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Über das Wesen des Schmerzes

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{"created":"2022-01-31T15:48:51.645843+00:00","id":"lit33501","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Feilchenfeld, Hugo","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 42: 172-191","fulltext":[{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\n(Aus der physikalischen Abteilung des physiologischen Instituts zu Berlin.)\n\u2022 \u2022\nUber das Wesen des Schmerzes.\nVon\nHugo Feilchenfeld.\nWenn wir als elementare psyehiche Prozesse die Empfindungen und die Gef\u00fchle bezeichnen, so mufs der Schmerz entweder eine Empfindung sein oder ein Gef\u00fchl oder ein kombinierter aus Empfindungen oder aus Gef\u00fchlen oder aus beiden zusammengesetzter psychischer Vorgang. Die eigenartige Stellung, welche der Schmerz unter den psychischen Prozessen einnimmt, wird dadurch am besten beleuchtet, dafs alle diese m\u00f6glichen Auffassungen \u00fcber das Wesen des Schmerzes von den Psychologen vertreten werden.\nBeachten wir den Gegensatz, welcher die Empfindungen und die Gef\u00fchle als zwei nicht mehr aufeinander beziehbare psychische Elementarprozesse scheidet, so wird uns zugleich die Zwitterstellung des Schmerzes klar werden. Sowohl die Empfindung des Rot als das Gef\u00fchl der Lust, beide gelten zwar der fortgeschrittenen philosophischen Erkenntnis als subjektive Prozesse, von denen es unerwiesen und unbeweisbar ist, dafs ihnen reelle Prozesse der Aufsenwelt entsprechen. Aber es gen\u00fcgt, um ihren Gegensatz klar zu machen, dafs eben die ersteren, die Empfindungen, in unserem Bewufstsein auf solche reellen Prozesse der Aufsenwelt bezogen werden, die Gef\u00fchle aber nicht. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob dieses, von philosophischen Spekulationen unbeirrte Urteil des Bewufstseins in der Tat zutreffend ist. Es gen\u00fcgt zur charakteristischen Unterscheidung, dafs in dem Bewufstsein beide Elementarprozesse eine solche Verschiedenheit auf weisen. Mit Recht nennt darum Lehmann 1\n1 Lehmann : Hauptgesetze des menschlichen Gef\u00fchlslebens. Leipzig 1892..","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das Wesen des Schmerzes.\n173\ndie Gef\u00fchle in h\u00f6herer Potenz subjektiv. Wenn wir eine Hellempfindung haben, glauben wir, dafs etwas Leuchtendes a u f s e r uns vorhanden ist; wenn wir aber das Gef\u00fchl der Lust haben, oder uns im Affekt der Freude oder der Hoffnung befinden, so halten wir das f\u00fcr Prozesse unseres Innenlebens. Dementsprechend werden die Empfindungsinhalte als Eigenschaften der Aufs endin ge gedeutet, die auch unabh\u00e4ngig von dem empfindenden oder wahrnehmenden Subjekt Bestand haben. Wir sagen von dem Veilchen, es sei blau und es sei wohlriechend, auch wenn wir zurzeit keine Gelegenheit haben, es zu sehen oder zu riechen. Wir sagen aber nicht von einem Messer oder von dem Feuer, sie seien schmerzlich, obwohl ja die Sprache f\u00fcr den Seelenschmerz diesen Ausdruck geformt hat \u2014 ein schmerzlicher Verlust, eine schmerzliche Trennung. So zeigt der Sprachgebrauch, dafs wir die F\u00e4higkeit des Messers, unter bestimmten Bedingungen Schmerz zu erzeugen, nicht so sehr als eine dem Dinge anhaftende, von dem Subjekt unabh\u00e4ngige Eigenschaft auffassen, wie wir das in bezug auf die Sch\u00e4rfe des Messers, die uns ja auch nur unter bestimmten Bedingungen klar wird, ohne weiteres tun. Dieser Gegensatz wird uns am deutlichsten, wenn wir den Schmerz mit den Fernsinnen vergleichen, insbesondere mit dem Sehsinn; hier ist die Objektivierung der Empfindungsinhalte am klarsten, weil die r\u00e4umliche Distanz so grofs ist zwischen dem anatomischen Ort des Prozesses \u2014 der Netzhaut \u2014 und dem psychologischen, welcher mit dem Reizort \u00fcbereinstimmt oder doch nahe zusammenf\u00e4llt. Viel weniger ausgesprochen erscheint die Objektivierung bei dem Tastsinn, wo eine solche Distanz nicht besteht.1 Da ist f\u00fcr die Selbstbeobach-\n1 Infolge dieser schwierigeren Unterscheidung ist die Objektivierung bei den durch direkte Ber\u00fchrung erregbaren Sinnen weniger deutlich als bei dem Sehsinn. Diesen, doch nur quantitativen, keineswegs prinzipiellen Unterschied betont Stumpf in seinem, mir erst nach Abschlufs des Manuskripts zu Gesicht gekommenen Vortrag: \u201e\u00dcber Gef\u00fchlsempfindungen\u201c, Zeitschrift f. Psychologie 44, 1897: \u201eDie Empfindungsinhalte des Gesichtssinnes denkt das gew\u00f6hnliche Bewufstsein den Gegenst\u00e4nden innewohnend, auch ohne dafs jemand diese Gegenst\u00e4nde augenblicklich sieht. Fragt man aber den gew\u00f6hnlichen Mann, ob etwa der Wurst an sich ein Geruch oder ein Geschmack zukomme, ohne dafs jemand sie an Nase oder Mund nimmt, so wird er mit Nein antworten. Zucker ist s\u00fcfs bedeutet ihm: Zucker schmeckt s\u00fcfs.\u201c Indessen sagt man eben \u2014 und diesen Ausdruck hat das \u201egew\u00f6hnliche Bewufstsein\u201c geschaffen \u2014 Zucker ist s\u00fcfs. Gewifs kann\n12*","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nHugo Feilchenfeld.\ntung die Entscheidung schwieriger, ob wir den Empfindungs-inhalt in die Haut oder in den sie direkt ber\u00fchrenden Gegenstand verlegen. Wir m\u00fcfsten versuchen den Tastsinn ohne direkte Ber\u00fchrung wirken zu lassen, was seinem Wesen zun\u00e4chst ja zu widersprechen scheint. Etwas \u00e4hnliches l\u00e4fst sich aber doch ausf\u00fchren, wenn wir den Gegenstand mit solchen Teilen der K\u00f6rperoberfl\u00e4che in Ber\u00fchrung bringen, welche nicht selbst mit Tastempfindung ausgestattet sind : Haare, Nagel, Zahn. Einen Federhalter zwischen den Z\u00e4hnen glaube ich richtig an den Kanten der Zahnoberfl\u00e4chen zu empfinden, nicht aber in der Pulpa, welche doch der Ausgangspunkt der sensiblen Leitung ist.1 Also verlegt auch der Tastsinn seine Empfindungsinhalte nach aufsen, an den Ort des Reizes. Der Schmerz aber nicht. Damit tritt der Schmerz in Gegensatz sowohl zu den \u00fcbrigen Empfindungen\njeder Sinn nicht nur \u00fcber die Aufsen weit, sondern zuweilen \u00fcber den eigenen K\u00f6rper unterrichten. Dies ist auch bei dem Sehsinn der Fall, wenn ich meinen Leib betrachte, bei dem Tastsinn, wenn ich die Stirn mit der Hand ber\u00fchre, und es ist nur ein Spezialfall, wenn die durch den Tastsinn oder durch Muskelempfindungen wahrgenommenen eigenen K\u00f6rperteile sich im K\u00f6rperinnern befinden, wie z. B. bei der Wahrnehmung der Atembewegung. Aber diese unsere eigenen K\u00f6rperteile, wenn wir sie auch auf empirischem Wege als zu unserem Ich geh\u00f6rig kennen gelernt haben, sind doch in bezug auf unser Subjekt, unsere Seele, \u00e4ufsere Objekte, und die Wahrnehmung meines Beins durch den Gesichts- oder Tastsinn ist eine Objektivierung, ob das Bein nun amputiert ist oder mit dem K\u00f6rper in Zusammenhang steht. Dies hebe ich hervor nicht im Gegensatz zu der STUMPFSchen Auffassung \u00fcber das Wesen des Schmerzes, mit der sich ja meine Ausf\u00fchrungen im wesentlichen decken, sondern nur weil es f\u00fcr mich die Veranlassung war den Schmerz als besondere Art der Empfindung zu charakterisieren. Der \u201eUnterschied der Subjektivit\u00e4t und Objektivit\u00e4t\u201c, wenn auch in der Funktion der betreffenden Sinne begr\u00fcndet, und vielleicht auf empirischem Wege ausgebildet (vgl. Anm. 3 S. 15), erweist sich doch der Selbstbeobachtung als Unterscheidungsmerkmal. Die Sonderstellung des Schmerzes wird auch dann nicht aufgehoben, wenn wir uns der neuen und durch wichtige Gr\u00fcnde gest\u00fctzten Ansicht Stumpfs anschliefsen, nach der auch die Annehmlichkeit und die Unannehmlichkeit einer Empfindung ihrerseits als eine besondere Empfindung, nicht wie man bisher annahm, als ein Gef\u00fchlselement anzusehen ist; denn sie w\u00fcrde nur als \u201ezentrale Mitempfindung\u201c zu erkl\u00e4ren sein, immer also eine \u00e4tiologisch vorausgehende andere spezifische Sinnesempfindung zur Voraussetzung haben. Der Schmerz ist aber eine unabh\u00e4ngig von anderen Sinnen erregbare Sinnesqualit\u00e4t.\n1 E. H. Weber: Tastsinn und Gemeingef\u00fchl in Wagners Handbuch d. Physiologie.","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das Wesen des Schmerzes.\n175\nals zu den Gef\u00fchlen. Denn die Gef\u00fchle sind nicht selbst\u00e4ndig durch \u00e4ufsere Reize ausl\u00f6sbar, sie haften an den Empfindungen. Die Gef\u00fchle sind in unserem Inneren entstehende und sich abspielende psychische Prozesse, bei dem Schmerz jedoch wird zwar die Wirkung in das Subjekt, die Ursache aber nach aufs en verlegt. Die Ursache des Schmerzes wird auf einen schmerzausl\u00f6senden Reiz bezogen, gerade so wie die Ursache der anderen Empfindungen auf einen Reiz bezogen wird. Darum hat auch der Schmerz mit den \u00fcbrigen Empfindungen eine \u2014 wenn oft auch noch so verschwommene \u2014 Lokalisation gemeinsam. Wir empfinden den Schmerz irgendwo. Ja auch die Exzentrizit\u00e4t der Lokalisation hat der Schmerz mit den \u00fcbrigen Empfindungen gemein; denn die Schmerzempfindung kommt erst in den Hirnzentren zustande, erlischt sie doch, sobald die sensible Leitung an irgend einer Stelle - ihrer Bahn unterbrochen wird. Trotzdem aber wird die Empfindung an das periphere Ende der sensiblen Leitung verlegt. Selbst dann wird der Schmerz in das periphere Ende verlegt, wenn der Reiz nicht dort, sondern im Verlaufe der Bahn ein wirkt. Die Kraft der Exzentrierung ist so grofs, dafs Kranke mit amputierten Beinen noch l\u00e4ngere Zeit \u00fcber Schmerzen in den Zehen klagen.\nDiese Verh\u00e4ltnisse scheiden den Schmerz ganz von den Gef\u00fchlen \u2014 bei der Unlust kann von Lokalisation keine Rede sein. Andererseits stimmen sie doch nicht \u00fcberein mit den Erscheinungen, welche die \u00fcbrigen Empfindungen aufweisen. Zwischen der Exzentrierung des Schmerzes und der Objektivierung der \u00fcbrigen Sinne ist noch ein grofser Unterschied. Die Exzentrierung geht h\u00f6chstens bis an die Grenze unseres K\u00f6rpers, die Objektivierung regelm\u00e4fsig \u00fcber diese Grenze hinaus. Sollte dieser Unterschied an dem Tastsinn nicht gen\u00fcgend klar geworden sein und selbst das Beispiel von dem zwischen den Z\u00e4hnen steckenden Federhalter den Gegensatz noch nicht deutlich genug hervortreten lassen, so brauchen wir nur unseren Fern sinn, das Auge, anzuf\u00fchren. Ein unwillk\u00fcrlicher Blick in die Sonne erzeugt bei vielen 1. ein Lichtbild, 2. einen Blendungsschmerz, 3. ein Unlustgef\u00fchl. Das Lichtbild wird objektiviert und in eine entsprechend grofse Entfernung aufs er uns verlegt. Der Blendungsschmerz wird exzentriert, d. h. in das Auge verlegt. Beides erscheint uns infolge unserer lebensl\u00e4nglichen Erfahrung so selbstverst\u00e4ndlich, dafs es einen fast l\u00e4cherlichen Eindruck macht,","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nHugo Feilchenfeld.\nwenn man die entgegengesetzte M\u00f6glichkeit nur erw\u00e4gt, dafs wir etwa glauben sollten, die Millionen Meilen entfernte Sonne l\u00e4ge im Auge, da wo ihre Strahlen in unserer Netzhaut wirklich ihr Bild eingraben, oder der Schmerz l\u00e4ge draufsen in der Gegend der Sonne, da wo wir doch die von ihren Strahlen ausgehende Lie h t empfindung haben. Schliefslich ist aber auch die Netzhaut nur eine Durchgangsstation f\u00fcr den Reiz und darum die dort lokalisierte Schmerzempfindung eine ebenso grofse T\u00e4uschung wie die draufsen lokalisierte Lichtempfindung. Nur das Unlustgef\u00fchl wird nicht objektiviert und auch nicht exzentriert. Es ist ein r\u00e4umlich unbegrenzbarer seelischer Prozefs. An diesem Beispiele tritt am klarsten hervor, was den Schmerz sowohl von den \u00fcbrigen Empfindungen als von den Gef\u00fchlen scheidet. Gleichzeitig wird klar, warum man z\u00f6gerte, ihn der einen oder der anderen Gruppe zuzuz\u00e4hlen, weil er mit den Gef\u00fchlen den Mangel an Objektivierung, mit den Empfindungen die Exzentrierung und den Hinweis auf einen Aufsenreiz gemein hat.\nDiese Zwitter Stellung spiegelt sich auch in der Zweideutigkeit der Bezeichnungen wieder, welche der Sprachgebrauch f\u00fcr die in Betracht kommenden psychischen Prozesse geformt hat. Das Wort \u201eSchmerz\u201c wird angewandt f\u00fcr verschiedenartige, nicht zusammengeh\u00f6rige Dinge; ebenso das Wort \u201eGef\u00fchl\u201c. Nachdem man aber einmal verschiedenen Dingen denselben Namen gegeben hatte, war die Verwirrung um so gr\u00f6fser und die Entscheidung um so schwieriger, ob der \u201eSchmerz\u201c ein \u201eGef\u00fchl\u201c sei. Wir sprechen von k\u00f6rperlichen und von seelischen \u201eSchmerzen\u201c. Nur erstere hatten wir bisher zu analysieren gesucht und als eigenartige Empfindungen kennen gelernt; letztere aber bezeichnen in der Tat nicht anderes als hohe Grade von Unlust, die in Begleitung von Vorstellungen oder Denkprozessen auftreten. Also wird f\u00fcr hohe Grade von Unlust wirklich das Wort \u201eSchmerz\u201c angewandt. Nun ist der K\u00f6rperschmerz als reine Empfindung seinerseits fast regelm\u00e4fsig von hohen Unlustgef\u00fchlen begleitet. Wir haben also, wenn wir starke Unlust Schmerz nennen, denselben Namen f\u00fcr unsere K\u00f6rperempfindung nicht mehr frei, sondern k\u00f6nnen nur sagen, diese Empfindung sei von Schmerz begleitet. Plalten wir aber daran fest, dafs jene K\u00f6rperempfindung mit \u201eSchmerz\u201c bezeichnet wird, so k\u00f6nnen wir nur sagen: der Schmerz ist von Unlust be-","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Uber das Wesen des Schmerzes.\n177\ngleitet.1 Die Gemeinsamkeit des sprachlichen Ausdrucks zeigt, wie sehr das mit dem K\u00f6rperschmerz verbundene Unlustmoment gegen\u00fcber dem Empfindungsmoment im Vordergr\u00fcnde des Be-wufstseins bei den Schmerzbefallenen gestanden haben mufs, wenn ersteres allein f\u00fcr den Namen bestimmend gewesen ist. Und doch l\u00e4fst sich eine gewisse Unabh\u00e4ngigkeit des Unlustmomentes von dem Empfindungsmoment leicht nachweisen. Nicht nur k\u00f6nnen dieselben Grade von Schmerzempfindung mit verschiedenen Graden von Unlust verkn\u00fcpft sein, die Beispiele der Flagellanten und Fakire sowie der Masochisten beweisen, dafs Schmerz auch mit Lust verbunden sein kann. Dies ist freilich wohl so aufzufassen, dafs der Schmerz zun\u00e4chst andere Empfindungen oder Vorstellungen erweckt oder kompliziertere psychische Prozesse veranlafst, die ihrerseits lustbetont sind. Das st\u00e4rkere Gef\u00fchl der Lust verdr\u00e4ngt das schw\u00e4chere der Unlust; aber es ist doch zu beachten, dafs es nicht gleichzeitig das sinnliche Element des Schmerzes verdr\u00e4ngt, im Gegenteil dieses neben der Lust in grofser St\u00e4rke vorhanden ist.2\nDie Verwirrung wird nun dadurch vergr\u00f6fsert, dafs, wie das Wort \u201eSchmerz\u201c, welches eine Empfindung bezeichnet, doch gleichzeitig f\u00fcr Gef\u00fchle in Anspruch genommen worden ist, andererseits das Wort \u201eGef\u00fchl\u201c auch bei rein sinnlichen Empfin-\n1\tEbbinghaus (Lehrbuch d. Psychologie. 2. Aufl. Leipzig 1905) will, um das Mifsverst\u00e4ndnis zu vermeiden, den Ausdruck Schmerz f\u00fcr den Seelenschmerz resp. die Gef\u00fchlsseite der K\u00f6rperschmerzen reservieren und die K\u00f6rperschmerzempfindungen als Stichempfindungen bezeichnen, sieht sich jedoch gen\u00f6tigt die \u201edumpfen\u201c Schmerzen des K\u00f6rperinnern, als zu den Gemeinempfindungen geh\u00f6rig, ganz von ihnen zu trennen. Indessen handelt es sich doch nur um einen Unterschied des Ortes und der Ausdehnung des Reizes, aus dem man keinen prinzipiellen Gegensatz herleiten kann. Auch im K\u00f6rperinnern (Herz, Pleura) gibt es stichartige Schmerzen und diejenigen Hautschmerzen, die nicht durch stechende, sondern durch schneidende oder thermische Reize bewirkt werden, empfinden wir auch nicht als stechend.\n2\tMarshall (Pleasure-Pain and Sensation. Phil. Rev. 1, 6, 1892) nimmt sogar als m\u00f6glich an, dafs der Schmerz selbst mit Lust verbunden sein kann. Jede Empfindung habe eine Lust-Unlustphase. Doch g\u00e4be es Sinnesgebiete, bei denen die Unlustphase sehr grofs ist. Spezifische Schmerznerven seien solche, die bei jeder Reizung schmerzhaft reagieren. Aber jede Reizung, die man anwenden konnte, sei nicht jede m\u00f6gliche Reizung. So k\u00f6nne man auch dem Schmerz eine besonders kurze Lustphase zuschreiben.","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nHugo Feilchenfeld.\nd\u00fcngen Anwendung findet. Der gemeine Sprachgebrauch z\u00e4hlt das Gef\u00fchl den f\u00fcnf Sinnen zu. Hier umfafst es den Tastsinn und die \u00fcbrigen in der Hautdecke eingebetteten Sinnesqualit\u00e4ten. Da nun der Schmerz vorzugsweise bei starken Reizen gerade der Hautdecke auftritt, so war hier ein neuer Anlafs gegeben, ihn, freilich in anderem Sinne, als ein starkes Gef\u00fchl zu bezeichnen. Hiernach bleibt der Schmerz zwar, was er ist: eine Empfindung. Aber er hat seinen spezifischen Charakter verloren. Wie er vorher als ein besonders gesteigertes Gef\u00fchl irrt\u00fcmlich ausgelegt war, so wird er jetzt als eine besonders gesteigerte Empfindung ausgelegt1 2 3 ; gleichzeitig wird aber vorausgesetzt, dafs diese Steigerung zum Schmerz nicht auf dem Gebiete jeder Sinnesempfindung m\u00f6glich ist, sondern nur auf dem Gebiete des \u201eGef\u00fchls\u201c. Blix 2 und Goldscheider 8 haben unabh\u00e4ngig voneinander die Mannigfaltigkeit der unter dem Begriff des Gef\u00fchlssinnes zusammengeworfenen Sinnesqualit\u00e4ten klar gelegt und gezeigt, dafs in den W\u00e4rme- und K\u00e4ltepunkten kein Schmerz erzeugt werden kann. Damit war der Beweis erbracht, dafs der durch starke W\u00e4rmereize erzeugte Schmerz keine Steigerung der W\u00e4rmeempfindung , sondern eine von dieser spezifisch verschiedene Empfindung ist, die von anderen Endapparaten ausgel\u00f6st wird als die W\u00e4rmeempfindung.4 \u00dcber das Verh\u00e4ltnis zwischen Tast-und Schmerzempfindung besteht dagegen zurzeit noch eine Kontroverse zwischen Goldscheider und Frey. Beide5 6 haben die Existenz besonderer \u201eSchmerzpunkte\u201c festgestellt, d. h. solcher Punkte\n1\tMartius: Der Schmerz. Leipzig, Deuticke. 1898. \u201eJede spezifische Sinnensempfindung kann bei \u00fcberm\u00e4fsiger Reizung zum Schmerz werden. Weitaus am h\u00e4ufigsten aber entsteht Schmerz durch \u00fcberm\u00e4fsige Reizung der Tast- und Gemeingef\u00fchlsnerven.\u201c\n2\tBlix: Upsala l\u00e4karef. f\u00f6rh. 1883.\n3\tGoldscheider. Monatsh. f. prakt. Der mat. 1884.\n4\tDa die Richtigkeit der GoLDSCHEiDERschen Lehre vielfach (Lehmann,\nDessoir) angez weif eit worden ist, weise ich besonders auf Nagels (.Archiv f. Physiol. 59) Feststellung hin, dafs die Cornea keine spezifische W\u00e4rmeempfindung hat, w\u00e4hrend es andererseits bekannt ist, dafs sie auf W\u00e4rmereize mit Schmerz besonders stark reagiert.\n6 Goldscheider. Monatsh. f. prakt. Dermatologie. 1884: \u201eAn den Schmerzpunkten ist das k\u00f6rnige Tastgef\u00fchl \u00fcberhaupt nicht vorhanden. \u2014 Die Schmerzpunkte fallen durchaus nicht mit den Druckpunkten zusammen.\u201c\nv. Frey: Die Gef\u00fchle und ihr Verh\u00e4ltnis zu den Empfindungen. Leipzig, Besold. 1894.","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das Wesen des Schmerzes.\n179\nder Haut, die schon bei geringen Reizen auffallend schmerz-empfindlich sind. Doch h\u00e4lt Goldscheider den Schlufs Freys nicht f\u00fcr zwingend, dafs diese Punkte die Ausgangspunkte spezifischer Schmerznerven sein m\u00fcssen. Auch einige klinischpathologische Erfahrungen (versp\u00e4tete Schmerzempfindung bei rechtzeitiger Tastempfindung, Erl\u00f6schen der Schmerzempfindung bei erhaltener Tastempfindung, erhaltene Schmerzempfindung bei erloschener Tastempfindung) f\u00fchrt er auf gesonderte Leitungs-bahnen zur\u00fcck, nicht auf einen gesonderten Endapparat und ein gesondertes Schmerzzentrum.1 Die Entscheidung ist f\u00fcr die Selbstbeobachtung dadurch erschwert, dafs der Tastsinn eine so wenig charakterisierte spezifische F\u00e4rbung aufweist. W\u00e4hrend es z. \u00df. bei dem Sehen und H\u00f6ren undenkbar ist, dafs der gleichzeitig entstehende Schmerz das Licht oder das Ger\u00e4usch \u00fcbersehen oder \u00fcberh\u00f6ren liefse, gelingt es nicht neben dem Schmerz die spezifische Tastempfindung aufzufassen.2 Dies liegt zum Teil auch daran, dafs die in Begleitung der Tastempfindung auftretenden Schmerzempfindungen weit heftiger zu sein pflegen als die durch starke Lichter oder Ger\u00e4usche verursachten. So kann leicht die schwache Tastempfindung von der starken Schmerzempfindung ganz \u00fcbert\u00f6nt werden und man zu dem Fehlschlufs gelangen, die Tastempfindung sei in die Schmerzempfindung \u00fcbergegangen, oder mit anderen Worten: Schmerzempfindung sei gesteigerte Tastempfindung. Dieser Fehlschlufs wird dadurch besonders nahegelegt, dafs die schmerzausl\u00f6senden Reize in der Regel zugleich ber\u00fchrende Reize sind. Auch wenn Frey alle Kautelen zur Erzielung isolierter Schmerzreize angewandt hat, so ist doch der Einwand immer berechtigt, dafs selbst diese Reize ber\u00fchrend wirkten, die hervorgerufene\n1\tGoldscheider: Nene Tatsachen \u00fcber die Hantsinnesnerven. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1885, wo er die entsprechende psychologische Annahme macht, dafs \u201eder Schmerz keine neue Qualit\u00e4t sei, sondern nur die st\u00e4rkste Form der den Gef\u00fchls- und Drucknerven sonst eigenen Qualit\u00e4ten\u201c.\n2\tZiehen (Leitfaden d. physiol. Psychol. Jena, Fischer 1893) weist hierauf ebenfalls hin: \u201eBemerkenswert f\u00fcr die schmerzhaften Hautempfindungen ist, dafs sie die Empfindungsqualit\u00e4ten ganz \u00fcbert\u00f6nen. Oft hat man daher die Schmerzempfindung zu einer besonderen Qualit\u00e4t d. Hautempfindung stempeln wollen.\u201c Aber er vertritt die Auffassung, dafs der Schmerz \u00fcberhaupt keine besondere Empfindung ist, sondern \u201elediglich eine Spezialbezeichnung f\u00fcr das Unlustgef\u00fchl, welches sehr intensive Empfindungen begleitet\u201c.","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nHugo Feilchenfeld.\nSchmerzempfindung also eine modifizierte Tastempfindung sein konnte.\nDarum greifen wir wiederum auf unseren Fern sinn, das Auge, zur\u00fcck. Der Lichtstrahl wirkt schmerzerregend ohne Ber\u00fchrung; dieser Schmerz kann also nicht als eine gesteigerte Tastempfindung erkl\u00e4rt werden. Dies um so weniger, als die Netzhaut gegen ber\u00fchrende Reize (Sclerotomia posterior, Deutschmanns Operation, Extraktion mit Hirschbebgs Magneten) kaum schmerzempfindlich zu sein scheint, wie ja auch Netzhautentz\u00fcndungen \u2014 ohne Beteiligung der Uvea \u2014 regelm\u00e4fsig schmerzlos verlaufen 1 und der Sehnerv selbst, den wir als wahrscheinlichen Leiter des Blendungsschmerzes kennen lernen werden, gegen Ber\u00fchrungsreize im wesentlichen2 schmerzunempfindlich ist (Er-\n1\tVgl. Anm. 2 auf S. 187.\n2\tDurchschneidung des Sehnerven kann schon infolge der Versorgung desselben mit sensiblen Trigeminusfasern nicht absolut schmerzfrei sein. Auch ist der entz\u00fcndete Sehnerv (Neuritis retrobuibaris) gegen mechanische Reize deutlich hyperalgetisch (Schmerzen bei Bewegungen und Zur\u00fcckdr\u00e4ngen des Auges). Ob diese Hyperalgesie mehr dem Optikus oder dem Trigeminus zuzuschreiben ist, bleibe hier unentschieden. Hier sollte nur auf ein gleichartiges Verhalten des Sehnerven gegen\u00fcber seinem ad\u00e4quaten Reiz, dem Lichte, sowohl in bezug auf die Schmerzempfindung als auf die Lichtempfindung hingewiesen wrerden. Beide Empfindungsqualit\u00e4ten, auch die des Schmerzes, werden durch den ad\u00e4quaten Fernreiz st\u00e4rker erregt als durch den Ber\u00fchrungsreiz. Im selben Sinne \u00e4ufsert sich Nagel (Nagels Handbuch der Physiologie III (1), S. 7), geht aber doch vielleicht zu weit, w^enn er entgegen der bisher allgemein vertretenen und in den Lehrb\u00fcchern niedergelegten Meinung (Mooren) behauptet, Durchschneidung des Optikus mache sogar starken Schmerz. Ich habe bei einer Enukleation ohne Narkose in der Tat die Angabe erhalten, dafs die Durchschneidung nicht geschmerzt habe. Wie schwierig es ist, von Operierten hier zuverl\u00e4ssige Angaben zu erhalten, zeigen die Untersuchungen Lennandees. Gerade die Enukleation, speziell der Moment der Durchschneidung der Nerven wirkt so nachdr\u00fccklich auf die Psyche des Patienten (Czermak : Augenoperationen S. 409), dafs einerseits der Seelenschmerz einen nicht vorhandenen sinnlichen Schmerz Vort\u00e4uschen, andererseits der Shok einen wirklich vorhandenen \u00fcbert\u00e4uben kann. Nach Nagel ist ferner die Lichtreaktion des Optikus auf mechanische Eeize sehr zweifelhaft, jedenfalls sehr gering. So wird der aus den bisherigen Anschauungen unserer Auffassung gegen\u00fcber sich ergebende Widerspruch, dafs direkter Reiz des Optikus nur Lichtempfindung, gar keinen Schmerz v\u00e8rursacht, durch Nagels Annahme in unserem Sinne ausgeglichen und ein ann\u00e4hernd gleichartiges Verhalten beider Empfindungsqualit\u00e4ten gegen\u00fcber dem direkten Reiz wahrscheinlich gemacht.","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das Wesen des Schmerzes.\n181\nfahrung bei Enukleationen ohne Narkose). Da wir auch bei schwachen Lichtreizen nie eine Tastempfindung haben, sondern eben nur eine Lichtempfindung, so k\u00f6nnte der Blendungsschmerz gewifs nicht als gesteigerte Tastempfindung h\u00f6chstens als gesteigerte Lichtempfindung aufgefafst werden. Um die Spezifit\u00e4t des Schmerzes zu beweisen, w\u00e4re demnach zweierlei darzutun: 1. die Existenz des Blendungsschmerzes \u00fcberhaupt, 2. dafs der Blendungsschmerz, der eine gesteigerte Tastempfindung nicht sein kann, auch keine gesteigerte Lichtempfindung ist.\nDie Existenz des physiologischen Blendungsschmerzes wird zwar vielfach bezweifelt, insbesondere von denen, die dieselbe mit der Spezifit\u00e4t der Schmerzempfindung f\u00fcr theoretisch unvereinbar halten.1 Indessen wird der pathologische Blendungsschmerz zugegeben und damit im Prinzip anerkannt, dafs der Lichtreiz im Sehorgan die Schmerzempfindung hervorrufen, dafs also Schmerz ohne Ber\u00fchrung erzeugt werden kann. Auch der physiologische Blendungsschmerz ist zwar in bezug auf seine Intensit\u00e4t individuellen Schwankungen unterworfen, aber nicht \u00fcberhaupt auf einzelne Individuen beschr\u00e4nkt, sondern durch hinreichend starke Lichter, hinreichende Dunkeladaptation, \u00fcberraschenden Lichteinfall bei jedem Menschen zu erzeugen und unter Umst\u00e4nden von solcher Heftigkeit, dafs die Geblendeten laut auf sehr eien.2\nSchwieriger ist der Nachweis, dafs dieser Blendungsschmerz keine gesteigerte Lichtempfindung ist. Da er nur bei aufser-\n1\tv. Tschich: Der Schmerz, Zeitschr. f. Psychol. 26, \u201eLichtreize bewirken bei dem Gesunden nie tats\u00e4chlichen Schmerz\u201c. Goldscheider: \u201e\u00dcber den Schmerz\u201c leugnet dagegen die M\u00f6glichkeit des Blendungsschmerzes nicht prinzipiell: \u201eEs ist nun in der Tat niemals ein Beweis daf\u00fcr beigebracht \"worden, dafs die h\u00f6heren Sinnesnerven schmerzhaft erregt werden k\u00f6nnen. Vielmehr sind diejenigen Erscheinungen, welche als Schmerz im Gebiete der Sinne aufgefafst werden, entweder die mit einem Unlustgef\u00fchl bekleideten spezifischen Sinnesempfindungen selbst oder schmerzhafte Gemeingef\u00fchlserregungen, welche nicht in den spezifischen Sinnen geleitet werden.\u201c Dafs der Schmerz nicht durch die spezifischen Sinnesnerven geleitet wird, deckt sich mit unserer Auffassung und trifft selbst dann zu, wenn, wie wir wahrscheinlich machen werden, der Blendungsschmerz wirklich durch den Optikus geleitet wird.\n2\tVgl. die Kasuistik und alle folgenden, den Blendungsschmerz betreffenden Einzelheiten in des Verf. demn\u00e4chst erscheinender Arbeit \u201e\u00dcber den Blendungsschmerz\u201c.","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nHugo Feilchenfeld.\ngew\u00f6hnlich starken Lichtreizen auftritt, so lag es nahe, ihn so aulzufassen. Doch l\u00e4fst sich eine Unabh\u00e4ngigkeit der Schmerzempfindung von der Lichtempfindung ebenso nachweisen, wie sich eine Unabh\u00e4ngigkeit der Schmerzempfindung von dem Unlustgef\u00fchl hatte nachweisen lassen. 1. Blendungsschmerz kann Vorkommen bei erloschener Lichtempfind ung. 2. Blendungsschmerz nimmt relativ wenig zu unter Verh\u00e4ltnissen, unter denen die Lichtempfindung stark zunimmt \u2014 bei Dunkeladaptation. 3. Blendungsschmerz nimmt relativ stark zu unter Verh\u00e4ltnissen, unter denen die Lichtempfindung nur wenig zunimmt; a) bei Ausdehnung der Reizfl\u00e4che ; b) bei fovealer Reizung (gegen\u00fcber peripherer oder parazentraler); c) bei binokularer Reizung (gegen\u00fcber monokularer). 4. Blendungsschmerz nimmt zu unter einer Versuchsanordnung, bei welcher die Lichtempfindung abnimmt, dem Fechnek-schen paradoxen Versuch: Ich lasse ein Auge unverdeckt, bewaffne das andere mit zwei Rauchgl\u00e4sern, so dafs dieses die Konturen des Lichtes nicht mehr wahrnimmt, und beobachte das Licht. Jetzt entferne ich eines der beiden Rauchgl\u00e4ser, wodurch auch auf dem zweiten Auge die Kontur des Lichtes sichtbar wird. Ich bemerke nun, dafs durch Fortnehmen dieses zweiten Rauchglases die binokulare Lichtempfindung schw\u00e4cher wird, gleichzeitig aber der Blendungsschmerz st\u00e4rker.1\nMan k\u00f6nnte bei einer so weitgehenden gegenseitigen Unabh\u00e4ngigkeit beider Empfindungsqualit\u00e4ten vermuten, dafs die Schmerzempfindung gar nicht an derselben Stelle ausgel\u00f6st werde wie die Lichtempfindung, an der Netzhaut, sondern dafs andere, durch hohe Sensibilit\u00e4t ausgezeichnete Teile des Auges, etwa Cornea oder Iris den Blendungsschmerz vermittelten. Diese Annahme w\u00fcrde nun zwar unserer Beweisf\u00fchrung, dafs Schmerz auch ohne Ber\u00fchrung erzeugt werden kann, nicht im Wege stehen. Sie ist aber doch aus folgenden Gr\u00fcnden nicht richtig: 1. Der physiologische Blendungsschmerz wird durch vollkommene An\u00e4sthesierung der Cornea2 nicht, wie man irrt\u00fcmlich annimmt, herabgesetzt.\n.\t1 Diese Unabh\u00e4ngigkeit des Blendungsschmerzes von der St\u00e4rke der\nLichtempfindung beweist zugleich, dafs der Blendungsschmerz keine zentral von der Lichtempfindung ausgel\u00f6ste Mitempfindung im Sinne Stumpfs sein kann, was Stumpf \u00fcbrigens vom Schmerze nicht annimmt.\n2 Cocain wirkt auf den ganzen vorderen Augenabschnitt an\u00e4sthesierend.","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das Wesen des Schmerzes.\n183\n2. Die immerhin bedeutende Zunahme des Blendungsschmerzes bei Dunkeladaptation ist nur so zu erkl\u00e4ren, dafs die Netzhaut der Ausgangspunkt dieser Schmerzempfindung ist; denn nur sie allein besitzt eine Empfindlichkeitszunahme im Dunklen. Auch die bedeutende Zunahme des Blendungsschmerzes bei fovealer Heizung deutet nach derselben Dichtung; denn nur die Netzhaut hat in der Fovea einen solchen Punkt ausgezeichneter Empfindlichkeit, nicht aber Cornea und Iris. Ein Erkl\u00e4rungsmotiv freilich w\u00e4re noch denkbar: das Pupillenspi.el der Iris1; denn da die pupillomotorische Wirksamkeit des Lichtes ebenfalls sich bei Dunkeladaptation sowie auch bei fovealer Reizung2 ver-gr\u00f6fsert, so k\u00f6nnten die reflektorischen Lichtkontraktionen der Iris ein gutes Motiv f\u00fcr den Blendungsschmerz abgeben. Bei manchen Individuen scheint in der Tat das Pupillenspiel an dem Zustandekommen des Blendungsschmerzes mitbeteiligt zu sein3; ein uni ver selles Erkl\u00e4rungsmotiv ist es nicht. In erster Linie spricht dagegen die Beschr\u00e4nkung des Blendungsschmerzes auf das exponierte Auge4 zwar nicht bei allen, aber doch bei der \u00fcberwiegenden Mehrzahl der von mir Untersuchten, w\u00e4hrend die konsensuelle Reaktion der direkten nahezu gleichwertig ist. Auch wird bei den meisten der Schmerz durch Atropin nicht behoben.\nWir kommen also zu dem Resultat, dafs auch die Schmerzleitung von der St\u00e4bchen- und Zapfenschicht ihren Ausgang nimmt. Damit ist zwar nicht erwiesen, aber immerhin wahrscheinlich gemacht, dafs dies\u00e8lbe weiterhin durch den Nervus opticus ihren Lauf nimmt. Sie k\u00f6nnte auch durch die hinteren Ciliarnerven gehen, vorausgesetzt, dafs deren Ausl\u00e4ufer sich ebenso wie die des Optikus in allen Teilen der St\u00e4bchen-Zapfenschicht verzweigen. Nehmen wir aber als wahrscheinlicher an, dafs sie durch den Optikus geht, so bleibt die Lehre von der Spezifit\u00e4t des Schmerzes ungeschm\u00e4lert. Wir wissen ohnehin, dafs der Optikus Nervenfasern von verschiedenartiger Struktur\n1\tv. Frey: Die Gef\u00fchle u. ihr Verh\u00e4ltnis zu den Empfindungen. Leipzig, Berold. 1894. S. 11.\n2\tAbelsdorff u. Feilchenfeld : Abh\u00e4ngigkeit d. Pupillarreaktion von Ort u. Ausdehnung der gereizten Netzhautfl\u00e4che. Zeitschr. f. Psych. 34.\n3\tNagel. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 1902 u. 1903, wo R\u00f6mers Einw\u00e4nde widerlegt sind.\n4\tBjerrum. Centralbl. f. Augenheilk. 1903. S. 97.","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nHugo Feilchonfeld.\nund Funktion1 beherbergt, Sehfasern und pupillomotorische.2 3 Wir haben festgestellt, dafs der Blendungsschmerz weder durch die einen, noch durch die anderen vermittelt wird. Wir waren gen\u00f6tigt eine dritte Fasergattung zu supponieren, die ebenfalls von der St\u00e4bchen-Zapfenschicht aus geht. Wir werden also auch eine solche dritte, spezifisch verschiedene Fasergattung im Optikus supponieren k\u00f6nnen, die den Schmerz leitet, da es nach unseren anatomischen Kenntnissen sehr unwahrscheinlich ist, dafs auch Fasern anderer Nerven sich in der St\u00e4bchen-Zapfenschicht in analoger Weise ausbreiten wie die des Optikus. Hierf\u00fcr spricht auch der Tierversuch. Wir k\u00f6nnen den Lichtreflex, der bei Einfall von grellem Licht in das Auge des Menschen oder Tieres auftritt, als Abwehr gegen den durch das Licht hervorgerufenen Schmerz auf fassen. Er ist also ein \u00e4ufserlich sichtbarer Mafsstab f\u00fcr den Blendungsschmerz. Nach Versuchen von Eckhard 8 bei Kaninchen unterbleibt nun der Lichtlidrefiex, wenn der Optikus durchschnitten, der Trigeminus geschont ist, er tritt jedoch auf, wenn der zentrale Stumpf des durchschnittenen Optikus gereizt wird, er tritt nicht auf, wenn der zentrale Stumpf des Trigeminus gereizt wird. Auch bei dem Menschen ist der Lichtlidrefiex von dem durch Ber\u00fchrungsreize bewirkten und durch den Trigeminus geleiteten Lidreflex zu unterscheiden. Ersterer hat den Charakter des Blinzelns oder Kneifens, letzterer des Lidschlags.4 Das Blinzeln wird durch den epitarsalen, der Lidschlufs durch den peritarsal'en Teil des Orbikularis bewirkt.5 6 Krause 6 hat freilich in einer mir nicht im Original zug\u00e4nglichen Schrift das Aufh\u00f6ren des Blendungsschmerzes bei Exstirpation des Ganglion Gasseri auf der resezierten Seite beobachtet. Die Operierten konnten ungest\u00f6rt in die Sonne sehen. Nun ist aber das Sonnenlicht reich an W\u00e4rmestrahlen, die nat\u00fcrlich einen\n1\tFunktion im Sinne der Leitung zu einem bestimmten Zentrum.\n2\tG\u00fcdden: Naturforscherversammlung in Eisenach. 1882.\nBechterew. Pfl\u00fcgers Archiv. 1883.\n3\tCentralbl. f. Physiol. 9. Nr. 10. S. 353.\n4\tWilbrand u. S\u00e4nger: Neurologie d. Auges. Bd. I.\n5\tGad. Arch. f. Anat. u. Physiolog. 1883.\n6\tKrause: Die Neuralgie des Trigeminus. Leizig 1896; der aus seiner Beobachtung schliefst, dafs Trigeminusfasern sich in der Netzhaut verzweigen, was ohne die obige vorangegangene Beweisf\u00fchrung freilich nicht zwingend sein w\u00fcrde.","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das Wesen des Schmerzes.\n185\nschmerzhaften thermischen Reiz auf die kornealen Trigeminusendigungen aus\u00fcben, der auf der operierten Seite fortf\u00e4lit. So kann leicht eine Differenz in der Schmerzempfindlichkeit beider Augen gegen\u00fcber dem Licht auf die leuchtende Eigenschaft desselben bezogen werden, w\u00e4hrend sie nur auf Konto seiner W\u00e4rme zu setzen ist. \u00dcberhaupt geh\u00f6rt das in seiner Intensit\u00e4t je nach Stand und Bedeckung wechselnde Sonnenlicht, noch nicht zu denjenigen Lichtintensit\u00e4ten, welche unter allen Umst\u00e4nden auch bei Nichtdisponierten eigentlichen Blendungsschmerz hervorrufen m\u00fcssen. Es gibt Menschen, die ohne Schmerzen, freilich nicht ohne Schaden, lange in die unverh\u00fcllte Sonne sehen k\u00f6nnen.1 Ich selbst habe nun vor einigen Jahren bei einem 3j\u00e4hrigen Knaben eine totale Paralyse des sensiblen Teils des Trigeminus infolge Sch\u00e4delbruch Monate hindurch zu beobachten Gelegenheit gehabt, zu einer Zeit, als ich mit diesen Fragen noch nicht besch\u00e4ftigt war, und hatte mir damals notiert \u201eBlinzelreflex erhalten\u201c. Das sehr verst\u00e4ndige Kind wandte sich jedesmal schreiend ab, wenn ich, um die Kornealver\u00e4nderungen zu besichtigen, das Auge seitlich beleuchtete, und blinzelte schon, wenn das Auge dem gew\u00f6hnlichen Tageslicht exponiert wurde. Ein positiver Befund ist aber aus dem oben angef\u00fchrten Grunde beweiskr\u00e4ftiger als ein negativer.\nDer Blendungsschmerz erweist sich auch darin als den durch Ber\u00fchrung bewirkten Schmerzen gleichwertig, dafs ihm das Summationsph\u00e4nomen eigent\u00fcmlich ist.2 Unterschmerzliche Reize k\u00f6nnen durch Wiederholung Schmerz erzeugen. In dieser Beobachtung liegt nichts der Spezifit\u00e4t des Schmerzes Widersprechendes; denn, wenn durch Wiederholung eines Reizes, der nur Licht-keine Schmerzempfindung bewirkt, schliefslich Schmerz entsteht, so ist damit nicht gesagt, dafs dieselben Fasern, die anfangs die Lichtempfindung vermittelten, es sind, die nun den Schmerz leiten. Gerade dafs das Ph\u00e4nomen der Summation auf dem Gebiete der Lichtempfindungen nachweisbar ist, beweist das Gegenteil. Bei Wiederholung der Reize werden ja die Heliigkeits-\n1\tWidmark. Skanclinav. Arch. f. Physiol. 4. S. 281.\n2\tGoldscheider: \u201e\u00dcber d. Schmerz.\u201c Die von mir experimentell festgestellte Tatsache, dafs auch der Blendungsschmerz das Summationsph\u00e4nomen aufweist, findet sich schon bei Frey (a. a. 0.) angedeutet, der die Schmerzhaftigkeit intermittierender Lichtreize seiner Hypothese gem\u00e4fs durch die; wiederholten Iriszuckungen erkl\u00e4rt.","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nHugo FeilcJienfeld.\nempfindungen infolge der abnehmenden Adaptation immer schw\u00e4cher, .und doch verbindet sich gerade mit einer der sp\u00e4teren geschw\u00e4chten Helligkeitsempfindungen das Auftreten des Blendungsschmerzes; ein neuer Beweis daf\u00fcr, dafs die Schmerzempfindung von der Helligkeitsempfindung unabh\u00e4ngig ist. Die Organe des Schmerzes antworten eben nur auf gesteigerte Reize 1 mit ihrer spezifischen Empfindung, schwache Reize gelangen nicht in das Bewufstsein. Diese Reizsteigerung kann in der Zeiteinheit konzentriert sein; sie kann aber auch in Form \u00f6rtlicher oder zeitlicher Ausdehnung eines an sich schwachen Reizes wirksam sein. So kommt es, dafs ein Finger, in 39 0 R warmes Wasser getaucht, nicht schmerzt, wohl aber bei derselben Temperatur die ganze Hand.2 So erkl\u00e4rt es sich, dafs eine Empfindung allein durch ihre Dauer schmerzhaft wird (Richet, Goldscheider), selbst wenn man von der psychischen Seite der langen Schmerzdauer absieht und allein das Empfindungsmoment als solches in Betracht zieht. Und noch schmerzerregender als die kontinuierliche scheint die intermittierende Reizdauer zu wirken. Dieses Ph\u00e4nomen der Summation ist bei dem Sehsinn eindeutiger als bei dem Tastsinn, da bei dem Sehsinn aus den mehrfach erw\u00e4hnten Gr\u00fcnden die Gesichtsempfindungen von den Schmerzempfindungen in dem Bewufstsein leicht unterscheidbar sind. Es ist aber doch ein Analogieschlufs auf die Summationserscheinung im Gebiete des Tastsinnes erlaubt. Man k\u00f6nnte auch hier annehmen, dafs nicht eine Summation der Tastempfindungen zur Schmerzempfindung f\u00fchrt, sondern dafs die, die Tastempfindung verursachenden Reize gleichzeitig benachbarte Schmerzfasern erregen, dafs aber die Erregungen anfangs unterschmerzlich geblieben sind und erst durch die Wiederholung in Form einer spezifischen Empfindung zum Ausdruck kommen.\nNoch ein ferneres Bedenken Goldscheiders, dafs \u201emanche\n1\tAuch der pathologische Schmerz ist als ein durch ungew\u00f6hnlich starken Reiz bewirkter anzusehen. Der auf die Nervenenden einwirkende Entz\u00fcndungszustand des Gewebes entspricht in seiner Wirkung derjenigen eines starken Aufsenreizes. Wenn v. Tschich (a. a. 0.) hiergegen einwendet, dafs ein St\u00e4ubchen auf der Hornhaut Schmerz erzeugt, nicht aber \u2014 angeblich \u2014 ein starker Schall, so \u00fcbersieht er, dafs f\u00fcr die sehr sensible Cornea das St\u00e4ubchen ein starker Reiz ist.\n2\tE. H. Weber a. a. 0.","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das Wesen des Schmerzes.\n187\nOrgane erst im Zustande der Erkrankung (Entz\u00fcndung) zu schmerzen pflegen, wie z. B. das Peritoneum\u201c, \u201edie Hypothese von den Schmerznerven also behaupten w\u00fcrde, dafs es nerv\u00f6se Apparate g\u00e4be, deren Funktion lediglich f\u00fcr krankhafte Zust\u00e4nde angepafst ist\u201c *, ist durch die neueren Untersuchungen Lennanders 1 2 beseitigt, nach denen es solche Organe in der Tat nicht gibt. Vielmehr sind alle diejenigen Organe, welche in normalem Zustande auf starke Reize nicht schmerzen, auch in erkranktem Zustande schmerzfrei, sowohl spontan als bei Einwirkung von Reizen. Wenn bei dem Peritoneum bisher die entgegengesetzte Meinung verbreitet war, so hatte man den Unterschied im Verhalten des parietalen und des visceralen Blattes nicht beachtet. Ersteres ist sowohl im gesunden als im kranken Zustande schmerzempfindlich, letzteres in beiden F\u00e4llen nicht. Auch die gesunde Pulpa schmerzt bei Ber\u00fchrung stark. Wenn diese Organe also bei starken Reizen schon in gesundem Zustande schmerzempfindlich sind, so kann man nicht sagen, die hypothetischen Schmerznerven w\u00e4ren nur f\u00fcr krankhafte Zust\u00e4nde angepafst. Entsprechend ihrer Funktion sind sie an der \u00e4uf seren K\u00f6rper decke besonders zahlreich, aber auch an all den Organen zu finden, die dieser nahe genug liegen, um durch starke Aufsenreize noch alteriert werden zu k\u00f6nnen. Das verschiedene Verhalten des parietalen und des visceralen Blattes des Peritoneum ist hierf\u00fcr charakteristisch. Vielleicht rechnet Goldscheider aber \u00fcberhaupt auch solche Zust\u00e4nde zu den krankhaften, welche durch Reize geschaffen werden, die \u00fcber die physiologischen Bedingungen hinausgehen. Er h\u00e4tte also dann bei seinem Einwande die \u00f6konomische Unzweckm\u00e4fsigkeit im Sinne, die darin liegen w\u00fcrde, dafs ein so ausgedehnter nerv\u00f6ser Apparat nicht den regelm\u00e4fsigen und notwendigen Bedingungen des Lebens dienen, sondern nur ausnahmsweise einmal in Funktion treten solle. \u00c4hnliches hebt Oppenheimer3 hervor, der zwar ebenfalls den Schmerz nicht durch die Ber\u00fchrungsnerven gehen l\u00e4fst, aber den vasomotorischen Nerven zugleich Schmerzleitung zuschreibt4 und ihnen eine\n1\t\u201e\u00dcber den Schmerz.\u201c\n2\tLennander: Beobachtungen \u00fcber die Sensibilit\u00e4t in d. Bauchh\u00f6hle. Mitteil, aus d. Grenzgebieten d. Medizin u. Chirurgie X, S. 38. \u00dcber lokale An\u00e4sthesie und \u00dcber Sensibilit\u00e4t in Organ und Gewebe XV, S. 465.\n3\tPhysiologie des Gef\u00fchls. Heidelberg 1899. S. 23.\n4\tOppenheimer: Schmerz u. Temperaturempfindung. Berlin 1893.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 42.\t13","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nHugo Feilchenfeld.\nReaktion auch auf schwache Reize zuerkennt, die in den Ge. f\u00fchlen zum Ausdruck komme.1 Dafs die Verlegung der Schmerzleitung in die vasomotorischen Nerven unseren neueren Anschauungen \u00fcber die Heilwirkung der An\u00e4sthesie (Rosenbach, Spiess) als St\u00fctze dienen k\u00f6nnte, habe ich an anderer Stelle hervorgehoben. 2 Indessen scheint die Hypothese, die eine doppelsinnige Nervenleitung voraussetzt, bisher wenig Anh\u00e4nger gefunden zu haben. Dem Versuch, den Schmerz als ein starkes Gef\u00fchl hinzustellen, ist schon oben widersprochen worden.3 F\u00fcr mich liegt nichts Gezwungenes darin, dafs der Organismus in denjenigen K\u00f6rperteilen, die den sch\u00e4digenden Einfl\u00fcssen der Aufsenwelt ausgesetzt sind, Empfindungsorgane zur Entwicklung gebracht hat, deren Aufgabe es ist, als Schutz gegen diese sch\u00e4digende Einfl\u00fcsse zu dienen. Was dem Schmerz unter den Empfindungen seine Sonderstellung verleiht, die F\u00e4higkeit zur Exzentrierung, die Unf\u00e4higkeit zur Objektivierung, ist eine Folge dieser seiner Funktion. Er soll uns als Warnsignal dienen gegen\u00fcber den sch\u00e4digenden Einfl\u00fcssen der Aufsenwelt. Die Funktion aller Sinne ist die Vermittlung zwischen Subjekt und Aufsenwelt; sie lehren uns die Eigenschaften der Aufsendinge kennen. Eine solche Auf-\n1\tOppenheimer: Physiol, d. Gef\u00fchls.\n2\tFeilchenfeld: An\u00e4sthesie als Heilfaktor hei Augenentz\u00fcndungen. Medizinische Klinik. 1906. Nr. 31.\n3\tNeuerdings hat Stumpf den Begriff der Gef\u00fchlsempfindungen aufgestellt, die von den eigentlichen seelischen Gef\u00fchlen zu trennen sind. Diese Gef\u00fchlsbetonung der Empfindungen, die er als besondere Empfindungen auffafst, ist am deutlichsten bei dem Geruch, Geschmack und Geh\u00f6r. Aber gerade bei dem Gesichtssinn, den ich hier einer Untersuchung unterzogen habe, vermag ich etwas derartiges gar nicht, oder doch h\u00f6chstens ganz schwach zu erkennen.\nWenn Blau beruhigend, Bot schon auf den Menschen, besonders aber manche Tiere aufregend wirkt, so sind das seelische Gef\u00fchlsprozesse (Gem\u00fctsbewegungen), die mit Empfindungen nichts zu tun haben. Ein noch so ges\u00e4ttigtes Rot kann nicht eine Nebenempfindung ausl\u00f6sen, wie die Chininl\u00f6sung auf den Geschmack; der Schwefelwasserstoff auf den Geruch und Schwebungen auf das Geh\u00f6r. Die einzige Mitempfindung, die ich neben der Lichtempfindung auffasse, ist der Schmerz. Was sich sonst noch der Selbstbeobachtung zu erkennen. gibt, ist das Unlustgef\u00fchl, wie es in Begleitung der Schmerzen aufzutreten pflegt, freilich schon bei weit unter-schmerzlichen Lichtern auftritt. Ich kann nicht zugeben, dafs der Schmerz eine Verst\u00e4rkung dieses Unlustgef\u00fchls ist, da das Unlustgef\u00fchl auch neben dem Schmerz wahrnehmbar bleibt, jenes also nicht in diesen \u00fcbergeht.","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"Uber das Wesen des Schmerzes.\n189\ng\u00e4be f\u00e4llt auch dem Schmerz zu, jedoch mit der wesentlichen Einschr\u00e4nkung, dafs er die \u201eobjektiven\u201c Eigenschaften der Dinge unber\u00fccksichtigt l\u00e4fst und nur die eine Eigenschaft uns anzeigt, wie das Ding das Subjekt beeinflufst.1 2 Dadurch, dafs uns der Schmerz \u00fcber die Aufsendinge nichts Objektives mitteilt, fehlt ihm die eigentliche Sinnesqualit\u00e4t, wenigstens eine solche, die sich mit den \u00fcbrigen Sinnesqualit\u00e4ten vergleichen liefse, die eine spezifische F\u00e4rbung aufweisen. Es gibt zwar in dieser Beziehung auch zwischen den \u00fcbrigen Sinnen quantitative Unterschiede. Die spezifische F\u00e4rbung nimmt von den h\u00f6heren zu den niederen Sinnen ab. Der Sehsinn hat die am meisten ges\u00e4ttigte, der Drucksinn die am wenigsten ges\u00e4ttigte F\u00e4rbung. Der Schmerzsinn ist jedoch farblos, er repr\u00e4sentiert die einfache Sensibilit\u00e4t ohne jeden sinnlichen Beiklang. Man kann ihn als die sensible Empfindung den \u00fcbrigen, als den sensuellen, gegen\u00fcberstellen. Dem psychologischen Reichtum der Sinnesqualit\u00e4t geht die anatomische Differenzierung der Sinnesendapparate parallel. Wir finden bei den einzelnen Sinnen je nach der Abnahme der spezifischen F\u00e4rbung um so einfacher zum Empfang des spezifischen Reizes ausger\u00fcstete Endorgane vor von der St\u00e4bchen-Zapfenschicht der Netzhaut bis herab zu den MmssNEEschen K\u00f6rperchen der Haut. So nahm Funke 2 an, dafs der ganz farblose Schmerz durch die frei endenden sensiblen Fasern vermittelt wird, eine Hypothese die neuerdings Frey aufgenommen hat und die f\u00fcr die Ber\u00fchrungsschmerzen wohl zutreffen mag. Doch bleibt zu beachten, dafs nicht die Differenzierung des Aufnahme- sondern die Differenzierung des Zentralapparates den spezifischen Sinneseindruck bestimmt. Ein Lichteindruck wird auch durch mechanischen Reiz des Optikus unter Umgehung des End-\n1\tDadurch, dafs die Eigenart eine Folge der Funktion ist, verliert sie nicht den Charakter der psychologischen Eigenart, welcher ihr die Sonderstellung unter den Sinnen zuweist. Man kann dabei ruhig anerkennen, dafs die Eigenart empirisch entstanden ist unter dem Zwange onto-und phylogenetischer Erfahrung. Asher (Zeitschr. f. Sinnesphysiol. 41) weist allen Sinnesenergien einen gemeinsamen Mutterboden zu. \u201eSie sind ehe sie in die bewufste Erscheinung treten, im Nervensystem vorgebildet als virtuelle Energien. Die biologischen Erfordernisse des Organismus lassen sie auf eine uns unbekannte Art zur Entstehung gelangen.\u201c\n2\tFunke: Hermanns Handbuch d. Physiologie, Bd. Ill, S. 315; \u00e4hnlich auch Oppenheimer a. a. 0.\n13*","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nHugo Feilchenfeld.\napparates erzielt.1 Der Endapparat ist nur das f\u00fcr den Empfang des ad\u00e4quaten Reizes besonders empfindliche Reagens. Es ist dieser einen Reizart m\u00f6glichst angepafst und schliefst dadurch die Einwirkung anderer (inad\u00e4quater) Reizarten unter physiologischen Bedingungen aus.2 Ein solches f\u00fcr die Einwirkung der \u00c4therwellen besonders empfindliches Reagens ist die St\u00e4bchen-Zapfenschicht. Von ihr nehmen alle die zentripetalen Fasern ihren Ausgang, welche eine Einwirkung des Lichtes auf das Auge vermitteln, die Sehfasern, die Schmerzfasern und die pupillomotorischen. In der Reaktion aller drei Fasergattungen finden wir die eigent\u00fcmlichen Reaktionsformen der St\u00e4bchen-Zapfenschicht wieder, die Abh\u00e4ngigkeit von der Adaptation und die Pr\u00e4valenz fovealer Reize mit der charakteristischen stufenweisen Abschw\u00e4chung nach der Peripherie. Dafs dies in der Tat eigent\u00fcmliche Reaktionsformen des Endapparates auf seinen ad\u00e4quaten Reiz sind, geht aus der interessanten Feststellung G. E. M\u00fcllers3 hervor, dafs die durch galvanische Reize bewirkten und Nagels4, dafs die durch mechanische Reize bewirkten Lichtempfindungen an der Adaptation gar nicht oder kaum merklich teilnehmen. Also; Nicht ad\u00e4quate Reize k\u00f6nnen zu demselben Z entrai apparat gelangen (Sehzentrum) und l\u00f6sen gleichartigen Eindruck aus: Lichtempfindung.5 Dabei k\u00f6nnen verschiedene Stellen der Leitungsbahn den Reiz aufnehmen. Der ad\u00e4quate Reiz kann immer nur \\on einei Stelle der Leitungsbahn aufgenommen werden, dem Endapparat, er kann jedoch geleitet werden zu verschiedenen Zentral-\n1\tNagel schr\u00e4nkt die spezifische Sinnesenergie auf die Qualit\u00e4ten ein und schreibt dem Endapparat einen bestimmenden Einflufs auf die Modalit\u00e4t zu. \u201eDafs die Lingualisfaser Geschmacksempfindung vermittelt, r\u00fchrt davon her, dafs ihre zentrale Endigung im Geschmackszentrum liegt. Welche von den verschiedenen Geschmacksarten sie vermittelt, h\u00e4ngt davon ab, welche spezifische Disposition die Geschmacksknospe hat. Nagels Handbuch III2 Geschmack.\n2\tOehrwall : \u00dcber Modalit\u00e4ts- u. Qualit\u00e4tsbegriffe. Skandinav. Arch. f. Fhysiol. 2. 1901.\n3\tG. E. M\u00fcller. Zeitschr. f. Psychologie 14. S. 329.\n4\tNagel. Zeitschr. f. Psychologie 34. S. 285.\n5\tOb solche Reize auch Blendungsschmerz und reflektorische Pupillar-reaktion erzeugen k\u00f6nnen, ist eine besondere, interessante Fragestellung, deren Beantwortung noch aussteht. M\u00fcller erw\u00e4hnt unangenehme Nebenwirkungen, nicht jedoch Blendungsschmerz.","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"Uber das Wesen des Schmerzes.\n191\napparaten (Licht, Schmerz, Pupillenbewegung). Wenn wir also allen Schmerz f\u00fcr spezifisch gleichartig halten, insbesondere den Blendlingsschmerz f\u00fcr gleichartig mit dem Ber\u00fchrungsschmerz, so setzt dies nicht gleichartige Endapparate voraus. Im Gegenteil setzt die Lehre, dafs nur die St\u00e4bchen-Zapfenschicht f\u00fcr die Aufnahme des Lichtreizes abgestimmt ist, voraus, dafs auch der Schmerz, der durch Licht erzeugt wird, von dieser Schicht seinen Ausgang nimmt. Der Blendungsschmerz h\u00e4tte also mit der Lichtempfindung den Endapparat, mit dem Ber\u00fchrungsschmerz den Zentralapparat gemeinsam.\n(.Eingegangen am 12. Juli 1907.)","page":191}],"identifier":"lit33501","issued":"1908","language":"de","pages":"172-191","startpages":"172","title":"\u00dcber das Wesen des Schmerzes","type":"Journal Article","volume":"42"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:48:51.645848+00:00"}

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