten Begrenzungen disparat im Bild erscheinen.\nAuf die frontale, horizontale Stellung der Augen m\u00fcssen wir also letzten Endes die Querdisparation der Bilder, die sich beim binokularen Tiefensehen geltend macht, zur\u00fcckf\u00fchren. Da die querdisparate Reizung der Retina vermittels Haploskops Tiefenempfindung hervorruft, so meint Hering auf angeborene Tiefenwerte schliefsen zu m\u00fcssen, die der Retina innewohnen. Mit ebensolchem Recht l\u00e4fst sich aber auch schliefsen, dafs die Tiefenempfindung deshalb zustande kommt, weil Bedingungen geschaffen sind, die in der gewohnten Sehweise auf reelle Tiefenwerte der Objekte zur\u00fcckzuf\u00fchren sind. Die Tiefenwerte sind also durch Anschauungsweise des Verstandes hervorgebracht zu denken und nicht den Empfindungen als solchen anhaftend.\nSo einfach wie diese Art der Betrachtung der Ursache und des Wesens der Quer disparation der Bilder zu sein scheint, so wichtig ist sie. Ich zeige das an einem Beispiel. Heine (\u201eUber die Bedeutung der L\u00e4ngenwerte f\u00fcr das k\u00f6rperliche SehenV Verhandlungen der ophthalmologischen Gesellschaft zu Heidelberg 1903) sucht den Einflufs der Querdisparation klar zu machen an stereoskopisch zu vereinigenden Linien, deren Gruppierung","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage nach der Ontogenese des plastischen Sehens.\n143\ndie Kanten eines vertikalen Prismas nachahmen. (Siehe Fig. 1.) Dreht man die den einzelnen Augen gebotenen Bilder im Sinne des Uhrzeigers (Fig. 2), so erf\u00e4hrt die relative Entfernung der St\u00e4be eine Zunahme.\nFig. 1.\nFig. 2.\nDiese Zunahme der Plastizit\u00e4t versucht Heine an Figuren klar zu machen, indem er ein Sammelbild zeichnet mit gestrichelter vorderer Kante. Bei Schr\u00e4gstellung dieser Figur wird die horizontale Distanz zweier Punkte gr\u00f6fser; also \u2014 folgert Heine \u2014 ist die Querdistanz, welche die Tiefenwahrnehmung vermittelt, vergr\u00f6fsert.\nWechseln wir nun aber einmal unseren Standpunkt und versuchen, dieselben Tatsachen weniger von vornherein nati-vistisclier Seite als vielmehr in oben dargelegtem Sinne zu betrachten. Das obere Bild, Fig. 1, ahmt in seiner Gruppierung die Kanten eines vertikal stehenden Prismas nach, wie man es durch Konstruktion oder stereoskopische Photographie erhalten kann. Fig. 2 ahmt auch in seiner Gruppierung die Kanten eines geneigt stehenden Prismas nach, nur eines anderen als das vorige war. Denn das Prisma, das verm\u00f6ge der seitlichen Distanz unserer Augen in vertikaler Aufstellung eine Anordnung der vorderen Kante in den Einzelbildern jedes einzelnen Auges zeigt, wie dies Fig. 1 wiedergibt, mufs bei geneigter Aufstellung eine Anordnung der vorderen Kante zeigen, in der die Differenzen der seitlichen Distanzen der mittleren Linie abgenommen haben. W\u00fcrden wir das Prisma zur Horizontalen drehen, so w\u00fcrden die Vorderkanten in den Einzelbildern \u00fcberhaupt nicht mehr, was ihre Entfernung","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nW. Lolimann.\nvon den beiden anderen angeht, different sein, sondern mitten inne liegen und nur verschieden weit links bzw. rechts aus der Flucht der mittleren Linien herausspringen.\nVernachl\u00e4ssigen wir einmal das Heraustreten der vorderen Kante des Prismas aus der Flucht der beiden anderen, und versuchen wir lediglich, da es sich nur um die Gruppierung der mittleren zu den beiden anderen Kanten handeln soll, die Lage der mittleren Linie zu den beiden anderen zu bestimmen. Wie m\u00fcssen sich die Bilder eines wirklichen Prismas, dessen Netzhautbilder bei vertikaler Stellung Fig. 1 wiedergibt, durch die horizontale Anordnung unserer Augen \u00e4ndern, wenn das Prisma im Sinne des Uhrzeigers gedreht wird?\nDa bei Drehung des Prismas zur Horizontalen die seitliche Distanz der Linien voneinander gleich 0 werden mufs, so wird bei einer Stellungs\u00e4nderung des Prismas im Sinne der Fig. 2 (= 45 \u00b0) die Anordnung der mittleren Linie eine solche sein, dafs ihre Distanz von der Mitte der beiden Grundlinien die H\u00e4lfte von jener Distanz der Fig. 1 betragen mufs. Zeichnet man in diesem Sinne die St\u00e4be (Fig. 3), so ergibt ihre stereoskopische\nFig. 3.\nVerschmelzung dieselbe Tiefe wie Fig. 1 auf weist. \u2014 Die Zunahme der Plastizit\u00e4t der St\u00e4be der Fig. 2 gegen\u00fcber jener der Fig. 1 ist darin begr\u00fcndet, dafs unseren Augen in Fig. 1 und Fig. 2 Bilder geboten werden, die in der gewohnten Sehweise von zwei Prismen mit verschiedener Tiefenausdehnung durch die horizontale Anordnung der Augen hervorgebracht werden.\nVersuchen wir nunmehr, ob wir nicht, ohne eine bestimmte Netzhautkonstruktion anzunehmen, deren L\u00e4ngsreihen eine zum fixierten Punkt relative Tiefenempfindung ausl\u00f6sen, f\u00fcr die gewohnte Sehweise mit Quer disparation empirische Gesichtspunkte zu finden verm\u00f6gen, die sich aus der Ver\u00e4nderung der querdisparaten Bilder bei der Konvergenz ergeben. Wir wollen diesen Versuch in Form folgender Fragestellung unternehmen:","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage nach der Ontogenese des plastischen Sehens.\n145\nWie grofs ist die Entfernung der Doppelbilder und querdisparaten Punkte voneinander und in welchem Verh\u00e4ltnis steht diese Gr\u00f6fse jeweils zum fixierten Punkt?\nMan kann diese Frage rechnerisch beantworten, oder sich diese Verh\u00e4ltnisse recht anschaulich, wie ich es im folgenden beschreiben will, zur Darstellung bringen. \u2014 Das Sehen mit Doppelbildern ist ein extremer Fall des querdisparaten Sehens; theoretisch von derselben Wesensart ist es jedoch vor diesem einer messenden Untersuchung zug\u00e4nglicher.\nEine von der Nasenwurzel aus horizontal verlaufende Schiene mit Fufsgeleisen f\u00fcr zwei senkrechte Nadeln tr\u00e4gt Zentimetereinteilung. Auf ihr befinden sich zwei Nadeln und erscheinen je nach Fixation der einen oder anderen wechselweise in gekreuzten oder gleichnamigen Doppelbildern.\nNun befestigt man auf der entfernten Nadel eine Papierfahne, die durch die Nadel geh\u00e4lftet wfird, von der Form eines Rechtecks mit kleinerer L\u00e4ngsseite. Die gegenseitige Entfernung der Nadeln in verschiedenen Stellungen, bei welchen die Doppelbilder der n\u00e4heren Nadel dieselbe objektive Gr\u00f6fse hatte, mafs ich in der Weise, dafs ich bei Fixation der Spitze der hinteren Nadel die vordere soweit vorschob, bis ihre unscharf erscheinenden Konturen die vertikalen Linien des frontal gestellten Papierparallelogramms begrenzten. Dafs die Doppelbilder der vorderen Nadel in einer anderen Ebene als die hintere Nadel stehen, tut bei diesen Versuchen, die ja den Breitenabstand der Doppelbilder messen wollen, nichts zur Sache.\nTabelle I.\nL\u00e4nge der Papierfahne = 8 cm. Pupillardistanz 64 mm.\nEntfernung der Nadel mit Papierfahne\t100 cm (= 1 Meterwinkel)\t50 cm (= 2 Meterwinkel)\t33,3 (= 3 Meterwinkel)\t25,0 (= 4 Meterwinkel)\nEntfernung der zweiten Nadel\t41 cm\t20 cm\t13 cm\t10 cm\nDieselben Werte in Meter-winkelwerten\t2,4 (= 1 X 2,4)\t4 9 (2 X 2,4 = 4,8)\t7 8 (3 X 2,4 = 7,2)\t10,0 (4 X 2,4 = 9,6)","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nW. Lohmann.\nDiese Tabelle (die man beliebig variieren kann, z. B. so, dafs die Doppelbilddistanz so gew\u00e4hlt wird, dafs immer dieselben Netzhautpunkte gereizt werden) zeigt, dafs die Doppelbilddistanz in einer zahlenm\u00e4fsigen Abh\u00e4ngigkeit von der absoluten und relativen Lage der Gegenst\u00e4nde zum Subjekt steht, die nur einheitlich unter Zugrundelegung des Mafsstabes des Meterwinkels aufgefafst werden kann. Dieses Ergebnis ist nichts anderes als die Umschreibung des Umstandes, dafs die Relativit\u00e4t der Tiefenempfindung einer bestimmten Netzhautpartie zum fixierten Punkt eine Winkelgr\u00f6fse ist. Es ist dieselbe Winkelgr\u00f6fse, deren Einheit auch dem Zusammenwirken von Akkommodation und Konvergenz zugrunde liegt.\nWir sahen schon oben, dafs es wohl nicht ang\u00e4ngig ist, in der jeweiligen Akkommodation und Konvergenz die alleinige Ursache der Tiefenempfindung zu suchen, und sind deswegen nicht versucht, in den sich ergebenden Zahlen die Abh\u00e4ngigkeit der Querdisparation von dem Zustand der Akkommodation und Konvergenz zu erblicken. Umgekehrt kann man eine Abh\u00e4ngigkeit des Akkommodations- und Konvergenzstadiums von den Nah- und Eerngef\u00fchlen erblicken. \u201eEin vor oder hinter dem fixierten Punkt gelegener vermag dadurch, dafs er querdisparat zur Perzeption kommt, verm\u00f6ge seines Nah- oder bernwertes, einen Anreiz auf das entsprechende Bewegungszentrum auszu\u00fcben\u201c. (HerinGr nach Hillebrand.) Diese letztere Art der Betrachtung ist indes um nichts begr\u00fcndeter als die erstere; lehnt man auch sie ab, dann bleibt uns als Schlufs, den wir aus der Identit\u00e4t der Akkommodations- bzw. Konvergenzgr\u00f6fsen und denen der Quer disparation bzw. Doppelbilder ziehen k\u00f6nnen, \u00fcber, dafs beide nicht urs\u00e4chlich durcheinander bedingt sind, sondern beide Folge und Ergebnis derselben Erfahrungsmomente sind, w\u00e4hrend die Begr\u00fcndung ihres Verh\u00e4ltnisses und ihrer Abh\u00e4ngigkeit voneinander auf der frontalen Anordnung und der\nDistanz der beiden Augen liegt.\nEs besteht meines Erachtens keine Schwierigkeit somit, die Querdisparation der Netzhautbilder durch Erfahrung zu k\u00f6rperlicher Anschauung psychologisch vereinheitlicht anzunehmen; dieser Standpunkt ist sicherlich ebensogut denkbar wie jener, demzufolge das Tiefensehen auf einer terminalen Empfindung beruht. Nach wie vor wird also eine \u2014 als psychologisch so viel gescholtene! \u2014 Theorie, die eine psychische Verschmelzung","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage nach der Ontogenese des plastischen Sehens.\t147\njener Doppelbilder und querdisparater Bilder des beid\u00e4ugigen Eindrucks annimmt, zu Recht bestehen.\nWie wir die psychische Verschmelzung verstehen k\u00f6nnen, dar\u00fcber gibt uns das als Wettstreit der Sehfelder bekannte Ph\u00e4nomen Aufschlufs.\nMan fafst den Wettstreit der Sehfelder gew\u00f6hnlich als etwas Sekund\u00e4res auf, der dann in die Erscheinung tritt, wenn die den beiden Augen einzeln gebotenen Bilder nicht verschmolzen werden k\u00f6nnen. Mit ebensolchem Recht kann man aber auch den Wettstreit als etwas Prim\u00e4res auffassen, der jedoch dort, wo es zu einheitlicher Anschauung kommt, nicht mehr f\u00fcr gew\u00f6hnlich wahrgenommen wird. (Vgl. meinen Aufsatz : Uber den Wettstreit der Sehfelder und seine Bedeutung f\u00fcr das plastische Sehen. Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol, d. Sinnesorgane 40.)\n\u201eDie Vermittlung der Eindr\u00fccke des deutlichsten Sehens ist permanent; bei ihnen findet sich nur ein untergeordnetes Schwanken. In der Umgebung des fixierten Punktes findet ein Wettstreit der beiden Sehfelder statt, der die Erscheinungen der Parallaxe hervorruft. Sie treten zu dem Eindruck der Stelle des deutlichsten Sehens kommentierend hinzu und vermitteln den Eindruck des K\u00f6rperlichen.\u201c\nF\u00fcr gew\u00f6hnlich kommt uns jedoch dieser Wettstreit nicht mehr zum Bewufstsein; wir werden nur des Resultates inne, indem wir zur Anschauung des K\u00f6rperlichen gelangen. Die Einheit der Anschauung des K\u00f6rperlichen ist eine Synthese der Psyche; diese kann den beiden ein\u00e4ugig verschiedenen Bildern nur dadurch gerecht werden, dafs sie eine zu den zweidimensional gelieferten Bildern der Augen eine dritte zu jenen senkrechte Ebene annimmt.\nVI.\nWenn die Querdisparation der Bilder beim beid\u00e4ugigen Sehen auf die frontale Stellung der Augen und ihre Distanz zur\u00fcckgef\u00fchrt werden mufs, so w\u00e4re die weitere Annahme zul\u00e4ssig, dafs diese durch die horizontale Distanz der Augen bedingte, st\u00e4ndige Quer disparation der Bilder auch eine Differenzierung der Netzhautelemente zustande gebracht h\u00e4tte im Sinne einer L\u00e4ngsstreifung mit Stereoskopiefunktion. Besteht nun ein solcher Vorrang der L\u00e4ngsreihen der Netzhaut vor den Querreihen?\nWeinhold untersuchte die Frage, ob die simultane Reizung\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 42.\t10","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nW. Lohmann.\nl\u00e4ngsdisparater Linien der Netzhaut ebenfalls einheitliche Anschauungsbilder eventuell mit Tiefenvorstellung hervorzubringen imstande sei, mittels einer Methode, die von Heine angegeben war (v. Gr\u00e4fes Archiv 54). Er brachte durch entsprechende Kombination zweier rechtwinkliger Prismen das eine Auge ge-wissermafsen in eine Ebene senkrecht \u00fcber dem anderen Auge. Das Ergebnis dieser Untersuchungen war, dafs l\u00e4ngsdisparate Linien niemals einheitlich zur Perzeption kamen, sondern Doppelbilder ergaben, deren geringster Abstand ungef\u00e4hr eine Minute, entsprechend einer Zapfenbreite unserer Netzhaut betrug.\nAnstatt dieser sehr sch\u00f6nen, aber immerhin etwas komplizierten Versuchsanordnung kann man sich auch des Stereoskops bedienen, um sich von den in Rede stehenden Tatsachen zu \u00fcberzeugen. W\u00e4hrend man ein senkrechtes Linienpaar mit verschiedener Distanz zu einheitlicher Perzeption mit Tiefenvorstellung bringen kann, gelingt es einem nicht, zwei horizontal parallele Linien, die eine geringe L\u00e4ngs diff er enz auf weisen, einheitlich aufzufassen. Wie schon Weinhold bemerkt, tritt an den l\u00e4ngsdisparaten Linien ein gesteigerter Wettstreit der Sehfelder ein.\nHelmholtz glaubte, dafs unter gewissen Umst\u00e4nden, wenn es von der Erfahrung gefordert w\u00fcrde, auch rein l\u00e4ngsdisparate Linien unter Gewinnung der dritten Dimension perzipiert w\u00fcrden. Nun sind die Schachbrettfiguren, die er zur Erh\u00e4rtung dieser Tatsache aufzeigt, durchaus nicht einwandsfrei. Zun\u00e4chst findet sich bei den rechten L\u00e4ngsreihen des linken Halbbildes und bei den linken L\u00e4ngsreihen des rechten Halbbildes der Fig. B. eine deutliche Querdisparation, und sodann ist gegen die vermeintliche reine L\u00e4ngsdisparation noch folgendes einzuwenden.\nHeine (Verhandlungen der ophthalm. Gesellschaft in Heidelberg 1903) erinnert bei den HELMHOLTzschen Schachbrettfiguren, \u201edafs an der linken oberen Ecke des linken Halbbildes der Fig. B. der Winkel einem rechten n\u00e4her als an der entsprechenden Ecke des rechten Halbbildes und umgekehrt an der rechten oberen Ecke des rechten Halbbildes der Winkel einem rechten n\u00e4her als an der entsprechenden Ecke des linken Halbbildes komme.\u201c Hierdurch w\u00fcrde eine ,,Scheinl\u00e4ngsdisparation\u201c bewirkt, in der eine Querdisparation enthalten sei. Heine befestigte in einem Stereoskop die den einzelnen Augen sich bietenden Bilder auf rotierende Scheiben und analysierte die Tiefenempfindungen der L\u00e4ngs- und Querstreifen der Retina mit","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage nach der Ontogenese des 'plastischen Sehens.\t149\nRadienstrichen, die er in absolut und relativ verschiedene Lagen brachte. Auf dem einen Radius brachte er in einer Entfernung von 10 mm vom Zentrum eine Marke an, auf dem anderen Radius jedoch zwei feinere Marken in einer Entfernung von 9 und 11 mm vom Zentrum. \u201eSind beide Radien 45\u00b0 gegen den Horizont geneigt, also einander parallel, so liegt bei binokularer Betrachtung die Marke des linken Radius zwischen den beiden des rechten. Drehen wir nun den rechten Radius in Uhrzeigerrichtung, so gelangt die Marke des linken Radius mit der 11 mm-Marke zur Deckung: der durch die Verschmelzung beider gegebene Punkt liegt hinter der Ebene des Kreises. Drehen wir den rechten Radius von 45\u00b0 nach oben, so gelangt die Marke des linken Radius mit der 9 mm-Marke des rechten Auges zur Deckung: der durch die Verschmelzung beider gegebene Punkt liegt vor der Ebene des Kreises.\u201c Heine folgert: \u201eEs werden also nicht solche Punkte zur Verschmelzung gebracht, die urspr\u00fcnglich zusammengeh\u00f6ren, und durch die Drehung eine gewisse L\u00e4ngsdisparation bekommen, sondern nur horizontal nebeneinander liegende, also nur solche mit Quer disparation.\u201c\nDiese von Heine analytisch gewonnenen Tatsachen sprechen nun keineswegs nur f\u00fcr die Annahme von Tiefengef\u00fchlen, die den L\u00e4ngsreihen der Retina eingeboren sind. Durch die Anordnung unserer Augen ist es bedingt, dafs wir niemals l\u00e4ngsdisparate Linien als Netzhautbilder empfangen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, da in der gewohnten Sehweise rein l\u00e4ngsdisparate Bilder fehlen, dafs wir bei stereoskopischen Versuchen parallele, horizontal-distante Linien nicht einheitlich auffassen k\u00f6nnen. Nur dann verm\u00f6gen wir scheinbar horizontal distante Linien einheitlich aufzufassen, wenn durch Konvergenz die Reinheit der horizontalen Distanz beeintr\u00e4chtigt wird, wenn also die Linien den monokular verschieden perspektivischen Halbbildern entsprechen, welche durch k\u00f6rperlich wirkliche Gegenst\u00e4nde hervorgebracht werden.\nDafs im HEiNEschen Experiment bei gleichem St\u00e4tbleiben des linken Radius ein Hervorneigen des Scheinstabes bei Drehung des rechten Radius nach unten, und ein Hinaustreten des Scheinstabes aus der Papierebene nach hinten bei Drehung des rechten Radius in Uhrzeigerrichtung sich findet, kommt deshalb zustande, weil unter wirklich sich findenden Bedingungen keine anderen\nBewegungen des Stabes denkbar sind. Die Halbbilder, wie sie\n10*","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nW. Lohmann.\nim genannten Versuch beiden Augen geboten werden, entsprechen als monokular-perspektivische Eindr\u00fccke durchaus den Bewegungen eines wirklichen Stabes, dessen eine Seite aus dem Zentrum der Papierebene weiter heraustritt und dessen entgegengesetztes Ende zum Knotenpunkt des linken Auges sich bewegt in einer Ebene, die durch Knotenpunkt, Zentrum des Kreises und Radius charakterisiert ist. Die Annahme einer spezifischen Netzhautkonstruktion mit Tiefengef\u00fchlen ist hierbei durchaus unn\u00f6tig.\nAbgesehen von der gewohnten Sehweise, wie sie sich aus der querdisparaten Stellung der Augen ergibt, mufs man ferner bedenken, dafs bei stereoskopischer Untersuchung der l\u00e4ngsdisparaten Netzhautstellen wie auch bei Anwendung der Heine-schen Prismenmethode die Muskelgef\u00fchle, denen, wie im Abschnitt III gezeigt ist, man immerhin einen gewissen Einflufs beim k\u00f6rperlichen Sehen nicht absprechen kann, g\u00e4nzlich in Wegfall kommen, da wir nicht nach oben, bzw. nach unten beide Augen konvergieren bzw. divergieren lassen k\u00f6nnen.\nVII.\nDer anatomisch ausgebildete Vorrang der L\u00e4ngsstreifen vor den horizontalen k\u00f6nnte in der Netzhaut nach zwei Seiten hin zum Ausdruck kommen. Entweder k\u00f6nnte die zentrale Verkn\u00fcpfung der vertikalen L\u00e4ngsreihen der Zapfen eine innigere sein als die der horizontalen oder es best\u00fcnde eine solche Anordnung des Sechsecksmosaiks der Zapfen, dafs die beiden parallelen Seiten senkrecht st\u00e4nden. Dafs diese letztere Anordnung f\u00fcr die Perzeption der seitlichen Distanz die g\u00fcnstigere ist, hat Heine an der Hand von Figuren in seiner Arbeit \u00fcber \u201eSehsch\u00e4rfe und Tiefenwahrnehmung\u201c (v. Gr\u00e4fes Archiv 51, Heft 1) erl\u00e4utert.\nDie M\u00f6glichkeit ist nicht ausgeschlossen, auf physiologischem Wege und zwar vermittels Pr\u00fcfung der Lageverschiebung eine Antwort auf die Frage, ob eine anatomische Sonderstellung der L\u00e4ngsreihen besteht, zu bekommen. W\u00e4hrend bei der Pr\u00fcfung der Sehsch\u00e4rfe, d. i. der F\u00e4higkeit, zwei Punkte als solche zu erkennen, sich etwa die Gr\u00f6fse eines Minutenwinkels ergibt, werden nach W\u00fcleing (Zeitschrift f\u00fcr Biologie 29) und Best (v. Gr\u00e4fes Archiv 51) bei der Pr\u00fcfung von Verschiebungen gerader Linien gegeneinander Unterschiede sicher erkannt, deren Winkelgr\u00f6fse nur 10\u201412\" betr\u00e4gt.","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage nach der Ontogenese des plastischen Sehens.\n151\nHering (Ber. der math.-phys. Kl. d. Kgl. s\u00e4chs. Ges. der Wissenschaft zu Leipzig, naturw. T. 1899) zeigte bekanntlich, dafs an hexagonalen Fl\u00e4chen eine seitliche Lageverschiebung, die im Netzhautbild einen Bruchteil des Zapfenumfanges bes\u00e4fse, erkennbar sein m\u00fcsse, wenn man nicht einzelne Zapfenelemente, sondern zwei nebeneinanderliegende Reihen, die mit der Richtung der zu verschiebenden Linien zusammenfallen, verantwortlich mache.\nBest, der die Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle benutzte, berichtet, dafs unter gewissen Umst\u00e4nden auch noch Lage Verschiebungen von 2,5\" einen Einflufs auf die Wahrnehmung haben k\u00f6nnen. Er ist der Meinung, dafs die Untersuchungsresultate nicht allein von der Feinheit des Raumsinns, sondern auch vom Lichtsinn abh\u00e4ngig seien. Auch reiche eine Zapfenreihe f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Erkennbarkeit von Lageverschiebungen aus. \u201eEs werden bei kleiner Verschiebung der Linien die Zapfen derselben Reihe teils mehr belichtet, teils weniger. Ist dieser Unterschied merklich, so k\u00f6nnen die oberen Zapfen als zur weifsen Fl\u00e4che geh\u00f6rig, die unteren als zur schwarzen geh\u00f6rig empfunden werden.\u201c\nBest pr\u00fcfte die Breitenverschiebung bei senkrechter Richtung, bei einer Neigung von 30 \u00b0, 45 \u00b0, 60 0 und 90 \u00b0. Er kam zu dem Resultat, dafs es von vornherein schwerer sei bei den verschiedenen Schr\u00e4glagen und bei seitlicher Lage die Unterschiede zu erkennen; jedoch \u00fcbe man sich ein; immerhin best\u00fcnde eine Bevorzugung der senkrechten Lage.\nIm vorliegenden Zusammenhang ist die Frage, ob eine Bevorzugung der L\u00e4ngsreihen besteht, so wichtig, dafs eine erneute Untersuchung gerechtfertigt erscheint, zumal die Bevorzugung der senkrechten Reihen aus Bests Tabelle nicht immer ersichtlich ist.\nDie folgenden Bestimmungen sind monokular ausgef\u00fchrt worden in einer Entfernung von 25 m mit Hilfe von Noniusverschiebungen der Grenzlinien von schwarzem und weifsem Felde. Es wurde begonnen von jener Stellung, wo die Begrenzungslinie noch ununterbrochen war, und die Verschiebung so weit vollzogen, bis eine Unterbrechung und Knickung der Linie angegeben wurde. Damit eine Fehlerquelle, die sich aus dem Faktor der Ein\u00fcbung oder jenem der Erm\u00fcdung ergeben k\u00f6nnte, vermieden w\u00fcrde, wurde wechselweis, je einmal horizontal und sodann vertikal untersucht.","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nW. Lohmann.\nTabelle II.\nLaufende Zahl der Pr\u00fcfung\tAngabe ob horizontal oder vertikal\tGr\u00f6fse der La| Dr. Lohmann\t^Verschiebung Dr. Hessberg\n1\thorizontal\t3 mm\t1 mm\n2\tvertikal\t4\t\u201e\t2 \u201e\n3\thorizontal\t3 \u201e\t2 \u201e\n4\tvertikal\t3,5 \u201e\t2 \u201e\n5\thorizontal\t3 \u201e\t3 \u201e\n6\tvertikal\t4\t\u201e\t2,5 \u201e\n7\thorizontal\t4 \u201e\t1 \u00bb\n8\tvertikal\t5\t\u201e\t3 \u201e\n9\thorizontal\t5 \u201e\t3\t\u201e\n10\tvertikal\t5 \u00bb\t3 \u201e\n11\thorizontal\t5 ?j\t2 \u201e\n12\tvertikal\t5\t\u201e\t2 \u201e\n13\thorizontal\t5\t\u201e\t2 \u201e\n14\tvertikal\t4\t\u201e\t2 \u201e\n15\thorizontal\t3,5 \u201e\t2 \u201e\n16\tvertikal\t3,5 ,,\t1 \u201e\n17\thorizontal\t4 \u201e\t1 \u201e\n18\tvertikal\t3 \u201e\t1 \u00bb\n19\thorizontal\t3 \u201e\t1 \u201e\n20\tvertikal\t3 \u201e\t0 \u201e\n21\thorizontal\t3,5 \u201e\t2 \u201e\n22\tvertikal\t3 \u201e\t2 \u201e\n23\thorizontal\t2,5 \u201e\t2 \u201e\n24\tvertikal\t3 \u201e\t2 \u201e\n25\thorizontal\t2,5 \u201e\t1 \u00bb\n26\tvertikal\t2 \u201e\t1 \u00bb\n27\thorizontal\t2 \u201e\t1 \u201e\n28\tvertikal\t2 \u201e\t2 \u201e\n29\thorizontal\t2 \u201e\t2 \u201e\n30\ti\tvertikal\t1 2 \u201e\t2 \u201e\nAuf Grund dieser Tabelle komme ich zu dem Schlufs, dafs ein anatomisch vorgebildeter Vorrang der L\u00e4ngsreihen vor den horizontalen sich vermittelst der Pr\u00fcfung der Lageverschiebung nicht nachweisen l\u00e4fst.","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage nach der Ontogenese des plastischen Sehens.\n153\nVIII\nAns den vorhergehenden Ausf\u00fchrungen geht hervor, dafs f\u00fcr eine anatomisch vorgebildete L\u00e4ngsstreifung der Netzhaut mit Stereoskopiefunktion im Sinne des HERiNGschen Nativismus keine Anhaltspunkte bestehen, sondern dafs die Querdisparation der Bilder, wie sie sich aus der horizontalen Anordnung der Augen ergibt, als empirisches Moment in Vereinigung mit anderen sehr wohl bei der Ontogenese der Raumanschauung gedacht werden kann.\nDas Huhn, dessen geistige Eigenschaften nach dem Ausschl\u00fcpfen aus der Eierschale nur noch geringe Modifizierung erfahren, ist mit dem Eintritt in das Licht ebenso wie mit statischem Sinn und der F\u00e4higkeit der Lokomotion, so auch mit gebrauchsf\u00e4higem Sehverm\u00f6gen ausgestaltet. Die Entwicklung des Menschen ist nun aber beim Eintritt an das Licht nicht in demselben Mafse wie die des H\u00fchnchens abgeschlossen.\nDie Anlage des Auges und seine zentrale Verkn\u00fcpfung in allen Feinheiten ist ebenso notwendig als angeboren anzunehmen, wie die M\u00f6glichkeit r\u00e4umlichen Empfindens. Nur liegt kein Grund vor, dieses in terminalen Empfindungen der Netzhautl\u00e4ngsstreifen anzunehmen. Viel annehmbarer erscheint die Vorstellung, die Raum\u201eanschauung\u201c entwickle sich als zentrale assoziative T\u00e4tigkeit auf dem Boden der angeborenen M\u00f6glichkeit aus dem Wechselspiel der K\u00f6rperlichkeit der Objekte und unseren Sinnesorganen. Man braucht nicht anzunehmen, dafs die Welt als ein doppeltes und nur fl\u00e4chenhaftes Gebilde in das Bewufstsein des Kindes dringt; ebensowenig ist erwiesen, dafs von vornherein ein einheitlicher, von Licht und Farbe erf\u00fcllter Raum in der Gesichtswahrnehmung des Kindes besteht, wie Hering diese Alternative in seiner gehaltreichen Rede in Heidelberg 1906 aufstellte; sondern es scheint meines Erachtens die Annahme berechtigter, dafs die umgebende Welt erst \u00fcber die Schwelle des erwachenden Bewufstseins beim Kinde tritt, wenn dieses gelernt hat, alle Sinneseindr\u00fccke einheitlich plastisch und mit dem Bewufstsein der Zugeh\u00f6rigkeit und Nichtzugeh\u00f6rigkeit zum eigenen K\u00f6rper aufzufassen.\n(Eingegangen am 6. Juni 1907.)","page":153}],"identifier":"lit33498","issued":"1908","language":"de","pages":"130-153","startpages":"130","title":"Zur Frage nach der Ontogenese des plastischen Sehens","type":"Journal Article","volume":"42"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:07:39.266433+00:00"}