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{"created":"2022-01-31T16:05:40.909161+00:00","id":"lit33520","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Freund, Ernst","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 43: 1-16","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"1\nZur Lehre vom binokularen Sehen.\nVon\nDr. Ernst Freund, Karbitz.\n(Nach einem am 5. M\u00e4rz 1908 in der Sektion Aufsig des Zentralvereins deutscher \u00c4rzte in B\u00f6hmen gehaltenen Vortrag.)\nDie physiologische Optik mit ihren zahlreichen ungel\u00f6sten Problemen war von jeher ein bevorzugtes Gebiet, sowohl experimenteller als auch theoretischer Arbeiten und eine Reihe der bedeutendsten Gelehrten und Denker haben eine grofse Zeit ihres Lebens dem Studium dieser Fragen gewidmet.\nEin schier unendliches Material wurde zusammengetragen und die Literatur auf diesem Gebiete ist un\u00fcbersehbar. Im Vergleich zu der immensen physiologischen und experimentellen Literatur ist aber die Heranziehung klinischer pathologischer Kasuistik zur Erkl\u00e4rung der in Betracht kommenden Tatsachen eine relativ geringe.\nEs m\u00f6ge daher erlaubt sein, gelegentlich einer Selbstbeobachtung einige hierher geh\u00f6rige theoretisch wichtige Fragen zu er\u00f6rtern.\nIch mufs im vorhinein bemerken, dafs die Beschaffung der einschl\u00e4gigen Literatur mit grofsen Schwierigkeiten verbunden war, so dafs ich mich oft mit Zitaten oder Referaten begn\u00fcgen mufste, wo ich gern die Originalarbeiten benutzt h\u00e4tte.\nBevor ich auf mein eigentliches Thema eingehe, mufs ich noch einige physiologische Bemerkungen voranschicken.\nBeim gew\u00f6hnlichen binokularen Sehen entsteht in jedem Auge ein Bild. Trotzdem sehen wir, normale Verh\u00e4ltnisse vorausgesetzt, nicht doppelt, sondern einfach.\nDiese merkw\u00fcrdige Tatsache setzt einen mit grofser Sicherheit und Konstanz arbeitenden physiologischen Apparat voraus,\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 43.","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nErnst Freund.\nder, ohne jedesmal einen willk\u00fcrlichen Akt in Anspruch zu nehmen, die Verschmelzung der beiden Einzelbilder zn einem Gesamtbild garantiert.\nDie zum Verst\u00e4ndnis notwendigen anatomischen Grundlagen \u2014 Verlauf der Nervenfasern im Optikus, partielle Teilung im Chi as ma, Unterbrechung in den sog. prim\u00e4ren Optikusganglien, Sehstrahlung und kortikale Sehsph\u00e4re \u2014 will ich als bekannt voraussetzen.\nDas Resultat der oben erw\u00e4hnten Verschmelzung der von den beiden Netzh\u00e4uten gelieferten Empfindungen ist das binokulare Gesichtsfeld. Dasselbe setzt sich zusammen aus einem mittleren Teil, zu dem beide Augen beitragen, und einem rechten und linken nur von je einem Auge allein bestrittenen Anteil. Dabei ist der binokular gesehene Anteil des Gesichtsfeldes nicht vielleicht scharf abgegrenzt von dem monokular gesehenen, sondern beim gew\u00f6hnlichen Sehen ist kein Unterschied in der Helligkeit oder in der F\u00e4higkeit zum k\u00f6rperlichen Sehen auff\u00e4llig. Man wird sich eben dieser Zusammensetzung aus einem binokularen und zwei monokularen Gesichtsfeldanteilen \u00fcberhaupt nicht bewufst.\nAuch nach der Peripherie haben wir keineswegs das Gef\u00fchl einer scharfen Abgrenzung, sondern dieselbe mufs uns erst am Perimeter ad oculum demonstriert werden.\nEbensowenig werden wir uns ohne besonders darauf gerichtete Untersuchung der durch den Sehnerveneintritt bedingten grofsen L\u00fccke im Gesichtsfeld bewufst. Auf diesen Punkt will ich etwas n\u00e4her eingehen und werde auch sp\u00e4ter noch einmal darauf zur\u00fcckgreifen m\u00fcssen.\nDer \u201eblinde Fleck\u201c wurde von Mariotte entdeckt und seine Demonstration am englischen K\u00f6nigshof erregte damals grofses Aufsehen. Seine Entdeckung war lange Zeit die Basis f\u00fcr eine falsche Theorie. Da n\u00e4mlich an dieser Stelle die Chorioidea fehlte, hielt man diese f\u00fcr den lichtempfindenden Apparat. Wie wir wissen, ist jedoch der Mangel der St\u00e4bchen-und Zapfenschicht die Ursache dieses Ausfalls im Gesichtsfelde. Es wird dadurch auch bewiesen, dafs die Nervenfasern selbst in ihrem Verlauf nicht lichtempfindlich sind.\nDer blinde Fleck ist etwa 11 mal so grofs als der Vollmond und der Kopf eines erwachsenen Menschen verschwindet in einer Entfernung von etwa 2 m ganz in ihm. Dafs uns im bin-","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre vom binokularen Sehen.\n3\nokularen Sehen diese L\u00fccke nicht a uff all t, ist ja leicht verst\u00e4ndlich, was wir mit dem einen Auge nicht sehen, das sehen wir eben mit dem anderen. Aber, wie gesagt, auch im monokularen Sehen f\u00e4llt uns diese L\u00fccke nicht auf und man hat sich \u00fcber den Mechanismus der Ausf\u00fcllung derselben schon viel den Kopf zerbrochen.\nSo einfach die Frage zu sein scheint, ist es doch bis heute noch nicht gelungen, eine einheitliche Erkl\u00e4rung daf\u00fcr zu finden und es stehen sich die Ansichten noch immer schroff gegen\u00fcber.\nE. H. Weber vertritt die Ansicht, dafs unsere Einbildungskraft die L\u00fccke mit einem dem sonstigen Inhalt des Sehfeldes analogen Inhalt ausf\u00fcllt.\nAubert kommt hingegen zu dem Schlufs, \u201edafs wir eben nichts mit dieser Stelle sehen und, um es kurz zu sagen, nicht wissen, wie \u201enichts\u201c aussieht.\u201c . . . \u201eWas auf die Stelle des blinden Flecks f\u00e4llt, sieht man nicht, aber etwas anderes sieht man auch nicht.\u201c Aubert stellt in dieser Hinsicht den blinden Fleck gleich dem Kaum hinter unserem K\u00fccken, und spricht seine Verwunderung dar\u00fcber aus, dafs man \u00fcberhaupt erwarten konnte, dort etwas zu sehen. Man habe eben irrt\u00fcmlich den Mangel an objektivem Licht dem Mangel an Empfindung gleichgesetzt und \u201eetwa erwartet ein Loch oder eine dunkle Stelle zu sehen\u201c.\nDiese Ansicht teilen auch Helmholtz, Nagel, Baas und andere, w\u00e4hrend Lakdois und Wilbrand- Saekger sich der Erkl\u00e4rung Webers anschliefsen.\nBei Wuhdt finden wir haupts\u00e4chlich die Augenbewegungen daf\u00fcr verantwortlich gemacht, dafs f\u00fcr gew\u00f6hnlich die L\u00fccke nicht auf f\u00e4llt; er sagt hierzu: \u201eAber die Tatsache, dafs wir die durch den blinden Fleck in unserem Sehen vorhandene L\u00fccke im allgemeinen mit den Empfindungen der in der Umgebung gereizten Netzhautpunkte ausf\u00fcllen, l\u00e4fst sich darum doch nicht bestreiten.\u201c\nIch will einen Ausspruch von Helmholtz, der sich sehr eingehend mit der Frage befafst, gegen\u00fcberstellen: \u201eDem entsprechend mufs ich behaupten, dafs \u00fcberhaupt keinerlei Empfindung dem blinden Fleck entspricht und dafs namentlich nicht etwa irgendwelche Empfindungen aus der Nachbarschaft sich auf die L\u00fccke des Sehfeldes \u00fcbertragen, sondern bei genauerer Beobachtung und bei Anwendung der n\u00f6tigen Hilfe, um die Aufmerksamkeit auf den blinden Fleck hinzulenken, kann man sich\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nErnst Freund.\n\u00fcberzeugen, dafs dort die Empfindung fehlt. Volkmann sagt mit Recht, \u201edafs man die L\u00fccke im Sehfeld durch einen Akt der Einbildungskraft ausf\u00fcllt.\u201c\nVon einigen Beobachtern (v. Wittich, Landois) werden in der Umgebung des blinden Flecks Erscheinungen von Verziehungen und Verk\u00fcrzungen beschrieben, die man als Kontraktionserscheinungen betrachtet.\nDiese Ansicht wurde neuerdings auch von Hirth vertreten.\nNachdem er sich auch der Ansicht angeschlossen, dafs \u201edie L\u00fccke durch die der n\u00e4chsten Umgebung entnommene, allgemeine F\u00e4rbung ausgef\u00fcllt wird, sagt er: \u201eGleichwohl kann ich mich des Eindrucks nicht entschlagen, dafs die \u00e4ufsere H\u00e4lfte des Gesichtsfeldes jedes der beiden Augen (in welche infolge der Umkehrung des Bildes auf der Netzhaut der blinde Fleck f\u00e4llt), namentlich in horizontaler Richtung etwas geschrumpft erscheint.\u201c\nEr wendet sich auch entschieden gegen Weber, und betont, dafs die Art der Ausf\u00fcllung auf einer physiologischen N\u00f6tigung beruhe.\n,,Wir haben hier wieder einen Fall, wo ohne rechten Anlafs, nur durch ein irrt\u00fcmlich angewandtes Wort ein offenbar rein physiologischer Vorgang auf das psychologische Gebiet hin\u00fcbergespielt wird/' Jodl sagt hier\u00fcber: \u201eIndessen sieht man darum doch mit dem blinden Fleck keineswegs in dem Sinne nichts wie etwa mit irgendeiner Stelle der Hautoberfl\u00e4che. Er gibt vielmehr die Empfindung, welche seiner Umgebung entspricht.\"\n\u201eAlle stimmen darin \u00fcberein, dafs die Kontinuit\u00e4t des Gesichtsfeldes trotz der L\u00fccke in der empfindlichen Schicht nicht unterbrochen ist und dafs das, was man an der entsprechenden Stelle zu sehen meint, ganz abh\u00e4ngig ist von dem, was sich auf den angrenzenden Teilen der Netzhaut abbildet\", sagt Hering, ohne eine neue Erkl\u00e4rung zu versuchen.\nBei Helmholtz findet sich die Angabe, er habe gelernt, beim Aufschlagen eines Auges gegen eine ausgedehnte weifse Fl\u00e4che, bei kleinen Bewegungen des Auges den blinden Fleck als einen schattigen Fleck zu sehen, so dafs, wenn er mit dem Zeigefinger darauf hinwies, die Spitze des Zeigefingers verschwand.\nIch halte diese Angabe f\u00fcr sehr wichtig und werde mich sp\u00e4ter noch einmal auf sie berufen m\u00fcssen.\nHess und Landolt kamen zu dem Schlufs, dafs \u201eeine Erg\u00e4nzung des Punktmusters weder bei l\u00e4ngerer, noch bei momen-","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre vom binokularen Sehen.\n5\ntaner Beleuchtung weder entsprechend dem MARioxTEschen Fleck, noch entsprechend den zentralen Netzhautteilen des dunkeladaptierten Auges stattfindet.\u201c\nIhre Angaben wurden von anderer Seite bestritten (Heine), doch w\u00fcrde es uns zu weit von unserem Thema ablenken, wenn wir auf ihre Diskussion n\u00e4her eingehen wollten.\nAuch bez\u00fcglich vieler anderer, den binokularen Sehakt betreffenden Fragen stehen einander noch vollkommen entgegengesetzte Meinungen gegen\u00fcber.\nDie Frage, ob wir mit beiden Augen heller sehen, als mit einem, scheint ungemein leicht zu entscheiden und doch finden wir in der Literatur keine Einigkeit. Erst Untersuchungen der neuesten Zeit haben einen Fortschritt in dieser Hinsicht gebracht, ohne jedoch zu einer definitiven Kl\u00e4rung zu f\u00fchren. Es war mir wegen der Sehst\u00f6rung am rechten Auge leider nicht m\u00f6glich, diese Versuche nachzupr\u00fcfen, und selbst auf diesem speziellen Gebiet weiter zu arbeiten.\nZur Illustrierung des Gesagten will ich einige Bearbeiter dieses Gebietes selbst zum Wort kommen lassen.\nM\u00fcller Pouillet: ,,Der Teil des Papiers, welcher mit beiden Augen zugleich gesehen wird, erscheint heller, als die andere H\u00e4lfte, die man nur mit einem Auge sieht.\u201c\nHelmholtz: \u201eDabei ist zu beachten, dafs das Papier dabei nicht gerade entschieden dunkler aussieht, als wenn man es mit beiden Augen betrachtet. Das Schwarz des einen Feldes mischt sich also nicht mit dem Weifs des anderen, sondern hat eben weiter gar keinen Einflufs auf die Erscheinung des anderen Bildes.\u201c\nHering: \u201eEs ist, als ob beim Binokularsehen beide Netzh\u00e4ute sich im gemeinsamen Sehfelde gleichsam nur mit einem Bruchteil der ihnen zugeh\u00f6rigen Empfindung geltend machen k\u00f6nnte, und zwar so, dafs diese Bruchteile sich immer zu 1 erg\u00e4nzen.\u201c (Satz vom komplement\u00e4ren Anteil der beiden Netzh\u00e4ute im Sehfeld.)\nJUrin (bei Aubert) kommt zu dem Resultat, dafs ein binokular gesehenes Objekt um 1/13 heller erscheint als ein monokular gesehenes.\nIch habe nur einige Beispiele angef\u00fchrt, aber Sie sehen, wie wenig Klarheit hier herrscht.\nUnd doch ist es, um sich eine Auffassung von der Verschmelzung beider Sehfelder zu einem gemeinsamen Gesichtsbild","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nErnst Freund.\nzu bilden, sehr wichtig zu entscheiden, ob man mit zwei Augen heller sieht, als mit einem. Einen wesentlichen Fortschritt bereiten in dieser Hinsicht die Untersuchungen von Piper, Assistenten am physiologischen Institut der Universit\u00e4t Berlin. Auf seine Versuchsanordnung und die Details seiner sorgf\u00e4ltigen Untersuchung will ich an dieser Stelle nicht eingehen, sondern nur das sehr interessante Resultat mitteilen.\nPiper fand, dafs man bei Helladaption mit zwei Augen nicht, oder nur ganz aufserordentlich wenig heller sieht, als mit einem, dafs aber bei Dunkeladaption die Helligkeitsempfindung zweier Augen die eines erheblich an Intensit\u00e4t \u00fcbertrifft.\nW\u00e4hrend die meisten bisher bekannten Funktionen des Dunkelapparates mit grofser Wahrscheinlichkeit ihren Sitz im peripheren Endapparat haben, verlegt Piper die Lokalisation dieses Prozesses in mehr zentrale Teile des Gesamtseh apparats. Seine Vorstellung von der Funktion, der Reizaddition ist die, dafs Reize, die monokular unterschwellig sind, also auf dem Wege zum Zentrum erl\u00f6schen w\u00fcrden, dadurch, dafs sie an einem Punkte mit dem gleichstarken Reiz des anderen Auges Zusammentreffen, stark genug werden, um bis zum Zentrum vorzudringen.\nPiper versucht dann noch eine Erkl\u00e4rung der binokularen Reizaddition von einem anderen Gesichtspunkte aus : \u201eSie l\u00e4fst sich n\u00e4mlich als ein spezieller Fall der von Aubert und Treitel angegebenen Regel betrachten, dafs der Reizwert eines licht-aussendenden Objekts mit dessen Winkelgr\u00f6fse anw\u00e4chst.\u201c\nZu den uns hier interessierenden Erscheinungen geh\u00f6rt auch Fechners \u201eparadoxer Versuch\u201c.\nWenn man vor ein Auge ein graues Glas setzt, \u2014 dasselbe darf aber nicht zu hell und nicht zu dunkel sein \u2014 das andere Auge aber frei l\u00e4fst, so tritt bei vollst\u00e4ndigem Verdecken des\nmit dem grauen Glase armierten Auges eine Erhellung des ge-\n\u2022 \u2022\nmeinsamen Gesichtsfeldes ein. Offnet man dieses Auge jetzt wieder, so tritt eine Verdunkelung ein.\nMit anderen Worten: \u201eVollst\u00e4ndige Verdunkelung eines bis zu gewissen Grenzen verdunkelten Auges bei unver\u00e4ndertem anderen Auge bewirkt also eine Erhellung des gemeinsamen Gesichtsfeldes.\u201c\n\u201eZulassung des Lichtes bis zu gewissen Grenzen in einem anfangs ganz verdunkelten Auge bei unverdunkelten anderem","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre vom binokularen Sehen.\n7\nAuge bewirkt also eine Verdunkelung des gemeinsamen Gesichtsfeldes.\u201c\nEs klingt wirklich paradox: dem gemeinsamen Gesichtsfeld wird mehr Licht zugef\u00fchrt und eine Verdunkelung ist die Folge; eine Lichtmenge wird entzogen und Erhellung tritt ein. Ich will nun die Erkl\u00e4rungsversuche Fechnees mitteilen.\n\u201eKein Wunder, sagten einige, dafs bei g\u00e4nzlichem Schlufs oder Verdunkelung des Auges, vor dem sich ein graues Glas befindet, Erhellung des Gesichtsfeldes entsteht, denn bei Vornahme des dunklen Glases vor das Auge B setzt sich die Dunkelheit, die dieses Glas erzeugt, mit der Helligkeit des Auges B zusammen, indes wir bei g\u00e4nzlicher Verdeckung des dunklen Auges B mit dem hellen wieder allein sehen. Diese Erkl\u00e4rung stimmt jedoch mit einigen aus Fechnees Versuchsreihen sich ergebenden Tatsachen nicht \u00fcberein.\u201c\nEine andere Theorie sagte: \u201eWenn zum Licht im hellen Auge A, Licht im dunklen B tritt, so mindert sich der Totaleffekt der Empfindung, weil die Aufmerksamkeit dadurch veranlafst ist, sich zu teilen, w\u00e4hrend sie sich vorher auf das helle Auge konzentrieren konnte.\u201c\nDoch sei mit dieser, der sog. Aufmerksamkeitstheorie nichts gewonnen. Denn sie erkl\u00e4re nicht, warum die Teilung der Aufmerksamkeit nur bis zu gewissen Grenzen die Vermehrung des Lichtreizes bewirke. Auch sei nicht einzusehen, warum die Teilung der Aufmerksamkeit zwischen zwei Netzh\u00e4uten einen Erfolg haben k\u00f6nne, den sie bei Teilung zwischen verschiedenen Stellen derselben Netzhaut nicht \u00e4ufere.\nDas Ph\u00e4nomen tritt ja auch ganz unabh\u00e4ngig von der Aufmerksamkeit ein.\nOhne eine eigentliche Erkl\u00e4rung zu geben, begn\u00fcgt sich Fechnee schliefslich mit der Subsummierung unter das Erscheinungsgebiet der antagonistischen Verh\u00e4ltnisse.\nMit der Erkl\u00e4rung des paradoxen Versuchs haben sich dann noch verschiedene Forscher besch\u00e4ftigt.\nHeeing legt dem Wettstreit eine Bedeutung bei, Helmholtz betrachtet es vielmehr als Kontrastwirkung. Es handle sich nicht um eine \u00c4nderung in der Empfindung des Lichts, sondern nur um eine \u00c4nderung unseres Urteils \u00fcber die K\u00f6rperfarbe des weifsen Objekts. Auch Nagel subsummiert den paradoxen Versuch unter die Erscheinungen des binokularen Kontrasts.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nErnst Freund.\nAubert wendet sich gegen die genannten Ansichten von Hering und Helmholtz. Er spricht sich dahin aus, dafs nach den Ergebnissen der Versuche \u201eeine Kombination der beiderlei Empfindungen der Netzh\u00e4ute ein tritt, wenn die Differenz der Helligkeit ein gewisses, durch den Versuch zu findendes Mals nicht \u00fcberschreitet \u2014 \u00fcber dieses Mafs hinaus aber die Kombinationsf\u00e4higkeit der Empfindungen abnimmt und endlich ganz aufh\u00f6rt. Von Einflufs auf die Kombinationsf\u00e4higkeit ist die absolute Helligkeit des Objekts.\u201c\nEs sind also im wesentlichen zwei Auffassungen, die einander gegen\u00fcberstehen: einerseits Kontrastwirkung, andererseits Mischung, sei es nun in einer Kombination von Helligkeits- oder Farbwerten oder gegenseitigen Beeintr\u00e4chtigung. Noch ein, von Fechner und vielen anderen (M\u00fcller-Pouillet) beobachtetes Ph\u00e4nomen will ich kurz anf\u00fchren : \u201eWenn man, w\u00e4hrend man in den Himmel sieht, oder eine gleichf\u00f6rmig weifse oder graue Fl\u00e4che betrachtet, ein Auge verdeckt, so legt sich momentan ein sehr leichter Schatten \u00fcber die Fl\u00e4che, welcher von nicht aufmerksamen Beobachtern leicht \u00fcbersehen wird.\u201c\nFechner und auch andere konnten beobachten, wie der im Momente des Verdeckens eines Auges eintretenden leichten Beschattung des Gesichtsfeldes sehr schnell eine kleine Wiedererhellung folgt, die jedoch immer nur bei grofser Aufmerksamkeit wahrgenommen wird (Pupillenerweiterung).\nBevor ich weitergehe, mufs ich kurz meine eigene Krankengeschichte mitteilen.\nIm Jahre 1888, \u2014 ich war damals 12 Jahre alt \u2014 erlitt ich durch einen Steinwurf eine Ruptur der Chorioidea des rechten Auges, die ein zentrales Skotom zur Folge hatte. Die Folge davon ist, dafs ich zum Fixieren, \u00fcberhaupt zu allen das zentrale Sehen erfordernden Verrichtungen das linke Auge benutze, das abgesehen von einer geringen Myopie (% D) vollst\u00e4ndig normal ist. Wohl aber tr\u00e4gt mir das rechte Auge durch das intakte periphere Gesichtsfeld zur Orientierung bei, doch fehlt nat\u00fcrlich ein binokularer Sehakt.\nMein Freund Dr. Hermann Ulbrich, Dozent der Augenheilkunde in Prag, hatte die Freundlichkeit mein Auge zu untersuchen und den Befund anzugeben. Ich spreche ihm an dieser Stelle f\u00fcr seine Bem\u00fchungen meinen herzlichsten Dank aus.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre vom hinokularen Sehen.\n9\nOphthalmoskopischer Befund des rechten Auges des Herrn Dr. Freund in Karbitz.\nDas rechte Auge schielt nach aufsen, Schieiablenkung 4 mm, die Augenbewegungen sind in Ordnung.\nDie brechenden Medien sind klar.\nDie Papille von normaler Farbe, hat keine deutliche Abblassung der temporalen Papillenh\u00e4lfte, es besteht nur eine Andeutung einer physiologischen Exkavation. Arterien und Venen zeigen normale Verh\u00e4ltnisse. Der Fundus ist dunkel, get\u00e4felt.\nNach aufsen schliefst sich an die Papille ein Degenerationsherd an, der im allgemeinen durch seine Pigmentierung auff\u00e4llt. Er besteht aus einzelnen, dunkleren Partien, in denen das Pigment in kleineren Schollen, der Hauptsache nach aber in sehr feiner Verteilung, mehr schnupftabak\u00e4hnlich liegt. Die einzelnen Anh\u00e4ufungen haben eine ganz unregelm\u00e4fsige, lappige Gestalt. Der untere Teil des Herdes ist neben einzelnen dunkler pigmentierten Stellen, f\u00fcr die die eben gegebene Beschreibung pafst, in seiner gr\u00f6fsten Ausdehnung pigmentarm, gelblich durchscheinend. Auch zwischen den gr\u00f6fseren Flecken liegt viel fein verteiltes Pigment. Der Gegend der Makula entsprechend und in ihrer Umgebung liegen f\u00fcnf weifse Fleckchen, die intensiv gl\u00e4nzen, der der","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nErnst Freund.\nPapille am n\u00e4chsten gelegene enth\u00e4lt mehrere chorioideale Ge-f\u00e4fse. Um die zwei am meisten nach aufsen gelegenen Flecke ist die Pigmentierung sehr dicht, ihr Rand mit kolbigen Ausl\u00e4ufern versehen, etwas an eine Aktinomyzesdruse erinnernd.\nIm Gesichtsfeld ein ca. 20 Grad grofses, gr\u00f6fstenteils absolutes zentrales Skotom.\nSehsch\u00e4rfe Fingerz\u00e4hlen 3 m.\nBeim gew\u00f6hnlichen Sehen mit zwei Augen f\u00e4llt mir dieses Skotom in keiner Weise auf, st\u00f6rt mich auch nicht im geringsten.\nVerdecke ich dagegen das linke Auge, so macht sich das Skotom als ein dichter, dunkler vor den Gegenst\u00e4nden liegender Schatten bemerkbar.\nIch habe auch das Gef\u00fchl, dafs derselbe aufserhalb des Auges liege.\nMein Skotom verh\u00e4lt sich also im binokularen Sehen wie ein negatives, im monokularen wie ein positives Skotom.\nSchliefse ich nun das linke, gesunde Auge, ohne es zu verdecken und sehe dabei in den weifsen Himmel, so erscheint mir das Skotom in einer leuchtend roten Farbe, gleich derjenigen, die man erh\u00e4lt, wenn man mit leicht geschlossenen Lidern gegen den hellen Himmel sieht. An\u00e4misiere ich dann das linke Augenlid durch leichten Druck mit zwei Fingern, so erscheint mir das Skotom lichtgelb.\nVerdecke ich dann mein linkes Auge vollst\u00e4ndig mit der Hand, so dafs gar kein Licht mehr hinzukam, so wird das Skotom ganz schwarz.\nEs war naheliegend, auch Versuche mit anderen Farben anzustellen.\nIch mufste zu diesem Zwecke gleichm\u00e4fsige farbige Fl\u00e4chen w\u00e4hlen. Denn bot ich dem linken Auge auff\u00e4llige Konturen, so mulste sein Eindruck \u00fcberwiegen und ich konnte mit dem rechten Auge keine Beobachtungen anstellen.\nDie Versuchsanordnung war eine h\u00f6chst einfache. Durch eine vertikale Scheidewand wurden rechts- und links\u00e4ugiges Gesichtsfeld voneinander geschieden.\nDann wurde dem linken Auge eine farbige Wand in etwa 25 cm Entfernung vorgehalten, w\u00e4hrend das rechte gegen den weifsen Himmel oder eine weifse Tischplatte gerichtet war. Immer erschien das Skotom in der Farbe, die dem linken Auge dargeboten wurde, ob es nun blau, grau, rot, gelb oder schwarz war.","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre vom binokularen Sehen.\n11\nIrgendwelche Zeichnungen oder Muster, kleine Kreuze oder Kreise habe ich jedoch in dem Skotom nicht wahrgenommen.\nIch mufs auch betonen, dafs der beschriebene Erfolg ganz momentan eintritt, sich von Aufmerksamkeit oder Absichtlichkeit vollkommen unabh\u00e4ngig erweist. Ich erinnere mich auch, die Beobachtung schon zu einer Zeit gemacht zu haben, wo ich mich noch nicht f\u00fcr diese Fragen interessierte.\nDabei f\u00e4llt mir auch in keiner Weise auf, dafs sich das Gesichtsfeld des rechten Auges aus Eindr\u00fccken zweier Augen zusammensetzt, es erscheint mir vielmehr als etwas durchaus Einheitliches.\nWir haben es also hier mit der eigent\u00fcmlichen Erscheinung zu tun, dafs ein Lichtreiz der vom linken Auge allein auf genommen wird, im monokularen Gesichtsfeld des anderen Auges gesehen wird, sozusagen aus einem Auge in das andere \u00fcbertragen wird, oder um mich eines gel\u00e4ufigen Wortes zu bedienen, projiziert wird. Die \u00dcbertragung betrifft aber, wie gesagt nur Licht- und Farbwerte, aber nicht Konturen.\nWir wollen nun zuerst versuchen, noch andere in dieses Erscheinungsgebiet geh\u00f6rende Tatsachen beizubringen, und dann die oben beschriebenen Ph\u00e4nomene unter einem gemeinsamen Gesichtspunkte zu betrachten.\nF\u00fcr den innigen Zusammenhang, der zwischen dem beiden Augen zugeh\u00f6rigen Anteile am gemeinsamen Gesichtsfeld besteht, spricht schon der anatomische Aufbau des ganzen dem Gesichtssinn dienenden nerv\u00f6sen Apparates, vor allem die teilweise Kreuzung im Chiasma. Auch einige pathologische und physiologische Beobachtungen lassen sich heranziehen.\nIm WiLB\u00dfAND-SAENGEEsehen Handbuch der Neurologie des Auges findet sich eine Reihe von F\u00e4llen beschrieben, wo es aus zentralen Ursachen zu kleinen homonymen hemianopischen Skotomen kam.\n\u201eJedenfalls ergeben diese interessanten klinischen Beobachtungen , dafs eine anatomische Grundlage f\u00fcr die identischen Netzhautpunkte a priori gegeben sein mufs und darin scheint uns doch eine Hauptst\u00fctze f\u00fcr die nativistische Theorie zu liegen.\u201c\nSehr wichtig erscheint mir auch die Arbeit von Schiele \u201e\u00dcber Miterregungen im Bereich homonymer Gesichtsfeldbezirke4.\nUnter seinen Ergebnissen interessiert uns hier vor allem folgender Satz: \u201eDie Erm\u00fcdung der Sehsph\u00e4re, welche durch","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nEy'nst Freund.\ndie Gesichtsfeldaufnahme an einem Auge verursacht wird, teilt sich gesetzm\u00e4fsig den in ihr endigenden Fasern der zweiten Netzhaut in der Art mit, dafs stets nur homonyme Teile beider Gesichtsfelder sich eingeengt zeigen.\u201c\nObgleich seine Angaben vielfach Widerspruch fanden, und namentlich in die Nichtigkeit der Zahlen Zweifel gesetzt wurden, wurde doch wieder von anderen die Homonymit\u00e4t best\u00e4tigt.\nHaitz, der sich gegen die Argumentation Schieles richtet, \u2014 Einwendungen, die der Verwertbarkeit der Ergebnisse f\u00fcr meine Zwecke keinen Abbruch tun \u2014 gibt doch die Homonymit\u00e4t dieser Erscheinungen zu und f\u00fcgt noch andere hinzu, welche durch Beobachtungen am Stereoskop gewonnen wurden und ebenfalls homonymer Natur sind. Es w\u00fcrde zu weit f\u00fchren, an dieser Stelle im Detail darauf einzugehen, ich mufs daher diesbez\u00fcglich auf das Original verweisen. Auch die Versuche am Haploskop m\u00f6gen hier nur Erw\u00e4hnung finden.\nDagegen will ich einen sehr bedeutsamen Ausspruch Herings w\u00f6rtlich anf\u00fchren, weil ein meiner Beobachtung ganz analoger Vorgang mitgeteilt wird.\nHering sagt n\u00e4mlich: \u201eEndlich ist noch eine Modifikation der Substitutionsmethode zu erw\u00e4hnen, die aber weniger zur Untersuchung, als zur Illustrierung der Korrespondenz der Netzh\u00e4ute brauchbar ist. Erzeugt man sich im einen Auge ein langdauerndes Nachbild einer einfachen Figur, \u00f6ffnet nun das andere Auge und schliefst das mit dem Nachbild versehene, so erscheint unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden das Nachbild im Sehfeld des anderen Auges so, als ob es sich auf der Netzhaut dieses Auges bef\u00e4nde, und zwar in einer Lage, welche mit der Lage des Nachbildes auf der anderen Seite korrespondierend ist. Das Nachbild wird also scheinbar von einer Netzhaut auf korrespondierende Stellen der anderen \u00fcbertragen. Dies ist ein Beispiel f\u00fcr die Tatsache, dafs der Doppelnetzhaut ein einfaches Sehfeld entspricht.\u201c Hierher geh\u00f6rt auch die Tatsache, dafs sowohl Zapfen- als auch Pigmentreaktion vom belichteten Auge auf das Dunkelauge \u00fcbertragen werden (Engelmann und Nahmacher).\nWie schon erw\u00e4hnt, beobachtet man, beim Betrachten einer weifsen Wand mit beiden Augen, in dem Moment, wo das eine Auge verdeckt wird, einen leichten Schatten, der sich \u00fcber die weifse Wand legt.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre vom hmokularen Sehen.\n13\nNach dem, was ich oben mitgeteilt habe, ist diese Erscheinung leicht verst\u00e4ndlich.\nDas Schwarz, das mit dem verdeckten Auge empfunden wird, gelangt momentan zur Projektion auf die weifse Wand. Doch ist die Empfindung nur eine vor\u00fcbergehende, da das verdeckte Auge durch Exklusion an der Konstitution des Gesichtsfeldes verhindert wird. Nur wenn, wie in meinem Fall, ein wichtiger Teil des unverdeckten Auges von einem Skotom betroffen ist, kommt f\u00fcr diesen Ausfall das verdeckte Auge auf und bringt seinen Anteil am gemeinsamen Gesichtsfeld zur Geltung.\nDagegen bereitet die Erkl\u00e4rung des paradoxen Versuchs schon gr\u00f6fsere Schwierigkeiten.\nWie Sie wissen, behauptet das FncHNEEsche Gesetz, \u201edafs relativ gleich grofsen Reizzuw\u00e4chsen absolut gleich grofse Empfindungszuw\u00e4chse entsprechen\u201c. Diese Aufstellung blieb nicht ohne Widerspruch (Heeing) und Funke sprach sich in der Diskussion \u00fcber dieses Gesetz folgendermafsen aus : \u201eMeines Erachtens liegt im Gegenteil die gr\u00f6fsere aprioristische Wahrscheinlichkeit auf Seiten der Annahme, dafs ein Empfindungszuwachs, um merklich zu werden, im allgemeinen um so gr\u00f6fser sein mufs, je intensiver die Empfindung bereits ist.\u201c\nF\u00fcr die PiPEEschen Thesen ergeben sich da keinerlei Schwierigkeiten.\nZur Erkl\u00e4rung des FECHNEEschen paradoxen Versuchs, m\u00fcssen wir uns helfen, indem wir die Wirkung der grauen Gl\u00e4ser in zwei Komponenten zerlegen. Die eine ist die Entziehung von Licht, die andere die Wirkung des Grau als Farbe.\nF\u00e4ngt man mit sehr hellen grauen Gl\u00e4sern an, so tritt der paradoxe Erfolg nicht ein, es kommt der Helligkeitszuwachs zur Geltung. Erst bei einer gewissen Intensit\u00e4t des Grau kommt der Farbwert gen\u00fcgend zur Geltung, um sich an dem supponierten \u201ezentralen einheitlichen Sehfeld\u201c zu beteiligen.\nGeradeso, wie es bei mir zu einer Projektion in das andere monokulare Gesichtsfeld kommt, kommt es hier zu einer Beeintr\u00e4chtigung des Weifs auf dem einen, durch das Grau auf dem anderen Auge.\nWerden die Gl\u00e4ser so dunkel, dafs der Effekt einer vollst\u00e4ndigen Verdunkelung gleichkommt, dann unterliegen die Eindr\u00fccke des verdeckten Auges, sie werden \u00fcberhaupt unterdr\u00fcckt. Ich glaube, dafs man auf die Hinzuziehung der Kontrastwirkung","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nErnst Freund.\nverzichten kann, w\u00e4hrend dem Wettstreit immerhin eine gewisse Rolle zukommt.\nEs lassen sich in dieser Weise auch verschiedene Details der FECHNEEschen Arbeit (Indifferenzpunkt, Maximumpunkt, Minimumpunkt) zwanglos erkl\u00e4ren.\nNun wollen wir noch versuchen, zum Verhalten der Skotome, der physiologischen und pathologischen, Stellung zu nehmen.\nBei meinen mit dem gesunden linken Auge ausgef\u00fchrten Versuchen, kam ich zu dem Resultat, dafs eine Ausf\u00fcllung des blinden Flecks nicht stattfindet. Namentlich konnte ich eine Ausf\u00fcllung durch die von den benachbarten Netzhautgebieten gelieferten Empfindungen nicht konstatieren.\nAuch f\u00fclle ich die L\u00fccke nicht durch die Einbildungskraft aus.\nBeim gew\u00f6hnlichen Sehen mit zwei Augen tritt das Bild des anderen Auges erg\u00e4nzend ein und auch beim Sehen mit einem Auge tritt keine N\u00f6tigung zur Ausf\u00fcllung ein.\nErst wenn die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, wird man des Ausfalls im Gesichtsfeld gewahr und kann sich davon \u00fcberzeugen, dafs man eben an dieser. Stelle nichts sieht.\nEs lag mir nun nahe, zu fragen, ob nicht eine Ausf\u00fcllung durch die vom anderen Auge auf korrespondierender Stelle erhaltene Empfindung m\u00f6glich w\u00e4re. Ich selbst konnte dies nicht konstatieren. Es liegt auch die Stelle, die man sich im rechten Auge als dem blinden Fleck des linken korrespondierend vorstellen m\u00fcfste, dem Skotom schon zu nahe, als dafs man dadurch nur ann\u00e4hernd verl\u00e4fsliche Resultate erzielen k\u00f6nnte. Die Angabe von Helmholtz, dafs er beim Aufschauen gegen eine weifse Fl\u00e4che, bei kleinen Augenbewegungen des blinden Flecks als eines schw\u00e4rzlichen Schattens gewahr werde, l\u00e4fst sich in diesem Sinne deuten.\nNeuerdings wurde auch das physiologische zentrale Dunkelskotom zum Studium dieser Frage herangezogen (Hess, Lakdolt).\nAuch hier findet keine Ausf\u00fcllung statt und ich kann nach eigenen darauf gerichteten Untersuchungen, diese Angaben nur best\u00e4tigen (allerdings nur f\u00fcr monokulare Beobachtung).\nEs tritt nun die Frage auf, ob sich die Verh\u00e4ltnisse an pathologischen Skotomen und am physiologischen zentralen Dunkelskotom \u00fcberhaupt mit denen des blinden Flecks vergleichen lassen.\nSowohl dem pathologischen als dem physiologischen Skotom","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre vom binokularen Sehen.\n15\nentsprechen Leitungsfasern im Optikus und in der ganzen Verbindung bis zum Sehzentrum und wir sind auch gen\u00f6tigt im kortikalen Sehfeld ein Areal daf\u00fcr in Anspruch zu nehmen, dem nur unter den ver\u00e4nderten Bedingungen von den Endapparaten keine Reize mehr \u00fcbermittelt werden.\nF\u00fcr meinen Fall mufs man sich vor stellen, dafs teils auf dem Umwege durch die Assoziationsfasern von der andersseitigen Sehsph\u00e4re her die letzterer zufliefsenden Reize zugef\u00fchrt werden, teils die gekreuzten Fasern des anderen Auges ihre Reize \u00fcbermitteln.\nF\u00fcr seitlich gelegene Skotome, resp. seitliche Partien zentraler Skotome kann man nat\u00fcrlich nur von substituierenden Netzhauth\u00e4lften sprechen.\nAnders liegt es beim blinden Fleck. Hier sind keine Nervenbahnen ausgefallen oder durch Dunkeladaption zur Unt\u00e4tigkeit verurteilt.\nWir m\u00fcssen also ein Gebiet in der Sehsph\u00e4re hierf\u00fcr beanspruchen, das nur mit der dem blinden Fleck korrespondierenden Stelle des anderen Auges durch gekreuzte Fasern verbunden ist.\nEs w\u00e4re jedoch auch denkbar, dafs dem blinden Fleck im Sehzentrum kein Gebiet entspricht Die bez\u00fcglichen Anteile der korrespondierenden Netzhauth\u00e4lfte m\u00fcfste man mit den in der unmittelbaren Umgebung des Sehnerveneintritts liegenden Netzhautbezirk korrespondieren.\nSorgf\u00e4ltige Untersuchungen am Stereoskop (Haitz) oder nach der Substitutionsmethode (Hering), die diesem Punkt spezielle Aufmerksamkeit angedeihen lassen, k\u00f6nnten dar\u00fcber vielleicht Aufschlufs geben.\nWegen Mangels eines in der Selbstbeobachtung ge\u00fcbten Mitarbeiters mufste ich selbst vorl\u00e4ufig darauf verzichten, dies zu entscheiden.\nZum Schlufs wollen wir noch kurz zur Frage: Empirismus oder Nativismus Stellung nehmen.\nIch glaube, Sie werden mir alle zustimmen, wenn ich erkl\u00e4re, dafs man sich in Anbetracht all dieser Tatsachen die Verschmelzung der beiden Gesichtsfelder als etwas bei der Geburt schon Gegebenes vorstellen mufs und dafs die von mir mitgeteilte Beobachtung als eine wichtige St\u00fctze der nativistischen Theorie zu erkl\u00e4ren ist.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nErnst Freund.\nLiteratur.\nAubert, in Graefe-Saemisch Hdb. d. Augenheilk. II.\nBaas, P. Karl, Das Gesichtsfeld, Stuttgart 1896.\nFechner, Elemente der Psychophysik., Leipzig 1860.\nFechner, Abh. der kgl. s\u00e4chs. Ges. d. Wissenschaften 1860, 1861. Haitz, P. E., Klin. Monatsbl. f\u00fcr Augenheilkunde 1904.\nHeine, Archiv f\u00fcr Augenheilkunde 53.\nHelmholtz, Physiolog. Optik.\nHering, in Hermanns Hdb. d. Physiologie.\nHirth, Georg, Aufgaben der Kunstphysiologie, II. AufL.\nJodl, Friedrich, Lehrbuch d. Psychologie, II. Auf!., 1903.\nLandois, Lehrbuch d. Physiologie, 1880.\nLandolt, Archiv f\u00fcr Augenheilkunde 55, 1906.\nM\u00fcller-Pouillet, Lehrbuch d. Physik, Bd. Optik.\nHagel, Hdb. d. Physiologie d. Menschen III.\nPiper, Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorgane 31.\nPiper, Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorgane 32.\nSchiele, P. A., Archiv f\u00fcr Augenheilkunde 16, 1886.\nSchoen, P. Wilh., Lehre von den Gesichtsfeldanomalien, Berlin 1876. Tigerst\u00e4dt, Lehrbuch der Physiologie d. Menschen, Leipzig 1902. Wundt, Grundz\u00fcge der phys. Psychologie.\n(Eingegangen am 12. M\u00e4rz 1908).","page":16}],"identifier":"lit33520","issued":"1909","language":"de","pages":"1-16","startpages":"1","title":"Zur Lehre vom binokularen Sehen","type":"Journal Article","volume":"43"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:05:40.909167+00:00"}