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Untersuchungen über Farbenschwäche [Zweite, dritte Fortsetzung sowie Schluß mit Anhang: Erwiderung auf Prof. Nagels Artikel "Zur Nomenclatur der Farbensinnsstörungen", Zeitschr. f. Sinnesphysiol., 1908 , Bd. 42, S. 65-68]

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{"created":"2022-01-31T16:29:58.494160+00:00","id":"lit33527","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Guttmann, Alfred","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 43: 146-162, 199-223, 255-298","fulltext":[{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nUntersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\nVon\n<\u2022\nDr. Alfred Guttmann (Berlin).\n(Zweite Fortsetzung.)\nKapitel V.\n\u00dcber\ndie Steigerung des Farbenkontrastes beim Farbenschwachen.\nDas Auftreten subjektiver Farben in der Natur ist als Funktion des normalen Farbensinns seit alten Zeiten bekannt. Wer sieh mit Beobachtung von Farben besch\u00e4ftigt hat, kennt das Phaenomen der subjektiven Farben, die seit Lionardo\nda Vinci und Goethe \u2014 um nur zwei Namen zu nennen \u2014\n\u2022 \u2022\nbesonders in der Malerei und \u00c4sthetik als \u201eKontrastfarben\u201c und \u201efarbige Schatten\u201c eine so grofse Rolle spielen. Wenn trotzdem die Allgemeinheit der Menschen diese Erscheinung wenig beobachtet, so liegt das wohl vornehmlich an der mangelhaft geschulten Beobachtungsgabe. Ausschliefslich mit dieser Erw\u00e4gung erkl\u00e4rte ich mir nun eine Beobachtung, die ich schon seit langen Jahren gemacht hatte: dafs mir, der ich sehr viel in Malerkreisen verkehrte, und mich mit Malerei als Amateur und Sammler besch\u00e4ftige, diese Kontrastwirkung der Farben ganz besonders auffiel. In der Annahme, im Besitz eines besonders guten Farbensinnes zu sein, empfand ich h\u00e4ufig Farbenzusammenstellungen auf Gem\u00e4lden als zu krafs, \u201ezu schreiend\u201c. Auch schein-\u2022 \u2022\nbare \u00dcbertreibungen der farbigen Gegens\u00e4tze fand ich h\u00e4ufig bei einzelnen Malern; so fiel mir bei einem Portr\u00e4t, das eine \u00e4ltere Dame darstellte, die auf einem Sofa vor einem zart rosa gef\u00e4rbten Hintergr\u00fcnde safs, auf, dafs das Haar der Dame nicht graumeliert, sondern \u2014 sit venia verbo \u2014 \u201egr\u00fcnmeliert\u201c sei. Mein Bruder, der","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n147\ndas Bild zusammen mit mir betrachtete, stimmte mir vollkommen bei. Eine Anomalie seines oder meines Farbensinnes war mir bis dahin noch nie auf gef allen. Eigent\u00fcmlich war jedoch mein Verhalten, als ich kurz darauf zum erstenmal die NAGELsche Lampe beobachtete : die Rot-Gelb-Scheingleichung desDeuteranopen erschien mir zwTar ungleich, jedoch nicht: \u201erot und gelb\u201c sondern \u201erot und gr\u00fcn\u201c. Ein andermal zeigte mir Prof. Nagel gelegentlich im Earbenmischapparat ein neben einem deutlichen Pot stehendes angebliches Gelb. Die \u201egelbe\u201c Farbe war f\u00fcr mich deutlich gr\u00fcn. Diese Beobachtung gab Anlafs, meinen Farbensinn mittels der R.-D.-Gleichung zu untersuchen ; die daraufhin gestellte Diagnose gab den Anstofs zu diesen und anderen (im physiologischen Institut ausgef\u00fchrten) Untersuchungen \u00fcber anomale Trichromasie.\n\u00a7 1. Versuche mit Spektralfarben.\nDie Beobachtung von qualitativer Kontraststeigerung beim anomalen Trichromaten hatte eigentlich schon mit der Einstellung der R.-D.-Gleichung begonnen. Das Gemisch des Li : T, das f\u00fcr den Normalen dem Na-Gelb gleich war, erschien deutlich rot, das homogene gelbe Vergleichslicht daneben nicht gelb, sondern gr\u00fcn. In dem Mafse, wie die Rot-Gr\u00fcn-Mischung bei der Vermehrung des Gr\u00fcngehalts weniger rot d. h. gelber wurde, erschien auch das (subjektiv) gr\u00fcne Vergleichslicht f\u00fcr mich gelber d. h. weniger gr\u00fcn. In dem Moment, wo die Rot-Gr\u00fcn-Mischung f\u00fcr mein Auge gelb erschien, war auch das homogene gr\u00fcn erscheinende Licht zu Gelb abgeblafst. (Umgekehrt erscheint bekanntlich in der R.-D.-Gleichung dem Rotschwachen die Mischung gr\u00fcn, das Natriumgelb r\u00f6tlich). Diese kontrastive Ver\u00e4nderung des Gelb in Gr\u00fcn durch das subjektiv rote Gemisch ist meines Wissens von fr\u00fcheren Autoren vor dieser gemeinsam von Nagel und mir gemachten Beobachtung bemerkt, jedoch in seiner Bedeutung nicht erkannt worden. Man kann \u00fcbrigens, was ich hier vorausgreifend schon erw\u00e4hnen will, die Gr\u00f6fse dieser Kontraststeigerung am Spektralfarbenmischapparat messen, wenn man der Versuchsperson die Aufgabe stellt, ein m\u00f6glichst weit von einem Rot liegendes Licht einzustellen, das gelb, aber noch nicht gr\u00fcn ist. Der Normale stellt dann etwa die Gegend des Na-Gelb oder ein nur wenige k\u00fcrzerwelliges Licht ein, der Anomale ein Orangegelb. Ebenso gelingt die Messung, wenn man auf der\neinen Seite ein deutliches Rot, auf der anderen ein reines Gelb\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nAlfred Guttmann.\ndarbietet, das dem Anomalen gr\u00fcn erscheint und ihm dann die Aufgabe stellt, dem Gelb soviel Rot beizumischen, bis es neben dem deutlichen Rot \u201egelb\u201c, nicht \u201egr\u00fcn\u201c ist. Die Quantit\u00e4t des neutralisierenden Rotzusatzes ist der Ausdruck f\u00fcr das Maafs der Konstr asts t eigerung.\nOb aufser der zweifellosen Steigerung des Rot-Gr\u00fcn-Kontrastes auch eine Steigerung des Blau-Gelb-Kontrastes bei mir vorhanden ist, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Aus meinen Protokollen (Mai 1903) scheint, hervorzugehen, dafs vom Gelb aus leicht kontrastiv Blau erregt wird. Diese Versuche sind aber nicht als Parallel versuche mit einem Normalen durchgef\u00fchrt und von mir weiter sp\u00e4ter nicht fortgesetzt worden.\n\u00a7 2. Versuche mit Pigmentfarben.\nMeine ersten Versuche mit Pigmentfarben, die leichter auszuf\u00fchren und nachzupr\u00fcfen sind, als die eben beschriebenen Untersuchungen, und die darum ausf\u00fchrlicher beschrieben werden sollen, f\u00fchrte ich mit RoTHEschen Papieren in folgender Weise aus: Ich stellte mir am Farbenkreisel innen eine Grau- resp. Braunmischung her und setzte dann dem Aufsenring geringe Quantit\u00e4ten von Gr\u00fcn bzw. Rot zu. Der Minimalzusatz von Farbe, der gen\u00fcgte, um die Scheibe mit der Kontrastfarbe zu erf\u00fcllen, sollte den Mafsstab f\u00fcr die Unterschiede zwischen Normalen und Anomalen bilden. Dabei ergab sich jedoch, dafs der Normale (Dr. Piper) die zugesetzte Farbe bei sehr geringem Farbsektor erkannte, ohne dafs Kontrast eintrat, w\u00e4hrend der Anomale (Verf.) in seinen Angaben aufserordentlich schwankte : einmal blieb die objektive Farbe unbemerkt und die subjektive Farbe trat deutlich hervor, ein andermal traten bei ganz geringen Zus\u00e4tzen der objektiven Farbe, wie sie f\u00fcr den Normalen nicht im geringsten gen\u00fcgte, beide Farben, induzierende und induzierte, deutlich hervor. Die Resultate dieser Versuchsanordnung wurden also offenbar durch einen Versuchsfehler beeintr\u00e4chtigt (vgl. Kap. I, S. 38, Absatz 2). Er beruht, wie mir erst sehr viel sp\u00e4ter klar wurde, haupts\u00e4chlich auf der (im Kapitel III beschriebenen) Abh\u00e4ngigkeit des Anomalen von dem Optimum der Helligkeit bzw. S\u00e4ttigung der Farbe. Die in jenen Versuchen dargebotenen S\u00e4ttigungsgrade lagen weit unterhalb der Schwelle des Anomalen, und so bek\u00e4mpften sich die herabgesetzte Intensit\u00e4tsschwelle der Farben und der erh\u00f6hte Farbenkontrast, wobei meist der","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber F\u00e4rb en schw\u00e4che.\n149\nLetztere unterlag. F\u00fcr den Normalen war die unges\u00e4ttigte Farbe hingegen \u00fcberschwellig. Eine quantitative Messung der zweifellos konstatierten Steigerung mifslang also zun\u00e4chst.\nDie Versuehsanordnung der im Dezember 1905 wieder aufgenommenen messenden Versuche war folgendermafsen : in einem kleinen Zimmer mit weifsen W\u00e4nden war ein Kreisel mit Elektromotorbetrieb aufgestellt. Die Beleuchtung bestand in einer Kombination von drei Osram- und einer Bogenlampe. So war das Zimmer und der Kreisel sehr hell und recht gleichm\u00e4fsig beleuchtet. Die Versuchspersonen hielten sich die ganze Zeit \u00fcber in diesem Raum auf ; die Beobachtungen fanden abwechselnd statt. Als normale Versuchsperson diente Dr. Angier (gelegentlich auch Dr. Simon und der Laboratoriumsdiener), als Anomale mein Bruder Dr. jur. Walter Guttmann und ich. Die eine Reihe der Versuche war so eingerichtet: Der \u00e4ufere Ring war rot-braun, die innere Scheibe deutlich gr\u00fcn-braun. Die Aufgabe war, den Minimalsektor von Rot zu bestimmen, der das kontrastive Gr\u00fcn erregen konnte. Die absoluten Gr\u00f6fsen der gefundenen Zahlen waren je nach den benutzten Graden der S\u00e4ttigung verschieden, die Relation blieb jedoch konstant. Bei etwas unges\u00e4ttigteren (helleren) Farben brauchten die beiden Anomalen 14\u00b0 bzw. 14\u201418\u00b0 Rotzusatz, der Normale (Dr. A.) 55\u201460\u00b0, um die \u00e4ufere Scheibe als gr\u00fcn zu erkennen. Bei etwas ges\u00e4ttigteren (dunkleren) Farben brauchten die Anomalen 5\u201412\u00b0, die Normalen (Dr. A. und Dr. S.) ca. 40\u00b0 um die Kontrastfarbe auf dem Aufsenring zu erkennen. Wenn noch weniger als 5\u00b0 zugesetzt wurde, war auch f\u00fcr die Anomalen des Urteil unsicher : der Ring mit Rotzusatz wird f\u00fcr rotbraun erkl\u00e4rt, die Scheibe wird \u201evielleicht neutral\u201c genannt. Wird gar kein Rot zugesetzt, so erscheinen beide Fl\u00e4chen gleich; mit anderen Worten: der gelb-gr\u00fcne Ton wird ohne Kontrast \u00fcberhaupt nicht bemerkt. Bei anderen Versuchen mit derartigen rot-braunen und gr\u00fcnbraunen Mischungen z. B. (185\u00b0 rot + 70\u00b0 gelb + 105\u00b0 schwarz) wird daneben (70\u00b0 rot + 120\u00b0 gelb 170\u00b0 schwarz) immer noch als \u201ereines Gelb, eher mit einer Spur Gr\u00fcn als mit einer Spur Rot\u201c bezeichnet. Um zu eruieren, ob der zweifelhafte Kontrasterfolg etwa auf der zu grofsen Farbigkeit der zu induzierenden Scheibe bestand, ersetzte ich diese durch eine entsprechende helligkeitsgleiche Grauscheibe. Diese Grauscheibe wurde jedoch von beiden Kategorien von Versuchspersonen \u201eblaugrau\u201c, nicht \u201egr\u00fcn-","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nAlfred Guttmann.\ngrau\u201c genannt. Daraus war also zu entnehmen, dafs in der induzierenden unges\u00e4ttigten Farbmischung die gelbe Komponente st\u00e4rker kontrasterregend, als die rote war. Infolgedessen steigerte ich den Rotgehalt des \u00e4ufseren Ringes auf Kosten des Gelb (280\u00b0 rot -f- 80\u00b0 schwarz). Die Farbe war nun leuchtend rot. Und damit kam ich endlich zu ganz eindeutigen Resultaten. Setzte ich n\u00e4mlich nun eine, isoliert gesehen, orangebraune Mischung auf der Innenscheibe zusammen (65\u00b0 rot -(- 90\u00b0 gelb-f-205\u00b0 schwarz) ; so erschien sie innerhalb des roten Ringes dem Normalen deutlich r\u00f6tlich gelb, dem Anomalen deutlich gr\u00fcnlichgelb! Um die Gr\u00f6fse dieses Unterschiedes zu messen, steigerte ich nun f\u00fcr den Anomalen den Rotzusatz der Innenscheibe so lange, bis sie ihm nicht mehr gr\u00fcnlichgelb, sondern neutral erschien. Die gemessene Grad zahl des Rotsektors wurde notiert. F\u00fcr den Normalen aber verminderte ich den Rotzusatz dieser Scheibe so weit, bis sie ihm innerhalb des Rot durch Kontrast gr\u00fcn erschien; zur\u00fcckgehend fand ich dann die ihm neutral erscheinende Umschlagstelle. Die Differenz der gefundenen Zahlen dr\u00fcckte direkt den graduellen Unterschied zwischen dem Kontrast des Normalen und des Anomalen aus. F\u00fcr die von mir gew\u00e4hlten, oben angegebenen Farbenmischungen ergab sich, dafs der Normale vom Rot Kontrast erh\u00e4lt, wenn man der Gelbscheibe bis 35\u00b0 Rot zusetzt; steigert man den Rotgehalt weiter, so erscheint diese Scheibe \u201eorangefarben\u201c. Der Kontrast des Anomalen dagegen ist so gesteigert, dafs dem Gelb \u00fcber 100\u00b0 Rot zugesetzt werden kann, ehe es \u201eorangefarben\u201c erscheint. Alle Mischungen, deren Rotsektor zwischen 35\u00b0 und 100\u00b0 betr\u00e4gt, erscheinen also neben einem deutlichen Rot dem Normalen r\u00f6tlichgelb, dem Anomalen gr\u00fcnlichgelb. Genaue Schwellenwerte anzugeben, er\u00fcbrigt sich in Hinblick auf die Abh\u00e4ngigkeit von den wechselnden Lichtquellen und Papieren, sowie in Anbetracht der von der jeweiligen Intensit\u00e4t der beiden Farben abh\u00e4ngigen offenbar aller komplizierten Verh\u00e4ltnisse, wie sie wiederholt auch von anderen Autoren beim Normalen konstatiert worden sind.\nVom Gr\u00fcn aus die Rotempfindung kontrastiv zu erregen, war wegen der aufserordentlichen Labilit\u00e4t der Gr\u00fcnempfindung schwieriger. Trotzdem kann ich mit Sicherheit sagen, dafs auch vom Gr\u00fcn aus der Kontrast gesteigert ist. Der kontrasterregende Ring war m\u00f6glichst ges\u00e4ttigt zusammen gesetzt : 322\u00b0 gr\u00fcn -j- 8\u00b0 weifs -f- 30\u00b0 schwarz; die innere Scheibe war","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n151\nzun\u00e4chst grau (schwarz + weifs) und etwa helligkeitsgleich. Sie erschien den Normalen wie den Anomalen r\u00f6tlich. Wiederum mafs ich die St\u00e4rke der Kontrasterregung dadurch, dafs ich das subjektive Rot durch objektiven Gr\u00fcnzusatz neutralisierte. F\u00fcr den Normalen (Institutsdiener) konnte man bis 40\u00b0 Gr\u00fcn zusetzen, ehe die Scheibe ihren r\u00f6tlichen Charakter verlor, bei 45\u00b0 erschien sie grau und bei 50\u00b0 graugr\u00fcn, bei weiterem Zusatz deutlich gr\u00fcn. F\u00fcr den Anomalen dagegen (Yerf.) konnte man bis 50\u00b0 Gr\u00fcn zusetzen, ohne dafs sie ihren Rotcharakter verlor. Bei 65\u00b0 Zusatz erschien sie \u201egrau mit einer Spur r\u00f6tlich\u201c, bei 70\u00b0 Gr\u00fcnzusatz erschien sie dagegen \u201egrau\u201c ; diesen Eindruck erweckte sie auch bei weiterem Gr\u00fcnzusatz bis 100\u00b0. Den Versuch so lange fortzusetzen, bis die Scheibe als \u201egr\u00fcn\u201c bezeichnet wurde, war im Rahmen dieser Versuchsreihe unn\u00f6tig, da es nur darauf ankam, den Minimalzusatz zu bestimmen, wo die Scheibe \u201enicht mehr r\u00f6tlich\u201c erschien; man h\u00e4tte f\u00fcr den Anomalen vielleicht bis 322\u00b0 gr\u00fcn zusetzen m\u00fcssen, ehe er \u201egr\u00fcn\u201c geurteilt h\u00e4tte. Die Vergleichszahlen, wobei f\u00fcr Beide das Gr\u00fcn keinen Kontrast mehr ausl\u00f6st, sind also : 45\u00b0 beim Normalen, 70\u00b0 beim Anomalen. In einem anderen Parallelversuch brauchte der Normale (Dr. A.) 55\u00b0, der Anomale (Dr. W. G.) 85\u00b0 Gr\u00fcn.\nAus diesen beiden Versuchsarten ergibt sich also, dafs der Farbenkontrast f\u00fcr den Gr\u00fcnschwachen sowohl vom Rot, wie vom Gr\u00fcn gesteigert ist, jedoch in h\u00f6herem Mafse vom Rot aus. Diese Eigent\u00fcmlichkeit habe ich auch beim Rotschwachen gefunden, jedoch nicht quantitativ bestimmt. Ich konnte sie f\u00fcr einen Demonstrationsversuch in sehr instruktiver Weise ausnutzen. Ich stellte zwei gleichm\u00e4fsig beleuchtete Kreisel auf; aufsen befand sich beiderseits ein leuchtendes Rot, innen eine Graumischung. Nun setzte ich auf einem der Kreisel der Graumischung so viel Rot zu, wie gerade noch anging, um sie f\u00fcr alle anwesenden Normalen durch Kontrast gr\u00fcn erscheinen zu lassen. Nachdem ich diesen Kreisel verdeckt hatte, setzte ich der Graumischung des anderen Kreisels so viel Rot zu, bis die im Saal anwesenden Anomalen \u2014 es waren deren, und zwar von beiden Kategorien eine ganze Anzahl \u2014 erkl\u00e4rten, dies sei ,,eben noch gr\u00fcn\u201c. Als ich nun beide Kreisel, deren beide Aufsenringe also ein identisches deutliches Rot zeigten, w\u00e4hrend die innere Scheibe des einen etwa 30\u00b0 Rot","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nAlfred Guttmann.\n(+ Gb. -f- Schw.), die des anderen etwa 90\u00b0 Rot (-f- Gb. -j- Schw.) enthielt, gleichzeitig nnyerdeckt in Bewegung setzte, war der Unterschied zwischen den Kontrastfarbenpaaren der beiden Kreisel ganz \u00fcberraschend. Die Normalen konnten sehen, dafs die Anomalen \u201erot und gr\u00fcn\u201c nannten, was f\u00fcr sie nur zwei verschiedene S\u00e4ttigungsgrade eines und desselben Rot darstellte, w\u00e4hrend die Anomalen sahen, welche kolossalen Kontraste von den Normalen als \u201eeben bemerkbar\u201c bezeichnet wurden. Ich kann diesen Versuch als Massenversuch auch zur Erkennung anomaler Trichromaten in einem gr\u00f6fseren Auditorium empfehlen, nachdem ich dadurch wiederholt angebliche Normale \u201eentlarvt\u201c habe.1\nDas Zustandekommen des gesteigerten Kontrastes der Anomalen kann durch kleine Hilfsmittel erleichtert werden, deren ich mich auch h\u00e4ufig bediente. Der Kontrast ist ja in erster Linie \u201eRandkontrast\u201c; wenn die Versuchsperson also dicht vor einer relativ grofsen Scheibe sitzt und den Blick schwanken l\u00e4fst, so f\u00e4llt die induzierende Farbe h\u00e4ufig so weit in die, beim Anomalen abnorm nahe der Fovea beginnenden dichromaten\u00e4hnlichen Netzhautperipherie (vgl. Kap. Ill, S. 262), dafs sie unter die Farbenschwelle sinkt, also keinen Kontrast ausl\u00f6sen kann. Sodann kommt bei Blickschwankungen ja das \u201eNachbild\u201c (Sukzessivkontrast) auf die andere Scheibe, wodurch die Verh\u00e4ltnisse, je nach der zeitlichen Phase des Nachbildes, in unkontrollierbarer Weise beeinflufst werden. Es ist also in unsicheren F\u00e4llen bei Benutzung grofser Fl\u00e4chen (rotierender Kreisel u. dgl.) gut, die Anomalen durch ein Rohr sehen zu lassen, dafs aus der ganzen Fl\u00e4che nur einen Kreis an der Ber\u00fchrungslinie von Scheibe und Ring ausschneidet. Man kann auch einfach den Anomalen an weisen, jene Grenze zu beobachten und die \u00e4ufseren Teile des Ringes, die ja kontrastiv weniger beeinflufst werden, zu vernachl\u00e4ssigen. Daher ist es auch besser, auf dem \u00e4ufseren Ring die kontrasterregende Farbe, auf der inneren Scheibe die kontrastleidende Farbe anzubringen. Selbstverst\u00e4ndlich lassen sich alle derartigen Versuche auch als Nachbildversuche ausf\u00fchren. Die Deutung ist dann aber schwieriger und die Resultate sind nicht quantitativ mefsbar.\nExperimentell von grofser Wichtigkeit ist die Helligkeitsgleichheit der beiden Fl\u00e4chen; ich komme im n\u00e4chsten Kapitel (VI.) ausf\u00fchrlich darauf zur\u00fcck. Mit der Benutzung von Brillengl\u00e4sern, die die Refraktion meines Auges stark ver\u00e4nderten, kam ich zu dem Resultat, dafs die Kontraststeigerung dadurch \u2014 in bisher unkontrollierbarer Weise \u2014 verhindert wurde.\nEs ergibt sich aus dem Vorhergehenden ohne weiteres,\n1 Man mufs nur ja daf\u00fcr Sorge tragen, dafs das Rot auch hell genug ist; sonst erregt es wohl beim Gr\u00fcnschwachen, nicht aber beim Rotschwachen Kontrast. Auch m\u00fcssen die Fl\u00e4chen grofs genug sein.","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber F\u00e4rb en schw\u00e4che.\n153\nwelche grofse Rolle diese Kontraststeigerung in den Farbenempfindungen der Anomalen spielt, und welche Bedeutung sie f\u00fcr die Diagnostik hat. Die Steigerung des Rot-Gr\u00fcnkontrastes habe ich bei allen von mir untersuchten Farbenschwachen beider Typen stets gefunden. Darum ist Nagels Lampe ein vorz\u00fcgliches Mittel zur Diagnostizierung der anomalen Trichromaten, obgleich sie ja urspr\u00fcnglich gar nicht f\u00fcr diesen Zweck konstruiert war. Den gesteigerten Kontrast benutzte Nagel dagegen bewufst bei seinen neuen diagnostischen Tafeln. Auch bei anderen Untersuchungsmethoden spielt die Steigerung des Kontrastes eine Rolle, z. B. bei Stillings Tafeln. Dafs die Anomalen diese Zahlen nicht lesen k\u00f6nnen, beruht wohl, wie oben (S. 268) ausgef\u00fchrt, in erster Linie darauf, dafs die einzelnen Punkte zum gr\u00f6fsten Teil zu dunkel oder unges\u00e4ttigt sind. Dazwischen stehen nun freilich leuchtend farbige (rote) Punkte. Diese wirken ihrerseits erschwerend auf die Erkennung der benachbarten rotbraunen oder grauroten Punkte indem sie diese durch Kontrast gr\u00fcn erscheinen lassen : dadurch wird das die Zahlenlinien verfolgende Auge aus der Richtung abgelenkt. Auf die Wechselbeziehungen zwischen Kontrast s t e i g e-rung und h e r a b g e s e t z t e r Intensit\u00e4tsschwelle habe ich schon oben (vgl. S. 265 f. sowie S. 148) hingewiesen. Hierher geh\u00f6rt die paradoxe Erscheinung, dafs der sogenannte \u201eFlorkontrast\u201c beim Anomalen herabgesetzt ist. Bekanntlich wird hierbei ein graues, auf einer farbigen Fl\u00e4che befindliches Papierschnitzel vom normalen Auge in der Kontrastfarbe gesehen, wenn das Ganze mit Florpapier \u00fcberdeckt wird. Diesen Kontrast hat jedoch der\nAnomale nicht! Die Ursache sehe ich darin, dafs infolge der\n\u2022 \u2022 _______________\nLTberdeckung mit Florpapier die kontrasterregende Farbenfl\u00e4che des Grundes ganz unges\u00e4ttigt erscheint und dadurch so \u2022 stark unterschwellig wird, dafs sich kein Kontrast entwickeln kann.1 2 Wie schon Hering 2 nachgewiesen hat, \u201ew\u00e4chst die Deutlichkeit der Kontrastfarbe bis zu einer gewissen Grenze mit der S\u00e4ttigung der induzierenden Farbe ; \u00fcber diese Grenze hinaus ist eine\n1\tWie aus der Arbeit von Nagel (Fortgesetzte Untersuchungen usw.) ersichtlich ist, hat er in seinem Laboratorium noch speziellere Untersuchungen anstellen lassen, von denen er die gew\u00fcnschte Aufkl\u00e4rung erhofft (a. a. O. S. 271). Mir scheint, dafs der negative Ausfall des Flor-kontrasts sich sehr einfach erkl\u00e4ren l\u00e4fst.\n2\tHering. Archiv f. d. gesamte Physiologie 41, 23.","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nAlfred Guttmann.\nZunahme der Kontrastfarbe nicht mehr deutlich . . .\u201c Dasselbe fanden Pretori und Sachs 1, die beim Normalen auch noch Wechselbeziehungen zwischen Farbenkontrast und Helligkeits-Verh\u00e4ltnissen fanden. Die hier beschriebene, von mir gefundene Abh\u00e4ngigkeit des Kontrastes der Anomalen von S\u00e4ttigung und Intensit\u00e4t (Helligkeit) der Farbe geht aber, analog der er im vorigen Kapitel beschriebenen Abh\u00e4ngigkeit vom Intensit\u00e4tsoptimum, nach beiden Dichtungen \u00fcber diese normalen, \u201ephysiologischen\u201c Schwankungen hinaus.\nDer ausf\u00fchrlichsten mir bekannten Literaturangabe, die sich in der Arbeit v. Tschermak \u00fcber \u201eKontrast und Irradation\u201c2 findet, entnehme ich, dafs Studien \u00fcber Anomalien der Kontrastfunktion nicht bekannt sind; v. Tschermak selbst hat auch nur an eine Abnahme der Kontrastfunktion gedacht. Er hat dabei eine kurze Notiz bei Donders \u00fcbersehen, wTonach dieser 1878 die Beobachtung gemacht hat, dafs seine \u201epseudoisochromatischen Muster\u201c 3 von den \u201eunvollkommen Kot- oder Gr\u00fcn-Blinden\u201c falsch erkannt wurden : bei weitem die meisten Streifen wurden gesehen, aber statt hell oder dunkel als von verschiedener Farbe bezeichnet. Offenbar ist das nichts anderes als Kontraststeigerung bei anomalen Trichromaten. Abgesehen von dieser kurzen, in der Literatur auch sonst meines Wissens nicht beobachteten Bemerkung kenne ich keine Untersuchung fr\u00fcherer Autoren \u00fcber Kontraststeigerung. Die von G. E. Mueller auf dem Giefsener Kongrefs in der Diskussion 4 vorgetragenen Mitteilungen \u00fcber Kontraststeigerung resp. Nachbildversuche bei Schumann sind leider sehr kurz ; die Resultate gleichen meinen eigenen. Man mufs ihre Diskussion jedoch so lange vertagen, bis beide Autoren sich ausf\u00fchrlich zur Sache ge\u00e4ufsert haben. Die spezielle Besprechung der von resp. an Schumann ausgef\u00fchrten Kontrastversuche werde ich im Zusammenh\u00e4nge im Kap. X geben. Von sp\u00e4teren Versuchen nenne ich zuerst die schon zitierten NAGELschen Untersuchungen \u00fcber das Verhalten von Anomalen gegen zwrei gleichzeitig dargebotene Signallichter, die genau zu den gleichen Resultaten\n1\tSachs. Archiv f. d. gesamte Physiologie 60, 71.\n2\tErgebnisse der Physiologie 22. Jahrg., 2. Abt. 1903. S. 726.\n3\tDonders. Pseudo-isochromatische Muster. (Es sind dies Wollf\u00e4den, die die Verwechslungsfarben der Dichromaten repr\u00e4sentieren und abwechselnd mit farblosen, dazwischenliegenden F\u00e4den auf St\u00e4bchen gewickelt sind.)\n4\tKongrefsbericht a. a. O. S. 20.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber F\u00e4rbenschiv\u00e4che.\n155\nf\u00fchrten, wie meine eigenen, fr\u00fcheren Versuche (vgl. Kap. IV, S. 260f. dieser Arbeit).\nAusf\u00fchrlicher mufs ich dagegen eine Arbeit von Raehlmann1 besprechen, die sich angeblich mit Kontrastversuchen bei anomalen Trichromaten besch\u00e4ftigt und zu ganz anderen Resultaten kommt, als die obigen Versuche. R. macht in dieser Arbeit darauf aufmerksam, dafs er seit 1872 auf die H\u00e4ufigkeit dieser Anomalie hingewiesen habe, die er bei 30\u201433 \u00b0/0 aller Menschen f\u00e4nde ; sp\u00e4ter h\u00e4tten dann \u201eRayleigh und Kries\u201c in exakterer Weise dargetan, wie diese Personen mit der bekannten R : Gr.-Gleichung erkannt w\u00fcrden, \u2014 \u201esodafs fast bei allen Menschen Verschiedenheiten der Empfindung gegen diese Farben angenommen werden m\u00fcsse\u201c. Wenn man den Gr\u00fcnden dieser zun\u00e4chst ganz unfafsbaren Folgerung genauer nachgeht, so findet man in R.s fr\u00fcheren Arbeiten Anhaltspunkte. In der Tat hat R.2 im Jahre 1876 zwei zweifellose anomale Trichromaten untersucht und die Ergebnisse unter der Rubrik \u201e\u00fcber den Farbensinn in leichteren F\u00e4llen von Daltonismus\u201c gebucht. Beide Personen verwechseln Gelb und Gr\u00fcn, Blau und Violett h\u00e4ufig, besonders bei starken Lichtintensit\u00e4ten ; ferner zeigt sich eine Unsicherheit besonders in den \u25a0 \u2022\nUbergangst\u00f6nen. R. fand dabei auch die Farbenfelder des Spektrums ver\u00e4ndert; d. h. Gelb und Blau waren auf Kosten des Gr\u00fcn erweitert.\nDies letztere Moment ist nat\u00fcrlich \u00e4ufserst unsicher; wir finden es bei Normalen so gut wie bei Anomalen, weil es eben auch auf Differenzen der Benennung beruhen kann, nicht aus-schliefslich auf Differenzen der Empfindung beruhen mufs. Leider hat R. aber seit dieser Zeit gerade dies akzidentelle Moment als Kriterium benutzt, ob ein Farbensinn \u201eanomal\u201c sei. Da er in seinen sp\u00e4teren Arbeiten niemals die R.-D.-Gleichung als diagnostisches Mittel anwendet und auch alle wichtigen einschl\u00e4gigen Arbeiten offenbar nur ganz ungenau nach Referaten kennt3, so wirft er alle Personen, bei denen er mit unzuver-\n1\tRaehlmann. Abnorme Empfindung des simultanen Kontrastes und der unteren Reizschwelle f\u00fcr Farben bei St\u00f6rungen des Farbensinns. Pfl\u00fcgers Archiv 102. 1904. S. 543\u2014568.\n2\tRaehlmann. \u00dcber den Daltonismus und die YouNGsehe Farbentheorie. Graefes Archiv 22, bes. S. 39ff.\n3\tRaehlmann identifiziert z. B., worauf schon Kagel hingewiesen hat. der Symptomenkomplex der HERiNGSchen Blau-Gelb-Biinden mit dem der","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nAlfred Guttmann.\nl\u00e4ssiger Methode* 1 irgendwie abweichende Benennungen eruiert, in den Sammeltopf der von ihm \u201eseit 30 Jahren studierten anomalen Trichromaten und Farbenschwachen\u201c. Dafs er nun unter diesem Material in bezug auf Farbenkontrast (wie untere Reizschwelle) die gr\u00f6fsten Differenzen findet, ist selbstredend. Dafs er diese Verschiedenheiten f\u00e4lschlich den anomalen Trichromaten yindiziert, ergibt sich aus seiner verfehlten Untersuchungsmethodik. R. beschreibt sodann einen von seinen sogenannten anomalen Trichromaten, bei dem sich besonders der vom Gelb, erzeugte Kontrast auf 1/10 herabgesetzt zeigte. Die Diagnose wird folgendermafsen gestellt: der betr. Herr verwechselt bisweilen, doch verh\u00e4ltnism\u00e4fsig selten die Farben, \u2014 von Stillings isochromatischen Tafeln erkennt er aber nur Tafel I und X. Lichtsinn f\u00fcr weifses Licht normal, f\u00fcr Gelb etwas geringer, f\u00fcr Blau etwas h\u00f6her als normal. Bei Benutzung gelber Gl\u00e4ser sieht er \u201ehalb so gut\u201c als das Normalauge, bei blauen Gl\u00e4sern ebenso gut. \u2014 Das ist alles! Es fehlt jeder Beweis, dafs dieser Fall ein anomaler Trichromat war, alle Angaben sprechen direkt dagegen. Weitere F\u00e4lle werden nicht beschrieben. Somit entfallen alle von Raehlmann \u00fcber den mitunter erh\u00f6hten, mitunter verminderten Farbenkontrast der anomalen Trichromaten aufgestellten Behauptungen. Es ist aufserordentlich bedauerlich, dafs sich R. nicht genauer \u00fcber die einschl\u00e4gigen farbentheoretischen Fragen informiert hat ; so k\u00f6nnen auch seine Versuchsergebnisse an \u201eFarbenschwachen\u201c dort, wo sie mit denen anderer Forscher \u00fcbereinstimmen, nur mit Vorbehalt ber\u00fccksichtigt werden. Z. B. findet R. (ebenso wie Verf.) bei seinen \u201eanomalen Trichromaten\u201c eine Alteration der unteren spezifischen Farbenschwelle. Dagegen steht die Statistik R.s,2 wonach 1/8 aller Menschen anomale Trichromaten sein m\u00fcfsten, im\nProtanopen und Deuteranopen. Er behauptet ferner: \u201edie physiologische Forschung habe von diesen anomalen Farbensystemen lange Jahre keine Notiz genommen\u201c, weil sie f\u00fcr die Vertreter der modernen Farbentheorien sehr unbequem gewesen seien. Dahin geh\u00f6re auch der Farbenkontrast, der jeder theoretischen Deutung \u201espotte\u201c. Kurz danach sagt er jedoch, \u201egegen die Annahme, dafs es sich bei den Kontrasterscheinungen um zentrale Vorg\u00e4nge handle, sei nichts einzuwenden\u201c usw.\n1\tRaehlmann untersucht den Farbensinn bei Dunkeladaption.\n2\tRaehlmann gibt aufser dieser Zahl nichts \u00fcber den Umfang und irgendwelche Einzelheiten (Methodik u. dgl.) seinen statistischen Untersuchungen an.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n157\nkrassesten Gegensatz zu meinen eigenen Massenuntersuchungen. (Genaueres dar\u00fcber im Kap. IX.)\nEine Arbeit von Heine und Lenz 1 geh\u00f6rt noch hierher, obgleich sie angeblich nur den Kontrast des Normalen behandelt. Die Verfasser haben sich derselben Methodik bedient, wie ich sie zuerst anwendete und dann als zu fehlerhaft aufgab (vgl. S. 2\u20143 dieses Kapitels). Ja, die Methode ist insofern noch unbrauchbarer, als Verfasser den Farbsektor allm\u00e4hlich w\u00e4hrend des Einzelexperimentes steigerten und den Versuchspersonen auf-gaben, mit dem Blick zu wandern.1 2 Die Resultate, die Heine und Lenz erhielten, sind denn auch in der Tat zun\u00e4chst kaum brauchbar; so fanden sie z. B. bei minimalem Farbzusatz h\u00e4ufig, dafs die Kontrastfarbe viel fr\u00fcher bemerkt wurde, als die objektive Farbe. Diese und andere paradoxe Resultate, die durchaus im Widerspruch mit allen fr\u00fcheren beim Normalen ausgef\u00fchrten Kontrastversuchen stehen und auch theoretisch unverst\u00e4ndlich sind (dagegen z. gr. T. mit meinen an Anomalen gefundenen Resultaten \u00fcberemstimmen), veranlafsten indessen die Autoren nicht, nach einer besseren Methode zu suchen, obgleich sie die Fehlerquellen, z. T. wenigstens erkannten. Sie rechneten vielmehr ihre Resultate in dem Sinne um, dafs sie das Auftreten der Farbenempfindung bei Minimalzusatz als gleichwertig annahmen, gleichg\u00fcltig ob die Farbe zuerst in der objektiv farbigen Scheibe oder im subjektiv (kontrastiv) farbig erscheinenden Ring gesehen wurde. Die so erhaltenen Kurven zeigen nun aber einige mir ganz unverst\u00e4ndliche Abweichungen. Kurve X zeigt z. B. : \u201eeinen v\u00f6lligen Gr\u00fcndefekt. Sehr interessant ist jedoch, dafs hier Gr\u00fcn zwar nicht als solches, wohl aber als Kontrast zum Rot erkannt oder wenigstens benannt wurde.\u201c \u2014 \u201eIn einem anderen Falle wurde Gr\u00fcn \u00fcberhaupt nicht gesehen\u201c \u2014 \u201eschliefslich beobachteten wir einen Fall, wo Gr\u00fcn \u00fcberhaupt nicht, Rot nur als Kontrast unterschieden wurde\u201c (a. a. O. S. 14). \u2014 Es handelt sich, wie die Verfasser wiederholt betonen, um \u201eminimale S\u00e4ttigungen\u201c. Aber wenn einzelne Versuchspersonen Gr\u00fcn schon bei einem Zusatz von 60 des Gr\u00fcnsektors erkennen konnten, andere jedoch selbst bei 360\u00b0 Zusatz \u00fcberhaupt nicht, allein wohl aber als Kontrastfarbe zum Rot, so halte ich den Schlufs,\n1\tHeine und Lenz. \u00dcber Farbensehen besonders der Kunstmaler. Jena 1907.\n2\tYgl. hierzu S. 152, Absatz 2.","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nAlfred Guttmann.\ndafs die \u201egefundenen Schw\u00e4chen . . . ganz aufserordentlich gering sind im Vergleich zu den v\u00f6lligen Defekten der Dichromaten und sogenannten anomalen Trichromaten\u201c (a. a. O. S. 23) nur f\u00fcr erkl\u00e4rlich durch den Mangel genauerer Kenntnis der Anomalen; Verff. rechnen sie n\u00e4mlich zu den \u201epartiell Farbenblinden\u201c, erw\u00e4hnen jedoch (S. 32), dafs sie keine Erfahrung dar\u00fcber h\u00e4tten.1\nDas sind also Resultate, wie sie noch von keinem Untersucher bei Normalen gefunden worden sind. Ein Vergleich mit den von mir gefundenen Zahlen zeigt aber v\u00f6llige \u00dcbereinstimmung mit dem Kontrast der anomalen Trichromaten (meines Typus). Angesichts dieser Tatsachen gibt es nur folgende Erkl\u00e4rungsm\u00f6glichkeiten : 1. Die von Heine und Lenz beim Normalen konstatierten Kontrastanomalien sind nur infolge fehlerhafter Versuchsanordnung gefunden. 2. Jene Versuchspersonen sind anomale Trichromaten gewesen. Heine und Lenz verneinen letzteres zwar ganz ausdr\u00fccklich unter Hinweis auf den negativen Ausfall einer Pr\u00fcfung mittels der NAGELschen Tafeln? Indessen sehe ich keine andere Erkl\u00e4rungsm\u00f6glichkeiten. Dagegen wird fast alles erkl\u00e4rt, wenn man bei diesen Personen anomale Trichromasie ann\u00e4hme.2\nNoch einen Punkt der HEiNE-LENzschen Versuche m\u00f6chte ich erw\u00e4hnen: Kurve VII zeigt einen eigent\u00fcmlichen Defekt im Blaugr\u00fcn, Blau, Violett bei einer Malerin, die auch spontan angab, f\u00fcr Blau ein weniger feines Empfinden zu haben, als f\u00fcr andere Farben. Ob man dabei an Violettschw\u00e4che denken soll?\nAn dieser Stelle sei auch noch jenes erw\u00e4hnten Befundes von Collin und Nagel (a. a. 0.) gedacht, deren einer Patient im Laufe der Rekonvaleszenz zwischen dem Stadium der Trita-nopie und Farbent\u00fcchtigkeit ein \u201eviolettanomales\u201c Stadium, wenn man so sagen will. Dabei zeigte sich auch eine Steigerung\n1\tAuch sonst sind Verff. \u00fcber die Literatur schlecht unterrichtet, wenn sie annehmen, dafs die anomalen Trichromaten \u201eerst in den letzten Jahren von v. Kries, Nagel und deren Sch\u00fclern untersucht sind\u201c. Ebenso nehmen Heine und Lenz an, dafs \u00f6fters behauptet w\u00fcrde, die Frauen h\u00e4tten einen etwas schlechteren Farbensinn als die M\u00e4nner. Ich finde \u00fcberall in der Statistik die entgegengesetzte Behauptung (siehe auch unter Kap. IX S. 38 dieser Arbeit).\n2\tManches kommt nat\u00fcrlich auf das Konto der fehlerhaften Methodik.","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n159\ndes Farbenkontrastes zwischen Violett nnd Blau, welch letzteres durch Kontrast \u201egr\u00fcn\u201c erschien.1 2\nMeine eigenen Versuchsergebnisse werfen vielleicht etwas Licht auf das komplizierte Problem der Lokalisation des Farbenkontrastes. Die fr\u00fcher diametral entgegenstehenden Behauptungen von Helmholtz und Hering sind durch die jetzigen Hauptvertreter beider Lehren modifiziert und einander gen\u00e4hert, v. Kries 2 nimmt an, dafs man die HELMtiOLTzsche psychologische Kontrasttheorie in folgender Weise modifizieren mufs : Helmholtz w\u00fcrde wohl selbst statt der Annahme, das Kontrastph\u00e4nomen beruhe auf psychologischer Basis, nach den heutigen Anschauungen sagen, es beruhe auf \u201everwickelten interkortikalen Vorg\u00e4ngen\u201c. Leider sei es nicht ang\u00e4ngig, die hergebrachten antithetischen Bezeichnungen psychologisch-physiologisch durch andere, \u201eeinen greifbaren anatomischen Gegensatz bedeutende\u201c zu ersetzen. In der Hering-schen allgemeinen Fassung, \u201eob \u00fcberhaupt eine direkte Wirkung des Lichtes auf die nicht von ihm getroffenen, sondern den belichteten nur mehr oder weniger benachbarten Stellen in der allgemeinen Art des von Hering angenommenen Zusammenhanges anzunehmen sei\u201c, \u2014 m\u00fcsse diese Frage zweifellos bejaht werden. Kries suspendiert ein Urteil, weil eine sichere Entscheidung in der Hinsicht, wie weit physiologische, wie weit psychologische (sive intercorticale) Momente dabei mitspielen, vorl\u00e4ufig ganz unm\u00f6glich sei. Wie man sieht, modifiziert Kries die IlELMHOLTzsche Theorie doch so erheblich, dafs man Tschermak nicht unbedingt zustimmen kann, wenn er sagt, \u201eKries habe sich im wesentlichen der psychologischen Theorie von Helmholtz angeschlossen\u201c. Tschermak selbst formuliert die jetzige Fassung der HERiNGschen Theorie folgendermafsen : \u201eDer Kontrast findet pr\u00e4terminal statt, d. h. nicht in der psychophysischen Sph\u00e4re, aber auch sicher nicht ausschliefslich in der Netzhaut, wenn auch vorwiegend in dem Gebiet mit Sonderung der beiden Sehorganh\u00e4lften\u201c (a. a. O. S. 796). Hering habe\n1\tWie mir Herr cand. phil. Koffka, ein von mir bei den oben (Seite 6) beschriebenen Versuchen mittels des Kontraktes eruierter Rotschwachen, freundlichst mitteilt, hat er in letzterer Zeit an sich selbst systemat. (qualitative) Versuche \u00fcber Kontraktwirkung durch das ganze Spektrum angestellt. Die Arbeit erscheint in dieser Zeitschrift; ihre Resultate stimmen mit den meinen \u00fcberein.\n2\tNagels Handbuch a. a. 0. 3, I, S. 237 ff.","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nAlfred Guttmann.\n\u00fcbrigens nie die Kontrasterscheinung ausschliefslich in die Netzhaut verlegt. Die von Tschermak angef\u00fchrten Gr\u00fcnde f\u00fcr die Einengung der Lokalisation des Kontrastes sind folgende : einmal bestehe die M\u00f6glichkeit einer binokularen Mischung von Kontrastfarben ; damit sei bewiesen, dafs der Kontrast zentralw\u00e4rts von der Endigung des Tractus opticus stattfinden k\u00f6nne ; andererseits sei der Kontrast auch zu konstatieren in Aufnahmegliedern der Sehelemente, da sich Konstrasterscheinungen auf Netzhautstellen nachweisen lassen, die pathologischer- oder normalerweise (totales Farbenskotom und blinder Fleck) farbenblind sind.\nWenn sich nun experimentell feststellen liefse, dafs der binokular erregte Kontrast beim Anomalen nicht gesteigert ist, so w\u00fcrde sich daraus ergeben, dafs die Steigerung des Kontrastes peripherw\u00e4rts von der Kreuzung der Optikusfasern entstehen mufs. F\u00fcr diese Hypothese spricht auch eine schon oben (Kap. Ill, S. 253 f.) erw\u00e4hnte Beobachtung, dafs die Unterschiedsempfindlichkeit der Anomalen in einem foveagrofsen, kreisf\u00f6rmigen Feld geringer ist, als in einem gleich grofsen oder sogar etwas kleineren, ringf\u00f6rmigen, zirkumfovealen Feld. Ich sprach oben von der M\u00f6glichkeit, dafs die Form der Farbfl\u00e4che dabei eine Rolle spielen k\u00f6nne (S. 255). Wenn wir n\u00e4mlich annehmen, dafs die Kontraststeigerung der ringf\u00f6rmigen Fl\u00e4che durch die sehr viel zahlreicheren Netzhautelemente der Nachbarschaft die induzierende Farbe durch ihre Kontrasterregung besser unterst\u00fctzt, als es einer gleichf\u00f6rmigen und nur von wenigen Netzhautelementen kontrastiv erregbaren Fl\u00e4che m\u00f6glich ist, so w\u00fcrde diese Differenz in einfacher Weise erkl\u00e4rt. Indessen bin ich weit davon entfernt, zu behaupten, dafs diese Erkl\u00e4rung hiermit bewiesen sei. Vielmehr glaube ich mit Kries, dafs gerade auf dem Gebiete der Kontrasterscheinungen man zur Zeit ganz besonders vorsichtig mit I olgerungen sein mufs. Indessen scheint mir gerade eine genauere Untersuchung der quantitativen Verh\u00e4ltnisse des gesteigerten Kontrastes f\u00fcr sehr aussichtsreich.1\nDas Symptom des gesteigerten Farbenkontrastes der anomalen Trichromaten ist noch in einer anderen Beziehung eigenartig. W\u00e4hrend jedes der bisher besprochenen Symptome stets eine\nG. E. M\u00fcller hat \u00fcbrigens aus seinen Kontrastversuchen an Schumann auch die Folgerung gezogen, dafs (die negativen Nachbilder und) die Erscheinungen des Simultan Kontrastes nicht zentralen, sondern peripheren Ursprungs seien (Kongrefsbericht, S. 20).","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n161\nMinderwertigkeit des Farbensinns ausmacht, bedeutet die Kontraststeigerung unter Umst\u00e4nden eine Verbesserung des Farbensinns. Die biologische Bedeutung des Kontrastes im allgemeinen sieht man \u2014 ich folge wiederum y. Tschermak \u2014 in einem Ersatz des physikalischen Astigmatismus des Auges durch eine physiologische, funktionale Stigmatik, die trotz unscharfer Beiz Verteilung einen distinkten Endeffekt erm\u00f6glicht. Beim Anomalen hat die Kontrast steig er un g aber noch eine weitere biologische Bedeutung, dafs n\u00e4mlich Farben, die \u2014 aus einem der im vorstehenden er\u00f6rterten Gr\u00fcnde \u2014 unterschwellig, aber nahe der Schwelle sind, durch den gesteigerten Kontrast seitens einer \u00fcberschwelligen Farbe \u00fcber die Schwelle gehoben werden. Ja, noch mehr: zwei (f\u00fcr den Normalen an der Schwelle liegende) Farben, die beide f\u00fcr den Anomalen allein betrachtet unterschwellig-sind, z. B. infolge zu geringer S\u00e4ttigung, treten nebeneinander durch gegenseitigen Kontrast \u00fcber die Schwelle, werden spezifisch empfunden ; m. a. W. : der gesteigerte Kontrast f\u00fchrt den Farbenschwachen unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden zu Farbenempfindungen, die denen der Farbent\u00fcchtigen \u00e4hneln, sie sogar an Feinheit \u00fcbertreffen k\u00f6nnen. Hingegen wirkt die Kontraststeigerung sch\u00e4digend auf die Farbenunterscheidung des Anomalen ein, wenn es sich um zwei Farben handelt, von denen die eine sehr deutliche Empfindungen ausl\u00f6st (z. B. Rot) die andere ebenmerklich ist (z. B. Braun, i. e. dunkles Gelb): dann schiefst die Kontrasterregung sozusagen \u00fcber das Ziel hinaus, die allein gesehen richtig erkannte Farbe \u201eBraun\u201c wird vom Rotkontrast in \u201eGr\u00fcn\u201c vertauscht.\nDer biologische Nutzeffekt der Farbenschwellenerniedrigung durch die Kontraststeigerung bei anomaler Trichromasie wird durch die \u2022 \u2022\nh\u00e4ufige \u00dcberproduktion von Kontrastfarben vermin d e r t.\nFasse ich alle diese Beobachtungen zusammen, so komme ich zu folgenden Regeln \u00fcber den Erfolg der Kontraststeigerung (besonders durch R. und Gr.) beim Gr\u00fcnschwachen (Verf.), deren Allgemeing\u00fcltigkeit f\u00fcr die Gr\u00fcnschw\u00e4che (bzw. auch f\u00fcr die Rotschw\u00e4che) nat\u00fcrlich erst durch weitere Untersuchungen von anderer Seite best\u00e4tigt werden m\u00fcfste :\nI. Die Steigerung des Kontrastes der Farben ist abh\u00e4ngig sowohl von den absoluten wie relativen Helligkeiten der ein-","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nAlfred G-uttmann.\nander kontrastiv beeinflussenden Felder, und zwar in erheblich h\u00f6herem Grade als in der Norm.\nII. Das Auftreten des Farbenkontrastes beim Anomalen ist von seinen Farbenschwellen1 folgendermafsen abh\u00e4ngig:\na)\tist eine oder beide Farben weit unterschwellig, so ist der Kontrast gegen die Norm vermindert (Beispiel: Florkontrast);\nb)\tist eine oder sind beide Farben nur wenig unterschwellig, so hebt die Kontraststeigerung beide \u00fcber die Schwelle ;\nc)\tist eine oder sind beide Farben \u00fcberschwellig, so beeinflussen sie einander kontrastiv st\u00e4rker als in der Norm.\nHieraus ergibt sich : die Farbenschwellen des anomalen Trichromaten sind in mannigfacher Weise vom Kontrast abh\u00e4ngig. Die These III der den ersten 4 Kapiteln entnommenen Versuchsresultaten gilt also nur bei strengem Ausschlufs aller Kontrastwirk u n g.\nDie Betonung des Effektes des Simultankontrastes beruht nat\u00fcrlich nicht auf einer prinzipiellen Abtrennung des Sukzessivkontrastes. Beide gehen ja auch teilweise direkt ineinander \u00fcber, insofern bei Betrachtungen von differenten, angrenzenden Farbenfeldern der Blick von einer Fl\u00e4che auf die andere wandert. Strikter Simultankontrast ist nat\u00fcrlich nur mittels Fixierzeichens auf der Grenze der kontrastierenden Farben zu erzielen. Immerhin ist es ja in erster Linie der Simultankontrast, der beim Anomalen wirkt, w'eil der gesteigerte Kontrast auch schon bei minimalen, f\u00fcr Blickschwankung nicht ausreichenden Zeiten nachweisbar ist, wie ich im Kap. II genauer ausgef\u00fchrt habe.\nDie besondere Aufmerksamkeit, die ich auf den Simultankontrast richtete, hatte mich auch veranlafst, im kurzen Autoreferat des Kongrefs-berichts in ungenauer Weise nur von einer Steigerung des Simultan-kontrastes der Anomalen zu sprechen. Es k\u00f6nnte das zu dem Mifs-verst\u00e4ndnis f\u00fchren, als ob der Sukzessivkontrast dabei \u201enormal\u201c sei. Darum habe ich in diesem Kapitel konsequent von \u201eFarbenkontrast\u201c im allgemeinen gesprochen.\n1 Die Bedeutung der Zeitschwelle f\u00fcr den Kontrast ist schon mehrfach erw\u00e4hnt wTorden.\n(Schlufs folgt.)","page":162},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"199\nUntersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\nVon\nDr. Alfred Guttmann (Berlin).\n(Dritte Fortsetzung.)\nKapitel VI.\nDie Abh\u00e4ngigkeit der Farbenschwachen von den Helligkeits* bzw. S\u00e4ttigungsverh\u00e4ltnissen der Farben.\nIn engem Zusammenhang mit der Steigerung des Farbenkontrastes steht eine oft genannte Eigenart des Anomalen, die seine Verwandtschaft mit dem Farbenblinden wiederum deutlich beweist: n\u00e4mlich die Abh\u00e4ngigkeit seiner Farbenempfindungen von Helligkeits- (und S\u00e4ttigungs-)gleichheit oder-Ungleichheit der zu beurteilenden Farben. Bekanntlich ist der Farbenblinde aufser-ordentlich empfindlich f\u00fcr ganz geringe Unterschiede in dieser Qualit\u00e4t der Reize. Holmgbeen 1 f\u00fchrt die Feinheit dieser Unterscheidungsweise der Dichromaten darauf zur\u00fcck, dafs bei der Erlernung der Farbennamen die farbenblinden Kinder bemerkten, dafs Unterschiede, die f\u00fcr sie gering waren (wie z. B. zwischen roten Blumen und gr\u00fcnen Wiesenfl\u00e4chen), f\u00fcr das Gros der Menschen so auff\u00e4llig waren, dafs daf\u00fcr zwei so verschiedene Bezeichnungen, wie \u201erot\u201c und \u201egr\u00fcn\u201c gew\u00e4hlt wurden. Der einzige Unterschied, der f\u00fcr sie zu erkennen war, bestand in verschiedener Helligkeit und S\u00e4ttigung jener beiden Objekte. Um also nicht immerzu grobe Verwechslungen zu begehen, richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf diese Differenzen, die f\u00fcr sie urspr\u00fcnglich wohl kaum deutlicher waren, als f\u00fcr die Normalen. Es waren das eben die einzigen Unterschiede, die\n1 Holmgreen, Die Farbenblindheit in ihrer Beziehung zu den Eisenbahnen und der Marine. Leipzig 1878.","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nAlfred Guttmann.\nsie zwischen jenen Objekten bemerken konnten, w\u00e4hrend f\u00fcr die Normalen die Farbenverschiedenheit so im Vordergrund des Interesses stand, dafs sie jene minimalen Helligkeits- und S\u00e4ttigungsdifferenzen v\u00f6llig vernachl\u00e4ssigten.\nIn ganz analoger Weise stelle ich mir die Abh\u00e4ngigkeit der Anomalen von Helligkeits- und S\u00e4ttigungsdifferenzen1 der zu beurteilenden Farbe vor. Zwar sind sie nicht so ung\u00fcnstig gestellt, wie die Farbenblinden, da sie immerhin die meisten Farben unterscheiden k\u00f6nnen, indessen ist die Sicherheit ihrer Farbenurteile, wie in den fr\u00fcheren Kapiteln beschrieben, je nach den \u00e4ufseren Umst\u00e4nden aufs er ordentlich wechselnd; konstant dagegen bleiben die eben genannten Unterschiede der Helligkeit und S\u00e4ttigung. Damit erkl\u00e4rt es sich wohl, dafs die Farbenschwachen zwar nicht ausschlielslich (wie die Farbenblinden), aber doch in erster Linie diese Helligkeitsunterschiede in ihrer Beurteilung unbewufst verwerten. Diese Unterscheidungsart ist also in erster Linie eine Funktion der Aufmerksamkeit, der \u00dcbung. Eine gesteigerte Empfindlichkeit des Anomalen f\u00fcr Helligkeitsdifferenzen habe ich nicht nachweisen k\u00f6nnen.\nBei meinen Versuchen, Farbengleichungen, z. B. die R.D.-Gleichung einzustellen, fiel mir besonders auf, welch grofse Anforderungen ich an Helligkeitsgleichheit stellte, ehe ich eine befriedigende Farbengleichung anerkannte, so zwar, dafs ein sicheres Urteil \u00fcber Farbengleichheit bei einer f\u00fcr mich merklichen Helligkeitsdifferenz unm\u00f6glich war. Ich mufste jedesmal erst die zu vergleichende Farben auf genau gleiche Helligkeit bringen, ehe ich ein Urteil dar\u00fcber abgeben konnte, ob auch der Farbenton gleich sei. Der Normale konnte sehr leicht von geringen Helligkeitsdifferenzen abstrahieren und ein sicheres Urteil \u00fcber die Farbengleichheit zweier etwas verschiedenheller Farben abgeben. (Gerade f\u00fcr die R.-D.-Gleichung braucht \u00fcbrigens der Gr\u00fcnschwache ein etwas anderes Helligkeitsverh\u00e4ltnis als der Normale.) Umgekehrt war ich sehr leicht geneigt, zwei im Farbenton wenig voneinander abweichende Farben f\u00fcr gleich zu halten, wenn sie subjektiv genau helligkeitsgleich waren. In dieser Urteilst\u00e4uschung liegt wieder eine \u00c4hnlichkeit des Farben-\nIch verweise auf meine Anmerkung auf S. 263 dieser Arbeit, wenn ich im Laufe dieses Kapitels promiscue von Helligkeits- und S\u00e4ttigungsdifferenzen spreche.","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n201\nschwachen mit dem Farbenblinden. Die Aufmerksamkeit wendet sich viel mehr auf das sekund\u00e4re Kriterium der Helligkeitsdifferenz, als auf das eigentliche Kriterium der Farbendifferenz. Diese Unterschiede stehen so im Vordergrund, dafs sie gelegentlich einen Farbenkontrast herbeif\u00fchren; bei den in Kap. I und V erw\u00e4hnten Versuchen finde ich in einem Protokoll (vom Juli 1903) notiert, dafs bei zirkumfovealem, ringf\u00f6rmigem Feld \u201eHelligkeitsdifferenz leicht simultanen Farbenkontrast erzeugt\u201c. Bei meinen Kontrastversuchen mufste ich die Protokolle vieler Wochen ausschalten, weil sie ohne Ber\u00fccksichtigung der Helligkeitsgleichheit der beiden Fl\u00e4chen gemacht waren. Die Resultate waren ganz widerspruchsvoll, bis ich die Wichtigkeit dieses Moments erkannte und nun jedesmal zuerst auf \u201esubjektive Helligkeitsgleichheit\u201c einstellte (vgl. Kap. V).\nNoch f\u00fcr einen zweiten Punkt kommt dies sekund\u00e4re Kriterium in Betracht. Ich erw\u00e4hnte schon fr\u00fcher (Kap. I, S. 40), dafs die U.-E. - Untersuchung des Anomalen verschiedene Resultate ergab, je nachdem bei konstanter oder variabler Helligkeit gemessen wurde. In einer l\u00e4ngeren Reihe von Versuchen modifizierte ich die dort beschriebene Versuchsanordnung so, dafs die anomale Versuchsperson zuerst bei objektiv \u00fcbereinstimmenden Vergleichslichtern eine genaue subjektive Helligkeitsgleichung einstellen mufste; dann wurde die Farbe der einen Seite ver\u00e4ndert und die Versuchsperson aufgefordert, die Farbengleichung wieder herzustellen. Dabei ergab sich das paradoxe Resultat, dafs der Farbenschwache manchmal genauere Einstellungen machte, als der Normale, besonders im Rot und im Gr\u00fcn. Wenn im Gr\u00fcn der Normale (v. H.) 5\u20146 pfi ab wich, so war nun die maximale Abweichung des Anomalen (Vf.) = 3\u20144 Der schon erw\u00e4hnte farbenschwache Maler stellte sogar die Gr\u00fcngleichung noch besser her. Ob hier die Empfindlichkeit des Anomalen gegen die Zumischung blauen oder gelben Lichts zu dem f\u00fcr ihn v\u00f6llig farblosen T.-Gr\u00fcn die Ursache ist, oder ob auch minimale S\u00e4ttigungsunterschiede mitspielen, m\u00f6chte ich nicht mit Sicherheit entscheiden; Helligkeitsdifferenzen sind hier jedenfalls nur sehr gering. Das Ergebnis im Rot, dafs der Normale um 3 Teilstriche der Skala in maximo abwich, w\u00e4hrend der Anomale objektive Gleichungen oder h\u00f6chstens Abweichungen um einen Teilstrich einstellte, wird aber hiermit erkl\u00e4rt; die Helligkeit","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nAlfred Guttmann.\nnimmt ja gerade in dieser Spektralregion so stark ab, dafs der auf die Beobachtung der Helligkeitsdifferenz \u201edressierte\u201c Anomale eben verm\u00f6ge dieser \u00dcbung dem Normalen hier \u00fcberlegen ist, wo er auch sonst nur wenig zur\u00fcckstand. Im Rot-Orange, Gelb-Orange und Gelb dagegen nutzt dem Anomalen seine \u00dcbung in Anbetracht seiner grofsen Minderwertigkeit f\u00fcr diese Farben wenig; f\u00fcr diese 3 Lichter differieren die Einstellungen meiner normalen Versuchspersonen (Dr. v. H. und Dr. P.) um h\u00f6chstens 2 die des Anomalen schwanken zwischen 8 und 12 fii/u. Es zeigt das deutlich, dafs der Anomale die Herabsetzung seiner Unterschiedsempfindlichkeit durch diese Ausnutzung sekund\u00e4rer Kriterien ganz oder teilweise verbergen kann (vgl. Kap. I).\nEine Erg\u00e4nzung hierzu sollten Versuche bilden, die den Zweck hatten, zu eruieren, ob bei objektiv gleichen Farben subjektive Helligkeitsgleichungen vom Anomalen besser als vom Normalen eingestellt w\u00fcrden. Die Resultate sind jedoch nicht eindeutig: im Rot glaube ich mit Sicherheit eine Besserstellung des Normalen behaupten zu k\u00f6nnen; im Gelb scheint es nach einer Anzahl von Versuchen, als ob der Anomale feinere Unterschiede machen k\u00f6nne. Nat\u00fcrlich sind seine Einstellungen bei einer mittleren Helligkeit erheblich feiner als bei geringen oder grofsen Intensit\u00e4ten. Ich verweise zur Erkl\u00e4rung dieser Tatsache auf Kap. IV und V. Im ganzen sind die Resultate verschiedener Versuchsreihen einander so widersprechend, dafs ich mir keine Vorstellung machen kann; m\u00f6glicherweise liegt ein von mir nicht bemerkter Fehler der Versuchsanordnung dem zugrunde. Ich verzichte darum lieber auf die genauere Besprechung dieses Teiles meiner Versuche.\nEs geht mit Sicherheit aus den oben beschriebenen Untersuchungen hervor, dafs die U.-E. des Farbenschwachen in ganz aufserordentlich hohem Mafse nicht nur von der absoluten Helligkeit, sondern auch von dem Verh\u00e4ltnis der Helligkeiten der einzustellenden Farben abh\u00e4ngig ist. Diagnostisch ist letzterer Punkt sehr wichtig; vielleicht f\u00fcr die Rotschwachen noch mehr als f\u00fcr die Gr\u00fcnschwachen, weil letztere ja ungef\u00e4hr die Helligkeitsverteilung des Normalen resp. Deuteranopen haben, die ersteren hingegen die ganz abweichende, protanopenartige Helligkeitsverteilung. Wenn man bei Untersuchungen der Farbenschwachen nicht scharf auf das Helligkeitsverh\u00e4ltnis der in Betracht kommenden Farben achtet, wird man sehr leicht zu fehlerhaften Resultaten, ja sogar zu falschen Diagnosen kommen. Ich betone die Wichtigkeit dieses Punktes so besonders, weil ich darin einen der Gr\u00fcnde sehe, dafs die fr\u00fcheren Autoren mit Ausnahme von Dokdebs","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n203\ns\u00e4mtlich die Farbenschw\u00e4che der Anomalen geleugnet haben. Die mit normalem Farbensinn ausgestatteten Experimentatoren haben offenbar gar nicht daran gedacht, dafs die Anomalen sich oft bei ihren Gleichungseinstellungen h\u00f6chst raffiniert, wenn auch vielleicht unbewufst, dieser f\u00fcr die Normalen ja kaum bemerkbaren Differenzen bedienten. Wenigstens l\u00e4fst sich das f\u00fcr manche der mir bekannten Untersuchungen annehmen; denn sonst w\u00fcrde wohl der eine oder andere Autor darauf hingewiesen haben, dafs die U.-E. der Normalen verschieden war, je nachdem man bei konstanter oder variabler Helligkeit untersuchte. So fand Donders, dafs seine Anomalen bei der freien Einstellung des reinen Gelb von Normalen deutlich ab wichen, n\u00e4mlich 13 iip und mehr, w\u00e4hrend der Normale um 5 [tu differierte. Obgleich das schon eine deutliche Differenz ist, m\u00f6chte ich doch glauben, dafs kein Farbenschwacher bei wechselnder Helligkeit der Spektrallichter das reine Gelb mit dieser Genauigkeit frei einstellen kann. Wohl aber l\u00e4fst es sich verstehen, dafs die Anomalen, wenn sie zu Beginn eines Versuchs ein reines Gelb bei bestimmter Helligkeit gesehen haben, eine so deutliche Erinnerung an diese Helligkeit behalten, dafs sie ungef\u00e4hr jene Wellenl\u00e4nge oder eine, deren Helligkeit etwa dieselbe ist \u2014 und das ist auch bei 13 Abweichung der Fall \u2014 einstellen k\u00f6nnen. Dafs sie in der Einstellung des reinen Gr\u00fcn dem Normalen gleichkommen, ja ihn sogar noch \u00fcbertreffen k\u00f6nnen, scheint mir dagegen sicher, wenn es sich um die Betrachtung des Spektrums in toto handelt, wo die Stelle des reinen Gr\u00fcn farblos ist. Eine Stelle, die nur wenige nach dem brechbaren Ende zu liegt, erscheint deutlich bl\u00e4ulich, w\u00e4hrend nicht weit rotw\u00e4rts vom Thallium schon der warme (gelblich-r\u00f6tliche) Ton des Spektrums beginnt. Diese neutrale Region umfafst nur wenige Anders liegt es aber, wenn der Anomale ein isoliertes Spektralgr\u00fcn in verschiedenen Helligkeiten einstellen soll; dann wird er viel unsicherer. (N\u00e4heres im Kap. X.) Diese Abh\u00e4ngigkeit des Anomalen von Helligkeitsunterschieden steht auch noch in wechselnder Beziehung zu den absoluten Helligkeiten der in Betracht kommenden Farben. Wenn ein Spektrum in einer starken Helligkeit dargeboten wird, so jedoch, dafs der Normale alle Farben noch v\u00f6llig sicher erkennen kann, so ist die Anzahl der unterscheidbaren Farbent\u00f6ne f\u00fcr den Anomalen erheblich geringer, als bei mittleren Intensit\u00e4ten","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nAlfred Guttmann.\n(ygl. Kap. IV, S. 265). Andererseits t\u00e4uschen, wie oben erw\u00e4hnt, Helligkeitsdifferenzen h\u00e4ufig Farbendifferenzen vor. Letzteres hatte \u00fcbrigens schon Dondees bemerkt: \u201eMan verliere nicht aus dem Auge,44 sagt er, \u201edafs Verschiedenheiten der Intensit\u00e4t ohne Unterschied der Wellenl\u00e4nge bei sehr schwachem Farbensinn viel eher als bei normalem wie Farbenunterschiede aufgefafst werden44 (a. a. O. S. 541). Wie oben gesagt, habe ich dieselbe Eigent\u00fcmlichkeit, unabh\u00e4ngig von dieser (von mir wie allen anderen Autoren fr\u00fcher \u00fcbersehenen) Stelle bei Dondebs gefunden.\nDie weitere Bedeutung dieses Symptoms liegt auf \u00e4sthetischem Gebiet. In der Malerei spielt die sog. \u201eValeur44 eine grofse Rolle. Was Valeur eigentlich sei, ist eine grofse Streitfrage. H\u00e4ufig findet man die Angabe, dafs der Wert der Farbe nur deren Helligkeit sei. Das halte ich f\u00fcr unrichtig. Wenn ein Maler ein Bild \u201egut in der Valeur\u201c nennt, so meint er damit nicht, dafs diese oder jene Helligkeit einer Farbe richtig wiedergegeben sei, sondern er will damit ausdr\u00fccken, dafs das Verh\u00e4ltnis der Helligkeit und S\u00e4ttigung der einzelnen, im Bild nebeneinander stehenden Farben gut gew\u00e4hlt sei. Ob auch das Verh\u00e4ltnis der Farbent\u00f6ne bei der Valeur eine Rolle spielt, kann man nicht bestimmt sagen. Ich habe gerade \u00fcber diesen Punkt sehr viel mit Malern und Kunstverst\u00e4ndigen verhandelt, ohne zu einem sicheren Resultat gekommen zu sein, als dem eben genannten. Das glaube ich allerdings, dafs der eigentliche Farbenton als \u201eValeurfeinheit\u201c kaum eine Rolle spielt. Einer unserer bedeutendsten Maler sagte mir auf meine direkte Frage einmal, es sei v\u00f6llig gleichg\u00fcltig, ob an jener Stelle des Bildes ein roter oder ein gr\u00fcner Farbenfleck stehe, wenn er nur \u201erichtig in der Valeur\u201c sei, d. h. also, wenn er nach Helligkeit, S\u00e4ttigung, Glanz in einer gl\u00fccklichen Harmonie zu seiner Umgebung st\u00fcnde.1 Hieraus k\u00f6nnen wir die Konsequenz ziehen, dafs die Anomalen im \u00e4sthetischen Sinne kaum ebenso ,,farbenschwach44 zu nennen sind, wie unter physiologischen Gesichtspunkten. Dafs sie sozial minderwertig f\u00fcr alle jene Berufe sind, in denen gewisse Farbentonunterschiede von ausschlaggebender Bedeutung sind (Eisenbahn, Marine u. a.) ist, wie ich schon 1904 ausf\u00fchrte, nicht mehr zweifelhaft, ebenso-\n1 Nat\u00fcrlich ist das cum grano salis gemeint! Dafs man den Himmel nicht gr\u00fcn, Sonnenlicht nicht violett malt, versteht sich von selbst.","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n205\nwenig, dafs die allgemeine Erh\u00f6hung ihrer Farbenschwellen sie psycho-physisch minderwertig erscheinen l\u00e4fst. Ihre Empfindlichkeit f\u00fcr Helligkeitsdifferenzen im Zusammenh\u00e4nge mit der Steigerung der Kontrastempfindung l\u00e4fst sie aber gerade der Malerei gegen\u00fcber h\u00f6herwertig erscheinen als sonst. \u00c4hnlich wie eine Person mit starken Refraktionsanomalien in der Landschaft die Farben um so intensiver geniefst, als ihr die Formen verschwimmen, kann hier die Unter Wertigkeit des Farbensinns f\u00fcr gewisse Nuancen andere Schattierungen um so mehr hervortreten lassen, so dafs man mit einem gewissen Recht wenigstens in \u00e4sthetischer Hinsicht eine Farbenschw\u00e4che negieren k\u00f6nnte. Diese Ansicht hat schon K\u00f6nig vertreten ] ; er fand bei anomalen Trichromaten \u201eein fein entwickeltes Verst\u00e4ndnis f\u00fcr Malerei, insbesondere f\u00fcr landschaftliche Stimmungsbilder.\u201c Er erkl\u00e4rt das mit der vielfachen Verwendung von Gr\u00fcn und Rotorange in der Malerei. So sehr ich mit Koenigs Ansicht hier \u00fcbereinstimme, dieser Begr\u00fcndung mufs ich widersprechen. Koenig hat eben nur an seinen zwei, vielleicht zuf\u00e4llig k\u00fcnstlerisch veranlagten Anomalen Beobachtungen hier\u00fcber gemacht.1 2 Indessen ist hier nicht der Ort f\u00fcr diese Seite des Farbenschw\u00e4cheproblems. Ich will Genaueres \u00fcber die Rolle der Farbenschw\u00e4che in der Malerei bei anderer Gelegenheit ver\u00f6ffentlichen.3\nKapitel VII.\nDie Erm\u00fcdung der Farbenschwaehen durch farbige Reize.\nIch komme nun zur Besprechung des letzten der 7 Symptome der anomalen Tichromasie.\nBei meinen Untersuchungen mit Farben war mir h\u00e4ufig aufgefallen, wie lange Zeit ich brauchte, um jede Gleichung einzustellen. Zugleich empfand ich subjektiv ein starkes Gef\u00fchl der Erm\u00fcdung, das sich darin zeigte, dafs ich beim Einstellen irgend einer Farbengleichung unsicher wurde, wenn ich mehrere\n1\tGes. Abhandl. S. 98, Anm.\n2\tDie eine KoENiGsche Versuchsperson war ein Realgymnasialdirektor, die andere ein Ingenieur.\n3\tZusatz bei der Korrektur. Dies ist inzwischen in erweiterter Form auf dem dritten Kongrefs f\u00fcr experimentelle Psychologie zu Frankfurt a. M. geschehen. Der Vortrag erscheint in extenso in der I. Abteilung dieser Zeitschrift unter dem Titel \u201eFarbensinn und Malerei\u201c.","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nAlfred Guttmann.\nSekunden hintereinander die Felder betrachtete. Farben, die ich eben als gleichfarbig eingestellt hatte, schienen pl\u00f6tzlich geradezu komplement\u00e4r1, um gleich darauf wieder \u00e4hnlich oder sogar identisch auszusehen. Ein kurzes Fortblicken auf eine neutrale, helle Fl\u00e4che liefs diese subjektiven Erscheinungen jedesmal schnell wieder verschwinden. Trotzdem gewann ich den Eindruck, dafs, wenn ich 10 Einstellungen hintereinander in einer Versuchsreihe vornahm, ich gerade bei den letzten Einstellungen besonders unsicher war. Ich konnte nicht annehmen, dafs diese schnelle Erm\u00fcdbarkeit ein Symptom sei, das mir als Versuchsperson im allgemeinen anhaftete, weil weder bei Untersuchungen \u00fcber Lichtsinn (Adaptation, Gr\u00f6fsensch\u00e4tzung u. a.) noch auf anderen Sinnesgebieten (akustische U.-E. u. dgl.) auf gef allen war* dafs irgendwie erhebliche Unterschiede zwischen mir und anderen Versuchspersonen bestanden. Gerade diese Farbenuntersuchungen aber strengten mich unverh\u00e4ltnism\u00e4fsig mehr an als die Normalen. Dafs dies subjektive Gef\u00fchl auf einer objektiven Tatsache beruhte, zeigte die nachtr\u00e4gliche Betrachtung meiner einzelnen Versuchsreihen. Sehr h\u00e4ufig fanden sich Reihen, deren letzte Einstellungen besonders abwichen. (H\u00e4ufig allerdings war auch gerade die erste Einstellung falsch, eine Beobachtung, die auch f\u00fcr den Normalen galt, und die mich veranlafste, immer erst einige Probeeinstellungen machen zu lassen, bevor ich die Einstellungen notierte). Gerade bei solchen Versuchen steht dann h\u00e4ufig von der Hand des Versuchsleiters \u201esubjektive Erm\u00fcdung\u201c daneben. Einen anderen, zahlenm\u00e4fsigen Beweis kann ich folgendermafsen erbringen: Wenn ich eine Reihe von 10 Einstellungen auf Farbengleichheit vorgenommen hatte, so wurden mir nach einer kleinen Ruhepause alle diese \u201eGleichungen\u201c hintereinander in willk\u00fcrlicher Reihenfolge gezeigt, ohne dafs ich wufste, was mir dargeboten wurde. Ich hatte die Farbenfelder einen Augenblick zu betrachten und dann ein Urteil dar\u00fcber abzugeben, ob sie gleich oder ungleich resp. in welchem Sinne sie es seien. Hierbei ergab sich, dafs ich beim ersten Hinsehen sofort sehr viele Einstellungen als ungleich erkannte, die ich vorher in langem, sorgf\u00e4ltigem Herumprobieren als gleich eingestellt hatte. Mit dieser Modifikation der Versuchsanordnung (der Methode der\n1 Ich erinnere an die Bemerkungen \u00fcber gesteigerten Sukzessivkontrast in Kap. V.","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n207\nrichtigen und falschen F\u00e4lle) gelang es manchmal, die Abweichungen der U.-E.-Pr\u00fcfung ganz erheblich einzuschr\u00e4nken. Die Werte des Normalen wurden jedoch damit nicht erreicht. So war die maximale Abweichung bei einer Beurteilung der Einstellung in der Gegend des Natriumgelb = 5 w\u00e4hrend meine niedrigsten Einstellungen um 12 uf.i ab wichen (y gl. Kap. I S. 39). Die Leistung des Normalen wird durch diese Modifikation nicht im geringsten verbessert. Er ist eben mit seiner Einstellung auf Gleichheit eher zu Ende, als diese durch Erm\u00fcdung bedingte Unsicherheit sich zeigt. Dies Moment bildet wohl auch den Hauptgrund, dafs der Anomale auf dem Gebiet der Farben sehr suggestibel ist, selbst wenn er auf anderen Sinnesgebieten, wo er sich sicher f\u00fchlt, von dieser f\u00fcr eine Versuchsperson so gef\u00e4hrlichen Eigenschaft frei ist. Der Grad seiner Unsicherheit h\u00e4ngt zum Teil von der Erkenntnis seiner Farbenschw\u00e4che \u00fcberhaupt, zum Teil von ihrer Intensit\u00e4t ab. Wie schon erw\u00e4hnt, manifestieren sich grofse Unterschiede. Der mehrfach erw\u00e4hnte anomale Maler, dessen Farbensinn zweifellos feiner als der meine ist, zeigt ebenfalls eine schnelle Zunahme der Erm\u00fcdung; ebenso fand ich bei Prof. Sch\u00fcmann diese abnorm schnelle Erm\u00fcdbarkeit f\u00fcr farbige Beize. Die Nutzanwendung auf die Beurteilung der Untersuchungsmethodik an anomalen Trichromaten ist folgende: ein Autor, der (wie z. B. Donders) 1 die U.E. pr\u00fcfte, indem er Einstellungen des Experimentators seitens der Anomalen beurteilen liefs (Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle), hat andere Werte mit geringeren Abweichungen erhalten, als wer die Gleichungen einstellen liefs (Methode der mittleren Fehler). Welche von beiden Methoden die wahre U.-E.-Schwelle des Anomalen ergibt, ist diskutabel; jedenfalls mufs man sich davor h\u00fcten, Resultate, die mit der einen Methode gewonnen sind, gegen Resultate der anderen Methode auszuspielen, resp. sie in Beziehung zu diesen zu setzen. Wie mir scheint, kommt in der Methode der Einstellungen der verminderte Farbensinn des Anomalen besser zum Ausdruck, als in der Methode der Beurteilung von Einstellungen. Nach letzterer Untersuchung erh\u00e4lt man allerdings die U.-E. des Anomalen f\u00fcr Farbent\u00f6ne sozusagen isoliert. Wie ich schon in den fr\u00fcheren Kapiteln wiederholt sagte, zeigt sich diese Schwelle unter allen Umst\u00e4nden erh\u00f6ht, am meisten f\u00fcr die Gegend des gelben Lichts.\n1 a. a. O. S. 539.","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nAlfred G-uttmann.\nDafs diese Erm\u00fcdung sich in der Netzhaut abspielt, resp. dafs es sich um keinen zentralen Vorgang handelt, ist sicher. Beweis daf\u00fcr ist allein schon die Beobachtung, dafs das nicht-benutzte Auge auch bei gr\u00f6fster Erm\u00fcdung des anderen v\u00f6llig frisch bleibt, so dafs man z. B. \u201eErm\u00fcdungsgleichungen\u201c sofort mit dem anderen Auge als solche erkennt.\nDer im Jahre 1904 von mir zuerst kurz publizierte Symptomen-komplex ist hiermit im Einzelnen besprochen. Es ergibt sich, dafs die Bedeutung der einzelnen Symptome sehr verschieden ist. Nagel meint, man m\u00fcsse alle diese Symptome \u201eeinstweilen als sekund\u00e4r\u201c bezeichnen.1 Im Gegensatz dazu fafst er die Rayleigh-Gleichung als \u201eprim\u00e4res Charakteristikum\u201c der anomalen Trichromasie auf. Das scheint mir verfehlt. Allerdings ist die Rayleigh-Donders-Gleichung historisch wichtig, insofern als Donders auf diese Methode hin den fundamentalen Satz aufstellen konnte, dafs der Unterschied zwischen den beiden Kategorien der Normalen \u201ein nichts anderem zu suchen sei, als in einer relativ geringeren Entwicklung der gr\u00fcnen Valenz im TI, verglichen mit derjenigen der roten im Li\u201c 2 (a. a. O. S. 528). Donders berechnete, dafs \u201ebei normalem Farbensinn 1 TI neutralisiert wird durch 2,65 Li, bei schwachem Farbensinn durch 0,82 Li.\u201c (Der Ausdruck \u201eanomale Trichromasie\u201c wurde erst 8 Jahre sp\u00e4ter von Koenig f\u00fcr das, was Donders hier \u201eschwachen Farbensinn\u201c nennt, vorgeschlagen.)\nAber abgesehen davon ist diese Gleichung ja gar kein \u201eSymptom\u201c, sondern nur ein diagnostisch wichtig gewordener Einzelfall aus der Kurve des anomalen Trichromaten. Jede andere Gleichung, die eine Abweichung der Farbenempfindungen des anomalen von denen des normalen Trichromaten ausdr\u00fcckt, steht theoretisch in einer Reihe mit der R.-D.-Gleichung\n1\tNagel scheint die Begr\u00fcndung dieses \u201eProvisoriums\u201c in folgendem Satz geben zu wollen : \u201eDa es bisher nicht gelungen ist, zwischen diesen sekund\u00e4ren Merkmalen und dem inneren Wesen der anomalen Systeme, wie wir es auf Grund der Forschungen von K\u00f6nig und von Kries auf fassen, einen urs\u00e4chlichen Zusammenhang herzustellen . . .\u201c (a. a. 0. S. 326.) Ich hoffe hingegen, diesen Zusammenhang im Kap. XII herzustellen und damit jenen Symptomenkomplex als \u201eprim\u00e4r\u201c in jedem Sinne zu erweisen.\n2\tDie Donders bekannten Erscheinungen wurden hierdurch restlos erkl\u00e4rt. Dafs aber der von mir gefundene Symptomenkomplex hiermit durchaus nicht erkl\u00e4rt wird, w^erde ich im Kap. XII darlegen.","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n209\nund ist daher genau ebenso prim\u00e4r. Diese Gleichung in einen scharfen Gegensatz zu allen anderen zu setzen, scheint mir also unrichtig. Sodann aber ist die in der Kurve zum Ausdruck kommende herabgesetzte Unterschiedsempfindlichkeit (Kap. I) von der gleichen Bedeutung f\u00fcr das Wesen der Farbenschw\u00e4che bei anomaler Trichromasie, wie die allgemeine Erh\u00f6hung aller Farbenschwellen (Kap. II, III, IV) und wie der gesteigerte Farbenkontrast (Kap. V). Wenn man alle diese Symptome, nur weil sie in der Kurve nicht zum Ausdruck kommen, als \u201esekund\u00e4r\u201c bezeichnet, so nimmt man ihnen nicht nur ihre Bedeutung in praktischer wie theoretischer Hinsicht (\u00fcber letzteres im Kap. XII) sondern man erweckt den Anschein, als ob sie sich etwa aus dem \u201eprim\u00e4ren\u201c Symptom erg\u00e4ben. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Anders steht es mit den im Kap. VI und VII beschriebenen Symptomen. F\u00fcr die Abh\u00e4ngigkeit der anomalen Trichromaten von Helligkeiten habe ich es wahrscheinlich gemacht, dafs sie \u201esekund\u00e4rer\u201c Art ist; d. h. dafs sie zum Teil wenigstens eine Funktion der \u00dcbung ist. In diesem Sinne k\u00f6nnte man allenfalls die leichte Erm\u00fcdung der Anomalen durch farbige Reize, obgleich sie in praktischer Hinsicht von prim\u00e4rer Bedeutung ist, als \u201esekund\u00e4res\u201c Symptom betrachten. In Anbetracht des geschlossenen Komplexes der einzelnen Symptome, die in ihren Wechselbeziehungen gerade das Wesen der Farbenschw\u00e4che der anomalen Trichromasie ausmachen, scheint mir aber diese Trennung in prim\u00e4re und sekund\u00e4re Merkmale \u00fcberhaupt unzweckm\u00e4fsig.\nBevor ich zu der zusammenfassenden Darstellung dieses Symptomenkomplexes \u00fcbergehe, sei es mir gestattet, nur in K\u00fcrze \u00fcber einige andere wichtige einschl\u00e4gige Untersuchungen zu berichten. Danach werde ich den Symptomenkomplex besprechen und zu den theoretischen Er\u00f6rterungen, die ich an die Besprechung des Komplexes angliedern mufs, \u00fcbergehen.\nKapitel VIII.\nAndere Untersuchungen \u00fcber das Sehen der Farbenschwachen.\nWiederholt sind in fr\u00fcheren Kapiteln die Beziehungen zwischen Farben- und Lichtsinn der Anomalen gestreift worden.","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nAlfred Guttmann.\nIch will im folgenden \u00fcber eine Anzahl Untersuchungen berichten, denen zumeist die Frage zugrunde liegt, ob die farbenunempfindlichen, lichtperzipierenden Netzhautelemente beim anomalen Trichromaten meiner Art ebenfalls abnorm funktionieren.\n[a) Adaptation.\nDer Verlauf der Dunkeladaptation, den Piper1 im Jahre 1903 bei den damals bekannten Typen des normalen und abnormen Farbensinn untersuchte, war bei mir durchaus im Rahmen der normalen Differenzen. Ebenso bei Prof. Schumann. Piper kam zu dem Schlufs \u2014 \u201edafs der Verlaufstypus der Adaptation, ihre Geschwindigkeit und Gr\u00f6fse als vollst\u00e4ndig unabh\u00e4ngig von den Typendifferenzen des Farbensinns zu behandeln sind.\u201c Insbesondere fand er unter seinen normalen wie anomalen Trichromaten \u201eebensogut den Typus der schnellen und ausgiebigen, wie der langsamen und geringen Adaptation\u201c.\nb) D\u00e4mmerungswerte.\nWie theoretisch zu erwarten war und aus fr\u00fcheren Untersuchungen schon hervorging, ergab sich bei einem von Prof. Nagel angestellten Parallelversuch zwischen einem Protanopen (Dr. Karplus), einem Deuteranopen (Prof. Nagel), einem normalen (Dr. Pipee) und einem anomalen Trichromaten (Verf.) kein Unterschied im D\u00e4mmerungssehen aller dieser Typen.]\nc) Peripheriewerte.\nDiese im Jahre 1903 von Prof. Nagel angeregten, gemeinsamen Untersuchungen galten der Frage, wie sich die Peripheriewerte des normalen zu denen des anomalen Trichromaten und des Dichromaten verhielten. Es geh\u00f6rt nicht in den Rahmen dieser Arbeit, \u00fcber die Beziehungen zwischen den beiden ersten Typen zum Dichromaten zu berichten. Angier hat diesen Teil jener Untersuchung, soweit er den Normalen betrifft, sp\u00e4ter fortgesetzt und ausf\u00fchrlich dar\u00fcber berichtet.2 Ich gebe aus meinen Protokollen also nur diejenigen wieder, die sich mit Parallelversuchen Normaler und Anomaler besch\u00e4ftigen, in der\n1\tH. Piper. \u00dcber Dunkeladaptation. Zeitschr. f. Psychol, u. Phys. der Sinnesorgane, Bl, S. 161 ff. speziell S. 196 ff.\n2\tRoswell P. Angier. Vergleichende Bestimmungen der Peripheriewerte des trichromatischen und des deuteranopischen Auges. Zeitschr. f. Psychol, u. Phys. der Sinnesorgane, 37, 1904, S. 401 ff.","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n211\nAnnahme, dafs Prof. Nagel \u00fcber jene anderen Beziehungen noch selbst publizieren wird. Die von Kries sog. Peripheriewerte stellen bekanntlich die relativen Helligkeiten der mit der totalfarbenblinden Netzhautperipherie betrachteten Farben dar. Sie sind also ein Ausdruck f\u00fcr die spektrale Helligkeitsverteilung der Farben. Dementsprechend ergab sich von jeher ein deutlicher Unterschied zwischen dem Protanopen einerseits, dem Farbent\u00fcchtigen und dem Deuteranopen andererseits. Ob zwischen den beiden letzteren Typen wirkliche Unterschiede bestanden, hatten die fr\u00fcheren Versuche nicht \u00fcberzeugend ergeben (vgl. Kries und Axgier). Versuche von Dr. Levy (a. a. O. S. 34\u201444) ergaben eine Abweichung des Potschwachen von der Norm; auch seine Kurve zeigt die (f\u00fcr den Protanopen charakteristische) aufserordentliche Erniedrigung des Heizwertes des am meisten langwelligen Lichts.\nUnsere Versuche bedienten sich der sogenannten Hering-schen Fleckmethode; die exzentrisch durch einen feinen Spalt beobachteten Spektralfarben waren sichtbar in einer kreisf\u00f6rmig durchbohrten weifsen, von einer konstanten Lichtquelle bestrahlten Papierscheibe. Die Farben erf\u00fcllten den ganzen Kreis.1 Bei der von uns gew\u00e4hlten, als zweckm\u00e4fsig erprobten Exzentrizit\u00e4t erf\u00fcllte die betreffende Spektralfarbe als farbloser Fleck das farblose, kreisf\u00f6rmige Loch der Papierscheibe. Durch einen von der Versuchsperson regulierbaren Spalt konnte die Helligkeit der Spektralfarben nun so erh\u00f6ht oder verringert werden, bis sie der konstanten Helligkeit der weifsen Scheibe gleich erschien. Bei diesen Versuchen war ganz besonders f\u00fcr gute Helladaptation derjenigen Netzhautpartien, mit denen wir beobachteten, gesorgt. Die Einstellungen geschahen abwechselnd. Wenn der Normale eine Gleichung eingestellt hatte, gab die folgende Person ein Urteil dar\u00fcber, ob der Fleck zu hell oder zu dunkel sei und stellte dann ihrerseits ein. Derartige Versuche verlangen einen ganz aufserordentlichen Grad von \u00dcbung, da ein Beurteilen der ganz in der Peripherie auf leuchtenden Farbe aufserordentlich schwierig ist. Es gelang uns auch nur, f\u00fcr einen gewissen Teil des Spektrums befriedigende Gleichungen zu erzielen; sowohl im Pot wie jenseits von Gr\u00fcn konnten wir zu keinem wirklich brauchbaren Pesultat kommen. Ich gebe im\n1 Die genaue Beschreibung der identischen Versuchsanordnung findet sich bei Angier.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 43.\n14","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nAlfred Guttmann.\nfolgenden die Resultate der letzten Versuchstage in Form einer Tabelle :\n\t\tNormaler\tAnomaler\tNormaler\tAnomaler\tNormaler\tAnomaler\n\t\t(Dr. P.)\t(Verf.) i\t(Dr. P.)\t(Verf.)\t(Dr. P.)\t(Verf.)\nKot\t\t+ 10\t+ 13\t+ 9\t+ 9\t+ 5,5\t+ 5,5\nOrange\t/ l\t+ 2,2\t+ 3\t\u2014 1\t\u2014 1\t- 1,5\t- 1,5\n\t\t\u2014 1,5\t\u2014 1,2\t- 2,3\t- 2,4\t\u2014 3\t\u2014 3\nNa-Gelb\t\t\u2014 2\t- 2,1\t- 2,5\t- 2,8\t\u2014 3\t\u2014 3\n\t/\t\u2014 1\t\u2014 1\t\u2014 2\t- 2,1\t- 3,1\t\t a 9 \u00f6>*} a\n\t\t\t\t*\t\t\u2014 3\to\t\u00d6 \t O\tf-1\nGelbgr\u00fcn\t{\t\t\t\t\t- 1,7\t' bsy \u2014 1,7 PS\n\tl\t+ 0,5\tT- p!\t- P5\t\u2014 1\t+ 1,2\t+ 1,7\nGr\u00fcn\t\t+ 9\t\u25a0p\t+ 6\t+ 8\t+ 10\t+ 10\nIn der ersten Kolumne finden sich die verwendeten Farben, von denen als Wellenl\u00e4nge Gelb mit 589 pu (Natrium) bestimmt war, daneben die SpaltwTeiten, die der Normale und der Anomale brauchten. Die extremsten Einstellungen nach dem Rot wie nach dem Gr\u00fcn lagen in allen drei Reihen gleichweit von Natrium entfernt, so dafs diese drei Punkte wie je zwei Zwischenpunkte der Tabelle einander entsprechen. (Die Anzahl der Zwischeneinstellungen ist im letzten Versuch grofser gewesen.) Daher gebe ich die kontinuierlichen Farben\u00fcberg\u00e4nge zwischen Rot, Gelb und Gr\u00fcn nur mit allgemeinen Farbennamen an. In den \u00fcbrigen Rubriken finden sich drei entsprechende Parallelversuche zwischen Dr. P. und Verf. nebeneinander gebucht.\nDie Zahlen zeigen auf den ersten Blick, dafs zwischen dem Normalen (Dr. Piper) und dem Anomalen (Verf.) in bezug auf die Peripheriew^erte kaum irgendwelche Unterschiede bestehen. In Anbetracht der Schwierigkeit dieser Untersuchung ist die \u00dcbereinstimmung sogar ganz aufserordentlich gut. Dazu stimmt, dafs jeder von uns jede Einstellung des anderen als g\u00fcltig anerkannte. Auf die Konstruktion der Kurve kann ich infolge dessen verzichten, da unsere beiden Kurven ja zusammenfallen w\u00fcrden.1 Ob ein Vergleich zwischen einem anderen Normalen\n1 Dafs auf obiger Tabelle auch negative Werte der Spaltweiten sich finden, beruht darauf, dafs der wirkliche Nullpunkt unseres Spaltes nicht beim Nullstrich der Skala, sondern etliche Teilstriche darunter lag. Leider finde ich in meinen Protokollen keine Notiz \u00fcber den wahren Nullpunkt*,","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n213\nund einem anderen Anomalen zu anderen Resultaten f\u00fchrt mufs dahingestellt bleiben, bis derartige Ver\u00f6ffentlichungen vorliegen. V 0g lch ware immerhin bei der Annahme einer solchen Verschiedenheit der Peripheriewerte, dafs individuelle Unterschiede me hierbei zweifellos Vorkommen, bei Pipeb und mir im ento-eo-en-gesetzten Sinne gewirkt und so zu der \u2014 allerdings auff\u00e4lWge-nauen \u2014 \u00dcbereinstimmung unserer Peripheriewerte gef\u00fchrt h\u00e4tten Ich erw\u00e4hne diese Eventualit\u00e4t, weil neue Versuche von anderer Seite zum entgegengesetzten Resultat kamen. In j\u00fcngster Zeit sind n\u00e4mlich von Sohenck Untersuchungen \u00fcber die spektrale Helhgkeitsverteilung gemacht worden. Aus dem bisher er-schienenen kurzen Bericht1 ist nur folgendes ersichtlich: ,.Die elligkeitsverteilung der Gr\u00fcnanomalen ist von demselben Typus wie die der Deuteranopen.\u201c Da die genauen Angaben \u00fcber diese Untersuchungen noch ausstehen, kann ich in keine kritische Besprechung ein treten.\tErw\u00e4hnen m\u00f6chte ich aber doch, dafs\nnach meinen Protokollen ein zweifelloser Unterschied zwischen den Peripheriewerten des Deuteranopen und des Gr\u00fcnanomalen (Grunschwachen) besteht, der sich darin \u00e4ufserte, dafs der euteranop (Prof. Nagel) im Rot geringere Helligkeit, im Gr\u00fcn dagegen gr\u00f6fsere Helligkeit der Farben verlangte, um Gleichheit zu bekommen. Das zeigte sich auch darin, dafs der Deuteranop che \u00fcbereinstimmende Einstellung der beiden Trichromatentypen (Dr. P., Verf.) an diesen Punkten des Spektrums nicht anerkannte und selber dunklere bzw. hellere Intensit\u00e4ten einstellte. Im Uatnumgelb dagegen stimmte er vollkommen mit den Einstellungen der Trichromaten \u00fcberein. Die Kurve seiner Peripheriewerte w\u00fcrden also die Kurve der tri chromatisch en Peripheriewerte an zwei Punkten schneiden und im mittleren Teil mit ihr zusammenfallen.\nebenso fehlt mir die diesbez\u00fcgliche Notiz in den folgenden Versuchen, die ich mit Dr. Levy zusammen unternahm. Dieses Versehen beruht auf der doppelten Notierung unserer Versuchstage, einerseits durch die beiden genannten Herren, andererseits durch mich. Ich bin heute nach Verstreichen mehrerer Jahre nicht mehr imstande, mich der Korrektur zu erinnern-indessen spielt das gl\u00fccklicherweise f\u00fcr diese Versuche gar keine Rolle' da eben meine Werte sich von denen des Normalen nicht entfernen.\nSchenck, Sitzungsbericht der Gesellschaft zur F\u00f6rderung der ge-samten Naturwissenschaften zn Marburg. Sitzung v. 11./XII. 07.\n14*","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nAlfred Guttmann.\nd) Flimmerwerte.\nDie yon Schenck zuerst sog. \u201eIntermittenzhelligkeiten\u201c, in denen er bei Flimmerversuchen den Ausdruck der Helligkeitsverteilung des Spektrums sieht, da er sie ann\u00e4hernd \u00fcbereinstimmend mit den Peripheriewerten und verschieden von den D\u00e4mmerungswerten fand, werden von der K\u00dfiESschen Schule \u201eFlimmerwerte\u201c genannt. In die Diskussion der Frage, ob diese Werte vorbehaltlos als Ausdruck der Helligkeiten der Farben gelten k\u00f6nnen, will ich hier nicht eintreten, sondern nur \u00fcber meine Resultate berichten. Die von Levy und mir unternommenen Flimmerversuche sind von Ersterem ausf\u00fchrlich in dieser Zeitschrift beschrieben.1 Es dient hierbei dieselbe Einrichtung, wie bei den oben genannten Peripherieuntersuchungen. Ich verzichte also hier auf eine nochmalige Beschreibung der Versuchsmethodik und gebe die Resultate in Form der folgenden Tabelle wieder, die aus den letzten Versuchen entnommen ist. In der ersten Reihe sind die Farben angegeben, die bei einer und derselben Geschwindigkeit zur Mischung mit der weifsen Scheibe gebracht wurden, in der zweiten Reihe die Grenzen der Einstellungen, innerhalb deren kein Flimmern von seiten der normalen Versuchsperson bemerkt wurde. Daneben steht der rechnungsm\u00e4fsig sich ergebende Mittelwert. In der folgenden Reihe sind entsprechende Grenzen und der Mittelwert des Verf., daneben \u2014 zum Vergleich \u2014 in der letzten Spalte die Einstellung des anomalen Trichromaten von anderen Typus (Dr. Levy).\nGrenzen des nichtflimmernden Gebietes (in Spaltweiten).\nFarben\tNormaler Trichromat (Dr. v. H.) Grenzen I Mittelwert i\t\tAnomale Ti (Verf.) Grenzen j Mittelwert\t\tcichromaten (Dr. Levy) Grenzen Mittelwert\t\nRot (Li.)\t9\u201421\t15\t11\u201423\t17\t111\u2014121\t116\nOrange\t5\u20148\t6,5\t4\u20146\t5\t13\u201416\t145\nGelb (Na.)\t2,5-3,5\t8\t2,5\u20143,5\t3\t4\u20145\t4,5\nGelbgr\u00fcn\t3\u20144\t3,5\t3,5\t3,5\t1\t1\nGr\u00fcn\t11\t11\t11\t11\t4\u20146\t5\nGr\u00fcnblau\ti 105\u2014115\t110\t1109\u2014117\t113\t6\u201416\t11\nBlaugr\u00fcn\t104\u2014111\t107,5\t111\u2014121\t116\t36\u201441\t38,5\n1 Max Levy. \u00dcber die Helligkeitsverteilung im Spektrum f\u00fcr das helladaptierte Auge. Diese Zeitschrift 36, S. 74.","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschiv\u00e4che.\n215\nWiederum ergibt sich mit Deutlichkeit, dafs der anomale Trichromat meines Typus kaum vom normalen ab weicht. Im Rot wie jenseits des Gr\u00fcn ist die Schwankungsbreite des nicht flimmernden Gebietes f\u00fcr beide Typen erheblich gr\u00f6fser als bei Orange, Gelb, Gelbgr\u00fcn und Gr\u00fcn. Damit erkl\u00e4rt sich, dafs die hieraus berechneten Mittelwerte zahlenm\u00e4fsig mehr voneinander differieren, als die den Durchschnitt zweier nahen Grenzf\u00e4lle bildenden Mittelwerte der \u00fcbrigen Einstellungen. Wenn wir aber beobachten, wie die Strecken des nichtflimmernden Gebietes bei den beiden ersten Versuchspersonen dort, wo sie nicht geradezu identisch sind, doch zum gr\u00f6fsten Teil zusammenfallen,\nso leuchtet ein, dafs bei einer gr\u00f6fseren Anzahl von Einzelver-\n\u00ab \u2022\nsuchen eine noch bessere \u00dcbereinstimmung der Mittelwerte sich ergeben d\u00fcrfte. Interessant ist \u00fcbrigens die \u00dcbereinstimmung des Anomalen mit Dr. v. H. Das spricht im Zusammenhang mit der oben gezeigten \u00c4hnlichkeit mit dem anderen Normalen Dr. P. auch gegen die Annahme, dafs es sich hier wieder um zwei zuf\u00e4llig extrem-\u00e4hnliche Individuen der beiden Trichromaten-typen gehandelt habe. Genaue Parallelversuche mit einem Deuteranopen habe ich nicht ausgef\u00fchrt. Gelegentliche Einstellungen seitens Professor Nagel hierbei und bei sp\u00e4terer gemeinsamer Ausprobierung eines Flimmerphotometers der Firma Schmidt & Haensch machten mir immer den Eindruck einer Differenz zwischen ihm und mir.\nCharakteristisch weicht von den Werten der beiden Trichro-matentypen die Kurve des Rotanomalen (Rotschwachen) Dr. Levy, ab, die in ihrem Verlauf das genaue Gegenteil der anderen Kurven bedeutet. Man beachte besonders die Unterschiede im Rot und im Blaugr\u00fcn.\nAn dieser Stelle will ich nicht weiter auf die Resultate aller dieser zum grofsen Teil sehr genauen und ausf\u00fchrlichen Versuche eingehen ; auf ihre theoretische Bedeutung komme ich am Schlufs der Arbeit zur\u00fcck.\nKapitel IX.\nH\u00e4ufigkeit und Vererbung der Farbensch wache.\n\u2022 \u2022\nUber H\u00e4ufigkeit und Vererbung der Farbenblindheit liegt ein aufserordentlich grofses Material vor. Nach unseren heutigen","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nAlfred Qultmann.\nKenntnissen sind diese Resultate nur noch mit Einschr\u00e4nkung zu verwerten. Fr\u00fchere Untersuchungsniethoden, die die Farbenschw\u00e4che nicht ber\u00fccksichtigten, haben zweifellos einen grofsen d eil dei Anomalen passieren lassen j ein anderer Teil wurde f\u00e4lschlicherweise als farbenblind gebucht. Fast alle fr\u00fcheren Autoren haben dann unter dem grofsen Sammelbegriff des \u201everminderten, herabgesetzten, schwachen (oder dgl.) Farbensinns44 alle die F\u00e4lle untergebracht, die nach den fr\u00fcheren Methoden nicht diagnostiziert werden konnten. Ich kann mir daher das Eingehen auf diese Literaturangaben ersparen.\nDie ersten Untersuchungen \u00fcber Verbreitung der Farbenschw\u00e4che habe ich im Jahre 1901 ausgef\u00fchrt. Ich habe damals dank der freundlichen Unterst\u00fctzung der Vorgesetzten Milit\u00e4rbeh\u00f6rde 1205 Soldaten des 2. Garde-Regiments untersuchen k\u00f6nnen. Sp\u00e4ter habe ich noch 2719 Schulkinder von Charlottenburg-Berlin untersucht, darunter 820 M\u00e4dchen. Im Ganzen habe ich also hierbei Resultate an 3924 Personen gewonnen.1 Die Resultate dei Statistik \u00fcber zusammen 3101 Versuchspersonen m\u00e4nnlichen Geschlechts m\u00fcssen jedoch getrennt besprochen werden.\n\u00a7 1. Die Untersuchung der Soldaten war aufserordentlich sorgf\u00e4ltig, ich konnte sie in Vertretung des damals beurlaubten Prof. Nagel im Physiologischen Institut der Universit\u00e4t vornehmen und daf\u00fcr folgende Methoden anwnnden :\n1.\tdie NAGELsche Lampe,\n2.\tdie alten NAGELschen Tafeln,\n3.\tdie Stilling sehen Tafeln,\n4.\tden Spektralfarbenmischapparat.\nJeder einzelne Soldat wurde nach den drei ersten Methoden untersucht. Wer die geringste Unsicherheit zeigte, wurde (5.) am\nSpektralapparat nach folgendem Plan untersucht: Es wurden ihm gezeigt:\n1 Die im ersten Teil dieser Arbeit gegebenen Zahlen mufs ich heute, wo ich diese statistischen Untersuchungen sehr erweitert habe, mehrfach modifizieren. Gepr\u00fcft habe ich \u00fcber 4000 Personen ; zu statist. Zwecken mufsten aber zahlreiche F\u00e4lle als unsicher ausgeschieden werden. Der Leser entschuldige also diesbez\u00fcgliche Widerspr\u00fcche mit der aus \u00e4ufseren, von mir unbeeinflufsbaren Gr\u00fcnden (Krankheit u. a.) verz\u00f6gerten Drucklegung der sp\u00e4teren Teile dieser Arbeit.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n217\nI.\tDie R.-D.-Gleichung des Normalen,\nII.\tdie R.-D.-Gleichung des Gr\u00fcnschwachen,\nIII.\tdie R.-D.-Gleichung des Rotschwachen.\nWer I anerkannte, II und III verwarf, wurde als \u201eNormal\u201c bezeichnet. Wer bei dieser Untersuchung I verwarf und nur II oder nur III anerkannte, die beiden anderen Gleichungen jedoch verwarf, erwies sich als anomaler Trichromat; wrer jedoch zwei von diesen drei Gleichungen anerkannte, wurde noch mit einer Dichromatenscheingleichung (Rot = Gelb bzw. Gr\u00fcn = Gelb) untersucht. Ich glaube mit Sicherheit sagen zu k\u00f6nnen, dafs ich mit dieser Kombination verschiedener Methoden weder eine Person mit den bekannten typischen Abweichungen des Farbensinns durchgelassen habe, noch dafs ich zu unrecht einen Normalen als farbenblind oder farbenschwach bezeichnet habe. Ob ein oder der andere Fall von Pseudomonochromasie, Violettschw\u00e4che1 oder einer sonstigen Rarit\u00e4t2 vorgekommen sein mag, kann ich nicht positiv verneinen, doch spielt das nat\u00fcrlich f\u00fcr eine Statistik keine Rolle. Die Resultate waren folgende: Ich fand anomale Trichromaten in 5,1 % (daneben 4 % Dichromaten, also in summa farbenunt\u00fcchtig = 9,1%). Von den Anomalen waren vom gr\u00fcnschwachen Typus 88 %, vom rotschwachen Typus 12 %. Eine genauere Besprechung der sonstigen Resultate dieser Untersuchung mufs ich mir an dieser Stelle versagen.\n\u00a7 2. Die 1329 Charlottenburger Schulknaben konnte ich nur mittels der NAGELschen neuen Tafeln untersuchen, wTobei ich mich zur Unterst\u00fctzung noch einiger StillinGscher Tafeln bediente. Von letzteren hat mir besonders Tafel IX gute Dienste geleistet. Diese Tafel enth\u00e4lt eine aus roten Punkten zusammengesetzte arabische 9; die Anomalen k\u00f6nnen diese nat\u00fcrlich nicht erkennen, wohl aber befindet sich, vermutlich zuf\u00e4llig, eine aus verschiedenfarbigen, aber ungef\u00e4hr gleichhellen (dunklen) Punkten zusammengesetzte arabische 5 auf dieser Tafel; sie ist zwar im unteren Teil etwas \u201everzeichnet\u201c, ich habe aber bemerkt, dafs fast alle Farbenschwachen darauf\n1\tDie oben als \u201eNormal\u2019* bezeichneten F\u00e4lle k\u00f6nnten also den einen oder anderen Violettscliwachen in sich schliefsen.\n2\tDer von mir in dieser Zeitschrift ver\u00f6ffentlichte singul\u00e4re Fall von Gr\u00fcnblindheit und Violettschw\u00e4che, von dem ich in der Einleitung sprach, kam bei Gelegenheit anderer Milit\u00e4runtersuchungen zur Beobachtung.","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nAlfred Giittmann.\n\u201ehereinfallen\u201c. Ich mufste diese Untersuchung in den betreffenden Schulen vornehmen und konnte mir nur einen Teil der Sch\u00fcler, bei denen ich nicht gleich zu einer bestimmten Diagnose kam, zur Nachuntersuchung erbitten. Obgleich ich von den Rektoren und Lehrern der Schulen, sowie auch von den meisten Eltern auf das Liebensw\u00fcrdigste in meinen Untersuchungen gef\u00f6rdert wurde, war es mir doch bei einer ganzen Reihe von Sch\u00fclern nicht m\u00f6glich, eine exakte Diagnose zu stellen. Ich mufs diese Sch\u00fcler nat\u00fcrlich aus der Statistik ganz fortlassen, obgleich dadurch meine Resultate zu g\u00fcnstig werden, da zweifellos die meisten dieser scheinbar \u201eFarbendummen\u201c irgendwelche Abnormit\u00e4t des Farbensinns hatten. Die folgenden Zahlen bedeuten als nur die Summe der von mir sicher diagnostizierten Anomalien des Farbensinns, sie bleiben aber zweifellos hinter der Zahl der wirklich vorhandenen zur\u00fcck. Ich fand somit 1,37 \u00b0/0 Farbenschwache (anomale Trichromaten) und 4 \u00b0/0 Farbenblinde (Dichromaten). Die beiden Anomalentypen waren etwa gleich zahlreich vertreten.\nZur Erkl\u00e4rung der grofsen Differenz zwischen dem Ergebnis der Soldatenstatistik und der Schulkinderstatistik m\u00f6chte ich nicht nur auf die Unsicherheit statistischer Untersuchungen in so kleinem Mafsstabe hinweisen, sondern in erster Linie die \u00e4ufseren Umst\u00e4nde und die Methodik daf\u00fcr in Anspruch nehmen. Im Institut hatte ich Zeit, Hilfsmittel, Assistenz; hier mufste ich allein schnell untersuchen und war auf eine Methode angewiesen. Die NAGELschen Tafeln, mit denen ich sonst sehr zufrieden war, haben sich den Kindern gegen\u00fcber nicht so bew\u00e4hrt, wie ich es nach meinen fr\u00fcheren Erfahrungen annehmen konnte. Die untersten Klassen entschlofs ich mich schon nach ganz kurzer Zeit \u00fcberhaupt wegzulassen. Die Untersuchung war bei der mangelhaften Kenntnis der Farbennamen zu zeitraubend. Aber auch in den mittleren Klassen hatte ich mit sehr grofsen Schwierigkeiten zu k\u00e4mpfen. Die mangelhafte Beobachtungsgabe der Stadtkinder gegen\u00fcber den Farben war geradezu \u00fcberraschend: nicht nur die Benennung, die ja bei den NAGELschen Tafeln keine Rolle spielt1, nein selbst die begriffliche Unterscheidung\n1 Um die Keproduktion der Bezeichnungen \u201ebraun\u201c und \u201egrau\u201c zu erleichtern, stellte ich meist zu Beginn der Untersuchung an die betr. .Klasse die Frage: \u201eWelche Farbe hat der Esel?\u201c Nur wenige Sch\u00fcler","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbe?ischw\u00e4che.\n219\nvon grau und braun war fast unm\u00f6glich ! Aber auch die Tafeln selbst haben mir eine Entt\u00e4uschung bereitet : nach einigen Monaten regelm\u00e4fsiger Benutzung zeigte sich n\u00e4mlich, dafs die Farben aus-geblafst waren, in Abteilung B waren z. B. die roten Punkte, die die benachbarten braunen Punkte durch Kontraststeigerung f\u00fcr die Anomalen gr\u00fcn erscheinen lassen sollen, allm\u00e4hlich so blafs geworden, dafs sie keinen Kontrast mehr ausl\u00f6sten. Ich selbst hatte bei der st\u00e4ndigen Benutzung der Tafeln das gar nicht recht bemerkt, bis ich durch gelegentlichen Vergleich mit einem neuen Sortiment diese Ver\u00e4nderung des Kot beobachtete. Ich habe demgem\u00e4fs auch viel mehr Anomale mit der Abteilung A der NAGELschen Tafeln diagnostiziert als mit Teil B, w\u00e4hrend ich fr\u00fcher gerade mit Teil B, wo der gesteigerte Kontrast der Anomalen sich sehr bemerkbar macht, viel bessere Resultate erzielt hatte, als mit Teil A. Ob man in dritter Linie noch lokale Momente heranziehen soll, in dem Sinne, dafs speziell die Bev\u00f6lkerung von Grofs-Berlin besonders g\u00fcnstig gestellt w\u00e4re gegen\u00fcber den aus allen Teilen Deutschlands zusammengesetzten Mannschaften des Garde-Regiments, kann ich bei der nur wenige Tausende umfassenden Statistik nicht sagen, \u2014 immerhin w\u00e4re es m\u00f6glich.\nStatistische Untersuchungen \u00fcber anomale Trichromasie von anderer Seite sind mir nicht bekannt. Die Nachuntersuchungen von bereits fr\u00fcher nach anderen Methoden gepr\u00fcften Eisenbahnangestellten, Soldaten, Marinemannschaften usw. sind ja statistisch nicht verwertbar. \u2014 Die Statistik Raehlmanns entzieht sich mangels jeder Angabe der Diskussion.\n\u00a7 3. Unter den 820 M\u00e4dchen habe ich keinen einzigen Fall von Farbenblindheit oder Farbenschw\u00e4che gefunden. Der Unterschied in der Sicherheit, Schnelligkeit und Feinheit der Farbenerkennung gegen\u00fcber den gleichaltrigen Knaben war eklatant. Mein Resultat best\u00e4tigt die fr\u00fcheren negativen Ergebnisse der Statistik im Bezug auf Farbenblindheit des weiblichen Geschlechtes durchaus.\n\u00a7 4. Ein anderer Punkt, der mich interessierte, war die Beteiligung der Rassen. Cohn und Magnus* 1 hatten im Jahre 1877\nwufsten es, die Antworten waren oft verbl\u00fcffend falsch ; meist wurde er \u201ehellschwarz\u201c genannt, die kurioseste Antwort hiefs \u00fcbrigens \u201eschwarz mit weifs verfleckt\u201c. Schliefslich ging ich zu den Pr\u00fcfungen stets mit einem grauen Filzhut und einer braunen Aktenmappe bewaffnet, die zum Demonstrieren bestimmt waren.\n1 Cohn und Magnus. Untersuchung von 5000 Schulkindern in bezug auf Farbenblindheit. Zenlralbl. /'. prakt. Augenheilkunde. 1877. S. 264.","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nAlfred Guttmann.\nauf Grund einer Untersuchung haupts\u00e4chlich mittels der Holm-GEEEKschen Methode an 5000 Breslauer Schulkindern zwei neue Thesen aufgestellt: einmal, dafs M\u00e4dchen so gut wie nie farbenblind w\u00e4ren und zweitens, \u201edafs Farbenblindheit unter den Juden noch einmal so verbreitet sei als unter den Christen\u201c (sie fanden n\u00e4mlich 4,1 % Juden und 2,1 \u00b0/0 Christen als farbenblind). Cohn wie Magnus, jeder f\u00fcr sich, haben diese Frage noch weiter verfolgt. Magnus1 fand (nach einer vereinfachten und von Cohn sehr scharf getadelten Methode2) unter 3273 Knaben 3,79 \u00b0/0 Juden auf 2,83 \u00b0/0 farbenblinde Christen, und Cohn fand 4,8 \u00b0/0 Juden auf 3,8 \u00b0/0 farbenblinde Christen.3 Cohn hat das zuerst gefundene Zahlenverh\u00e4ltnis auch schon ein Jahr sp\u00e4ter ausdr\u00fccklich als zu ung\u00fcnstig f\u00fcr die Juden hingestellt, f\u00fcr das Zahlenverh\u00e4ltnis 4,8 : 3,8 sagt er w\u00f6rtlich: \u201eHypothesen oder gar S\u00e4tze baue ich auf diesen lokalen Befund nicht auf\u201c. Trotzdem finde ich in der Literatur, sowie in wissenschaftlichen Kreisen fast \u00fcberall die Ansicht vertreten, dafs die \u201eJuden\u201c erheblich mehr an Farbenblindheit leiden, als die \u201echristliche\u201c Bev\u00f6lkerung. Wenn wir die Cohn- und Magnus-schen Resultate betrachten, so ergibt sich eigentlich, dafs sich alle jene Prozentzahlen vollkommen in den Grenzen der Abweichungen statistischer Untersuchungen \u00fcber Verbreitung der Farbenblindheit \u00fcberhaupt bewegen. Trotzdem schien mir eine Nachpr\u00fcfung notwendig, einmal, weil jene anthropologischen Untersuchungen seit 1880 nicht fortgesetzt worden sind, in welchem Jahre die einzige mir sonst bekannte und zum entgegengesetzten Resultat f\u00fchrende Arbeit von Gael erschien 4 ; er fand (nach Holmgeeen und Stillings Methoden) unter 2504 Frankfurter Schulkindern 2,4 \u00b0/0 Farbenblinde, unter 514 j\u00fcdischen Schulkindern 1,75 \u00b0/0 Farbenblinde. Sodann war mir bei meinen Untersuchungen eines nahezu ausscliliefslich arischen\n1\tMagnus. Beitr\u00e4ge zur Kenntnis der physiol. Farbenblindheit. Gr\u00e4fes Archiv 24, 4.\n2\tCohn. \u00dcber die spektroskopische Untersuchung Farbenblinder. Zentralbl. f. prakt. Augenheilkunde. 1877. S. 264.\n3\tEs sei hier noch erw\u00e4hnt, dafs die ConNschen Ergebnisse auch da von denen von Magnus differieren, wo die Autoren sie gemeinsam (a. a. O.) publizieren: bei Cohn ist hierbei das Verh\u00e4ltnis der farbenblinden Juden zu farbenblinden Christen = 4,7 : 3,2% \u2014 bei Magnus 3,7 : 1,6 % !\n4\tCarl. Untersuchungen der Schulkinder auf Farbenblindheit. Jubil\u00e4umsschrift f\u00fcr Dr. Varrentrap. .1880. Frankfurt a. M.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n221\nMaterials (2. Garde-Regiment) der aufserordentlich hohe Prozentsatz an Farbenunt\u00fcchtigen aufgefallen, der weit \u00fcber die Ergebnisse fr\u00fcherer Statistiken \u00fcber Farbenblindheit hinausging. \u00dcber Farbenschw\u00e4che unter den Juden lag nat\u00fcrlich bisher \u00fcberhaupt kein Material vor.1 Durch die Freundlichkeit des Vorstands der hiesigen Gemeinde erhielt ich die Erlaubnis, die Berliner israelitische Mittelschule, sowie die beiden j\u00fcdischen Waisenh\u00e4user zu untersuchen. Aufs liebensw\u00fcrdigste von Herrn Direktor Dr. Holzmann unterst\u00fctzt, habe ich diese Untersuchungen sorgf\u00e4ltiger vornehmen und unsichere F\u00e4lle in gr\u00f6fserer Ruhe nachuntersuchen k\u00f6nnen, als bei den anderen Schuluntersuchungen. Ich fand unter 570 Juden 1,58% Farbenschwache, Farbenblinde fand ich in 1,93%, also farbenunt\u00fcchtige Juden in 3,5%.\nFolgende Tabelle gibt einen \u00dcberblick \u00fcber die vergleichsweise in Betracht kommenden Zahlen :\nVersuchspersonen\tFarbenblind\tFarbenschwach\tAlso Farbenunt\u00fcchtig\n1205 Soldaten\t4,0 %\t5,1 %\t9,1 %\n1329 christliche Schulkinder\t5,12%\t1,28%\t6,3 %\n570 j\u00fcdische Schulkinder\t1,93 %\t1,58%\t3,5 %\n820 M\u00e4dchen\t0%\t0%\t0%\nAus diesen Resultaten ist nun nat\u00fcrlich nicht zu folgern, dafs Farbenunt\u00fcchtigkeit unter den Berliner Juden sehr viel seltener, ja \u201ebeinahe halb so selten\u201c vorkommt, als unter der \u00fcbrigen Bev\u00f6lkerung. Die Zahlen beweisen nur, dafs eine Statistik, die gerade in bezug auf die Eruierung von Farbensinnanomalien unter den Juden sorgsamer vorgenommen werden konnte, als unter nichtj\u00fcdischen Schulkindern, die Allgemeing\u00fcltigkeit der Annahme von der starken Beteiligung der j\u00fcdischen Rasse an Farbensinnst\u00f6rungen widerlegt. Dafs mein Material vom ethnologischen Standpunkt aus nicht sehr rein war, spielt bei dem Ausfall der Untersuchung keine Rolle.\nDringend notwendig erscheint mir unter dem Gesichtspunkt der starken Verbreitung der Farbensinnst\u00f6rungen eine obligatorische Untersuchung der Schulkinder nicht nur auf Grund\nUnter den von mir gepr\u00fcften Soldaten und Volkssch\u00fclern befanden sich nur vereinzelt solche von j\u00fcdischer Abstammung ; kein einziger davon war farbenblind oder farbenschwach.","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nAlfred Guttmann.\nder wissenschaftlich bedeutsamen Frage nach der Verbreitung und Vererbung dieser St\u00f6rungen, sondern auch wegen der enormen Wichtigkeit des intakten Farbensinns f\u00fcr die Berufswahl. Genaueres werde ich an anderer Stelle publizieren.\n\u00a7 5. Auch die Frage der Vererbung ist noch weit von einer L\u00f6sung entfernt. Die Annahme der meisten Autoren geht dahin, dafs Farbensinnst\u00f6rungen, \u00e4hnlich wie die Bluterkrankheit, sich von dem davon betroffenen Vater \u00fcber die gesund bleibende Tochter auf die m\u00e4nnlichen Enkel vererbe. Bei der Unsicherheit aller unserer Nachrichten \u00fcber die Farbenempfindung der jeweilig grofsv\u00e4terlichen Generation gibt es nat\u00fcrlich nur wenig Belege f\u00fcr diese Annahme. Dafs die Farbenblindheit sich vererbt, ist zweifellos. Ein sehr instruktiver Stammbaum, den Nagel 1 ver\u00f6ffentlicht hat, zeigt direkte Vererbung von der Mutter auf 2 S\u00f6hne. Ich habe die Vererbung der Farbenschw\u00e4che in 2 Familien durchzuuntersuchen mich bem\u00fcht. Trotz jahrelanger Bem\u00fchungen ist es mir bei einigen ausw\u00e4rtigen Familienmitgliedern nicht gelungen, irgendwie verwendbare Angaben \u00fcber ihre Farbenempfindung zu erhalten. Ganz l\u00fcckenlos sind also diese beiden Stammb\u00e4ume, die ich nun geben kann, nicht.\nBemerkenswert ist in dem ersten Stammbaum, dafs einmal die Farbenschw\u00e4che alle 4 Geschwister betrifft, 3 Br\u00fcder und 1 Schwester. Bei der aufserordentlichen Seltenheit der Farbenblindheit unter dem weiblichen Geschlecht und dem v\u00f6llig negativen Ausfall meiner diesbez\u00fcglichen Schuluntersuchungen auf Farbenschw\u00e4che war mir hier der Zufall g\u00fcnstig. Interessant ist das Auftauchen von Deuteranopie in beiden Familien, das in dem ersten Fall ziemlich sicher durch fremdes Blut verursacht ist. Eine weitere Verfolgung der Vererbung innerhalb dieser beiden Familien ist nat\u00fcrlich von grofser Wichtigkeit. Hoffentlich habe ich noch einmal Gelegenheit, \u00fcber den Farbensinn etwaiger Kinder meiner Tochter und meines Sohnes, die beide im Besitz eines feinen Farbensinns sind, zu berichten. Irgendwelche Schl\u00fcsse \u00fcber Vererbungstypus lassen sich zurzeit noch nicht ziehen. Direkte Vererbung ist allerdings nirgends zu bemerken.\n1 W. A. Nagel. Eine Dichromatenfamilie. Diese Zeitschrift 41, S. 155.\n(Schlufs folgt.)","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n223\n+\u2022\n\u25a0\u00a7* w).g\n\u00d6H\nc3 42\nd \u00d6\nIji\n\u201e 03 *,\n5S=s\n\u00a9 \u2022 rH r\" 4\n\u2022rH\na\n\nH\n-> 3 c3 \u00a9\n-^p\ntu\n.tu\no3\na\n\u00a9\no\nP\nc3\n>\ntu \u201e . \u00a9 ca o P\nW\n\u00a9\nc3\nfi\ntu\nI\nrd\n\u00a9\nO\n->p\n\u00a9\n\u00a9\n\u00a9\np\n~H\nQ\n\u00a9\n\u2022 rH\no3\nfi\n>P\n\u00bbWH\n0\nc3\n\u00a9\n\u00abHl ,\u2014( O o3\n->fi a M \u00a9 2 O\n\u00a3P\n\u00a9\nfi\n\n\u00abw\nO\n\u00a9\nfi\nI\u2014I c3\n->\u00abh a.\n\u00b0 o \u00a9 O\nfiP\n->\ntu p\n'\u00f6 \u00a7 2 o\nSP\n\u2022\ta \u2022\n\u2014>^42 S3\n\u2022\t\u00a9\nw\n\u00a9 p\n-->2 a\nU \u00a9\nO \u00a9\nHP\n\u2022 fij \u2022\nH \u00a9^3 ->^42 SS\nS\u00ab3\npH\nM'S\n\u2014> 0 a\nc3 g\nH O\nfi P\n\u25a0>33-\u00ae\n\u00c0 \"S \u00a9\n\u00ab3\ng S Jj\nPHfH g\nM \u00ab\u2019S\n->W2g\np et 43\n^ g\n->\n1 fH\n\u00abIl\ntUflrf !h \u00a9 \u201d 02\ntu \u00e0 \u2022\u00a7\n^ . J c3\n2 3! Js\nfW\u00a9 g\n\u25a0>\u2022- .\n\u00a9\n->2 Q ^\n\u00f4S^ ->M o\nPi\n^03\n\u00a3 >\n^2 a ~ \u00a9 \u00a9 O o\nHP\nH\n43\no3\n\u00d6 H \u2022\n->p^ S'\n\u00b0 -4J c3\nGQ\nc3\n02\nH\n\u00a9\nH r\u2014H\n\u00a9 03 -\u00a9>\n\u00a9 \u00a3 \u00b0 S HP\n0 \u00a7\n->p a\n\u00b0 d gq o\np\n. \u00a9\n-> \u00a9 _; ni o3\n->.a a\nM o \">co P\n> \u00a9 --3 rQ et\n->.s\nM|\n^co ^\no\np\n\u00a9\n03\n2\n->\nM\no3\na\nH\nO\nP\nc3\nH\nP\n\u00a9\no3\nH\n\u25a0>0 g\no3 % H\nR P\nP P\nHH 03\n\u25a0> d a\nc3 ^\nU o\nca P\n4=\n\u00a9\net\nal ~ . 02 P \u00a7\n\u00a9\net\nH\no3\n->0 2 \u2014\na p\nH O\nH \u00a3\n->M 5^ -\n->\n0\nc3\nH\nP\nWa\na\n\u2022 JP\nP o P\n0 \u00cb ,rfl a\n\u00b0 d\nGQ O\nP\nh \u2014;\n\u00a9 P\n-\u00a9> 33\n\u00a9\no\nH\nO\nHp\n-i>\no\nm\nO\n\u25a0\nS3\n\u00a9\n42\n\u00a9\net\nfi\n-\u00f4\nsS\na\nfi\nifl\nM CJ\n2 53\n\u25a0g \u00a3\net 43\nH g\n\u00a9\n-g \u00a9 * fi^\n>^-\u00ae\n43\n\u00a9\net\n\u00a3\n43\n\u00a9\n02\nM\n\u00ce-H\n> .CV-\nP\n0 a\n\u25ba43 a\n\u00b0 d\nOQ O\nP\n\u00a9 _4 ^ d\n->p a\n\u00a9 H O O\nHP\n->\nH\nfi O\nWP\nH\n\u00a9\n-M\n->\n\u00a9\nO\nH\nIn der Familie des Ehemannes G. keinerlei Farbensinnst\u00f6rungen nachweisbar.","page":223},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"255\nUntersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\nVon\nDr. Alfred Guttmann (Berlin).\n(Schlafs.)\nKapitel X.\nIndividuelle Abweichungen innerhalb der anomalen Typen.\nUnter den anomalen Trichromaten habe ich, wie schon\nerw\u00e4hnt, alle Spielarten, was den Grad der Farbenschw\u00e4che\n_\t\u2022 \u2022\nbetrifft, kennen gelernt. Man k\u00f6nnte Ubergangsreihen vom Normalen \u00fcber die geringsten Grade der Farbenschw\u00e4che bis zu den intensivsten Graden, die sich den Farbenblinden (Dichromaten) ann\u00e4hern, konstruieren, und zwar sowohl f\u00fcr Gr\u00fcnschw\u00e4che wie f\u00fcr Rotschw\u00e4che. Innerhalb der anomalen Trichromaten bilden die Grenze gegen den normalen Farbensinn Personen wie der mehrfach erw\u00e4hnte Maler, nach der Seite der Farbenblinden F\u00e4lle wie Prof. Schumann. Die Bestimmung eines mittleren Grades von Farbenschw\u00e4che ist nat\u00fcrlich etwas willk\u00fcrlich, ich selbst glaube einigermafsen dem mittleren Durchschnitt zu entsprechen. Derartige Personen wie der anomale Maler und Prof. Schumann sind nat\u00fcrlich selten gegen\u00fcber dem Gros der Farbenschwachen. Der Maler erfreut sich unter seinen Berufsgenossen grofsen Ansehens. Viele Bilder von ihm finden sich in Privatsammlungen und in staatlichen Gallerien, er ist der Tr\u00e4ger eines grofsen Preises und allgemein bekannt. Die Farbenzusammenstellung seiner Bilder hat kaum jemals der berufsm\u00e4fsigen Kritik Anlafs zu irgendwelchen diesbez\u00fcglichen Ausstellungen gegeben ; im Gegenteil gilt er als ein ganz besonders feiner Farbenk\u00fcnstler.1 Trotzdem habe ich in sehr zahlreichen Unter-\n1 Das letztere gilt \u00fcbrigens auch f\u00fcr den anderen gr\u00fcnschwachen, sowie den rotschwachen Maler.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nAlfred Guttmann.\nsuchungen bei ihm alle Symptome der Farbenschw\u00e4che gefunden. Vielleicht ist seine U.-E. im Gelb etwas besser als die meine, sonst ist seine Minderwertigkeit gegen\u00fcber farbigen Reizen der meinen gleich. Seine Steigerung des Farbenkontrastes ist ihm subjektiv gelegentlich st\u00f6rend gewesen, im \u00fcbrigen aber spielt die Kenntnis seiner Anomalie f\u00fcr den sehr intelligenten, gut beobachtenden K\u00fcnstler gar keine Rolle. Das andere Extrem bezeichnen F\u00e4lle wie der ScHUMANNsche 1 und ein von Naoel als Versuchsperson verwendeter Fall (Dr. A.).1 2 Schumann hat aufser dem kurzen Autoreferat leider nichts mehr \u00fcber seinen Farbensinn publiziert. Er hat in dem Referat sich auch so kurz gefafst, dafs ich, um seine Anomalie zu besprechen, \u00fcber den Rahmen des Kongrefsberichtes hinausgehen und meine eigenen, mit Sch. angestellten Versuche sowie die im jahrelangen Verkehr mit ihm gemachten Beobachtungen heranziehen mufs, um meine Meinung, zu begr\u00fcnden, dafs Sch. nichts anderes als ein anomaler Trichromat sei. Schumanns Beweisf\u00fchrung l\u00e4uft darauf hinaus, dafs Licht gewisser Wellenl\u00e4nge, welches vom Normalen als \u201egr\u00fcn\u201c bezeichnet wird, bei ihm keinerlei Gr\u00fcnempfindung hervor-mfen k\u00f6nne, d. h. farblos erscheine. Ihm fehle also der Gr\u00fcn-prozefs, w\u00e4hrend der Rotprozefs, wenn auch in abgeschw\u00e4chter Form, vorhanden sei. Es m\u00fcsse sich bei ihm um einen zentralen Ausfall handeln, da Mischungsgleichungen, insbesondere die R.-D.-Gleichung das Vorhandensein eines peripheren Gr\u00fcnprozesses bewiese. Wie ich schon in der Diskussion 3 hervorhob, ist Sch.s periphere Gr\u00fcnerregung der meinigen gleich, oder um mich genauer auszudr\u00fccken, das Verh\u00e4ltnis zwischen Rot- und Gr\u00fcnerregung ist f\u00fcr seine und meine Netzhaut gleich. Die R.-D.-Gleichung wird von Schumann in gleicher Weise wie von mir und allen \u00fcbrigen anomalen Trichromaten eingestellt. Hierbei ergab sich jedesmal, dafs Schumann, der das normale R.-Gr.-Mischungsverh\u00e4ltnis des Normalen ohne Schwanken als \u201erot\u201c bezeichnete, das Vergleichsgelb z\u00f6gernd und unsicher \u201ewahrscheinlich gr\u00fcn\u201c (oder so \u00e4hnlich) benannte. Niemals dachte Sch. etwa daran, das objektiv gelbe Vergleichslicht neben dem deutlichen Rot des Lichtgemisches als gelb\n1\tSchumann, a. a. O. S. 10\u201413.\n2\tW. A. Nagel, Versuche mit Eisenbahn-Signallichtern an Personen mit normalen und abnormen Farbensinn. Biese Zeitschrift 41, S, 455 ff.\n3\tKongrefsbericht, a. a. 0. S. 21.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\t257\n(oder braun, oder grau, oder orange) zu bezeichnen. Daraus scheint mir doch hervorzugehen, dafs Sch. rein zentral, d. h. in der Empfindung Gr\u00fcn kennt. Die Unterscheidung der durch Kontrast vom Rot hervorgerufenen fraglichen Farbenempfindung von einer durch farbloses oder gelbes Licht erzeugten Empfindung ist doch bei Spektralfarben, wo alle sekund\u00e4ren Kriterien (Glanz, konstante Intensit\u00e4t u. dgl.) fehlen, nur denkbar, wenn es sich eben um eine spezifische Empfindung handelt, die von der Empfindung der farblosen Helligkeit oder einem Gelb v\u00f6llig verschieden ist. Man kann also nicht, wie es Sch. tut, sagen, dafs ihm der zentrale Gr\u00fcnprozefs v\u00f6llig fehle, sondern man mufs nach meiner Auffassung folgendes annehmen: diejenigen Lichter, welche f\u00fcr den normalen Farbensinn die Gr\u00fcnempfindung ausl\u00f6sen, wirken auf Sch.s Farbensinn nicht spezifisch ; wohl aber l\u00f6sen subjektive, i. e. durch Kontrast vom Rot hervorgerufene Farbenerscheinungen in ihm eine Art Empfindung aus, die nicht dem Gelb, dem Orange, dem Weifs, dem Grau oder einer sonstigen ihm bekannten Empfindung \u00e4hnelt oder gar entspricht, sondern die eine Empfindung sui generis ist und die Stelle der Gr\u00fcnempfindung vertritt. Per exclusionem hierf\u00fcr die in Sch.s Farbensystem sonst fehlende Bezeichnung \u201eGr\u00fcn\u201c anzuwenden, hindert nichts. Es ist nicht die \u201enormale Gr\u00fcnempfindung\u201c, sondern die Empfindung eines gewissen, sozusagen nur im anomalen Farbensinn vorhandenen Gr\u00fcn, also eine vikariierende Gr\u00fcnempfindung, die vielleicht dem Normalen so unbekannt ist, wie umgekehrt die normale Gr\u00fcnempfindung dem Anomalen. Hielten es doch Maxwell und Helmholtz auch f\u00fcr unwahrscheinlich, dafs die Gelbempfindung des Farbenblinden mit der des Normalen \u00fcbereinstimmt. Sodann ist jene f\u00fcr Schumann g\u00fcltige Regel nicht, wie es fr\u00fcher schien, ausschliefslich Eigent\u00fcmlichkeit des ScHUMANNschen Farbensinns. Ich habe mich vielmehr durch jahrelange Selbstbeobachtung an Spektralfarben davon \u00fcberzeugt, dafs das Spektrum auch f\u00fcr mich dasselbe Aussehen hat, wie es Schumann f\u00fcr sich beschreibt, wenn ich sekund\u00e4re Hilfsmittel ausschliefse! Insbesondere erscheint mir reines Spektralgr\u00fcn, auch bei optimaler Helligkeit, isoliert gesehen vollkommen farblos. Diese \u201eneutrale Stelle\u201c liegt also f\u00fcr mich bei ca. 535\u2014545 wn, im reinen Gr\u00fcn, w\u00e4hrend der neutrale Punkt der Deuteranopen und Protanopen weiter nach dem brechbaren Ende zu liegt, etwa bei 490\u2014500 im Blaugr\u00fcn. Ich nehme","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nAlfred G-uttmann.\nan, dafs dies typisch f\u00fcr alle Gr\u00fcnschwachen ist. Dafs Prof. Schumann im t\u00e4glichen Leben bei der Erkennung von gr\u00fcnen Farben ganz ratlos und viel unsicherer ist, als ich, kann ich best\u00e4tigen. Indessen glaube ich, aus meinen Beobachtungen bestimmt folgern zu d\u00fcrfen, dafs Sch. aufser gr\u00fcnen auch andere, insbesondere rote Lichter ebenfalls erheblich schlechter erkennt, als ich.\nAbgesehen von diesem allgemeinen Einwand gegen Schumanns Diagnose der totalen zentralen Gr\u00fcnblindheit kommen noch diagnostisch-terminologische Bedenken hinzu. Man versteht unter einem \u201eGr\u00fcnblinden\u201c einen \u201eRotgr\u00fcnblinden mit unverk\u00fcrztem Spektrum\u201c (Deuteranopen). Wenn nun Sch. seine psychologisch gewonnene Diagnose ohne weitere Beschr\u00e4nkung \u201eGr\u00fcnblindheit\u201c nennt, so \u00f6ffnet er damit Verwechslungen die T\u00fcr. Ist es doch z. B. schon einem so guten Kenner wie Wirth passiert, dafs er in seinem h\u00f6chst bedeutsamen Referat1 davon spricht, dafs \u201edurch die bekannten diagnostischen Hilfsmittel\u201c bei Sch. \u201eGr\u00fcnblindheit festgestellt worden sei\u201c. Das Gegenteil ist richtig! Nach der bisher \u00fcblichen Art der Untersuchung mufs gerade Sch. als \u201enichtgr\u00fcnblind\u201c bezeichnet werden. Nur nach seiner Selbstbeobachtungsanalyse ist Sch. \u201egr\u00fcnblind\u201c. Dagegen kann ich Wirths Behauptung, dafs \u201eder Fall Sch.\u201c noch nach manchen Richtungen hin untersucht werden m\u00fcsse,2 3 ehe man ihn als St\u00fctze neuer und noch dazu so weittragender Hypothesen beiziehen k\u00f6nnte, wie M\u00fcller 3 das t\u00e4te, nur beipflichten. Es bestehen zwischen Sch.s und M\u00fcllers Publikationen doch manche durch die K\u00fcrze des Berichtes bedingte Unklarheiten, so dafs die Diagnose \u201eGr\u00fcnblindheit\u201c nicht bewiesen ist.\nVersuche, die Schumann angestellt hat, um seine Behauptung, die zentrale Gr\u00fcnempfindung sei bei ihm ausgefallen, durch Scheingleichungen zwischen Gr\u00fcn und Farblos zu beweisen, beruhten auf folgender \u00dcberlegung: da eine Gleichung zwischen Grau und Gr\u00fcn einzustellen infolge des auch bei ihm gesteigerten Kontrastes nicht gelang, weil ihm die graue Fl\u00e4che unmittelbar\n1\tMeumanns Archiv 5, 1905, bes. S. 189.\n2\tBesonderen Nutzen verspreche ich mir von Spektralfarbenuntersuchungen, bei denen die sekund\u00e4ren Kriterien ausschaltbar sind, wie sie bisher im Falle Sch. nur in geringem Umfange angestellt worden sind.\n3\tG. E. M\u00fcller. Die Theorie der Gegenfarben und die Farbenblindheit. Bericht \u00fcber den I. Kongr. f. exper. Psychol. 1904.","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n259\nneben der objektiv gr\u00fcnen und ihm (isoliert) farblos erscheinenden Vergleichsfl\u00e4che r\u00f6tlich erschien (wodurch hinwiederum das farblose Gr\u00fcn ver\u00e4ndert wurde), trennte er die beiden zu vergleichenden Fl\u00e4chen durch einen schmalen schwarzen Streifen. Wenn er die Mitte dieses Steges fixierte, so gelang es ihm dann, zwischen Natriumgelb und Talliumgr\u00fcn eine Gleichung herzustellen.\nIch halte das f\u00fcr keinen g\u00fcltigen Beweis. Schumann hat eben mittels dieser Methode den relativ farbent\u00fcchtigsten Teil seiner Netzhaut, die Fovea, ausgeschaltet und nur mittels jener parafoveal gelegenen Teile seiner Netzhaut beobachtet, welche einen gegen seine gew\u00f6hnliche Farbenschw\u00e4che wiederum erheblich verminderten Farbensinn haben. Ich verweise auf Kapitel III (besonders S. 254 und 262), wo ich zahlenm\u00e4fsig nachgewiesen habe, wde stark herabgesetzt die U.-E. dieser unmittelbar um die Fovea gelagerten Teile der Netzhaut ist. Schumanns Versuch beweist also nur, dafs er mit jenen \u201edichromatenartigenu Netzhautpartien eine Gleichung zwischen Gr\u00fcn und Grau erzielen kann. Ein einwandsfreier Beweis w\u00e4re wohl m\u00f6glich, wenn Sch. binokular beobachtete und wenn dabei eine vom einen Auge gesehene gr\u00fcne Fl\u00e4che einer mit dem anderen Auge gesehenen farblosen Fl\u00e4che v\u00f6llig gleich w\u00e4re. (Voraussetzung ist, dafs seine beiden Augen genau gleichen Farbensinn haben.) Ebenso wenig stringent scheint mir sein Versuch, in welchem er zuerst den Streifen fixierte, dann pl\u00f6tzlich wegzog und nun, ehe der Kontrast st\u00f6rend dazwischen trat, noch 2\u20143 mal mit dem Blick von dem einen farbigen Feld zum anderen \u00fcberging; dabei erschien ihm, abgesehen von einem minimalen Helligkeitsunterschied zwischen den beiden Feldern, die Gleichung richtig. Da der Kontrast des Anomalen, wie ich in meinen Versuchen \u00fcber die Erkennungszeit zweier Farben1 nachwies, sehr schnell eintritt, so glaube ich, aus diesem ScHUMANNschen Versuch nur folgern zu d\u00fcrfen, dafs die Zeit, die er beim schnellen Hin- und Herblicken brauchte, um jene zu vergleichenden Felder auf seine Netzhaut wirken zu lassen, zu gering war, um \u00fcberhaupt eine Farbenempfindung resp. spezifische Gr\u00fcn- bzw. Gelberregung hervorzubringen. Sch. hat eben nicht ber\u00fccksichtigt, dafs bei diesem schnellen Hin- und Herblicken beide Farben in ihm keine\n1 Vgl. Kap. II die Anm. auf S. 42 und Kap. II S. 62/3. Zeitsclir. f. Sinnespkysiol. 43.\n17","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nAlfred Gatt mann.\nEmpfindung hervorrufen k\u00f6nnen: Farbenempfindung und Farbenkontrast bleiben unter der Zeitschwelle.1 Die erw\u00e4hnte Gleichung erkannte ich selber, wie Sch. angibt, \u201enicht oder nur nach l\u00e4ngerer Betrachtung, wobei die Empfindlichkeit des Auges erheblich sinkt, an.\u201c Ob also die von rein gr\u00fcnen Lichtern ausgel\u00f6ste Empfindung f\u00fcr Sch. genau identisch mit einem gewissen, objektiv darstellbaren Grau ist, ist durch obige Versuche nicht entschieden. A priori kann ich die M\u00f6glichkeit nicht bestreiten. Ein schl\u00fcssiger Beweis scheint mir nicht erbracht. Indessen bleibt die Tatsache bestehen, dafs Sch. im t\u00e4glichen Leben sich viel weniger auf seine Farbenempfindung verlassen kann, als der Durchschnitt der Farbenschwachen.\nAuch der andere mir bekannte \u201eextrem Farbenschwache\u201c macht die gr\u00f6bsten Verwechslungen, so dafs man ihn ohne genaue Untersuchung zweifellos f\u00fcr \u201efarbenblind\u201c erkl\u00e4ren w\u00fcrde. So hielt er z. B. einmal einen kleinen Rubin, den ich ihm zeigte, f\u00fcr gr\u00fcn. Dieser Herr hat eine ganz enorm herabgesetzte U.-E. Er stellte als Gleichungen zum Natriumgelb ein Licht von 668 mi und eines von 568 ml ein. Als ich ihn unwissentlich diese Einstellungen beurteilen liefs, schr\u00e4nkte er die Grenzen der f\u00fcr gleich gehaltenen Lichter nur um 17 ml auf der Seite des langwelligen Endes ein, d. h. er machte Verwechslungen zwischen Gelb einerseits und andererseits sowohl einem reinen Rot als einem Gelbgr\u00fcn. Das sind Gleichungen, die der Durchschnitt der Farbenschwachen nie und nimmer anerkennt.\nEine Erkl\u00e4rung dieser grofsen individuellen Differenzen sehe ich in der oft erw\u00e4hnten Ausnutzung der sekund\u00e4ren Kriterien durch die Anomalen, die ja gerade bei der Erkennung der Pigmentfarben eine so grofse Rolle spielt und bei Spektralfarben so in die Irre f\u00fchrt. Ich m\u00f6chte hierf\u00fcr ein Beispiel aus meinen Versuchen mit Schumann geben: am Farbenmischapparat hatte ich das f\u00fcr ihn farblose reine Gr\u00fcn des T. eingestellt und bat ihn, mir zu sagen, welche Abweichung er als \u201efarbig\u201c erkannte. Ein etwa um 2 mi nach dem kalten Ende zu liegendes Licht nannte er \u201eetwas bl\u00e4ulich\u201c, ein um 1 f.i[i rot-w\u00e4rts liegendes Licht nannte er \u201eeine Spur gelblich\u201c. Nun verminderte ich die Helligkeit dieses Lichtes um ein ganz Geringes. Jetzt nannte Sch. das eben gelblich genannte Licht \u201enicht gelb-\n1 Vgl. Kap. V.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n261\nlieh und, als ich die Helligkeit noch etwas mehr verringerte, \u201ebl\u00e4ulich\u201c. Jene subjektive Sicherheit innerhalb der neutralen Strecke entsprach also keineswegs der objektiven qualitativen Unterscheidung des Lichtes: Helligkeits\u00e4nderung wurde als Farben\u00e4nderung empfunden, Dunklerwerden als Bl\u00e4ulichwerden beurteilt; es war eine typische Urteilst\u00e4uschung. Es mag mit der aufserordentlichen Sorgfalt der Selbstbeobachtung und der Selbstkritik des Psychologen Sch\u00fcmann Zusammenh\u00e4ngen, dafs er im t\u00e4glichen Leben \u2014 also bei Pigmentfarben \u2014 jene sekund\u00e4ren Kiiterien weniger benutzt als ein unbefangenerer Beobachter. Bei Spektralfarben weicht die Unsicherheit seiner Urteile lange nicht so erheblich von der mehligen ab wie bei Pigmenten. Die Kenntnis der Anomalie des Farbensinns und der Unzuverl\u00e4ssigkeit der Farbenerkennung spielt nat\u00fcrlich je nach der Pers\u00f6nlichkeit des einzelnen Anomalen eine grofse Polle.\nF\u00fcr alle unwissentlichen Versuche, in denen man sich sekund\u00e4rer Kriterien bedienen kann, sind infolgedessen Versuchspersonen wie Schumann und ich nicht mehr zu brauchen. Wenn ich ein Beispiel von mir anf\u00fchren darf: bei jeder, mir neben einem Kot \u201egr\u00fcn\u201c erscheinenden Farbe gebe ich erst nach leiblicher \u00dcberlegung, w7ie grobs wohl die Kontrastwirkung des Rot sein m\u00f6ge, ein Urteil ab. Ich suche also von dem Mafse der Gr\u00fcnempfindung den Anteil des Kontrasteffektes quasi abzuziehen. Manchmal gelingt das, meist aber verrechne ich mich und halte ein objektives Gr\u00fcn f\u00fcr Grau oder Braun, weil ich den Kontrast \u00fcbersch\u00e4tze, oder ich halte ein Grau oder Braun trotz meiner Kenntnis der Kontraststeigerung f\u00fcr objektives Gr\u00fcn. Die unendliche Mannigfaltigkeit der gegenseitigen Beeinflussung der Farben verhindert eben eine ann\u00e4hernd genaue \u201eBerechnung\u201c.\nAn eine zweite objektive Erkl\u00e4rungsm\u00f6glichkeit k\u00f6nnte man dann zun\u00e4chst denken: Wenn den h\u00f6heren Graden de\u00b1 Gr\u00fcnschw\u00e4che eine st\u00e4rkere Herabsetzung der peripheren Gi \u00fcnerregbarkeit entspr\u00e4che, w\u00fcrde vieles erkl\u00e4rt werden. Indessen haben alle meine Versuche mit den verschiedenen Spielarten von Gr\u00fcnschwachen ergeben, dafs das Verh\u00e4ltnis zwischen Pot- und Gr\u00fcnerregung der Netzhaut bei allen das gleiche ist. Die P.-D.-Gleichung z. B., die ein Ausdruck daf\u00fcr ist, wird von all den Personen gleichartig eingestellt, abgesehen von geringen Schwankungen, die mit der herabgesetzten U.-E., der Abh\u00e4ngigkeit von der jeweiligen Intensit\u00e4t und \u00e4hnlichen Dingen, worauf ich schon hinwies, gen\u00fcgend erkl\u00e4rt werden. Ebensowenig kann es sich um verschiedene physikalische Absorptionen im Makulapigment, dessen physikalische Wirksamkeit neuerdings\n17*","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nAlfred Guttmann.\nja yon Gullstrand 1 bestritten wird, handeln, wie durch Donders, y. Kries und seine Sch\u00fcler einwandsfrei dargelegt wdrd.\nAuch sehe ich keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Grad der Farbenschw\u00e4che und U.-E. Der relativ wenig farbenschwache anomale Maler ist gar nicht sehr viel besser in seiner U.-E., als ich. Und Prof. Schumann ist nicht um so viel unempfindlicher f\u00fcr Wellenl\u00e4ngenunterschiede, als dafs seine grofse Farbenschw\u00e4che im t\u00e4glichen Leben damit allein erkl\u00e4rt wird. Dagegen ist die U.-E. des vorhin erw\u00e4hnten, Schumann sonst sehr \u00e4hnlichen Falles enorm herabgesetzt (vgl. S. 260). Alle derartigen Abweichungen innerhalb dieses Typus der anomalen Trichromaten1 2 3 m\u00fcssen aber erst erheblich genauer untersucht werden, als es bisher geschehen ist. Zun\u00e4chst mufs sich ja durch Nachpr\u00fcfung meiner eigenen Versuche an vielen anderen anomalen Trichromaten erst ergeben, ob die von mir gefundenen Tatsachen wirklich alle typisch sind, oder ob ich individuelle Abweichungen irgendwo verallgemeinert habe. Erst dann kann man die Grenzf\u00e4lle zwischen normalen und anomalen Trichromaten (z. B. den Fall Sulzer) sowie zwischen Dichromaten und Trichromaten (z. B. den Fall Sch., den Nagel 3 beschrieben hat, und den Fall Nagel selbst) in Beziehung hierzu setzen.\nKapitel XI.\nZusammenfassung des Symptomenkomplexes.\nWiederholt ist im Vorigen besprochen worden, wie zwei der charakteristischen Symptome der Farbenschw\u00e4che einander gegenseitig beeinflussen. Alle diese you mir stets beim anomalen Trichromaten gefundenen Symptome erg\u00e4nzen sich zu einem eigenartigen und nur f\u00fcr diese Anomalie charakteristischen Komplex. S\u00e4mtliche Symptome k\u00f6nnen einander in der mannigfachsten Weise beeinflussen. Eine Er\u00f6rterung der 21 m\u00f6glichen einfachen Kombinationen zweier von den 7 Symptomen (die sich jedoch noch in mehrfacher Hinsicht\n1\tGullstrand: Die Frage der Macula centralis retinae. Gr\u00e4fes Archiv, 62, S. 1, ferner Gullstrand: Zur Maculafrage. Ebd., 66, S. 141.\n2\tAuch unter den Rotschwachen habe ich sehr grofse individuelle .Abweichungen der Farbenschw\u00e4che gefunden.\n3\tNagel: Dichromatische Fovea, trichromatisehe Peripherie. Diese Zeitschrift, 39.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n263\nbeeinflussen k\u00f6nnen), ist nat\u00fcrlich im einzelnen undurchf\u00fchrbar. Ich will nur die prinzipiellen Merkmale angeben, nach denen diese gegenseitige Beeinflussung zun\u00e4chst zwischen zwrei Symptomen m\u00f6glich ist.\nI. Zwei Symptome addieren sich.\na)\tBeide wirken sch\u00e4digend. Beispiel : Unterschwellige Intensit\u00e4t (S\u00e4ttigung) der Farben bei kurzer Darbietung.\nb)\tBeide wirken f\u00f6rdernd. Beispiel: Helligkeitsverschiedene (ges\u00e4ttigte) Farben von geringem Qualit\u00e4tsunterschied dicht nebeneinander.\nNB. Die sub a) genannte Summation ist in praxi sehr h\u00e4ufig, die sub b) genannte sehr selten.\n. II. Die Wirkung eines Symptoms wird durch die antagonistische Wirkung eines anderen annulliert.\nBeispiel a) : Eine farblose, durch Kontrast von benachbartem Kot gr\u00fcnerscheinende Fl\u00e4che verliert bei l\u00e4ngerer Betrachtung ihre scheinbare Farbigkeit (Endeffekt objektiv richtig).\nBeispiel b) : Zwei nur durch Kontraststeigerung \u00fcberschwellige, unges\u00e4ttigte Farben wrerden bei l\u00e4ngerer Betrachtung unterschwellig, scheinen farblos (Endeffekt objektiv falsch).\nIII. Ein Symptom \u00fcberwindet die geringere antagonistische Wirkung eines anderen.\na)\tDie Sch\u00e4digung \u00fcberwiegt. Beispiel : Allzu geringe S\u00e4ttigung l\u00e4fst die Kontraststeigerung nicht aufkommen (Florkontrast).\nb)\tDer Nutzen \u00fcberwiegt. Beispiel : Zwei Lichter von untermerklichem Qualit\u00e4tsunterschied werden durch Kontraststeigerung spezifisch erkennbar.\nWie sich nach allen diesen Richtungen hin je zwei Symptome beeinflussen k\u00f6nnen, so k\u00f6nnen sich nat\u00fcrlich auch mehr als zwei Symptome kombinieren bzw. der Endeffekt der Kombination zweier Symptome kann durch die Wirkung eines dritten einzelnen Symptoms oder den Endeffekt der Kombinationen zweier oder mehrerer anderer Symptome wiederum gesteigert oder aufgehoben oder in sein Gegenteil verkehrt werden. Die auf dem Zusammenwirken der einzelnen Symptome beruhende","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nAlfred Guttmann.\nFarbenschw\u00e4che der anomalen Trichromasie manifestiert sich daher in proteusartiger Weise.\nMit diesen \u00dcberlegungen sind wir der Beantwortung der Frage n\u00e4her gekommen, worauf die bisherige geringe Kenntnis der Symptome der anomalen Trichromasie beruht. Meines Wissens sind bis zum Jahre 1904 nur folgende 25 F\u00e4lle beobachtet resp. z. T. untersucht worden:\nLord Rayleigh hat 7 F\u00e4lle gefunden: 5 Gr\u00fcnschwache (Gr\u00fcnanomale), 2 Rotschwache (Rotanomale).\nDonders hat 10 F\u00e4lle gefunden und die meisten n\u00e4her untersucht.\nK\u00f6nig hat 3 F\u00e4lle gefunden und 2 davon n\u00e4her untersucht.\nv. Kries hat 4 F\u00e4lle gefunden und 2 davon n\u00e4her untersucht; sein 5. Fall ist eine K\u00d6NiGsche Versuchsperson.1\nSeit 1904, wo ich \u00fcber ein Material von 25 selbst beobachteten F\u00e4llen berichten konnte, ist die Literatur allerdings sehr angewachsen, besonders da jetzt auf Grund der Kenntnis des Symptomenkomplexes mittels verschiedener leicht anwendbarer Methoden die anomale Trichromasie auch vom Praktiker diagnostiziert werden kann. Ich selbst habe inzwischen ein paar Hundert Anomale gesehen. Der Grund, weshalb die anomale Trichromasie, die offenbar kaum viel seltener als Dichromasie vorkommt, so selten zur Beobachtung kam, liegt einmal in dem h\u00e4ufig geringen Grad der praktischen St\u00f6rung (nb. bei oberfl\u00e4chlicher Beobachtung \u2014 der Kenner sieht es meist sofort) und zweitens in dem aufserordentlich wechselvollen Bilde, das die Farbenschw\u00e4che darbietet, und das erkl\u00e4rt wird durch die gegenseitige Beeinflussung des Symptomenkomplexes. Die genannten Forscher besch\u00e4ftigten sich eben fast ausschliefslich mit der Untersuchung einzelner Symptome, z. B. der Unterschiedsempfindlichkeit, und legten diese als Mafsstab der Farbenschw\u00e4che an. Rayleigh negiert in der kurzen Notiz die Farbenschw\u00e4che der Anomalen. Donders fand eine herabgesetzte U.-E. und konstatierte, dafs die Anomalen die STiLLiNGschen Tafeln nur z. T. und mit M\u00fche entziffern konnten, und auch bei Holmgreen, z. T. wenigstens, Schwierigkeiten fanden ; andererseits konnte er bei einigen seiner\n1 Die F\u00e4lle von Lotze und Levy sind unter v. Kries angef\u00fchrt. Schuster hat nach einer Notiz, die ich bei Levy finde, einen Fall von Rot-anomalie publiziert. (Ob er Gr\u00fcnanomale gefunden hat, kann ich nicht sagen, da mir die Originalarbeit nicht zug\u00e4nglich war.)","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber F\u00e4rbens chic \u00e4che.\n265\nAnomalen sich nicht davon \u00fcberzeugen, dafs sie einen \u201eschwachen Farbensinn\u201c h\u00e4tten. Donders unterscheidet prinzipiell1 zwischen \u201eunvollkommenem Farbensinn\u201c, der bei Normalen vorkommt, \u201eherabgesetztem Farbensinn\u201c, den er bei allen Anomalen fand, und \u201eschwachem Farbensinn\u201c. Von letzterem sagt er ausdr\u00fccklich an mehreren Stellen, dafs er ihn bei mehreren Personen dieser Kategorie nicht fand; so war bei einem Anomalen (Prof. Schaeeer) \u201eder Farbensinn so gut wie normal\u201c, bei einem anderen (Blonk) konstatierte er \u201eeinen nahezu vollkommenen Farbensinn\u201c. Gerade diese Person konnten eben die von Donders als Kriterium des \u201eschwachen Farbensinns\u201c angesehenen Proben gut bestehen (Stilling-, 2. Ausgabe; doppelte Fl\u00fcssigkeitsprismen, welche Mischung von Gelb und Gr\u00fcn geben; Holmgreens Wollen). Leider ist Donders nicht auf den Gedanken gekommen, seine eigene Methode der Winkelgr\u00f6fse der Farben hier anzuwenden. So fand er bei derartigen Personen als Hauptsymptom des herabgesetzten Farbensinns nur eine geringere oder gr\u00f6fsere Verminderung der U.-E. im Gelb.\nKoenig, v. Kries, Lotze, Levy, die sp\u00e4teren Untersucher der anomalen Trichromasie, haben, was die Frage des schwachen Farbensinns anlangt, ebenfalls in erster Linie von den hier in Betracht kommenden Symptomen die U.-E. untersucht, Farbengleichungen einstellen lassen, bzw. den Kurvenverlauf verfolgt u. a.\nNachdem sich zuf\u00e4lligerweise gezeigt hatte, dafs ich selbst im Besitz eines anomalen trichromatischen Farbensystems bin, habe ich dies zu untersuchen auf Prof. Nagels Anregung unternommen; dabei konnte ich auf Grund jahrelanger Selbstbeobachtung zu neuen Gesichtspunkten der Untersuchungsmethodik gelangen, und den Symptomenkomplex allm\u00e4hlich experimentell analytisch zerlegen und synthetisch (begrifflich) hersteilen. Gerade in dieser doppelten Betrachtungsweise fand ich nun den Schl\u00fcssel zum Verst\u00e4ndnis der in verschiedenen Punkten widerspruchsvollen Resultate fr\u00fcherer Autoren. Man hatte eben h\u00e4ufig nicht, wie man glaubte, ein Symptom untersucht, sondern \u201eBruttobestimmungen\u201c gemacht, indem man gleichzeitig experimentell mehrere Symptome der Farbenschw\u00e4che untersuchte, ohne sich\n1 Nur ganz ausnahmsweise weicht er von seiner eigenen Terminologie ab (z. B. S. 527).","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nAlfred Guttmann.\ndar\u00fcber klar zu sein.1 2 Oder man hatte ein Symptom unbewufst isoliert untersucht und zog dann allgemeine Folgerungen.\nSo erkl\u00e4rt es sich auch, dafs sich in der Literatur des letzten Jahrzehntes vor Entdeckung der anomalen Trichromasie eine Anzahl von \u201emerkw\u00fcrdigen\u201c Angaben \u00fcber Farbensinnanomalien findet. Je nach den zuf\u00e4llig verwendeten Pr\u00fcfungsmethoden und der theoretischen Stellung des Autors, der ein derartiges Kuriosum fand, aber nicht deuten konnte, werden dann diese Personen als \u201efarbent\u00fcchtig\u201c oder \u201efarbenblind\u201c bezeichnet, oder in den grofsen Sammeltopf des \u201everminderten Farbensinns\u201c geworfen.\nEs ist das ein Analogon zn so vielen fr\u00fcheren Untersuchungen auf anderen Gebieten des Farbensinns: eine grofse Anzahl sehr wertvoller Arbeiten mufs f\u00fcr die theoretische Deutung ausgeschaltet werden, andere sind nur sehr vorsichtig zu benutzen, weil sie eine Untersuchung des Farbensinns bei Dunkeladaptation bzw. ohne striktes Aufrechterhalten der Helladaptation darstellen, mit anderen Worten, weil sie nicht die Funktion der Zapfen als der die Farbenempfindung vermittelnden Elemente aus-dr\u00fccken, sondern zugleich die Funktion des farbenunempfindlichen, dem D\u00e4mmerungssehen dienenden St\u00e4bchenapparates.\nAus der grofsen Zahl der von mir gefundenen derartigen F\u00e4lle, wo es sich um ein bzw. mehrere Symptome der anomalen Trichromasie gehandelt hat, m\u00f6chte ich einige anf\u00fchren.\nLiebreich 2 fand 1872 einen angeblich farbenblinden Maler, der sonnenbeleuchtete rote D\u00e4cher richtig rot, die Schatten dagegen gr\u00fcn malte (Kontrast?). Ebenfalls einen Maler betrifft eine Beobachtung von Hirschbero 1878.3 4 Auch hier spricht die leider sehr kurze Beschreibung eher f\u00fcr Farbenschw\u00e4che.\nDonders 4 und seine Assistenten fanden 1877 bei ihren Massenuntersuchungen, in denen die Winkelgr\u00f6fse der Farbe als\n1\tIm Kap. IV dieser Arbeit hat mir mein Ged\u00e4chtnis einen kleinen Streich gespielt: ich glaubte mich zu erinnern, dafs Feilchenfelds Versuche (mit mir als Versuchsperson) bei gleichz ei tiger Verdunkelung und Verkleinerung der Signallaternen stattfanden. Ich habe mich inzwischen \u00fcberzeugt, dafs dies zwei verschiedene Versuchsreihen waren. Meine Folgerungen werden davon jedoch nicht ber\u00fchrt, da die Resultate von Feilchen-feld und mir ja v\u00f6llig \u00fcbereinstimmen (cf. Kap. Ill, S. 281).\n2\tR. Liebeeich. On defects of vision in painters. (Referat in Nagels Jahresbericht 1872. S. 65\u201468.)\n3\tJ. Hikschberg. \u00dcber angeborene Farbenblindheit. Arch. f. Anat. u. Physiol. (Physiol. Abt.) 1878. S. 332\u2014333.\n4\tDonders a. a. 0.","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n267\nKriterium des Grades der Farbenblindheit benutzt wurde, unter 2300 M\u00e4nnern 6,6 % Farbenunt\u00fcehtige. Unter diesen befanden sich also aufser den Dichromaten die anomalen Trichromaten ; damit w\u00fcrde auch die aufserordentlich hohe Zahl erkl\u00e4rt, wie sie sonst bei anderen Untersuchungsmethoden, z. B. nach Holm-green, nicht gefunden wurde.\nHermann Cohn fand 1877 bei seinen oben erw\u00e4hnten Massenuntersuchungen (nach Holmgreen und mehreren Methoden) grofse Differenzen in der Abh\u00e4ngigkeit der Farbenurteile von der Intensit\u00e4t. In der unten genannten Arbeit1 ist \u00fcbrigens ziemlich sicher der unter \u201eAggravanten und Simulanten\u201c beschriebene Fall Nr. 11 ein Anomaler, da er ca. 1 Quadratzentimeter grofse Farbenproben auf 5 m Entfernung nicht erkannte und sehr wechselnde, widerspruchsvolle Angaben auch sonst machte; gleichfalls suspekt auf anomale Trichromasie scheinen mir die sog. Farbenblinden Nr. 31 und 73.\nLederer2 * fand 1877 unter 1312 der Marine angeh\u00f6rigen Leuten 747, die die HoLMGREENsehen Proben fehlerhaft benannten, aber nur 63 unterschieden schlecht, mehrere darunter unterschieden sie nur langsam; man solle das nicht aufser acht lassen bei der Verwendung solcher Leute zu irgend einem erheblichen Dienst; farbenblind seien sie jedoch nicht!\nDesgleichen fand 1880 Keersmaeker 3 ebenfalls Abh\u00e4ngigkeit verschiedener Personen von der Dauer der Betrachtung. Es scheint, dafs er diese Personen nicht f\u00fcr normal hielt, denn er sagt ausdr\u00fccklich, die Wichtigkeit dieser Beobachtung, die niemand \u00fcbersehen k\u00f6nne, sei doch von niemandem ernstlich in Rechnung gezogen worden (Polemik gegen Holmgreen).\nReuss4 fand 1880 bei Eisenbahnangestellten unter 44 Personen, die \u201enormal\u201c waren solche, die zur Erkennung der Farben aufserordentlich grofse Sehwinkel brauchten.\nIch begn\u00fcge mich mit der Aufzeichnung dieser unerkannten\n1\tH. Cohn. Beobachtungen an 100 Farbenblinden. 5. Versammlung deutscher Naturforscher und \u00c4rzte zu Kassel.\n2\tA. Lederer. Farbenblindheit und mangelhafter Farbensinn. Wiener med. Wochenschr. 1877, Fleft 2\u20144.\n8 Keersmaeker. Examen de la vision chez les employ\u00e9s de chemin de fer. Recueil d\u2019ophthalmol. S. 705.\n4 A. v. Reuss. Untersuchungen der Augen von Eisenbahnbediensteten auf Farbensinn und Refraktion. G-raefes Archiv 29, 2.","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nAlfred Gatt mann.\nAnomalien ans \u201evor-BAYLEiGHscher\u201c Zeit. Die Liste derartiger F\u00e4lle k\u00f6nnte nat\u00fcrlich noch sehr verl\u00e4ngert werden. Meist haben eben die fr\u00fcheren Autoren nach Holmgbeen untersucht. Liefsen sie dann die Betreffenden nahe an die Farbenb\u00fcndel herantreten oder modifizierten sie die HoLMGBEENsche Methode sonstwie, so passierten wohl alle Anomalen als farbent\u00fcchtig. Bei strenger Pr\u00fcfung, d. h. genau nach Holmgreens Vorschrift, w\u00fcrden wohl die meisten Anomalen irgendwie aufgefallen, aber trotzdem als \u201enicht farbenblind\u201c in der Mehrzahl der F\u00e4lle durchgekommen sein.1 Auch bei der SuLLiNGschen, fr\u00fcher viel verwendeten Methode spielt die Befolgung der Vorschriften eine grofse Bolle: die in den \u00e4lteren Auflagen (I.\u2014IX.) quadratisch angeordneten Zahlen kann ich z. B. aus gr\u00f6fserer Entfernung absolut nicht lesen, aus der N\u00e4he kann ich die meisten entziffern. (Bei den neueren Auflagen versagt jedoch auch dies Mittel.)\nIn K\u00fcrze mufs ich noch einiges \u00fcber die Arbeiten der Autoren sagen, die im Gegensatz zu Dondees die Farbenschw\u00e4che der Anomalen geleugnet haben: Koenig und Kries (resp. Lotze und Levy). Koenig findet die Bezeichnung \u201efarbenschwach\u201c fast ebenso ungenau wie die Bezeichnung \u201efarbenblind\u201c. Es handle sich nicht um eine verminderte F\u00e4higkeit in der Unterscheidung verschiedener Farbent\u00f6ne, sondern es seien die Farbent\u00f6ne nur auf eine andere Weise im Farbenspektrum verteilt , so erschienen Bot-gelb und Gelb-gr\u00fcn bei schwacher Beleuchtung ziemlich \u00e4hnlich, dagegen unterschieden diese Personen die k arbent\u00f6ne im Gr\u00fcn und im \u00dcbergang von Bot zum Orange sch\u00e4rfer.'2 Wie oben ausgef\u00fchrt, kam ich zu demselben Be-s ul t\u00e4te wie Koerig, was die U.-E. in der Gegend der orangegelben und gelbgr\u00fcnen Lichter betrifft. Eine erh\u00f6hte Unterscheidungsf\u00e4higkeit in Gr\u00fcn, Bot und Botorange kann ich nicht mit Sicherheit behaupten. [\u00dcbrigens befindet sich Nagel im Irrtum, wenn er a. a. O. S. 253 sagt, ich h\u00e4tte diese Erh\u00f6hung im Blaugr\u00fcn (um 500 tLtl) gefunden; ich hatte im Kongrefsbericht vom Gr\u00fcn (also um 535 tLtl) gesprochen.] Da indessen Koenig nur die U. E. als Beweis anf\u00fchrt, dafs der Farbensinn nicht vermindert sei, erledigt sich eine weitere Diskussion dieses noch unklaren Punktes in Anbetracht der Herabsetzung des Farbensinns durch die anderen Symptome.\n1 Vgl. Nagels diagnostische Arbeiten seit 1904.\nICoenig, Ges. Abhdl. a. a. 0. S. 98, Anmerkung.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n269\nDie von Kries noch heut vertretene Ansicht, dafs die Anomalen nicht farbenschwach w\u00e4ren, st\u00fctzt sich haupts\u00e4chlich auf den aus Lotzes Untersuchungen nachtr\u00e4glich berechneten Grad seiner Abweichungen, v. Kries hatte Lotze 1 die Aufgabe gestellt, die von Kries angegriffene HERiNGsche Hypothese, dafs die anomale Trichromasie auf abnormer physikalischer Absorption beruhe, nachzupr\u00fcfen. Die LoTZEschen Untersuchungen widerlegten diese Annahme Herings vollst\u00e4ndig. Im Verlaufe seiner theoretischen Er\u00f6rterungen kommt dann Lotze auf die Frage seiner angeblichen Farbent\u00fcchtigkeit. Diese Annahme st\u00fctzt er einmal darauf, dafs er die HoLMGREENsche Wollprobe schnell und mit vollst\u00e4ndiger Sicherheit erledigen k\u00f6nne, ferner mit der nachtr\u00e4glichen Berechnung der mittleren Abweichung seiner Gleichungseinstellungen, die die Sicherheit der Einstellung des Normalen gehabt h\u00e4tten. Das erste Argument ist nach wiederholt er\u00f6rterten Prinzipien kein Kriterium f\u00fcr Farbent\u00fcchtigkeit. Was die zweite Frage betrifft, so ergibt sich aus dem Studium der Arbeit nicht genau, ob L. im Na.-Gelb bei Einstellung der R.-D.-Gleichung darum dieselbe Sicherheit wie der Normale zeigte, weil er sekund\u00e4re Kriterien benutzte, oder ob er wirklich eine durchaus normale U.-E. besafs. Da alle fr\u00fcheren und sp\u00e4teren Untersucher eine, sei es auch nur geringe Minderwertigkeit der U.-E. der Anomalen fanden, so m\u00f6chte ich nicht ohne weiteres annehmen, dafs L. eine Ausnahmestellung eingenommen h\u00e4tte. Lotze gibt an, dafs er jedesmal das Lichtgemisch dem Na.-Gelb an Farbe und Helligkeit gleich gemacht habe; er sagt aber kurz darauf, dafs die eingestellten Werte der Spaltweiten keine nennenswerten Differenzen gegen den Normalen ergeben h\u00e4tten. In den Tabellen sind sie leider nicht notiert. \u201eSie haben (a. a. O. S. 12) auch bei diesen Versuchen kein besonderes Interesse f\u00fcr uns.\u201c Die Mittelwerte sind aus nur je 6 Einstellungen berechnet, \u00fcber die Anzahl der einzelnen Versuchsreihen sagt L. nichts. Ich m\u00f6chte also danach vermuten, dafs es sich bei diesen, ja nur nebenher gemachten Beobachtungen um eine individuelle, unzweckm\u00e4fsige Beobachtungsmethode des in Farbenuntersuchungen damals noch wenig ge\u00fcbten Autors handelt (die Arbeit ist eine Dissertation). Jedenfalls mufs abgewartet werden, ob man sonst noch einmal bei\n1 Lotze, Untersuchungen eines anomalen trichromatischen Farben systems. Dissert. Freiburg 1898.","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nAlfred Guttmann.\neinem relativ wenig farbenschwachen Anomalen eine solche absolut normale U.-E. finden kann, wie sie bisher nur Lotze bei sich selbst gefunden hat.1\nDie zweite Einwendung von Kries gegen die Annahme eines schwachen Farbensinns beim anomalen Trichromaten ist die, dafs die Unleserlichkeit der STiLLixGschen Tafeln kein Beweis f\u00fcr Farbenschw\u00e4che sei. v. Kries argumentiert so, dafs auch der Anomale Farbentafeln konstruieren k\u00f6nne, die der Normale nicht lesen k\u00f6nne, mit anderen Worten, dafs der anomale Trichromat unter Umst\u00e4nden Farbenunterschiede sieht, die der Normale nicht erkennen kann; das Paradigma daf\u00fcr ist die K.-D.-Gleichung. Somit k\u00f6nne also auch der Normale in einem Kreise von Anomalen als \u201efarbenschwach\u201c erscheinen. Diese \u00dcberlegung ist zweifellos theoretisch richtig \u2014 dafs eine derartige Farbentafel praktisch konstruierbar sei, bestreitet allerdings Nagel \u2014, sie f\u00fchrt aber in die Diskussion schon das Prinzip des \u201eMajorit\u00e4tsbeschlusses\u201c \u00fcber das, was \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c sei, ein. Da nun die Anomalen eben sehr in der Minorit\u00e4t sind, bleibt die Annahme zu Recht bestehen, dafs der Farbensinn in sozialer Beziehung aus diesem Grunde minderwertig ist, weil die Anomalen den Anforderungen, die die normale Mehrheit der Menschen an ihre Farbenerkennung und -Unterscheidung stellt, durchaus nicht gewachsen sind. Ihre (theoretische) \u00dcberwertigkeit im Gebiete anderer Farben k\u00f6nnen sie in praxi so gut wie niemals ausnutzen. Farbenzusammenstellungen, wie die STiLLiNGschen Tafeln sie enthalten, sind jedoch aufserordent-lich h\u00e4ufig und praktisch wichtig.\nDie einzige Arbeit \u00fcber den anderen Typ der Anomalen von Levy habe ich schon so ausf\u00fchrlich in den fr\u00fcheren Kapiteln besprochen, dafs ich nun wohl nicht mehr zu begr\u00fcnden n\u00f6tig habe, warum ich seine Annahme, dafs er in sozialer Hinsicht als farbenschwach zu bezeichnen sei, teile, hingegen seine Auffassung, dafs er wissenschaftlich als farbent\u00fcchtig zu bezeichnen sei, nicht f\u00fcr richtig halte. Ein genaueres Studium dieser Art der anomalen Trichromasie wird ja wohl auch in dieser Beziehung noch weitere Aufschl\u00fcsse bringen.\n1 Dafs die Genauigkeit des Apparates nicht ausgereicht h\u00e4tte, k\u00f6nnte auch noch hinzukommen, falls Lotzes U.-E. wirklich besonders \"wenig herabgesetzt war.","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n271\nIch fasse zusammen: nicht einzelne Symptome anomaler Farbenempfindung bedeuten \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c, sondern ein nur bei anomaler Trichromasie yorkommender eigenartigen Symptomenkomplex.\nBei der bisherigen mangelhaften Kenntnis der Zusammengeh\u00f6rigkeit aller dieser Einzelerscheinungen kann es uns also nicht wundernehmen, dafs bisher \u201eniemand versucht hat, den Begriff des schwachen Farbensinns scharf zu umgrenzen\u201c.1 2 Man sah in dieser Bezeichnung nur einen f\u00fcr praktische Zwecke geeigneten Sammelnamen. Ich glaube, an Stelle dessen auf Grund meiner Untersuchungen eine wissenschaftliche Definition der Farbenschw\u00e4che geben zu k\u00f6nnen.\nKapitel XII.\nTheoretisches.\nDas eigentliche Wesen der \u201eF\u00e4rb en schw\u00e4che\u201c haben die fr\u00fcheren Untersuchungen nicht erkl\u00e4rt, wenn sie auch unsere Kenntnisse \u00fcber den Farbensinn der anomalen Trichro-maten in verschiedener Flinsicht sehr gef\u00f6rdert haben. Sollte das etwa daran liegen, dafs die Methoden und die Deutung der so gewonnenen Resultate allzu ausschliefslich dem Studium der Erscheinungen galten, die ein physikalischer Reiz in der Peripherie des Sehorgans, der Netzhaut ausl\u00f6st? Ich st\u00fctze mich auf die Autorit\u00e4t von Dokders und v. Kries, wenn ich nun versuche, mittels einer anderen Betrachtungsweise unserem Problem n\u00e4her zu kommen.\nSchon 1881 hat Donders 2 darauf hingewiesen, dafs in der perzipierenden Schicht der Netzhaut drei fundamentale Prozesse auf treten m\u00fcssen. Er nennt fundamental die Farben, die \u201edie einfachen Prozesse in der Peripherie repr\u00e4sentieren\u201c3 (sei. R.-Gr.-V.). \u201eAber nichts hindert, dafs sie im Zentrum einen zweifachen Prozefs hervorrufen und also zusammengesetzte Farben sind.\u201c \u2014 Ferner: \u201eob diese Prozesse sich einfach kom-\n1\tNagel a. a. O. S. 250.\n2\tDonders, \u00dcber Farbensysteme. G-raef es Arch. f. Ophthalmol. 27,1. 1881.\n3\tDiese DoKDERSsche \u201eFundamentalfarbe\u201c ist vollkommen identisch mit der KoENiGSchen \u201eGrundempfindung\u201c (vgl. Koenig a. a. O. S. 216).","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nAlfred Guttmann.\nbinieren, oder ob sie durch Zusammenwirken neue Prozesse erzeugen, dar\u00fcber unterstellt sie (die Theorie) nichts, und also auch nichts \u00fcber die resultierenden Farben, als\nEmpfindungen\u201c (im Original gesperrt gedruckt. Verf.) _\nund sodann in dem abschliefsenden, besonders die \u201e\u00dcbergangsformen\u201c ber\u00fccksichtigenden Abschnitt: \u201eich w\u00fcrde nicht meinen, mit Ad. Fick und Br\u00fccke bei der Erkl\u00e4rung dieser Empfindungen von der Voraussetzung ausgehen zu d\u00fcrfen, dafs wir. es hier wie \u00fcberall mit denselben 3 Arten von Zentralgebilden, das ist mit den 3 normalen Energien, zu tun haben, und dafs der Grund der Abweichung nur in den peripherischen Elementen zu suchen sei.\u201c (Im Original nicht gesperrt. Verf.)\nIm Jahre 1882 hat y. Kries1 die HELMiiOLTzsche Theorie \u00e4hnlich und noch detaillierter modifiziert: \u201eIch weifs nicht, ob sich irgend jemand, speziell ob sich Helmholtz eine Forterstreckung der supponierten Gliederung nach den drei Komponenten Rot, Gr\u00fcn, Violett oder Rot, Gr\u00fcn, Blau bis in die letzten zentralen Verbreitungen der Sehnervenfasern vorgestellt hat. Eine Ausdehnung auf die zentralsten Vorg\u00e4nge im Sehorgan h\u00e4tte schon durch die Inkongruenz mit den unmittelbar zu beobachtenden Tatsachen der Empfindung sich verbieten sollen.\u201c F\u00fcr die zentrale Bedingung der Farbenempfindung schlug Kries den Namen \u201eterminalen Farbensinn\u201c vor. \u201eIch w\u00fcrde die Bezeichnung \u201ezentraler Farbensinn\u201c vorziehen, wenn dieser nicht f\u00fcr den Farbensinn an der Stelle des deutlichen Sehens schon im Gebrauch w\u00e4re.\u201c (Anm. a. a. O. S. 171.) \u201eOb dieser in einen Rot-Gr\u00fcn- oder einen Gelb-Blau-Sinn zu teilen sei, bleibt vorl\u00e4ufig dahingestefit. Hiernach wird man die Erm\u00fcdungs- und eine Reihe anderer Erscheinungen aus dem \"Verhalten in den peripheren Komponenten zu erkl\u00e4ren haben, die erworbene Farbenblindheit dagegen in vielen F\u00e4llen durch St\u00f6rung des terminalen Farbensinnes. F\u00fcr die angeborene k arbenblindheit bliebe zun\u00e4chst noch fraglich, ob alle F\u00e4lle durch Ausfall von peripheren Komponenten bedingt seien. Als\neine Eigent\u00fcmlichkeit des terminalen Farbensinnes w\u00e4re zu bezeichnen, dafs Farbenempfindung nur entsteht, wenn gewisse Bedingungen betreffs der\n1 v. Kries, Die Gesichtsempfindungen und ihre Analyse. Leipzig 1882.","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n273\nIntensit\u00e4tsowieder zeitlichen und r\u00e4umlichen Ausdehnung der peripheren Erregungsvorg\u00e4nge erf\u00fcllt sind.\u201c (Im Original nicht gesperrt gedruckt. Verf.)\nDie Farbenschw\u00e4che der anomalen Trichromaten ausschliefs-lich, entweder auf Grund einer Dreikomponententheorie oder einer Vierfarbentheorie zu erkl\u00e4ren, scheint mir nun ebenfalls unm\u00f6glich. Die gr\u00f6fste Schwierigkeit bietet die Erscheinung der anomalen Trichromasie f\u00fcr die Vierfarbentheorie, insbesondere f\u00fcr die Theorie der Gegenfarben. Das Verf\u00fchrerische dieser Theorie beruhte darauf, dafs die angeborene Farbenblindheit so einfach mit dem paarweisen Ausfall zweier Gegenfarben erkl\u00e4rbar schien \u2014 allerdings ohne Ber\u00fccksichtigung der Typenunterschiede der Protanopen und Deuteranopen. In meinem Fall jedoch handelt es sich einmal um den isolierten (zentralen) Ausfall der eigentlichen spezifischen Gr\u00fcnempfindung (insofern als gerade die vom Normalen als Gr\u00fcn bezeichneten spektralen Lichter keine Farbenempfindung ausl\u00f6sen) und ferner um die zwar gleichzeitig, jedoch in sehr verschiedenem Grade herabgesetzte Reizempfindlichkeit der Netzhaut (der Peripherie) gegen Rot und Gr\u00fcn. Sodann ist die Gelbempfindung ebenfalls beeintr\u00e4chtigt, die Blauempfindung scheinbar vollkommen normal. Dafs gerade eine bestimmte Mischung von Rot und Gr\u00fcn, die von der des Normalen ab weicht, die Empfindung des Gelb beim Anomalen hervorruft, d\u00fcrfte besonders schwer aus dieser Theorie zu erkl\u00e4ren sein. Schliefslich weichen die Grenzen des Farbengesichtsfeldes offenbar auch von den Regeln ab, in denen die HERiNGsche Schule eine wichtige St\u00fctze ihrer Theorien sieht. Hering selbst hat urspr\u00fcnglich diese Anomalie mit physikalisch-abnormer Resorption zu erkl\u00e4ren versucht (relative Blausichtigkeit resp. Gelbsichtig-keit), womit er ja auch lange Zeit versucht hatte, die Typenunterschiede der Dichromaten zu erkl\u00e4ren. Diese Auffassung kann nun als endg\u00fcltig widerlegt betrachtet werden.\nv. Tschermak, unter den j\u00fcngeren Physiologen der Hauptvertreter HERiNGscher Anschauung, hat sich \u00fcber unsere Frage theoretisch sehr zur\u00fcckhaltend ausgedr\u00fcckt und nur darauf hingewiesen, dafs Herings Theorie der Gegenfarben sich nur auf Prozesse im nerv\u00f6sen Apparat, nicht auch auf die hypothetischen Sehstoffe, den Apparat der chemischen Reizvermittler, beziehe.1 Dafs damit\n1 Ygl. Kongrefsbericht S. 19 f.","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nAlfred Guttmann.\nmeine obigen Einwendungen nicht widerlegt sind, ist klar. Bedenklich scheint mir besonders f\u00fcr die Theorie der Gegenfarben Tscheemaks Hypothese, dafs man f\u00fcr Schumann \u201ezun\u00e4chst Schw\u00e4che der nerv\u00f6sen Rotgr\u00fcnerregbarkeit und Minderung des hypothetischen Gr\u00fcn-Sehstoffes annehmen konnte\u201c. Ich m\u00f6chte aber, da Heeing seit langen Jahren sich nicht mehr zu allen diesen Fragen ge\u00e4ufsert hat und seine ausf\u00fchrliche Darlegung der in Betracht kommenden Frage in K\u00fcrze zu erwarten ist, nicht schon heute gegen theoretische Anschauungen polemisieren, die Heeino selbst m\u00f6glicherweise in ihrer alten Form nicht mehr aufrecht erhalten wird, nachdem sie sich so oft im Widerspruch mit den Ergebnissen neuerer Forschungen stehend erwiesen haben.\nAber auch f\u00fcr die Dreikomponententheorie bestehen gewisse Schwierigkeiten. Den gr\u00f6fsten Teil der Erscheinungen zwar erkl\u00e4rt die Annahme der verminderten T\u00e4tigkeit einer (bzw. zweier) Komponente. Bekanntlich hat schon Koenig 1 die Helmholtz-sche Theorie modifiziert. Danach fehlen bei Farbenblindheit die rot- oder gr\u00fcnempfindenden Elemente, wie sie Helmholtz zuerst \u201eprovisorisch\u201c annahm, nicht, sondern die Abh\u00e4ngigkeit von der Wellenl\u00e4nge des als Reiz wirkenden Lichtes (ihre Erregungsst\u00e4rke) ist eine andere geworden. Die ihm bekannten Eigent\u00fcmlichkeiten der anomal-trichromatischen Systeme konnte Koenig durch eine Modifikation des Kurvenverlaufes darstellen. Es zeigten sowohl die auf experimenteller Basis gefundenen Kurven der Grundempfindung als auch die auf rechnerische Weise gefundenen Elementarempfindungskurven eine deutliche Verschiebung und Erniedrigung der Gr\u00fcnkurve, eine minder deutliche der Rotkurve. Eine \u2014 allerdings minimale \u2014 Abweichung zeigt auch die dritte Kurve (am meisten gerade bei 540 w). Im Text sagt Koenig (S. 311) ausdr\u00fccklich : \u201eVon den drei Grundempfindungen der anomalen Trichromaten k\u00f6nnen zwei mit denjenigen der normalen Trichromaten identisch sein, die dritte Grundempfindung (Gr\u00fcn) ist nicht nur in ihrer spektralen Verteilung in beiden Gruppen zweifellos verschieden, sondern es kann auch keine durch eine homogene lineare Gleichung darstellbare Beziehung bestehen.\u201c Wohl gemerkt, Koenig sagt \u201ek\u00f6nnen\u201c, nicht \u201em\u00fcssen\u201c ! Auf Grund der in meiner Arbeit mittels anderer Methoden (Schwellenwerte u. a.) gefundenen\n1 Koenig, Gesammelte Werke S. 331.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n275\nResultate m\u00f6chte ich annehmen, dafs mindestens die zwei ersten Kurven, vielleicht alle drei ver\u00e4ndert sind. Mit einer Ver\u00e4nderung der Gr\u00fcnkurve allein w\u00fcrde die Minderwertigkeit der anomalen Trichromaten meiner Art gegen\u00fcber roten und violetten Lichtern nicht gen\u00fcgend erkl\u00e4rt sein. Die Neukonstruktion einer Kurve w\u00e4re sehr erw\u00fcnscht \u2014 f\u00fcr den Rotschwachen ist sie \u00fcberhaupt noch nicht konstruiert \u2014, zumal da die von Koenig und Dieteeici untersuchten beiden anomalen Trichromaten aus Zeitmangel der Versuchspersonen nicht mit der von den Autoren selbst erstrebten, und f\u00fcr die normalen Versuchspersonen auch erreichten Genauigkeit untersucht werden konnten, v. Keies verweist im Handbuch1 auf noch unver\u00f6ffentlichte Untersuchungen, wonach es \u201ewahrscheinlich sei\u201c, dafs die Anomalen nur eine ver\u00e4nderte Komponente h\u00e4tten, dafs sie jedoch hinsichtlich der beiden anderen Bestandteile mit der Norm \u00fcbereinstimmten. Wenn das der Fall w\u00e4re, l\u00e4ge die Frage in bezug auf die Dichromaten einfacher, im \u00fcbrigen aber wieder komplizierter. Tscheenings Theorie2 ist nach der genaueren Beobachtung zweier anomaler Trichromatentypen wohl abgetan. Auch f\u00fcr den Gr\u00fcnschwachen traf seine Annahme der normalen Rotkurve und der anomalen Gr\u00fcn- und Blaukurve nicht zu.\nAuch Koenig und Dieteeici fassen die anomale Trichromasie als Verbindungsglied zwischen normalem Farbensinn und Dichromasie auf, da die f\u00fcr die beiden Versuchspersonen aus der Superposition von Rot und Gr\u00fcn berechneten Kurven in ihrer Gestalt eine \u00dcbergangsform zwischen der Rot- und Gr\u00fcnkurve des Normalen bilden.\nWird mit diesem abnormen Kurvenverlauf eine ganze Anzahl von Eigent\u00fcmlichkeiten der Farbenschw\u00e4che theoretisch verst\u00e4ndlich, so bleiben einige Fragen offen :\n1. Warum erscheinen dem Gr\u00fcnschwachen gewisse Lichter (= ca. 535 tlu) allein gesehen farblos und geben doch, mit einem anderen, farbig gesehenen Licht (= 670,5) gemischt, nur in einem ganz bestimmten Verh\u00e4ltnis die Empfindung eines dritten, genau bestimmbaren einfachen Lichtes (= ca. 589 ^)? m. a. W. : Warum l\u00f6sen rein gr\u00fcne Lichter zentral (terminal, im Gehirn) keine\n1\ta. a. O. S. 268.\n2\tTscherning, Le daltonisme. X. Congr. d\u2019ophthalmol. Luzern, 1904.\nZeitsclir. f. Sinnesphysiol. 43.\t18","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nAlfred Guttmann.\nspezifische Empfindung aus, w\u00e4hrend sie peripher (in der Netzhaut) einen konstanten, deutlichen, mefsbaren Reizeffekt aus\u00fcben ? (R.-D.-Gleichung.)1\n2.\tWarum bestehen bei verschiedenen Anomalen so verschiedene Grade der Farbenschw\u00e4che (Rot-Gr\u00fcnschw\u00e4che), wenn die Reizerregbarkeit der Netzhaut (Peripherie) durch rote oder gr\u00fcne Lichter bei ihnen allen gleich ist? (Mischungsgleichungen).\n3.\tWarum kann der anomal - trichromatische Farbensinn durch geringe Verminderung der spezifischen Reize (in irgendeiner Qualit\u00e4t) in einen dichromatenartigen Farbensinn, ja bei sehr starker Verminderung in einen monochromatenartigen Farbensinn verwandelt werden?\n4.\tWarum ist bei gleichzeitiger Erh\u00f6hung aller Farbenschwellen f\u00fcr alle Lichter (aufser den rein blauen) der Farbenkontrast gesteigert?\nIn meinem Kongrefsvortrag 1904 sprach ich die Vermutung aus, dafs diese St\u00f6rungen der Farbenempfindung nicht in der Peripherie (Netzhaut), sondern in h\u00f6heren Bahnen bestehen m\u00fcssen, \u25a0 ohne mich jedoch in n\u00e4here Er\u00f6rterungen einzulassen, die mir damals verfr\u00fcht schienen. Wenn ich heute einige M\u00f6glichkeiten der Lokalisation er\u00f6rtere, so tue ich es nur mit der Zur\u00fcckhaltung, die angesichts unserer noch vielfach ungekl\u00e4rten neuro-physiologischen Anschauungen und insbesondere so komplizierten Vorg\u00e4ngen gegen\u00fcber geboten ist. Indessen gibt es doch eine Anzahl von Erscheinungen im Gebiete der Pathologie des Nervensystems im allgemeinen und des Nervus opticus im besonderen, die man wohl mit einigem Nutzen in Beziehung zu unserer Frage setzen kann. Eine Parallele zwischen den im folgenden zu besprechenden Anomalien der Farbenempfindung mit der anomalen Trichromasie ist meines Wissens noch nicht gezogen worden.\n\u00a7 1. Behandeln wir zun\u00e4chst die Erkrankungen der Sehbahn.\nA. Wir kennen Farbensinnst\u00f6rungen bei zentralen, d. h. das Gehirn betreffende Erkrankungen, z. B. bei Bluterg\u00fcssen, Geschw\u00fclsten, Hirnhautentz\u00fcndung. Diese Ausfallserscheinungen sind untereinander sehr verschieden, \u00e4hneln sich aber insofern, als sie meist schwere Farbensinnst\u00f6rungen darstellen, die nicht die geringste Beziehung zu den Symptomen der Farbenschw\u00e4che bei anomaler Trichromasie zeigen. Von den mir bekannten F\u00e4llen\nMutatis mutandis gilt das nat\u00fcrlich auch f\u00fcr den Rotschwachen.","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n277\n\u2022 \u2022\nzeigt eine gewisse \u00c4hnlichkeit mit unserer Anomalie ein von \u2019 Steeean1 beschriebener Patient, bei dem in der Rekonvaleszenz von einer apoplektisch entstandenen, totalen Farbenblindheit eine partielle, besonders das Gr\u00fcn betreffende, atypische Farbenblindheit beobachtet wurde. Abweichend ist jedoch, dafs von der Herabsetzung der Farbenerkennung Blau mit betroffen war.\nB.\tAuch die Farbensinnst\u00f6rungen, die bei peripherischen, d. h. in der Netzhaut lokalisierten Erkrankungen Vorkommen, sind durch klinische und physiologische Untersuchungen bekannt. Sie zeigen grofse Abweichungen untereinander, \u00e4hneln sich indessen insofern, als sie meist Anomalien im brechbaren Ende des Spektrums im Gefolge haben. Auch diese, besonders h\u00e4ufig einseitigen Erkrankungen zeigen nach den Beschreibungen fr\u00fcherer Autoren gar keine \u00c4hnlichkeit mit der Farbenschw\u00e4che der anomalen Trichromasie. Sehr interessant, wenn auch zurzeit ganz unerkl\u00e4rlich, sind indessen ganz neue Beobachtungen von K\u00f6llneb2, in denen sich bei Netzhautabl\u00f6sungen neben den Violettblindheitsst\u00f6rungen eine Abweichung der Rot-Gr\u00fcn-Erreg-barkeit fand, indem die 3 Patienten die normale R.-D.-Gleiehung verwarfen, und etwa die Gleichung einstellten, die der Rotanomale braucht. N\u00e4heres dar\u00fcber, ob bei Tritanopie immer resp. unter welchen Umst\u00e4nden die R.-D.-Gleichung alteriert ist, ferner ob letztere St\u00f6rung identisch mit Rotanomalie ist, kann vorl\u00e4ufig noch nicht einmal vermutungsweise er\u00f6rtert werden.\nDas Studium dieser beiden Arten von pathologischen St\u00f6rungen des Farbensinns d\u00fcrfte daher, so aussichtsreich es auch f\u00fcr die Kenntnis der eigentlichen Farbenblindheit ist, f\u00fcr unsere Zwecke nur vorsichtig verwendet werden ; dagegen k\u00f6nnte die Kenntnis der hypothetischen \u201eViolettschw\u00e4che\u201c vielleicht dadurch gef\u00f6rdert werden.\nC.\tAussichtsreich erscheint mir dagegen die Betrachtung derjenigen Erkrankungen der Sehbahn, welchen den dritten, mittleren Abschnitt betreffen: die Nervenleitung. Die Erscheinungen von seiten des Farbensinns bei Erkrankung des Opticus (Neuritis und besonders Atrophie) sind von physio-\n1\tSteffan, Beitrag zur Pathologie des Farbensinns. Graefes Archiv 27 (2). 1881.\n2\tH. K\u00f6llner, Erworbene Violettblindheit (Tritanopie) und ihr Verhalten gegen\u00fcber spektralen Mischungsgleichungen (RAYLEiGH-Gleiehung). Diese Zeitschrift 42 (4).\n18*","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nAlfred Guttmann.\nlogischer Seite noch nicht genauer studiert. Sicher ist, dafs in den Anfangsstadien der Erkrankung, wie Leber 1 als Erster sie beschrieben hat, die Gr\u00fcnempfindung zuerst ausf\u00e4llt, sp\u00e4ter Rot, dann Gelb, zuletzt Blau; \u201edas rote Ende ist gew\u00f6hnlich nicht verk\u00fcrzt, doch erscheint das Rot dunkel, Gelb und Blau in der wahren Farbe, das Violett als Blau\u201c beschreibt Leber ein fr\u00fches Stadium dieser Affektion.\nEine \u00e4ltere Arbeit von Raehlmann,1 2 deren Methodik im allgemeinen sonst sehr angreifbar ist, enth\u00e4lt gerade \u00fcber den uns interessierenden Punkt einige gut verwendbare Angaben. Raehlmaxx hat n\u00e4mlich spektrales Gr\u00fcn und Gelb nebeneinander gezeigt: sie wurden bei beginnender Atrophie des Nervus opticus f\u00fcr gleich erkl\u00e4rt. \u201eBei beginnender Sehnervenatrophie findet man meistens zuerst den -Komplex des spektralen Gelb verbreitert auf Kosten zun\u00e4chst des Gr\u00fcn und dann des Rot, welche letztere schliefslich ganz verschwinden.\u201c Nach Raehlmaxx \u201ebeginnen die St\u00f6rungen der Farbenempfindung dem Spektrum gegen\u00fcber gew\u00f6hnlich mit einem Weifslichwerden des Gelb. Blau und Violett werden dann nicht mehr unterschieden. Die Farben des Spektrums werden dann als Rot, Gelb, Weifs (oder Grau) und Blau bezeichnet. Sp\u00e4ter wird dann Gr\u00fcn und Gelb verwechselt. Zurzeit wo die Sehsch\u00e4rfe noch v5\u2014V7 der Norm betr\u00e4gt, findet man dann h\u00e4ufig das Spektrum bei starker Beleuchtung schon zweifarbig, w\u00e4hrend bei schwacher (mittlerer) Beleuchtung noch 3 Farben (Rot, Gelb, Blau) unterschieden werden\u201c. Bei fortschreitender Atrophie folgt ein bei\njeder Beleuchtungsst\u00e4rke gleicher, dichromatenartiger Farbensinn,\n\u2022 \u2022\nder Schlufs ist Monochromasie. Die aufserordentliehe \u00c4hnlichkeit mit dem Farbensystem der anomalen Trichromaten liegt auf der Hand. Die Anfangserscheinungen entsprechen sozusagen leichteren Graden der Farbenschw\u00e4che, ein sp\u00e4teres Stadium den schwereren F\u00e4llen.\nWiederum m\u00f6chte ich, als Gegenst\u00fcck, hier den (zugleich mit Fortsetzung I dieser Arbeit erschienenen) Artikel von K\u00f6llner3 heranziehen. Er fand bei einem Patienten mit Neuritis nervi optici sympath. ebenfalls \u201eRotanomalen - Einstellungen\u201c der R.-D.-Gleichung. K\u00f6llner fand den Patienten sodann noch\n1\tGraefe-Saemisch, Augenheilkunde Bd. V. 1877. S. 1038.\n2\tRaehlmann, Graefes Archiv f. Ophthal. 21. 1875.\n3\ta. a. O. S. 295.","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n279\nauf Tritanopie verd\u00e4chtig, weil er am Anomaloskop Gleichungen zwischen homogenem Blaugr\u00fcn (das zugleich f\u00fcr das normale Auge sehr dunkel schien) und Blau violett annahm. Bei dem Mangel weiterer Angaben dar\u00fcber ist nicht ohne weiteres ersichtlich, warum dies Verhalten nicht allein mit \u201eRotanomalie\u201c erkl\u00e4rt wird. Ein anderer von K\u00f6llner1 beschriebener Fall zeigt ebenfalls eine gewisse \u00c4hnlichkeit, insbesondere war der simultane Farbenkontrast erh\u00f6ht; indessen sind die Abweichungen in diesem (akut entstandenen und in seinem schweren Stadium untersuchten) Falle auff\u00e4lliger. In der Rekonvaleszenz ist der Patient offenbar nur einmal untersucht worden: aufser einer nicht genauer beschriebenen St\u00f6rung im Bereich der roten und gelben Lichter war aber noch gesteigerter Farbenkontrast bemerkbar. Es ist selbstverst\u00e4ndlich, dafs nicht alle Symptome der anomalen Trichromasie, die ja bis vor wenigen Jahren zum gr\u00f6fsten Teil unbekannt waren, bei Opticusatrophie beobachtet worden sind. Vielleicht werden genauere Untersuchungen, die den Symptomen-komplex der anomalen Trichromasie ber\u00fccksichtigen, doch noch das Vorhandensein anderer Symptome der anomalen Trichromasie bei neuritischen Erkrankungen ergeben.\nBesonders g\u00fcnstig liegt der Fall bei einseitigen Opticuserkrankungen, wo durch Vergleich mit dem gesunden Auge Gewifs-heit \u00fcber die Art der Farbenempfindungen gewonnen werden kann. Einen derartigen Fall hat Herinu2 untersucht. Zum Ungl\u00fcck war der akute Prozefs zur Zeit der Untersuchung so weit entwickelt, dafs auch der Lichtsinn recht erheblich gest\u00f6rt war. So sind die Resultate nicht ganz frei von Unsicherheit. Indessen stimmt doch sehr vieles mit den Symptomen der Rotschw\u00e4che (extremer Rotanomalie). Nicht ganz identisch ist die Spektralfarbenerkennung : Gelb-Gr\u00fcn-Blau ; bei Steigerung der Helligkeit stimmt dagegen die Bezeichnung \u201egr\u00fcner Schimmer\u201c statt \u201eGr\u00fcn\u201c \u00fcberein ; ferner ist das langwellige Ende verk\u00fcrzt, Violett sah Blau aus, alles sah unges\u00e4ttigter als mit dem gesunden Auge aus; kleine rote oder gr\u00fcne Papierseheiben, die sonst farblos erscheinen, erhalten auf grauem Grunde \u201eeinen r\u00f6tlichen oder gr\u00fcnlichen Schein\u201d' ; rote und gr\u00fcne unges\u00e4ttigte Farben werden auf grofsen Fl\u00e4chen\n1\tH. K\u00f6llner, Unvollkommene Farbenblindheit bei Sehnervenerkrankung. jDiese Zeitschrift 42 (1).\n2\tHering, Die Untersuchung einseitiger St\u00f6rungen des Farbensinns\nmittels binokularer Farbengleichungen. Graefes Archiv 36 (3).\t1880.","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nAlfred Guttmann.\nerkannt. Alles das spricht f\u00fcr anomale Trichromasie und gegen die von Hering gestellte Diagnose der Rotgr\u00fcnblindheit. Es widerspricht einzig die Anerkennung einer normalen Mischungsgleichung aus Rot (\u2014 678 wu) und Gelbgr\u00fcn (549 ^i) \u2014 falls das ein konstantes Verhalten war!1 2 Der Fall war ja zur Zeit der betr. Untersuchung auch nicht mehr im Anfangsstadium.\nIm Anschlufs an diesen Fall berichtet Hess, der damalige Assistent Heeings, \u00fcber einen Fall von halbseitiger Farbensinnst\u00f6rung am linken Auge (Graefes Archiv 36 (3), der nach seiner Meinung ebenfalls die HEMNGSche Gegenfarbentheorie best\u00e4tigt. Neben den Bedenken, die schon Ebbinghaus (diese Zeitschrift 5) geltend gemacht hat, m\u00f6chte ich hier nur auf die zuerst von mir (Kap. Ill, S. 262, petit, sowie Kap. X, S. 259) betonte Fehlerquelle aufmerksam machen, die in der Vergleichung von gleichexzentrisch gelegenen Netzhautstellen Normaler und Anomaler liegt, indessen bei der Untersuchung von halbseitigen Farbensinnst\u00f6rungen unvermeidlich ist. Deshalb nimmt auch Hess an, dafs die von ihm gefundenen Farbengleichungen zwischen gesunder und kranker Netzhauth\u00e4lfte nur als typische \u201eRotgr\u00fcnblindheit\u201c zu erkl\u00e4ren sei. (Daneben aber bestand ja noch eine leichte Blau-Gelb-Sinnst\u00f6rung und Herabsetzung der U. E. f\u00fcr Helligkeiten!) Es w\u00e4re nun sehr interessant, nachzupr\u00fcfen, ob man bei Rotschwachen, wenn man sie mittels einer derartigen Methodik der exzentrischen Farbensinnpr\u00fcfung untersucht, nicht ganz gleiche Verh\u00e4ltnisse findet.\nEin anderer von Nagel 2 beobachteter Fall von \u00abFarbensinn-\n\u00ae\t/1\nSt\u00f6rung im Netzhautzentrum bei retrobulb\u00e4rer Neuritis\u201c weicht einigermafsen von den bei einer einfachen Atrophie des Nervus opticus beschriebenen F\u00e4llen ab. Die Anomalie beschr\u00e4nkte sich auf die eine Fovea, die \u00fcbrige Netzhaut war normal. Die Untersuchung konnte aus \u00e4ufseren Gr\u00fcnden nicht auf Spektralfarbengleichungen ausgedehnt werden. Bei fovealen Feldern mittels NAGELscher Lampe und neuen isochromatischen Tafeln untersucht, zeigte die Patientin eine Abweichung von \u201eallen bekannten Systemen der anomalen Trichromasie und Dichromasie\u201c : Rot und Gelb wurden mit Sicherheit erkannt und unterschieden, Gr\u00fcn dagegen wurde nicht erkannt, sondern mit Grau verwechselt (Gelbgr\u00fcn auch mit Braun). Es fehlte also bei sonstiger \u00c4hnlichkeit mit dem (fovealen) Sehen des extrem Gr\u00fcnschwachen der gesteigerte\n1\tEs ist mir selbst mehr als einmal passiert, dafs ich die normale R.-D.-Gleichung anerkannt habe. Meist war das Gesichtsfeld dann zu hell oder zu dunkel hergestellt (vgl. Kap. IV, S. 265 Anm.).\n2\tW. Nagel, Klm. Monalsbl. f. Augenhlk. 1905. XLIII. Jahrgang. \u2014","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschiv\u00e4che.\n281\nFarbenkontrast \u2014 der allerdings am Anomalen bei fovealer Heizung bisher auch noch nicht nachgewiesen ist! Hoffentlich kommt ein derartiger Fall bald einmal f\u00fcr Spektralfarbenuntersuchungen zur Beobachtung.\nSchliefslich m\u00f6chte ich noch kurz erw\u00e4hnen, dafs Abweichungen zwischen dem Farbensinn beider Augen nat\u00fcrlich nicht nur auf physikalischer Absorption in den Augenmedien, sondern auch auf anomaler Funktion der Netzhaut resp. des reizleitenden Apparates beruhen k\u00f6nnen. Samojloee 1 hat f\u00fcr seine beiden Augen, dessen eines \u201er\u00f6tlicher\u201c, das andere \u201egelblicher\u201c sieht, nachgewiesen, dafs diese Differenz bei ihm auf \u201eVerschiedenheit physiologischer Erregbarkeitsverh\u00e4ltnisse beider Augen\u201c beruhe. Es \u00e4hnelt sein Verhalten dem von Sulzer, dessen Abweichungen in derselben Richtung liegen, jedoch noch erheblicher sind. Doeders bezeichnet Sulzers Fall in seiner Arbeit \u00fcber \u201eFarbengleichungen\u201c, in die Sulzers Untersuchungen1 2 eingef\u00fcgt sind, als \u201eziemlich die \u00e4ufsersten Grenzen f\u00fcr den normalen Farbensinn\u201c.\nEine genaue Untersuchung derartiger vollkommen dunkler F\u00e4lle ist n\u00f6tig, bevor man sie diskutieren kann. Sie beweisen nur eines mit Sicherheit, \u2014 dafs diese St\u00f6rungen, die also Zwischenstufen zwischen Normalen, Anomalen und Dichromaten darzustellen scheinen, nicht im Zentrum der Empfindung, sondern peripher von der partiellen Kreuzung der Optikusfasern sitzen m\u00fcssen.\nAndere neuere Untersuchungen \u00fcber St\u00f6rungen der optischen Leitungsbahn sind mir nicht bekannt.\n\u00a7 2. Die allgemeine Nervenphysiologie und Pathologie gestattet aber noch einige weitere Vergleichspunkte herbeizuziehen. Seit langem sind bei gewissen Erkrankungen des R\u00fcckenmarks, die wir nach unseren heutigen Anschauungen als Degeneration des peripherischen sensiblen Neurons bezeichnen (Tabes dorsalis), gewisse Alterationen der Leitungsbahnen bekannt. Diese zeigen sich einmal darin, dafs Reize (z. B. feine Nadelstiche), die einzeln keine Schmerzempfindung ausl\u00f6sen, schnell hintereinander appliziert, pl\u00f6tzlich eine lebhafte Schmerzempfindung\n1\tA. Samojlofe, Diese Zeitschrift 41, 1907. Ein Fall von ungew\u00f6hnlicher Verschiedenheit der Mischungsgleichungen f\u00fcr beide Augen eines Beobachters.\n2\tDonders, a. a. O. S. 529.","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nAlfred Guttmann.\nausl\u00f6sen. Eine andere Art der Leitungshemmung ist die Verlangsamung der Schmerzleitung, indem nach Applikation des betreffenden, taktil sofort empfundenen Reizes eine Latentzeit vergeht, bis der Patient pl\u00f6tzlich, oft sekundenlang danach, den Schmerz empfindet. Auch bei anderen Erkrankungen, die mit Kompression eines Nerven verbunden sind, beobachtet man h\u00e4ufig Verlangsamung der Reizleitung. Schiff hat sie experimentell durch \u201eQuerschnittseinengung der grauen Substanz\u201c erzeugt, wobei die gr\u00f6fsere oder geringere L\u00e4sion der Leitungsbahn dem Grade der Verlangsamung entsprach. Das tertium comparationis f\u00fcr unsere Frage liegt in der erh\u00f6hten Schwelle f\u00fcr Raum und Intensit\u00e4t der Reizmodifikation, sowie in der erh\u00f6hten Schwelle f\u00fcr den zeitlichen Verlauf der anomalen Farbenempfindung. Noch f\u00fcr einen dritten Vergleichspunkt m\u00f6chte ich die Erfahrung bei der sog. kompensatorischen \u00dcbungstherapie heranziehen, wie sie von Fbexkel, Leyden, Goldscheidee u. a. ausgebildet ist. Da die Tabiker nicht imstande sind, sich durch ihre Muskel- und Gelenkempfindungen eine richtige Vorstellung von der Lage ihrer Glieder zu machen, so lehrt man sie, mit Hilfe des Gesichtsinns diese Stellung zu kontrollieren und so durch zweckm\u00e4fsige Ausnutzung dieser Sinnesempfindung den Ausfall der zentripetalen sensorischen R\u00fcckenmarksleitung zu kompensieren. In \u00e4hnlicher Weise etwa n\u00fctzen die Farbenschwachen dort, wo ihnen qualitative Farbenunterscheidungen versagt sind, h\u00e4ufig andere Unterschiede, die ihnen m\u00f6glich sind (Helligkeitsdifferenzen, Kontrast) in h\u00f6herem Mafse als die Normalen aus, die eben, wie sie, \u201eohne Hilfen gehen\u201c, auch ohne Hilfen die Farben erkennen k\u00f6nnen. Eine genauere theoretische Vorstellung haben wir, wenn wir uns den Begriff der Neuronschwelle, wie ihn Goldscheidee1 gepr\u00e4gt hat, klar machen. Nach der allgemeinen Annahme leiten die Nervenzellen die Erregung auf andere Bahnen, speichern Erregung in sich auf (Summation) und verz\u00f6gern die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung. W\u00e4hrend dieser Widerstand fr\u00fcher auf den Effekt des \u00dcbertretens der Erregung vom Achsenzylinder in die Nervenzellen verlegt wurde, lautet Goldscheidebs Auffassung, dafs die kontinuierliche Neuronkette eine Kontaktverbindung der Neurone darstelle. Die \u00e4ufsere\nA. Goldscheider, \u00dcber die Neuronschwelle. Engelm. Archiv f. Anat. u. Physiol 1898. S. 148.","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n283\nReizung wirkt erregend auf das Endneuron; hat diese Erregung eine gen\u00fcgende St\u00e4rke erlangt, so wirkt sie nunmehr als Reiz auf das n\u00e4chste Neuron ein und so fort. Als \u201eNeuronschwelle\u201c bezeichnet Goldscheider 1 \u201edasjenige Mafs der Erregung eines Neurons, welches eben hinreicht, um im Kontaktneuron eine Erfolgserregung (zur Empfindung usw. f\u00fchrend) hervorzurufen\u201c. Auch wenn man den Ausdruck Neuronschwelle nicht aufrechterhalten k\u00f6nne, bliebe der Begriff des Widerstandes bestehen. Ob man Neurone ann\u00e4hme oder eine Kontinuit\u00e4t, in welche Gitter eingeschoben sind, ob man den Ganglienzellen funktionelle oder nutritive Eigenschaften zuerkenne, bliebe dabei ohne wesentliche Bedeutung. So w\u00fcrde man z. B. zufolge der Ver-woRNschen Biogenhypothese, wonach man partielle Dissoziation mit nachfolgender Restitution annehmen mufs, sagen m\u00fcssen: \u201ewie stark die Reizung im Neuron a speziell an der Kontaktstelle, und wie grofs die Zersetzlichkeit im Neuron b (wiederum speziell an der Kontaktstelle desselben) ist\u201c.1 2 3 Noch einleuchtender in bezug auf die anomale Farbenempfindung ist vielleicht ein Analogon aus dem Gebiete der Hautsinnesnerven, dessen Kenntnis wir ebenfalls Goldscheider 3 verdanken. Durch Summation von untermerklichen Hautreizen wird ein \u00dcber-die-Schwelle-Treten erzeugt. Nach Goldscheider wird aber ferner durch Summation nicht nur Erregbarkeitssteigerung, sondern eine neue Empfindung erzeugt. Vergleichsweise erregen farbige Reize beim Anomalen, solange sie in zeitlicher Dauer, r\u00e4umlicher Ausdehnung und optimaler Intensit\u00e4t unterschwellig sind, eine H el ligkeitsempfindung, durch Summation in einer (oder mehreren dieser Qualit\u00e4ten) dagegen eine Farbenempfindung. Dafs es sich nicht um eine Summation der Reizung peripherischer Elemente handelt, sondern um eine\n1\tA. Goldscheider, \u00dcber die materiellen Ver\u00e4nderungen bei der Assoziationsbildung. Neurol. Zentralbl. 1906. Nr. 4.\n2\tSchon aus der Eigenartigkeit der normalen Farbenschwelle hat v. Kries gefolgert, dafs sie \u201eanderer Art ist, als die meisten sonst bekannten Schwellen\u201c. Daher vermutet er, dafs die Entstehung der Farbenempfindung nicht an den Effekt der Reizwirkung auf die Sinneszelle, sondern an die Wirkung eines Neurons auf ein folgendes gekn\u00fcpft, also interneuronal bedingt sei (Handbuch a. a. O. S. 277).\n3\tGoldscheider, Ges. Abhl. Bd. I, bes. S. 384\u2014432. Leipzig, Joh. Amor. Barth 1888.","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nAlfred GruUmann.\nReizsummation f\u00fcr eine h\u00f6here Schwelle, geht daraus hervor, dafs die Mosaik der Netzhautelemente beim Anomalen genau so gut ist wie beim Normalen. Der Lichtsinn und die Sehsch\u00e4rfe werden ja von der Anomalie gar nicht ber\u00fchrt. Die Minimalzahl der auf einen farbigen Reiz reagierenden Netzhautelemente antwortet eben beim Normalen mit Lichtempfindung und Farbenempfindung zugleich, beim Anomalen mit Lichtempfindung allein.\n\u00a7 3. Wenn ich nun also eine auf die Leitungsbahn bez\u00fcgliche Hilfshypothese annehme, um diejenigen Erscheinungen der Farbenschw\u00e4che zu erkl\u00e4ren, welche mit einer Anomalie der Netzhaut allein nicht erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen, so stehe ich durchaus auf dem Boden der unserem heutigen neurophysiologischen Wissen entsprechenden Anschauung.\nMeine Hypothese w\u00fcrde lauten : Die Farbenschw\u00e4che der anomalen Trichromasie beruht auf zweifacher Ursache: auf einer anomalen Lichtreaktion der Netzhaut und auf einer Hemmung in der nerv\u00f6sen Leitnngsbahn.\nDie Annahme eines derartigen Hindernisses, \u00fcber dessen Lokalisation innerhalb der Leitungsbahn, sowie speziellere Wirkungsweise \u2014 ob es erschwerend durch mangelhaften Kontakt, durch Verlangsamung der Weiterleitung oder anderswie wirke \u2014 ich nicht mehr sage, als dafs es sich dem Ablauf der Erregung von Sinnesepithel der Netzhaut nach dem Zentrum der Farbenempfindung widersetzt, erkl\u00e4rte zun\u00e4chst, warum alle Farbenschwellen erh\u00f6ht sind : ein Reiz, der gen\u00fcgt, um im normalen Farbensinn auf normaler Leitungsbahn Farbenempfindungen auszul\u00f6sen, gen\u00fcgt nicht, um die erh\u00f6hte Schwelle (Neuronschwelle) des Anomalen zu \u00fcbersteigen. Wir beobachten dann sozusagen eine \u201efakultative Farbenblindheit\u201c. Wenn dieser ungen\u00fcgende Reiz Farbenempfindung ausl\u00f6sen soll, so mufs er gesteigert werden :\n1.\tin seiner r\u00e4umlichen Ausdehnung (Kap. 3 dieser Arbeit),\n2.\tin seiner zeitlichen Dauer (Kap. 2),\n3.\tin seiner Intensit\u00e4t bis zu deren Optimum (Kap. 4).\nDann erst wirkt er spezifisch, d. h. die periphere Erregung kann abfliefsen und im Zentrum Farbenempfindungen ausl\u00f6sen. Damit wird der Netzhaut eine Mehrleistung aufgeb\u00fcrdet, sie mufs un\u00f6konomisch arbeiten und reagiert auf diese starke Pro-","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n285\nduktion von Energie 1 2 einmal mit vorzeitigen Erm\u00fcdungserscheinungen (Kap. 7), sodann mit der st\u00e4rkeren Produktion von Kontrastfarben (Kap. 5). Die Annahme, dafs als Ersatz eines Defektes ein \u00dcberschufs produziert wird, findet auch in anderen Theorien z. B. in der Weigert - EHRLiCHschen Lehre von der hyperkompensatorischen Regeneration statt.\nFerner wird die M\u00f6glichkeit eines Verst\u00e4ndnisses f\u00fcr das eigenartige Verhalten der para- und extravofealen Netzhautpartien (Kap. 4) durch eine hinter dem Sinnesepithel liegende Leitungsst\u00f6rung gegeben. Da die Zapfen- und St\u00e4bchenverteilung in der Netzhaut des Anomalen normal zu sein scheint, so bereitete die Annahme einer qualitativ verschiedenen Reaktion der verschieden weit peripher liegenden f\u00e4rben empfindlichen Elemente die gr\u00f6fsten Schwierigkeiten f\u00fcr die Drei-Komponententheorie.\nVielleicht erkl\u00e4rt sich hiermit auch die Erscheinung der gesteigerten Helligkeitsaufmerksamkeit (Kap. 6) insofern, als man sich vorstellen kann, dafs die Schwelle f\u00fcr Lichtleitung tiefer liegt, als die Schwelle f\u00fcr Farbenleitung. Damit w\u00e4re neben der oben angedeuteten psychologischen Erkl\u00e4rung dieser Erscheinung noch eine physiologische Erkl\u00e4rungsm\u00f6glichkeit gegeben, die in Anbetracht der Tatsache anatomisch gesonderter und physiologisch verschieden funktionierender Netzhautelemente manches f\u00fcr sich hat. Schliefslich sei noch der durch Ramon y Cajal und Andere festgestellten Tatsache gedacht, dafs Zapfen und St\u00e4bchen entwicklungsgeschichtlich in enger Beziehung stehen, insofern als die Zapfen nichts anderes als differenziertere Entwicklungsstadien der St\u00e4bchen darstellen.\n\u2022 \u2022\nHierher geh\u00f6ren auch \u00dcberlegungen, die Ebbinghaus 2 vor Jahren bei anderer Gelegenheit vorgetragen hat. Bei pathologischen Farbensinnst\u00f6rungen, bei denen jedoch die Helligkeitsempfindung intakt ist, nahm Ebbinghaus an, dafs die von den chromatischen Substanzen ausgehende (sc. normale) \u201espezifische T\u00f6nung\u201c der Erregung irgendwo auf dem Wege zum Gehirn \u201ein der inneren Retinaschicht, oder weiter zentralw\u00e4rts im Seh-\n1\tOb wir das als photochemische Produktion oder physikalische Arbeitsleistung, als Sensibilation oder optische Resonanz auffassen, spielt f\u00fcr diese Betrachtung keine Rolle.\n2\tEbbinghaus, Theorie des Farbensehens, Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol, der Sinnesorgane, 5.","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nAlfred Guttmann.\nnerven (Opticusatrophie) oder endlich in den Zentralorganen selbst\u201c durch einen (erworbenen) pathologischen Prozefs eine St\u00f6rung erleidet und dabei wieder verloren geht.\nBei meiner Auffassung handelt es sich um eine angeborene, nichtpathologische Leitungsst\u00f6rung, die eine \u201eanomale spezifische T\u00f6nung\u201c in ihrer Wirkung beeintr\u00e4chtigt oder aufhebt. Der Unterschied zwischen erworbener (d. h. extrauterin entstandener) und angeborener (d. h. intrauterin entstandener) Farbensinnst\u00f6rung ist nicht prinzipiell. Leitungshindernisse der Nerven-elemente bzw. ihrer Kontakte entstehen im einen Fall durch mangelhafte embryonale Ausbildung der vorhandenen Neurone, im anderen Fall intra vitam durch pathologische K\u00fcckbildung (Degeneration) dieser Nervenelemente.\nEs handelt sich hiernach bei der Farbenschw\u00e4che um eine gleichzeitig die Netzhaut und die Leitungsbahn treffende, embryonale Bildungshemmung.\nDafs die Annahme einer doppelten St\u00f6rung, die einmal in der anomalen Funktion der Netzhaut, dann aber in einer anomalen Funktion der Leitungsbahn ihren Sitz hat, die an und f\u00fcr sich unklaren, wenn auch offenbar vorhandenen Beziehungen zwischen anomaler Trichromasie und Dichromasie sehr kompliziert, ist einleuchtend. Aber nach dem augenblicklichen Stande unseres Wissens von den St\u00f6rungen des Farbensinns liegen so viele verwickelte Beziehungen zwischen den einzelnen, bisher scharf abgrenzbaren Typen vor, dafs man keine einheitliche Deutung geben kann. Sehr merkw\u00fcrdig ist z. B. die aufserordent-liche \u00dcbereinstimmung, die das Farbensehen des anomalen Trichromaten mit dem des Dichromaten in vielen Beziehungen zeigt. Theoretisch wT\u00e4re es denkbar, dafs ein und derselbe Empfindungszustand einmal durch Ausfall einer peripherischen Erregbarkeit, im anderen Falle durch St\u00f6rungen im \u201eterminalen\u201c Farbensinn hervorgerufen w\u00fcrde.1 Indessen scheint es ja nach\n1 Als \u201eK\u00fcnstliche Farbenblindheit\u201c hat Beck in Pf l\u00fcg er s Archiv (1899,, S, 684) einen Zustand beim Normalen beschrieben, der aber etwas ganz anderes bedeutet. B. hat n\u00e4mlich die Netzhaut mit starken weifsen und farbigen Lichtern geblendet und daun beobachtet, was f\u00fcr Erscheinungen sich zeigen, wenn man mit diesem Nachbild im Auge Farben, und zwar matte Farben, betrachtet. Das Resultat war keineswegs eine typische Farbensinnst\u00f6rung, wie Beck annimmt; es wurde z. B. nach Blendung mit","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschiv\u00e4cfie.\n287\nNagels neuesten Ver\u00f6ffentlichungen, als ob die bisher f\u00fcr Dichro-masie geltenden Kurven durchaus nicht alle Erscheinungen der angeborenen Farbenblindheit erkl\u00e4ren. Es w\u00fcrde den Rahmen dieser Arbeit allzusehr \u00fcberschreiten, wollte ich jene merkw\u00fcrdigen NAGELschen Resultate, wonach er auf kleinem Felde (foveal) typischer Dichromat, auf grofsem Felde dagegen \u201eGr\u00fcnanomal-\u00e4hnlich\u201c w\u00e4re, hier heranziehen. Noch komplizierter gestalten sich die Beziehungen zwischen Dichromasie und normaler und anomaler Trichromasie, wenn man an einen anderen von Nagel publizierten Fall (Lokomotivf\u00fchrer Sch.) denkt, der zentral (foveal) typischer Dichromat, aber parafoveal normaler Trichromat war. Schliefslich sind ja alle jene F\u00e4lle, in denen man eine Abweichung des Farbensinns der Fovea von der parafovealen Zone der Netzhaut fand, ebenfalls z. Z. auf Grund keiner Theorie verst\u00e4ndlich.\nMeine f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Farbenschw\u00e4che bei anomaler Trichromasie aufgestellte Hypothese stellt also den Versuch dar, einen bestimmten Symptomenkomplex mit m\u00f6glichst wenigen Annahmen zu erkl\u00e4ren. Mittels der Voraussetzung der nur an einer Stelle lokalisierten St\u00f6rung ist das bisher weder Anderen, noch mir gelungen. Infolgedessen glaube ich, dafs meine Hypothese einer zwar einheitlich entstandenen, aber auf zwei Teile der dreiteiligen Sehbahn * 1 sich beziehenden St\u00f6rung ebenso der \u00f6konomischen Forderung gen\u00fcgt, wie sie ihren heuristischen Wert ja schon erwiesen hat.\nMeine Annahme steht, wie mir scheint, nicht im Widerspruch mit der Dreikomponententheorie. Sie ist nur eine genauer formulierte Weiterf\u00fchrung der von Dondebs und Kbies vor einem\nreflektiertem Sonnenlicht Rot und Gr\u00fcn nicht erkannt, dagegen war die F\u00e4higkeit, Gelb, Blau und Violett zu unterscheiden, wenig oder gar nicht herabgesetzt.\n1 Einen \u00e4hnlichen Gedankengang finde ich u. a. in der alten Arbeit von Steffan, der bei Erkl\u00e4rung seines oben zitierten Falles auf das Unzureichende der Cerebral- wie Retinaltheorie der Farbensinnst\u00f6rungen hinwies. \u201eEin normaler Farbensinn setzt die normale Funktion aller drei Abschnitte unseres nerv\u00f6sen Sehapparates voraus, sowohl der \u00e4ufseren Retinaschichten, die den Umsatz der verschiedenen Licht\u00e4therschwingungen in Nervent\u00e4tigkeit besorgen, als der Sehnervenfasern, die diesen Nervenreiz unserem Farbensinnzentrum zuleiten, als dieses Farbenzentrum selbst, das die\nFarbempfindung wahrnimmt und uns zu einer richtigen Farbenvorstellung f\u00fchrt.\u201c","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nAlfred Guttmann.\nVierteljahr hundert zuerst publizierten Anschauungen, die man mit Kries als \u201eZonentheorie\u201c bezeichnet. Auch zu G. E. M\u00fcllers neuer Theorie bestehen gewisse Beziehungen. Als ein Kompromifs mit Herings Theorie kann sie jedoch nicht angesehen werden.\nIn ganz \u00e4hnlicher Weise haben ja schon Donders wie v. Kries vor 25 Jahren angegeben, dafs die Drei-Komponententheorie von Young-Helmholtz sich auf die peripheren (Netzhaut-) Vorg\u00e4nge beziehe, w\u00e4hrend f\u00fcr die Empfindung zweifellos mehr als 3 Farben als Minimum anzunehmen seien. Jedoch hat sich Donders aufs lebhafteste dagegen gewehrt, als Hering in dieser DoNDERSschen Darlegung eine Kombination seiner Theorie der Gegenfarben mit der Dreifarbentheorie sehen wollte. Ich verweise ausdr\u00fccklich auf jene gl\u00e4nzende Replik von Donders.1 Ebenso auf Kries\u2019 neue Darstellung im Handbuch, in der er seine alten Anschauungen res\u00fcmiert, um die Behauptung zur\u00fcckzuweisen, die man jetzt so oft h\u00f6rt und liest, als ob neuerdings die Anh\u00e4nger der Drei - Komponententheorie Hering und seiner Schule weitgehende Konzessionen machten, was den zentralen Teil des Sehorgans betrifft.2 Dies Entgegenkommen ist sehr alten Datums und gilt nicht der HERiNGschen Gegenfarbentheorie, sondern den Grundprinzipien jener schon von Leonardo da Vinci inaugurierten und von Aubert formulierten \u201ePrinzipalfarbentheorie\u201c !\nAuch die sonstigen neueren Farbentheorien, soweit sie die anomalen Trichromaten ber\u00fccksichtigen, kommen zu sehr komplizierten Annahmen. Schencks Theorie3, in der er sich Fick-schen Anschauungen anschliefst, scheint mir jedoch im Widerspruch mit einer ganzen Anzahl von Erscheinungen der anomalen Trichromasie zu stehen. Insbesondere nimmt Sciienck an, dafs die anomalen Trichromaten \u201ealle Farbenempfindungen des voll entwickelten Farbensinns besitzen\u201c; daher glaubt er auch, dafs es keine \u00dcberg\u00e4nge zwischen der Rot-Gr\u00fcnblindheit und dem vollst\u00e4ndig ausgebildeten Farbensinn gibt, \u2014 Annahmen, die durch seine Theorie sehr gut erkl\u00e4rt w\u00fcrden. Nun stellen aber\n1\tDonders, Noch einmal die Farbensysteme. G r \u00e4f es Archiv, 30 (1), 1884.\n2\tIn der Besprechung des Handbuches (Jahresbericht f. Ophthalm. 1904) begeht Heine gegen\u00fcber eben jenen Ausf\u00fchrungen von Kries gerade diesen Irrtum.\n3\tF. Schenck, Theorie der Farbenempfindung und Farbenblindheit. Pfl\u00fcgers Archiv, 118, S. 129 f. 1907.","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n289\ngerade die anomalen Trichromaten diese \u00dcberg\u00e4nge dar; ja es ist gar nicht ausgeschlossen, dafs sp\u00e4tere Untersuchungen noch weitere \u00dcberg\u00e4nge zwischen Anomalen und Normalen ergehen. Auch Schencks Theorie beruht auf \u00e4ufserst komplizierten Annahmen physikalisch-chemischer und einfacheren entwicklungsgeschichtlicher Natur. Seine Theorie zeigt viele Ber\u00fchrungspunkte mit einer anderen, von Bernstein 1 kurz vorher aufgestellten Theorie, die einen sehr detailliert durchgef\u00fchrten Mechanismus gegenseitiger Hemmungen von Zapfenfasern annimmt, wodurch die Dichromasie erkl\u00e4rt wird; die anomale Trichromasie wird jedoch noch nicht ber\u00fccksichtigt. Beide Theorien entstammen der Unbefriedigung ihrer Autoren mit den Theorien von Young--Helmholtz und Hering und suchen deren Vorz\u00fcge zu vereinigen.\nDie \u00c4hnlichkeit meiner Hypothese mit dieser Theorie beruht auf dem gemeinsamen sinnesphysiologischen Ausgangspunkt \u2014 die Verschiedenheit, dafs Schenck die Anomalie allein im Sinnesepithel, ich jedoch im Sinnesepithel und in den zentralw\u00e4rts davon liegenden (subkortikalen) Beitungsbahnen annehme. Die Netzhaut zerf\u00e4llt ja, physiologisch betrachtet, in die farbenperzipierenden Elemente und die, v\u00f6llig davon verschiedene, dem Zentralorgane zugeordnete Leitungsbahn.\nDie neuere, noch nicht ausf\u00fchrlich publizierte Theorie von M\u00fcller 2 will ich aus den fr\u00fcher besprochenen Gr\u00fcnden nicht n\u00e4her diskutieren. Sie beruht (ebenso wie meine Hypothese) aui der prinzipiellen Voraussetzung, dafs alle anomalen Farbensysteme entweder mit dem Ausfall peripherischer Erregung, oder mit Ausfall zentraler Erregung oder endlich mit Kombination dieser Arten zu erkl\u00e4ren seien. Wenn ich M\u00fcller recht verstehe, so w\u00fcrde er den oben beschriebenen Symptomenkomplex deuten als Alteration der \u00e4ufseren Rotgr\u00fcnerregbarkeit und Ausfall der zentralen Gr\u00fcnempfindung \u2014 also Kombination von Alterationsund Ausfallssystem annehmen. Auch M\u00fcller weist mehrfach auf die Rolle der nerv\u00f6sen Sehbahn hin, die auf die photochemischen Netzhautprozesse abnorm reagieren k\u00f6nne. Eine derartige Anomalie rechnet er zur inneren Alteration.\nEndlich sei noch Schumanns Auffassung seiner eigenen Farben-\nJ. Bernstein, Eine neue Theorie der Farbenempfindung. Natur-ivissensch. Rundschau 21, 497.\n2 G. E. M\u00fcller, Kongrefsbericht a. a. O. S. 6f.","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nAlfred Guttmann.\nsinnst\u00f6rung erw\u00e4hnt, wenn sie auch von ihm zu keiner Theorie ausgebildet ist. Ich m\u00f6chte aber darauf hinweisen, dafs am letzten Ende Sch\u00fcmanns Auffassung der meinigen insofern \u00e4hnelt, als er den Ausfall der Empfindung in das Zentrum verlegt, w\u00e4hrend ich die St\u00f6rung in die Leitungsbahn verlege, was nat\u00fcrlich auch den Ausfall im Zentrum der Empfindung zur Folge\n\u2022 \u2022\nhat \u2014 darin beruht unsere \u00dcbereinstimmung. Nach Schumann ist aber der Ausfall \u201etotal\u201c, f\u00fcr mich kann er total sein, mufs es aber nicht. Daneben nehme ich noch die peripherische St\u00f6rung an und gehe wohl nicht fehl, wenn ich mich dabei in \u00dcbereinstimmung mit Sch\u00fcmann glaube, aus dessen Text es allerdings nicht klar hervorgeht.\nSchlufs.\nDie Betrachtungsweise, die mich zur Annahme einer anomalen Reaktion der Netzhaut und einer anomalen Leitungsf\u00e4higkeit der nerv\u00f6sen Bahn gef\u00fchrt hat, stellt also einen Versuch dar, von physikalisch - physiologischen Gesichtspunkten auszugehen und doch den Resultaten der psychologischen Empfindungsanalyse Rechnung zu tragen. Die Methode der Gleichungen ist unentbehrlich, sie gen\u00fcgt aber nicht allein. Noch weniger f\u00fchrt die Selbstbeobachtung allein zum Ziel. Erst die Kombination beider Methoden hat mich dem r\u00e4tselhaften Problem der Farbenschw\u00e4che n\u00e4her gef\u00fchrt. Inwieweit diese beiden Arten der Untersuchung sich widersprechen, ist mir dabei v\u00f6llig klar gewesen. Eine \u201eTheorie des Sehorgans\u201c aufzustellen,-hielten ja sogar ein Donders und Kries f\u00fcr unm\u00f6glich. Indessen schien mir die Heranziehung zweier so verschiedener Gesichtspunkte hier am Platze, wo jeder einzeln nicht gen\u00fcgt hatte, um die Erscheinungen der Farbenschw\u00e4che theoretisch zu erkl\u00e4ren.\nAnhang.\nErwiderung auf Prof. Dr. Nagels Artikel \u201eZur Nomenklatur der Farbensinnst\u00f6rungen\u201c (diese Zeitschrift 41 (1)).\nAuf Nagels, dem ersten Teil meiner Publikation angef\u00fcgte Polemik habe ich dreierlei zu erwidern:\n1. Nagel h\u00e4lt meine Identifikation von anomaler Trichromasie und Farbenschw\u00e4che erstlich darum f\u00fcr verfehlt, weil er \u201edie","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n291\ntypischen Erscheinungen der Farbenschw\u00e4che\u201c bei \u201eNormalen\u201c gefunden habe.\nWenn Nagel bei einer, bzw. wenigen Personen einzelne der beim anomalen Trichromaten vorkommenden Symptome fand, die auf eine gewisse Minderwertigkeit des betreffenden Farbensinnes schliefsen lassen, w\u00e4hrend doch die Untersuchung mit spektralen Lichtermischungen ein unzweifelhaft \u201enormales\u201c trichromatisches System aufgewiesen h\u00e4tte, so widerlegt diese Feststellung nicht im geringsten meine Behauptung, dafs die \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c in der von mir angenommenen und in dieser Arbeit ausf\u00fchrlich dargelegten Art eines scharf umschriebenen Komplexes von sieben einander in der mannigfaltigsten Weise beeinflussenden Symptomen sich bisher nur beim anomalen Trichromaten gefunden hat. Um diese meine Behauptung zu widerlegen, m\u00fcfste Nagel den Beweis f\u00fcr das Vorkommen von veritabler \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c, nicht von Einzelsymptomen derselben, bei \u201enormalen Jrichromaten\u201c erbringen, indem er bei Solchen jenen Symptomenkomplex nachwiese und zugleich Genaueres \u00fcber das Verhalten dieser Personen Mischungsgleichungen gegen\u00fcber ver\u00f6ffentlichte. Dafs das Verhalten gegen\u00fcber Gleichungen, die nur die Rot- und Gr\u00fcnkomponente ber\u00fccksichtigen, wie es z. B. die R.-D.-Gleichung tut, ausschliefslich die Abwesenheit der Rot- bzw. Gr\u00fcnschw\u00e4che beweist, hingegen die M\u00f6glichkeit einer \u201eViolettschw\u00e4che\u201c offen l\u00e4fst, habe ich in der Einleitung bereits er\u00f6rtert und ausf\u00fchrlich begr\u00fcndet (S. 31\u201432). Die M\u00f6glichkeit des Vorkommens \u201etypischer Farbenschw\u00e4che\u201c bei normalen Erregungsverh\u00e4ltnissen der Netzhaut kann ich nat\u00fcrlich nicht a priori leugnen, wenn ich sie auch nie beobachtet habe und nach meinen oben gegebenen theoretischen Anschauungen f\u00fcr sehr unwahrscheinlich halte. (Sie k\u00f6nnte z. B. als passag\u00e8res Initialsymptom einer Optikusatrophie theoretisch denkbar sein).\nJedenfalls mufs ich darauf hinweisen, dafs ich nach Untersuchung von mehreren Tausend Personen unter dem Gesichtspunkt der \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c wohl den Anspruch auf Sachver-st\u00e4ndigkeit machen kann, wenn ich behaupte, dafs \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c, so wie ich zuerst diesen Begriff umgrenzt habe, immer mit anomaler Trichromasie identisch ist. Nagel hingegen identifiziert \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c mit \u201eminderwertigem oder un-\nZeitschr. f. Sinnespkysiol. 43.\t19","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nAlfred Guttmann.\nvollkommenem Farbensinn\u201c \u2014 dadurch polemisiert er gegen etwas, was ich gar nicht behauptet habe.\nF\u00fcr alle von der Farbenschw\u00e4che der anomalen Trichromaten abweichenden, zwischen Normalen und Anomalen resp. Farbenblinden stehenden F\u00e4lle bliebe ja vorl\u00e4ufig immer noch diese von Nagel verwendete Bezeichnung oder noch besser der alte HoLMGKEENsche resp. DoNDERSsche (vgl. S. 265) Begriff, \u201eunvollkommene Farbenblindheit\u201c \u00fcbrig. So hat ihn ja z. B. K\u00f6llner in dieser Zeitschrift gebraucht (vgl. oben S. 279).\n2. Nagel verweist, um meine terminologischen Vorschl\u00e4ge zu bek\u00e4mpfen, auf die von Holmgreen eingef\u00fchrten Begriffe des \u201eschwachen Farbensinns\u201c und der \u201eunvollkommenen Farbenblindheit\u201c, die man aus historischen Gesichtspunkten nicht umpr\u00e4gen solle.\nDafs Nagel gerade diese Holm greens ch en Bezeichnungen retten will, wundert mich. Zuerst 18991 und zuletzt in seiner Arbeit, die ein halbes Jahr vor seiner Polemik gegen meine Vorschl\u00e4ge erschien, hat Nagel ausf\u00fchrlich speziell gegen die Unrichtigkeit dieser Bezeichnungen polemisiert, einmal aus praktischen Gr\u00fcnden2, sodann aus theoretischen Erw\u00e4gungen.3 Die \u00fcbrigen drei von Holmgreen verwendeten Bezeichnungen \u201eRotblind\u201c, \u201eGr\u00fcnblind\u201c, \u201eViolettblind\u201c hat Nagel zudem nach Kries\u2019 Vorgang l\u00e4ngst aufgegeben \u2014 glaubt er doch gerade in demselben Artikel mit Genugtuung konstatieren zu k\u00f6nnen, dafs \u201eProtanop\u201c\n1\tW. A. Nagel : Beitr\u00e4ge zur Diagnostik, Symptomatologie und Statistik der angeborenen Farbenblindheit. Archiv f. Augenheilk. 38, S. 31 f.\n2\tNagel (Fortgesetzte Untersuchungen usw.). \u201eMan kann heute mit Bestimmtheit sagen, dafs diese (sc. HoLMGREENSche) Gruppe der \u201eunvollst\u00e4ndig Farbenblinden\u201c nichts in sich Einheitliches darstellt, wenigstens dann nicht, wenn die Diagnose nur nach der Wollprobe gestellt wird\u201c . . . \u201eDie Gruppe der unvollst\u00e4ndig Farbenblinden setzt sich also aus einem Teil der Dichromaten und einem Teil der anomalen Trichromaten zusammen. Diese HoLMGREENSche Bezeichnung hat sich \u00fcbrigens bekanntlich nicht eingeb\u00fcrgert, w\u00e4hrend die Bezeichnung \u201eschwacher Farbensinn\u201c vielfach angewandt wurd\u201c (a. a. O. S. 250).\n3\t\u201eSo konnte Holmgreen \u00fcber das Wesen des Farbensinns seines \u201eunvollst\u00e4ndigen Farbenblinden ' (der jetzigen anomalen Trichromaten) nicht ganz ins klare kommen.\u201c [Der Widerspruch dieser beiden NAGELSchen Zitate ist nur scheinbar: zweifellos meint Nagel hier (in der Klammer) das Gegenteil, dafs n\u00e4mlich die jetzigen anomalen Trichromaten (wie oben in Anm. 2 zitiert) einen Teil der HoLMGREENSchen \u201eunvollst\u00e4ndig Farben blinden\u201c ausmachen!] (a. a. O. S. 266.)","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n293\nund \u201eDeuteranop\u201c sich eingeb\u00fcrgert h\u00e4tten (womit er meiner gegenteiligen Behauptung widerspricht). Warum sollte also nur diese einzige Bezeichnung Holmgreens aus historischer Piet\u00e4t erhalten bleiben, die infolge einer heute \u2014 und zwar zuerst von Nagel selbst \u2014- als unzureichend erkannten Diagnostik zwei heterogene Gruppen umschliefst? Endlich h\u00e4lt Nagel ja auch Holmgreens theoretische Vorstellungen von dem Kurvenyerlauf und dem wahren Wesen des anomal-trichromatischen Farbensinns, wie er wiederholt bezeugt hat1, f\u00fcr falsch. Der Wert von Holmgreens klassischer Arbeit, sein Ruhm, die Diagnostik der Farbenblindheit sehr gef\u00f6rdert zu haben, die Kulturwelt, die von ihm zuerst erkannte soziale Bedeutung dieser St\u00f6rungen gelehrt zu haben \u2014 all das bleibt bestehen, auch wenn sp\u00e4tere Forschungen zu neuen Konsequenzen f\u00fchren!\nIch mufs also gegen\u00fcber Nagels beiden Einwendungen meine terminologischen Vorschl\u00e4ge, die \u201eanomale Trichromasie\u201c auch als \u201et arbenschw\u00e4che\u201c bzw. Rotschw\u00e4che und Gr\u00fcnschw\u00e4che zu bezeichnen, aufrechterhalten.\nDafs ein Bed\u00fcrfnis besteht, neben dem von Koenig2 gepr\u00e4gten komplizieiten wissenschaftlichen Namen, dessen Berechtigung noch dazu von einem grofsen Kreise von Farbentheoretikern bestritten wird, ein allgemein verst\u00e4ndliches und zweckentsprechendes Synonym, analog dem allgemein verbreiteten Wort \u201eFarbenblindheit\u201c zu verwenden, kann niemand leugnen. Nur physiologisch gebildete Farbentheoretiker kennen und verstehen die Bezeichnung \u201eanomale Trichromasie\u201c, nur die Anh\u00e4nger der Dreikomponententheorie unter ihnen wenden sie an! Wenn die Sinnesphysiologen als Vertreter eines wissenschaftlichen Grenzgebietes aber nicht die Mitarbeit der Ophthalmologen, Neurologen, Psychiater und Psychologen bei der weiteren Untersuchung dieser wichtigen und noch so wenig erforschten Farbensinnst\u00f6rung sehr beeintr\u00e4chtigen wollen, m\u00fcssen sie eine einfache und dabei theoretisch unverbindliche Bezeichnung w\u00e4hlen. Ein Ausweg\n1\tSo u. a. noch in \u201eFortges. Untersuchungen\u201c, vgl. S. 262 \u2014 ferner in der gegen mich gerichteten Polemik selbst.\n2\tIch erinnere nochmals daran, dafs K\u00f6nig selbst die Bezeichnung \u201eanomale trichromatische Farbensysteme\u201c ausdr\u00fccklich nur solange angewendet wissen wollte, als diese Gruppe (die \u201eGr\u00fcnschwachen\u201c - \u201eGr\u00fcnanomalen\u201c) \u201edie einzige aufserdem scharf abgegrenzte\u201c sei. F\u00e4nden sich sp\u00e4ter mehrere derartige von der grofsen Mehrzahl abweichende Gruppen, so sei nat\u00fcrlich eine andere Bezeichnung zu w\u00e4hlen. (Ges. Abhandl. S. 267.)\n19*","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nAlfred Gruttmann.\nw\u00e4re es vielleicht, von \u201eanomalem Farbensinn\u201c und von \u201eAnomalen\u201c schlechthin zu sprechen, wie es sowohl Nagel wie ich im Text promiscue tun. Dagegen sind ja wohl weder meine Gr\u00fcnde, noch Nagels Einwendungen g\u00fcltig. Indessen erscheint mir dieser Ausdruck doch so nichtssagend, dafs ich ihn zur Nomenklatur f\u00fcr eine so bestimmt charakterisierte St\u00f6rung des Farbensinns, wie sie hier vorliegt, nicht vorgeschlagen habe. Wenn von anderer Seite eine Nomenklatur gefunden w\u00fcrde, die besser als die von Kries resp. mir vorgeschlagenen Benennungen w\u00e4re, so w\u00fcrde ich gern zur\u00fcckstehen. Vorl\u00e4ufig scheint mir meine Terminologie aber doch noch geeigneter, als die ziemlich monstr\u00f6sen Wortgebilde: \u201eRotanomal\u201c \u2014 \u201eGr\u00fcnanomal\u201c.1\nErw\u00e4hnen m\u00f6chte ich \u00fcbrigens, dafs auch G. E. M\u00fcller in seinen Vorlesungen, wie ich nachtr\u00e4glich h\u00f6rte, die Ausdr\u00fccke Farbenschw\u00e4che bzw. Rotschw\u00e4che und Gr\u00fcnschw\u00e4che ebenso wie ich gebraucht.\n3. Mit seinen sachlichen Einwendungen hat Nagel eine Anzahl allgemeiner Angriffe gegen meine Darlegungen verbunden, auf die ich nun zum Schlufs antworten will. Nagels Polemik beginnt: \u201eDafs der Farbensinn aller anomalen Trichromaten gegen\u00fcber dem der Normalen eine gewisse Minderwertigkeit aufweist, kann nach den Mitteilungen von Donders sowie nach den in den letzten Jahren gewonnenen Erfahrungen wohl kaum mehr bezweifelt werden\u201c. Dieser Satz wirkt irref\u00fchrend, als ob meine Arbeit (wie sonstige, \u00fcber anomale Trichromasie neuerdings publizierte Untersuchungen) nichts weiter sei, als eine Best\u00e4tigung bekannter und anerkannter Mitteilungen von Donders. Demgegen\u00fcber mufs ich nochmals scharf betonen, dafs, seitdem im Jahre 1884 Donders als erster eine \u201egewisse Minderwertigkeit\u201c bei den meisten von ihm untersuchten anomalen Trichromaten gefunden hatte, alle sp\u00e4teren Autoren, Nagel mit einbegriffen, zu der entgegengesetzten Auffassung kamen.2 Erst 20 Jahre\n1\tZusatz bei der Korrektur. Ich sehe mit Freude, dafs Prof. Nagel inzwischen selbst diese Nomenclatur aufgegeben hat. Gegen die neue Terminologie habe ich kein Bedenken. Ich hoffe aber, dafs mein Vorschlag, neben dem wissenschaftlichen Namen ein allgemeinverst\u00e4ndliches Synonym, \"wie \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c, zu brauchen, auch von anderen Forschern gut-geheifsen werden wird.\n2\tIn Nagels Arbeit vom Jahre 1899 findet sich wohl ein Dutzend Belegstellen f\u00fcr seine damalige entgegengesetzte Auffassung vom Farbensinn der anomalen Trichromaten.","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\n295\ndanach habe ich zuerst den Symptomenkomplex publiziert, der die Farbenschw\u00e4che aller anomalen Trichromaten auf ganz neuer experimenteller Grundlage bewies und so die DoxDERSsche alte Auffassung in wesentlich erweiterter Form wieder zu Ehren brachte.\nIch kann mich auf die in meiner Arbeit gegebenen speziellen Darlegungen, die mich zu einer wissenschaftlichen Definition des bisherigen vagen Ausdrucks \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c f\u00fchrten, beziehen, sowie auf meine zahlreichen, Donders\u2019 Auffassung referierenden Zitate \u2014 insbesondere die in Kap. XI, S. 58 gegebene Darstellung der DoxDERsschen Begriffsbestimmung und Nomenklatur \u2014 wenn ich mich an dieser Stelle mit einer so allgemeinen Bemerkung begn\u00fcge.\nEs ist \u00fcberhaupt sehr zu beklagen, dafs die DoNDERssehen Arbeiten \u00fcber Farbensinn so wenig in der Literatur beachtet werden ; sie bilden eine wahre Fundgrube f\u00fcr jeden Forscher auf diesem Gebiete, sowohl durch die F\u00fclle exakter Beobachtungen, als durch den Weitblick theoretischer Gedanken. Donders hat sich \u00fcbrigens durchaus nicht \u201eweniger f\u00fcr die praktische Diagnostik interessiert\u201c, wie Nagel angibt (a. a. O. S. 262). Ich verweise auf meine Darlegungen \u00fcber Donders Massenuntersuchungen an 2300 Eisenbahnbeamten, die zu rein diagnostischen Zwecken veranstaltet waren (vgl. Kap. Ill, S. 259 und Kap. XI, S. 266/7 dieser Arbeit). Ebenso ist die praktisch wichtige Spezialisierung der RAYLEiGH-Gleichung, wie bekannt, von Donders angegeben, desgl. mehrere andere praktisch-diagnostische Methoden (1. durchbohrte Scheibe, 2. pseudo-isochromatische Muster, 3. Winkelgr\u00f6fse der Farben).\nH\u00e4tte Prof. Nagel mit seiner Polemik gewartet, bis ihm und den Lesern die ganze Arbeit Vorgelegen h\u00e4tte, in deren Verlauf ich doch erst meine Versuchsergebnisse darlegen und meine Schl\u00fcsse ziehen konnte, so w\u00fcrde er vielleicht manches anders formuliert haben. So hatte ich ja in der Einleitung die B e-gr\u00fcndung meiner Definition des Begriffs \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c noch gar nicht gegeben, an jener Stelle auch nicht geben k\u00f6nnen, wie aus dem Text von S. 30 meiner Einleitung klar hervorgeht. Damals waren Herrn Nagel, \u2014 es lehrt das der Vergleich zwischen seinem Artikel, sowie seinen eigenen Publikationen \u00fcber anomale Trichromasie und dem Inhalt speziell der sp\u00e4teren Teile meiner Arbeit \u2014 eine Anzahl der von mir gefundenen Tatsachen \u00fcberhaupt nicht, andere nur in groben Umrissen bekannt. Vor allem aber \u2014 und das ist der springende Punkt ! \u2014 wufste Nagel zu der Zeit, wo er meine Arbeit als","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nAlfred Guttmann.\ntheoretisch bedeutungslos charakterisierte, noch gar nicht, ob und welche theoretischen Schlufsfolgerungen ich aus meinem aus-schliefslich mir genau bekannten Material ziehen konnte. Seine Einwendungen zeigen ja, dafs er an eine theoretische Deutung auch nur im Anschlufs an Koenigs Kurvenverlauf, also an die anomale Netzhautfunktion, gedacht hat. Er stand eben, wie er selbst betont, \u201eauch den \u00fcbrigen Ausf\u00fchrungen in der Abhandlung fern\u201c, war demnach damals durchaus noch nicht berechtigt, zu behaupten, dafs durch meine \u201eErmittelung gewisser, einstweilen als sekund\u00e4r zu bezeichnender Eigenschaften der anomalen Systeme wir dem Kern des Anomalen-Problems nicht n\u00e4her ger\u00fcckt seien.\u201c Darin allerdings stimme ich mit Nagel v\u00f6llig \u00fcberein: \u201eDie Dinge liegen jedenfalls viel verwickelter, als es auf den ersten Blick scheint.\u201c\nJetzt, nachdem ich meine Arbeit der Kenntnis der Fachgenossen unterbreitet habe, ist erst ein Urteil dar\u00fcber m\u00f6glich, ob ich dadurch nur \u201eeinen sch\u00e4tzenswerten Beitrag\u201c gegeben habe \u2014 wie Nagel meint \u2014 und sonst nichts.\n(Eingegangen am 27. M\u00e4rz 1908).\nBerichtigung\nzu der Arbeit von Catharina von Maltzew \u201e\u00dcber individuelle Verschiedenheit der Helligkeitsverteilung im Spektrum\u201c und zu der Arbeit von Kurt Koeeka \u201eUntersuchungen an einem prot-\nanomalen System\u201c.\nVon\nDr. Alfred Guttmann (Berlin).\nIn Band 43 Heft 1/2 dieser Zeitschrift sind obige zwei Publikationen aus der physikalischen Abteilung des physiologischen Instituts zu Berlin erschienen, in denen sich mehrere unrichtige Angaben befinden, die meine eigenen Arbeiten betreffen.","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Berichtigung.\n297\nIn der Arbeit von Fr\u00e4ulein von Maltzew steht auf S. 77 die Behauptung, dafs eine DoNDERSsche Arbeit (Farbengleichungen) \u201eden wichtigen Hinweis auf die Tatsache enth\u00e4lt, dafs die anomalen Trichromaten im allgemeinen \u201efarbenschwach\u201c sind, d. h. Farben unter r\u00e4umlichen und zeitlichen Verh\u00e4ltnissen nicht unterscheiden, unter denen sie der normale sicher erkennt\u201c. \u2014 Der Sinn dieser Worte ist, dafs die Abh\u00e4ngigkeit der Anomalen von der r\u00e4umlichen, wde von der zeitlichen Darbietung der Farben von Donders erkannt und von ihm jener Definition der Farbenschw\u00e4che zugrund gelegt worden ist.\nDazu bemerke ich: 1. Es ist unrichtig, dafs die Abh\u00e4ngigkeit der Anomalen von den r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen von Donders erkannt worden ist. Ich habe in meiner Arbeit \u201eUntersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che\u201c in dieser Zeitschrift Bd. 42/43 ausf\u00fchrlich dargelegt, dafs und auf welche Weise ich diese Tatsache gefunden habe (Kap. III).\n2.\tEs ist unrichtig, dafs Donders die Abh\u00e4ngigkeit der Anomalen von den zeitlichen Verh\u00e4ltnissen erkannt hat. Ich habe vor einigen Jahren diese Tatsache entdeckt (vgl. Kap. II), was bisher alle Autoren anerkannt haben.\n3.\tDie obige Definition der Farbenschw\u00e4che r\u00fchrt nicht von Donders her; sie ist vielmehr ein Teil meiner eigenen, neuen Definition (vgl. Kap. III und XII). Donders verstand etwas v\u00f6llig anderes unter \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c.\nIn der Einleitung seiner Arbeit weist Herr Koeeka auf die seit einigen Jahren bekannte Tatsache hin, dafs der (Farben-) Kontrast bei beiden Typen der Anomalen in \u00e4hnlicher Weise gesteigert sei. Unmittelbar anschliefsend folgt dieser Satz : \u201eSystematische Untersuchungen \u00fcber diese Kontrastverh\u00e4ltnisse stehen indessen bis jetzt noch aus\u201c mit dazugeh\u00f6riger Anmerkung : \u201eMitteilungen von Dr. Guttmann \u00fcber Kontrastversuche an Deuteranomalen sind, wie ich von Herrn Dr. G. erfahre, im Druck.\u201c\nBeides ist unrichtig. Richtig ist vielmehr,\n1. dafs ich bereits 1904 auf dem Psychologenkongrefs \u00fcber \u201esystematische Untersuchungen\u201c (sic!) berichtet habe, wonach ich als konstantes Symptom der anomalen Trichromasie \u201eeinen erheblich gesteigerten Simultankontrast\u201c gefunden habe (vgl.","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nBerichtigung.\nKongrefsbericht, besonders S. 15, Zeile 18\u201420 und Zeile 34/35 sowie S. 16, Zeile 1 \u2014 7 und 28\u201431). Aufserdem habe ich bereits verschiedentlich in Bd. 42 dieser Zeitschrift auf jene Versuchs-.resultate hingewiesen (u. a. S. 62, 63, 265, 266, 268, 269).\n2. Keineswegs hat Herr Koffka von mir erfahren, dafs \u201eMitteilungen \u00fcber Kontrastversuche an Deuteranomalen im Druck sind\u201c; vielmehr habe ich ihn benachrichtigt, dafs \u201edie ausf\u00fchrliche Beschreibung\u201c (sic!) meiner 1904 vorgetragenen Versuche \u00fcber Kontraststeigerung bei beiden Ano-malentypen zurzeit im Druck sei, dafs ich quantitative Versuche hingegen nur an Gr\u00fcnschwachen (Deuteranomalen) ausgef\u00fchrt habe.\nSchliefslich hat Herr Koffka im zweiten Teil seiner Arbeit, der die Erm\u00fcdbarkeit der Anomalen durch Farben behandelt, anzugeben unterlassen, dafs auch dies Symptom von mir gefunden und 1904 publiziert worden ist. (Kongrefsbericht S. 15, These 6.)\n(Eingegangen am 2. Oktober 1908.)","page":298}],"identifier":"lit33527","issued":"1909","language":"de","pages":"146-162, 199-223, 255-298","startpages":"146","title":"Untersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che [Zweite, dritte Fortsetzung sowie Schlu\u00df mit Anhang: Erwiderung auf Prof. Nagels Artikel \"Zur Nomenclatur der Farbensinnsst\u00f6rungen\", Zeitschr. f. Sinnesphysiol., 1908 , Bd. 42, S. 65-68]","type":"Journal Article","volume":"43"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:29:58.494166+00:00"}

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