Open Access
{"created":"2022-01-31T15:18:02.806884+00:00","id":"lit33531","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Sternberg, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 43: 224-236","fulltext":[{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nDie Schmackhaftigkeit und der Appetit.\nVon\nDr. Wilhelm Sternberg,\nSpezialarzt in Berlin.\nEs ist eine bekannte Erfahrungstatsache, die schon jeder Laie am eigenen Leibe macht, allt\u00e4glich mehrmals sogar, dafs auf den Appetit nichts einen solchen Einflufs aus\u00fcbt wie der Geschmack und die Schmackhaftigkeit. Das ist der Grund, warum die K\u00fcche eine so hohe Bedeutung f\u00fcr den Appetit hat. Denn die erste Aufgabe der Kochkunst ist es, dem Geschmack Sinnesgen\u00fcsse zu bereiten, indem sie aus den Nahrungsstoffen und Nahrungsmitteln, die an sich noch ganz geschmacklos sind, die tischfertigen Speisen zubereitet, deren Wohlgeschmack f\u00fcr die sinnlichen und gleichermafsen f\u00fcr die psychischen Gen\u00fcsse ein physiologisches Bed\u00fcrfnis ist. Es erzielt die K\u00fcche durch die Herstellung der Schmackhaftigkeit und Appetitlichkeit ihre Erfolge auf den Appetit. Schon daraus geht hervor, dafs f\u00fcr die \u00e4rztliche Praxis nichts eine auch nur ann\u00e4hernd so hohe Wichtigkeit besitzt wie die Krankenk\u00fcche. Denn jede Krankheit bringt vom ersten Anbeginn bis zur Beendigung, ja sogar \u00fcber dieselbe noch hinaus, eine Beeintr\u00e4chtigung des Appetits, nach der einen oder anderen Richtung hin, mit sich. Seltsamerweise haben die theoretischen Wissenschaften von diesen h\u00f6chst einfachen, aufserordentlich leicht zu wiederholenden und m\u00fchelos zu kontrollierenden Beobachtungen am Menschen noch niemals Notiz genommen, sondern bevorzugen es nach wie vor, die ebenso praktisch wichtigen wie theoretisch schwierigen Probleme vom Appetit durch Tierexperimente zu l\u00f6sen. Dabei d\u00fcrfte aber doch daran zu erinnern sein, dafs weder die K\u00fcche noch die Appetitlichkeit f\u00fcr die Tiere erforderlich sind. Demnach d\u00fcrfte die gesuchte Gr\u00f6fse hier m\u00f6glicherweise gar nicht gefunden","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schmackhaftigkeit und der Appetit,.\n225\nwerden k\u00f6nnen, auf diese Weise die Aufgabe gar nicht zu l\u00f6sen sein, wenigstens nicht mit der exakten mathematischwissenschaftlichen Genauigkeit, auf welche die moderne tierexperimentelle Forschung sonst so stolz sein darf.\nAm Menschen hat darum Bickel1 Versuche angestellt. Er verwandte beliebige Schmeck- und Riechreize. Dabei fafste er unter allen Reizwirkungen nur eine ins Auge und zwar diejenige, die ganz konstant auftrat, ganz gleichg\u00fcltig, welche Geschmacksqualit\u00e4ten er als Reize anwenden mochte, ganz gleichg\u00fcltig, welche der aufserordentlich zahlreichen Geruchsqualit\u00e4ten er als Reize benutzen mochte, ganz gleichg\u00fcltig auch, welche der unendlich \u2014 oo in mathematischem Sinne unendlich \u2014 vielfachen M\u00f6glichkeiten von Kombinationen der verschiedenen Geschmacksund Geruchsreize er w\u00e4hlen mochte. Diese konstante Reizwirkung fafste er als die somatische Grundlage und den physischen Ausdruck des psychischen Appetits auf.\nIch habe bereits2 die Frage aufgeworfen, ob dieser Schlufs nicht gar ein Fehlschlufs w\u00e4re, und ob nicht der ganzen Betrachtung wohl ein Irrtum zugrunde liegen m\u00f6chte. Denn wenn irgendeine Erscheinung sich nachweisen l\u00e4fst, die stets gleich-m\u00e4fsig auftritt, ohne Unterschied auf den Geschmack, ohne Unterschied, ob es sich um Wohlgeschmack, Ungeschmack oder Ekelgeschmack handelt, ohne Unterschied, ob es sich um Lust oder Unlust, um Angenehm oder Un angenehm handelt, dann ist diese Erscheinung doch alles andere, blofs nicht die physiologische Grundlage f\u00fcr dasjenige psychische Moment, das man \u201eAppetit\u201c heilst.\nWenn Magensaftsekretion auf alle Geschmacksqualit\u00e4ten, auf alle Geruchsqualit\u00e4ten gleichm\u00e4fsig erfolgt, dann ist die Saftsekretion gerade nicht das Wesentliche des Appetits.\nNicht allein, dafs der Schlufs und die Behauptung von Bickel irrt\u00fcmliche sein k\u00f6nnten, scheint mir dieser verdiente Forscher mit seiner eigenen Beweisf\u00fchrung sogar eher das gerade Gegenteil, das diametral Entgegengesetzte bewiesen zu haben.\nWeitere schwerwiegende Einw\u00e4nde erheben sich aber auch,\n1\tBickel, \u201eExperimentelle Untersuchungen \u00fcber die Magensaftsekretion beim Menschen\u201d. Vortrag, gehalten auf dem Kongrefs f\u00fcr innere Medizin 1906. Deutsche Mediz. V/ochenschr. 16. 8. 06.\n2\tZeitschr. f. physik. u. di\u00e4t. Therapie 11. 1907/8. \u201eGeschmack und Appetit\u201c.","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nWilhelm Sternberg.\nwenn man die Reize selbst einmal n\u00e4her betrachtet, die er zu den Versuchszwecken angewandt hat.\nDer Forscher hat zu Geschmacksreizen, die den Appetit hervorrufen sollten, auch Asa foetida herangezogen. Die technische und wissenschaftliche Bezeichnung f\u00fcr diese Substanz ist \u201eStink-Asant\u201c oder \u201eTeufels-Dreck\u201c. Der Engl\u00e4nder sagt \u201eassa foetida\u201c oder \u201easafoetide\u201c oder \u201edevil\u2019s d\u00fcng\u201c, also Dung, Mist, Kot vom Teufel. Der Gestank, der das Pr\u00e4parat vor allen anderen Stinkstoffen der Apotheke auszeichnet, ist schon der Pflanze eigent\u00fcmlich, von der das Harz stammt, so dafs deren Bezeichnung sogar in dem wissenschaftlichen Namen bereits die h\u00f6chst unangenehme Eigenschaft hervorhebt: \u201eScorodosma foetida\u201c. Im Gegensatz zu Asa foetida f\u00fchrt eine andere Asa den Beinamen \u201edulcis\u201c. Das ist Benzoe. Benzoe enth\u00e4lt n\u00e4mlich neben Benzoes\u00e4ure und Zimts\u00e4ure, auch Vanillin. Der Anwesenheit dieses aromatischen K\u00f6rpers verdankt es seinen angenehmen Geruch. So kommt es, dafs man die Benzoetinktur geradezu als Geruchskorrigens von Salben, Pomaden und anderen kosmetischen Artikeln benutzt.\nAssa foetida ist kein einheitliches chemisches Individuum, sondern ein Gemisch und zeigt demnach verschiedene Geschmacksund Geruchsqualit\u00e4ten. Asa foetida amygdaloides enth\u00e4lt nach Polasek 61,4 \u00b0/o \u00e4therl\u00f6sliches Harz (Ferulas\u00e4ure \u2014 Ester des Asaresinotannols) 0,6 \u00b0/0 \u00e4therunl\u00f6sliches Harz (freies Asaresino-tannol) 25,1 \u00b0/0 Gummi, 6,7 \u00b0/0 \u00e4therisches \u00d6l, 0,06 Vanillin, 1,28 % freie Ferulas\u00e4ure.\nDer Geruch wird mitunter als \u201ezuerst s\u00fcfslich\u201c geschildert, allgemein aber als h\u00f6chst \u201eekelhaft\u201c und \u201eunangenehm widerlich\u201c angegeben.\nWas den \u201es\u00fcfslichen Geruch\u201c betrifft, so ist dieser Sinneseindruck ein solcher des Geschmackes. Es gibt eben mancherlei gasf\u00f6rmige Schmeckstoffe und gasf\u00f6rmige S\u00fcfsstoffe, ebenso auch l\u00f6sliche Riechstoffe, die schmecken. Daher verschwindet zum Teil der Geruch, n\u00e4mlich der Geschmack, riechender Schmeckstoffe bei Ageusie1 wie auch der Geruch schmeckbarer Riechstoffe bei Anosmie.\nDer moderne Kulturmensch empfindet jedenfalls in gesunden Tagen den Geruch von Asa foetida h\u00f6chst unangenehm. In\n1 \u201eGeschmack und Geruch\u201c. Berlin, Julius Springer, 1906.","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schmackhaftigkeit und der Appetit.\n227\nAsien, in Persien und Indien freilich soll man Asa foetida auch als Gew\u00fcrz den Speisen in der K\u00fcche zusetzen. Selbst das \u00e4therische \u00d6l, das in Asa foetida enthalten ist, hat einen durchdringenden und h\u00f6chst \u201ewiderlichen\u201c Geruch. Der \u00e4ufserst unangenehme Geruch des \u00d6ls und des Harzes l\u00e4fst sich am ehesten mit dem Gestank von Knoblauch und Zwiebeln vergleichen. Dabei ist nicht einmal das \u00d6l, das bei der Destillation des Harzes entsteht, ein einheitlicher K\u00f6rper. Es enth\u00e4lt selbst das \u00d6l nach Semmler noch 2 Terpene, von denen das eine mit Pinen identisch sein soll, aufserdem noch 3 Disulfide C7H14S,, C1iH20S2, C10H18Sa und schliefslich zw7ei andere Bestandteile (CioH160)n und C8HJ6S.2. Entfernt man das \u00e4therische \u00d6l, so tritt ein an Styrax erinnernder angenehmer Geruch auf.\nDa der Geruch so h\u00e4fslich und stark ist, gibt es auch kein Korrigens oder Desodorans daf\u00fcr. Als das einzige Beseitigungsmittel f\u00fcr den \u00fcblen Geruch der Arznei benutzt der Pharmazeut den \u00dcberzug mit Gelatine oder Drageemasse. Diese Pillen, Pilulae Asae foetidae gelatinatae und tragacanthatae, werden daher in der Apotheke vorr\u00e4tig gehalten. Wenn trotzdem der Geruch, der dem Normalen zuwider ist, mitunter als beliebtes Parf\u00fcm begehrt wird, so ist dies nur der Fall bei einigen Kranken und zwar bei kaprizi\u00f6sen Hysterischen. Es handelt sich alsdann um eine Perversit\u00e4t wie etwa bei Pica von Graviden oder Chlorotischen u. a. m. oder Koprophagie u. s. f.\nEbenso wie der Geruch ist auch der Geschmack \u201ewiderlich , scharf bittei. Daher ist z. B. die Arzneiform der Emulsion wegen ihres schlechten Geschmackes ganz unzweckm\u00e4fsig. Manche\nbehaupten, der Geschmack sei zuerst s\u00fcfslich, nachher bitterlich kratzend.\nBetreffs des s\u00fcfslichen Geschmackes ist daran zu erinnern, dafs H.2S s\u00fcfslich schmeckt. Aber \u00fcberdies wird, wie ich1 bereits mehrfach hervorgehoben habe, aufserordentlich oft gerade die s\u00fcfse Geschmackscjualit\u00e4t bei zweifelhaften Schmeckeindr\u00fccken angegeben.\nEs ist ungemein auffallend, wie die einfache Qualit\u00e4t des Geschmackes selbst von einer einfachen chemischen Verbindung, wie z. B. von einem Salze, verschiedenfach, in oft geradezu\n1 \u201eDer salzige Geschmack und der Geschmack der Salze\u201c. Engel-manns Archiv f. Physiol. 1904.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 43.\n15","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nWilhelm Sternberg.\nwidersprechender Weise von den einzelnen Versuchspersonen manchmal angegeben wird und sogar auch von den Autoren in der Literatur. Gerade die Bestimmung, ob eine Substanz s\u00fcfs schmeckt oder nicht, ebenso aber auch die Beantwortung der Frage, ob der Geschmack ein salziger ist oder nicht, macht schon ganz erhebliche Schwierigkeiten, w\u00e4hrend die Frage nach dem sauren und ganz besonders die nach dem bitteren Geschmack leichter, viel bestimmter und schneller erfolgt; dazu kommt noch, dafs gerade der bittere Geschmack auffallend lange, l\u00e4nger als alle anderen Geschm\u00e4cke andauert. Ganz besonders steigern sich aber die Schwierigkeiten, wenn es zu entscheiden gilt, ob eine Substanz nur herb oder auch zugleich s\u00fcfs schmeckt. Derartige Verbindungen von leicht adstringierender Wirkung und Geschmacksqualit\u00e4t werden auffallend oft als \u201es\u00fcfslich schmeckend\u201c angesprochen.1 2 Tats\u00e4chlich ist die Unterscheidung, ob nur herb oder zugleich auch s\u00fcfs, oft erheblich schwierig. So mag sich vielleicht auch die Tatsache erkl\u00e4ren, dafs selbst in der Literatur vielfach die Angabe \u201es\u00fcfslich\u201c gemacht wird, die sp\u00e4ter durchaus nicht best\u00e4tigt werden konnte. Cloetta-Filehne 2 gibt an, dafs sogar die allgemeinsten K\u00fcchengew\u00fcrze Zimt und Pfeffer s\u00fcfs schmecken: Cortex Cinnamoni \u201eerzeugt auf der Mundschleimhaut einen s\u00fcfslichen Geschmack\u201c. \u201eBei geschlossener Nase schmeckt Zimt nur s\u00fcfs, nicht aromatisch\u201c ; \u201ePfeffer schmeckt dann nur scharf oder richtiger auch dieses nicht, sondern schwach s\u00fcfslich\u201c. Diese Angaben konnte ich3 nicht best\u00e4tigen.\nDie unangenehm sinnf\u00e4lligen Eigenschaften von Asa foetida machen sich noch mehr nach der Einnahme geltend. Der Schweifs wird stinkend, Aufstofsen tritt auf und zwar von etwas \u201es\u00fcfslich\u201c riechenden, stark stinkenden Gasen, die Flatus verbreiten einen scheufslichen Gestank. Leibschmerzen und allgemeines Gef\u00fchl von Unbehagen, das nach der Einnahme des Mittels auftritt,\n1\tOehrwall sagt: \u201eAdstringentien schmecken oft s\u00fcfs\u201c. \u2014 Aber auch abgesehen von den \u201eTannica dulcia s. aluminosa\u201c ist es geradezu auffallend, wie schwierig es ist, die Empfindung \u201eherb\u201c, \u201ezusammenziehend\u201c und \u201es\u00fcfslich\u201c auseinander zu halten.\n2\tA. Cloettas Lehrbuch der Arzneimittellehre und Arzneiverordnungslehre. 4. Aufl. von Filehne, Freiburg, 1887. S. 279 u. 278.\n3\t\u201eKochkunst und \u00e4rztliche Kunst. Der Geschmack in der Wissenschaft und Kunst.\u201c 1907. Stuttgart, F. Enke. S. 118 u. 124.","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"229\n\u25a0Die Schmackhaftigkeit und dev Appetit.\nrechtfertigen es, wenn selbst die Spezialforscher1 diese Arznei ein \u201esch\u00e4ndliches Mittel\u201c, eine den Namen durchaus begr\u00fcndende \u201ediabolische\u201c Arznei nennen. Es sind also Geschmack und Geruch von Asa. foetida wahrlich nicht diejenigen Schmeckreize, die geeignet sind, Appetit zu erregen. Eher m\u00fcfste man das Gegenteil annehmen und aus den physiologischen Einwirkungen von Schmeckreizungen durch Asa foetida folgern, dais sie das Gegens\u00e4tzliche vom Appetit bedeuten.\nAls weiteren Geschmacks- und Geruchsreiz, um den Appetit anzuregen, benutzt Bickel die Maggiw\u00fcrze. Was dieses Pr\u00e4parat betrifft, so l\u00e4fst es sich zwar nicht leugnen, dafs der Geschmack dieses Surrogates, wenn es dem Originalgenufsmittel zugesetzt ist, mitunter zur richtigen Zeit im richtigen Mafs genossen wird, den Wohlgeschmack der Bouillon nicht ganz verdirbt, m\u00f6glicherweise sogar etwas hebt. Allein einmal ist doch Maggi an sich nur ein Surrogat und selber kein Genufsmittel, niemals darf es daher den Anspruch erheben, das Genufsmittel, als welches eine wohlschmeckende Bouillon doch anzusehen ist, etwa zu ersetzen. In einer wissenschaftlichen Krankenk\u00fcche m\u00fcssen im Gegenteil alle Surrogate m\u00f6glichst ausgeschlossen bleiben. Je mehr man m eine wirklich rationelle Krankenk\u00fcche eindringt, desto weniger hat man auch tats\u00e4chlich Surrogate n\u00f6tig. Die fachm\u00e4nnische ^oehkunst macht Surrogate ebenso \u00fcberfl\u00fcssig wie k\u00fcnstliche N\u00e4hrpr\u00e4parate. Die Anwendung dieser Surrogate und der k\u00fcnstlichen N\u00e4hrpr\u00e4parate ist nur ein Armutszeugnis f\u00fcr den Mangel\nan Verst\u00e4ndnis f\u00fcr die Kochkunst und die Fertigkeiten in der Krankenk\u00fcche.\nSodann ist doch Maggi ebenfalls nur ein Gemisch von vielen, n\u00e4her nicht bekannten Geschmacks- und Geruchsstoffen, nicht etwa eine einheitliche chemische Verbindung.\nSchliefslich ist der Geschmack von Maggi, f\u00fcr sich allein genossen, gewifs kein Wohlgeschmack. Erzeugen doch nicht ein-mal die originalen K\u00fcchengew\u00fcrze wie Pfeffer und Salz oder andere W\u00fcrzen f\u00fcr sich allein Wohlgeschmack und Appetit.\nEndlich verdienen aber auch die besonderen Eigent\u00fcmlichkeiten, welche die Reizungen mit Schmeckstoffen erheischen,\n1 Nothnagel-Rossbach, Handbuch der Arzneimittellehre. Berlin 1S87 VI. Aufl. S. 569.\n15*","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nWilhelm Sternberg.\nnicht die Geringsch\u00e4tzung oder gar Untersch\u00e4tzung, die sie in den experimentellen Forschungsgebieten immer noch erfahren.\nNach Bickel mufs sich n\u00e4mlich die Versuchsperson mit allerlei Schmeckstoffen den Mund aussp\u00fclen. Es fragt sich: Ist denn diese Art der Geschmacksreizung auch die richtige? Ist sie \u00fcberhaupt geeignet, um Wohlgeschmack, um Genufs und schliefs-\u00fcch um die Genufswirkung auf den Appetit hervorzurufen, der* mafsen wenigstens, dafs man umgekehrt aus den objektiven physischen Folgezust\u00e4nden einen R\u00fcckschlufs f\u00fcr die psychische Genufswirkung, f\u00fcr die Reizwirkung auf den Appetit, f\u00fcr den Einflufs des Geschmacks auf den Appetit ziehen d\u00fcrfte?\nDas ist durchaus nicht der Fall und zwar aus folgenden\nGr\u00fcnden.\nDas Sp\u00fclen selbst mit Schmeckstoffen von h\u00f6chstem Wohlgeschmack, mit Geschmacksreizen, die den Appetit in aufser-ordentlichem Mafse anzuregen imstande w\u00e4ren, braucht an sich noch gar keinen Genufs, noch gar keine Genufswirkung und vollends nicht Appetit zu erregen. Ja es kann sogar das Gegenteil der Fall sein. Es bedarf n\u00e4mlich zum Sp\u00fclen, Gurgeln und Herausgeben der Stoffe und zwar solcher gerade von angenehmem zusagenden Geschmack einer willk\u00fcrlichen Hemmung des Schluckreflexes.\nKinder schlucken alles, was sie in den Mund nehmen, herunter. Es bedarf erst besonderer Mafsregeln, um ihnen die Wiedergabe mancher Stoffe beizubringen. Selbst bejahrte Anf\u00e4nger im Rauchen schlucken den Rauch ebenfalls immer erst herunter und m\u00fcssen es erst besonders erlernen, willk\u00fcrlich den Schluckreflex zu hemmen.\nSo paradox es auch ist, so wahr ist es doch, dafs man den besten Wohlgeschmack verh\u00e4ltnism\u00e4fsig recht schnell durch Herunterschlucken des Schmeckstoffes zu beseitigen strebt.\nMan sollte eigentlich doch meinen, wenn einem ein Geschmack angenehm ist und zusagt, so w\u00fcrde man bestrebt sein, diesen Schmeckreiz m\u00f6glichst lange auf der Zunge zu belassen, um damit den Geschmack m\u00f6glichst lange angenehm zu empfinden, um also auf diese Weise m\u00f6glichst lange den Genufs wahrzunehmen. Seltsamerweise ist aber das gerade Gegenteil der Fall. M\u00f6glichst schnell, wenigstens verh\u00e4ltnism\u00e4fsig rasch, wird der Schmeckreiz entfernt, m\u00f6glichst grofs ist gerade dann der Genufs, m\u00f6glichst schnell ist man gerade dann bestrebt, zu","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schmackhaftigkeit und der Appetit.\n231\nschlucken und f\u00f6rmlich zu schlingen. Im Gegenteil ist es sogar geradezu ein Zeichen daf\u00fcr, dafs der Geschmack nicht angenehm ist und nicht zusagt, wenn man den Schmeckreiz erst lange auf der Zunge belassen mufs und, wie der Volksmund sich ausdr\u00fcckt, man \u201elange Z\u00e4hne\u201c macht.\nDie Schwierigkeit des willk\u00fcrlichen Herausgebens von wohlschmeckenden Fl\u00fcssigkeiten bedingt es, dafs die Technik des Kostens, wie sie die professionellen Koster aus\u00fcben, gar nicht so einfach ist. Die Technik dieser gewerblichen Koster, die blofs zu schmecken und sodann die Schmeckstoffe auszuspeien haben, will erst erlernt werden, wie dies Chatillon-Plessis 1 so treffend schildert :\nLXIII.\nUne s\u00e9ance de d\u00e9gustation yinicole.\nAlors, oh alors (que les d\u00e9gustateurs me pardonnent !), ce fut un spectacle bien p\u00e9nible.\nChaque expert roulait la gorg\u00e9e dans sa bouche avec une expression de r\u00e9flexion intense, puis, d\u2019un coup, au lieu de l\u2019avaler, flic! flac! la rejetait, qui, par la fen\u00eatre ouverte, qui, simplement sur le parquet, dans un seau ad hoc pos\u00e9 tout proche.\nJ\u2019avais aval\u00e9, moi, h\u00e9las! A la dixi\u00e8me d\u00e9gustation j\u2019avalais encore. Je dus m\u2019arr\u00eater. Ma t\u00eate tournait, tournait. Les trente, eux, continuaient de plus en plus gravement. Quarante bouteilles couvraient la table, vid\u00e9es, quand nous quitt\u00e2mes le pavillon de l\u2019Australie.\nW\u00e4re die willk\u00fcrliche Herausgabe von schmackhaften Speisen wirklich gar so leicht und bequem, und w\u00e4re tats\u00e4chlich diese willk\u00fcrliche Herausgabe etwas Angenehmes und etwas mit dem Appetit auch nur entfernt Verwandtes oder auch blofs Vertr\u00e4gliches im Prinzip, dann w\u00e4re ja die ganze Krankenk\u00fcche sehr einfach, dann w\u00e4re ja schon jedem Fettleibigen und Diabetiker mit der h\u00f6chst einfachen Mafsregel gedient, S\u00fcfsigkeiten von Wohlgeschmack blofs zu kauen, beifsen, schmecken, aber nicht zu schlucken, sondern auszuspeien.\nDasselbe Verh\u00e4ltnis wie hier bei dem sinnlichen Genufs vom Geschmack wiederholt sich beim sexuellen Genufs. Wenn erst einmal der Orgasmus einen gewissen H\u00f6hepunkt erreicht hat,\n1 Chatillon-Plessis, \u201eLa vie \u00e0 table \u00e0 la fin du XIX e Si\u00e8cle\u201c. S. 202. Paris 1894.","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nWilhelm Sternberg.\ndann ist die Unterbrechung des sexuellen Aktes kaum mehr m\u00f6glich, fast wie ein automatisches Uhrwerk spielt sich der weitere Fortgang ab. W\u00e4re die Reflex Wirkung nicht auch so innig mit dem Reiz, von einem gewissen Moment an, verkn\u00fcpft, hier wie da, \u2014 die ganze Welt w\u00e4re schon l\u00e4ngst ausgestorben. Es bedarf eben ganz besonderer willk\u00fcrlicher Anstrengungen auf beiden Seiten, um den Reflex zu hemmen. Wenn es nun aber schon geschieht wie z. B. beim Coitus interruptus, dann ist es eben keine Lustempfindung mehr, im Gegenteil ein hochgradiges Unlustgef\u00fchl; Mifsbehagen und Unbehagen, Verdriefslichkeit und Yerdrufs bleibt vielmehr zur\u00fcck. Es setzt sich n\u00e4mlich hier wie dort der Appetit, Appetitus edendi und coeundi, Appetit im engeren Sinne ebenso wie die Libido, die Geilheit, aus zwei diametral entgegengesetzten Trieben und Empfindungen zusammen, aus Unlust und Lust. Nicht allein, dafs im angegebenen Fall die Unlust nicht beseitigt, und die Lustempfindung ausgeblieben ist, hat die Unlust sogar eine hohe Steigerung erfahren. Der Kitzel ist nun einmal erregt und gesteigert worden, die Befriedigung aber ist ausgeblieben. Der Appetit wird \u201everdorben\u201c, wie sich der Volksmund ausdr\u00fcckt.\nEs ist klar, dafs man auf diese Weise nicht die somatische Begr\u00fcndung des Appetites wird finden k\u00f6nnen, die man sucht.\nEs geht nicht an, die Geschmacksreize und -reizungen in dieser Weise zu wissenschaftlichen Versuchen zu verwenden und zwar aus diesen doppelten Gr\u00fcnden. Ist doch auch kein Sinn so empfindlich wie gerade der Geschmackssinn.\nEbenso wie die physikalischen k\u00fcnstlichen Werkzeuge unsere physikalischen nat\u00fcrlichen Sinneswerkzeuge \u00fcbertreffen, in demselben Mafse \u00fcbertrifft umgekehrt alle chemikalischen Methoden unser unbewaffneter chemischer Sinn.\nDenn die in erstaunlichem Mafse merkw\u00fcrdigen Leistungen des Geruchs spotten noch jeder chemischen Methode. Hat die Physik unsere physikalischen Sinne mit ihren Apparaten erg\u00e4nzt und erweitert, so ist der Chemie unser chemischer Sinn ein wertvolles, feines, empfindliches und pr\u00e4zises Instrument, ein chemisches Reagens, dessen der Chemiker stets und bei allen neuen Verbindungen zur chemischen Diagnostik zun\u00e4chst bedarf. Mit Recht weist Selter1 auf die allgemein \u00fcbliche Diagnostik\n1 Selter, \u201eDie Ger\u00fcche des S\u00e4uglingsf\u00e4zes\u201c, M\u00fcnch, med. Wochenschr. 1904. Nr. 30.","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schmackhaftigkeit und der Appetit.\n233\n<der Chemie und Verwertung-der physiologischen Geruchsprobe hin, z. B. bei der MoouEschen Zuckerprobe mittels des Karamolgoruchs oder beim Nachweis kleiner Spuren von Essigs\u00e4ure durch Zusatz von Alkohol und Schwefels\u00e4ure, wobei beim Erhitzen der charakteristische Geruch von Essig\u00e4ther auftritt, u. a. m. Hat uns die Physik fehlende Sinne ersetzt, so ersetzt der chemische Sinn der chemischen Wissenschaft immer noch fehlende Methoden und Proben.\nAuch mit der optischen Analyse, mit der wir, die \u00e4ufserste Grenze unseres Gesichtskreises bemessend, den Bau des Weltalls im grofsen entr\u00e4tseln, mit der genauesten und empfindlichsten s\u00e4mtlicher chemischen Proben, wetteifert der chemische Sinn, Geruch und Geschmack, sogar in quantitativer Hinsicht.\nKann doch \u00fcberdies schon eine einzige chemische Verbindung mehrere Geschmacksqualit\u00e4ten besitzen, wie ich1 2 3 dies h\u00e4ufig hervorgehoben habe, ja es kann sogar eine einzige chemische Verbindung mehrere Modalit\u00e4ten, n\u00e4mlich solche des Geschmacks und des Geruchs, auf weisen, wie ich \u00b0 dies ebenfalls h\u00e4ufig beobachtet habe.\nDas ist auch der Grund, weshalb Geschmackspr\u00fcfungen so aufserordentlich schwierig sind und ganz besonderer Methoden4 bed\u00fcrfen.\nEs ist also die von Bickel gew\u00e4hlte Art, die verschiedensten Geschmacksreize und zugleich die verschiedensten Geruchsreize gleichzeitig anzuwenden und die Reizwirkung einfach als Appetit anzusehen, gewifs nicht ganz einwandsfrei. Es w\u00e4re genau so, wie wenn man etwa zu gleicher Zeit die \u201eBlaue Donau\u201c von\n1\t\u201eBeziehungen zwischen dem chemischen Bau der s\u00fcfs und bitter schmeckenden Substanzen und ihrer Eigenschaft zu schmecken.\u201c Engelmanns Archiv f. Physiol. 1898. \u201eGeschmack und Chemismus.\u201c Physiol. Gesellschaft 1898. \u201eDer salzige Geschmack und der Geschmack der Salze.\u201c Engelmanns Archiv f. Physiol. 1904. \u201eDie stickstoffhaltigen S\u00fcfsstoffe.\u201c Engel manns Archiv f. Physiol. 1905.\n2\t\u201eGeschmack und Geruch.\u201c 1906. Berlin, Julius Springer.\n3\t\u201eEine neue Methode zur klinischen Pr\u00fcfung des Geschmackssinns mittels eines Gustometers.\u201c Dtsch. med. Wochenschr. 1905. Nr. 23. \u201eZur Untersuchung des Geschmackssinns f\u00fcr klinische Zwrecke.\u201c Dtsch. med.\nWochenschr. 1905. Nr. 51. \u201eGeschmack und Geruch.\u201c 1906. Berlin, Julius Springer. \u201eDer erste quantitative Gustometer zu klinischen Zwecken.\u201c Mediz. Klinik. 1906. Nr. 41. \u201eKompendi\u00f6ser quantitativer Gustometer zu klinischen Zwecken.\u201c Berliner klin. Wochenschr. 1907. Nr. 14.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nWilhelm Sternberg.\nStrauss mit dem Trauermarsch aus der \u201eEroika\u201c, zu gleicher Zeit mit der Balletmusik aus der \u201eDamnation de Faust\u201c von Berlioz, mit dem Vorspiel zu den Meistersingern u. a. m. ert\u00f6nen liefse, aufserdem dazu gleichzeitig auf einer B\u00fchne die verschiedensten Schaust\u00fccke zu gleicher Zeit einwirken lassen wollte und dann \u00fcberdies noch die Reizwirkung dieser Reize f\u00fcr das Wesen der Lust und des Vergn\u00fcgens an der Musik ansprechen, eine solche Methode aber obendrein noch als wissenschaftliche Forschung betrachten wollte.\nWer das Problem vom Wesen des Appetits l\u00f6sen will, darf nicht auf gewisse Reize verzichten; der mufs schon Erregungen von Lustgef\u00fchlen und Geschmacksempfindungen w\u00e4hlen. Reizungen des Geschmackssinns eignen sich ja \u00fcberhaupt am besten dazu, um im allgemeinen psychische Empfindungen zu studieren. Denn gerade Geschmacksreize sind darin allen anderen Sinnesreizen weit \u00fcberlegen, dafs sie psychische Empfindungen au sl \u00d6sen.\nDie Geschmacksqualit\u00e4ten sind vor allen anderen Sinnesqualit\u00e4ten dadurch ausgezeichnet, dafs sie ganz besonders von Lust- und Unlustempfindungen begleitet sind. Darauf macht ja schon der Sprachgebrauch aller Zungen aufmerksam. Man spricht in allen Sprachgebieten selbst im bildlichen Sinne von \u201egeschmacklosen\u201c und \u201egeschmackvollen\u201c Dingen, deren sinnliche Qualit\u00e4ten ohne Ausnahme s\u00e4mtlichen anderen Sinnen angeh\u00f6ren. \u201eBitterb\u00f6se\u201c, \u201ebitterer Schmerz\u201c, \u201esaure Arbeit\u201c, \u201eversalzen\u201c, \u201es\u00fcfse Freude\u201c u. s. f. sind Sprachbilder eines jeden Idioms. Der Engl\u00e4nder sagt \u201esweet meat and sour sauce\u201c, \u201eGutes und B\u00f6ses durcheinander\u201c, \u201eafter sweet meat comes sour sauce\u201c, \u201eauf Freud folgt Leid\u201c, \u201eto be tied to a sour apple-tree\u201c, \u201eeinen b\u00f6sen Mann haben\u201c, \u201esour eyed\u201c, \u201everdriefslich aussehend\u201c, \u201esour faced\u201c, \u201esaure Miene, saures Gesicht\u201c, \u201eto sour one against one\u201c, \u201ejemand gegen einen aufbringen\u201c, \u201esour\u201c, \u201everbittern, versalzen, sauer machen\u201c. Diese Entlehnungen der Sprachen verdienen nicht nur seitens des Sprachforschers und Psychologen hohes Interesse, sondern sie sind auch gewisser-mafsen als selbst\u00e4ndige Methodik zu Forschungszwecken auf diesem physiologischen Gebiet zu verwerten.\nDenn neben anderen Anregungen weist die Sprache auf ein weiteres von den Wissenschaften \u00fcbersehenes Moment hin.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schmackhaftigkeit und der Appetit.\n235\nNicht unwesentlich wird n\u00e4mlich auch die Mimik vom Geschmack beeinflufst, man spricht f\u00f6rmlich vom \u201es\u00e4uern Gesicht\u201c im bildlichen und auch im eigentlichen Sinne. Tats\u00e4chlich beeinflufst kein einziger Sinneseindruck von irgendwelchen anderen Sinnesreizungen das Gesicht in auch nur ann\u00e4hernd gleicher Weise wie derjenige der Geschmacksqualit\u00e4ten. Von den sinnlichen Eigenschaften des Geschmackes wird die Gesichtsmuskulatur aufserordentlich beherrscht, wie denn \u00fcberhaupt alle psychischen Erregungen, Freude einerseits, Trauer und Schmerz andererseits, am meisten auf das Gesicht reflektiert werden, und zwar auf die Muskulatur. Denn nicht die Tr\u00e4nen-Sekretiou, das auff\u00e4lligste Zeichen der psychischen Trauer und des Schmerzes, bildet das wahre Wesen der psychischen Unlustempfindungen, ebensowenig die Speichel- oder Magensaft-Sekretion das Wesentliche des psychischen Appetits. Vielmehr ist es das Spiel der Gesichts-Muskeln, welches als physischer Ausdruck des psychischen Empfindens weit wesentlicher ist als die Tr\u00e4nen-Sekretiou. K\u00f6nnen doch die Augen auch aus vielen anderen, aus physischen Gr\u00fcnden tr\u00e4nen, ohne jede psychische Veranlassung, ohne dafs die Trauer das Gesicht entstellt, ebenso wie umgekehrt der Gram seine Furchen in das Antlitz graben kann ohne jede Tr\u00e4nenabsonderung.\nAuf dieser Tatsache beruhen zwei f\u00fcr den praktischen Arzt h\u00f6chst bedeutsame Wissenschaften, die er allt\u00e4glich bei jedem Kranken, wenn auch unbewufst, zu Kate zieht: die Physiognomie und die Pathognomie. Es ist n\u00e4mlich eine seltsame Tatsache, dafs von allen K\u00f6rperteilen in allen Leiden gerade derjenige Teil zuerst leidet, gerade derjenige Teil von Lust veredelt, von Schmerz und Unlust entstellt wird, gerade derjenige Teil am ehesten altert, der von all und jedem jedesmal am ersten gesehen wird. Das ist der sichtbarste Teil, das Gesicht, der Teil, in dem bei Appetit die Aufnahme s\u00e4mtlicher Nahrungsstoffe statthat. Es ist bezeichnend, dafs der Lateiner die Benennung f\u00fcr das Gesicht (\u201eos Mund, Gesicht\u201c) von einem anderen Sinne herleitet wie wir. Tats\u00e4chlich hat aber auch auf die Gesichtsmuskulatur neben der psychischen Empfindung nichts einen so grofsen Einflufs wie die sinnliche Empfindung des Mundes.\nWie der Geschmack, Lust und Unlust, Leid und Schmerz, \u00fcberhaupt jede psychische Erregung vorzugsweise auf die Muskulatur wirkt, so d\u00fcrfte wohl auch der physische Ausdruck der psychischen Lust- und Unlustempfindung vom Appetit und die","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nWilhelm Sternberg.\nEinwirkung des Geschmackes auf den Appetit in dem Mechanismus des Muskelspiels zu suchen sein. Demnach w\u00e4re Appetit nicht Saft, wie die PAwnowsche Schule annimmt, sondern Muskelt\u00e4tigkeit oder zum mindesten Muskelt\u00e4tigkeit und Saft, wobei aber hervorzuheben ist, dafs das Wesentlichere die Muskelkontraktion ist. Das Wesen der Empfindung des Appetits selber ist dann eine Muskelempfindung.\n(Eingegangen am 18. Mai 1908.)","page":236}],"identifier":"lit33531","issued":"1909","language":"de","pages":"224-236","startpages":"224","title":"Die Schmackhaftigkeit und der Appetit","type":"Journal Article","volume":"43"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:18:02.806890+00:00"}