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{"created":"2022-01-31T14:13:23.223779+00:00","id":"lit33537","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Sternberg, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 43: 315-344","fulltext":[{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"315\nGeschmack und Appetit.\nVon\nDr. Wilhelm Steenberg,\nSpezialarzt in Berlin.\nWenn Kant 1 in den metaphysischen Anfangsgr\u00fcnden der Naturwissenschaft sagt, dafs \u201ein jeder besonderen Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft anzutreffen ist, als darin Mathematik angetroffen werden k\u00f6nne\u201c, so darf die moderne Forschung der Medizin mit vollem Recht die Geltung einer exakten Wissenschaft f\u00fcr sich beanspruchen, seitdem sie, jener Forderung von Kant gen\u00fcgend, die exakteste aller Wissenschaften, die Mathematik, in ihrer Disziplin zur Einf\u00fchrung gebracht hat und ihre Erkenntnisse auf mathematische S\u00e4tze zur\u00fcckzuf\u00fchren vermag. Das Wesen der Mathematik ist es, exakt und logisch Voraussetzung, Behauptung und Beweis auseinander zu halten, um so den Lehrsatz folgerichtig zu begr\u00fcnden. Es fragt sich, ob die medizinische Wissenschaft dies auch bei der Erforschung des f\u00fcr den praktischen Arzt wichtigsten Zeichens, n\u00e4mlich des Appetits, befolgt hat.\n\u00dcber das Wesen des Appetits gilt heutzutage nur ein Lehrsatz, der nach den genialen Versuchsanordnungen von Pawlow gewissermafsen als ein wissenschaftliches Dogma in der Medizin angesehen wird. Er besagt, dals Appetit nichts weiter sei wie Saftsekretion. Diesen Saft nennt Pawlow 2 daher direkt \u201eAppetit\u201c-Saft oder \u201epsychischen\u201c Saft:\n\u201eDer erste normale Anstofs, der beim nat\u00fcrlichen Geschehen der Dinge den Innervationsapparat der Magendr\u00fcsen in T\u00e4tigkeit versetzt,\u201c so sagt Pawlow,3 \u201edieser Anstofs erfolgt von seiten der\n\u2022\u201c\u00cf ' 1 :-\u2014--\n1\tKant, Metaphysische Anfangsgr\u00fcnde der Naturwissenschaft. Neu herausgegeben yon A. H\u00f6fler in: Ver\u00f6ffentl. d. Philosoph. Ges. a. d. Universit\u00e4t Wien. III. Vorrede, S. 6. Leipzig 1900.\n2\t\u201eDie Arbeit der Verdauungsdr\u00fcsen\u201c. Wiesbaden 1898. S. 100.\n3\ta. a. O. S. 99.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 43.\n21","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nWilhelm Sternberg.\nPsyche und besteht in dem leidenschaftlichen Begehren nach Speise, darin, was im allt\u00e4glichen Leben und in der medizinischen Praxis Appetit genannt wird und von jeher f\u00fcr \u00c4rzte und Laien das Objekt sorgf\u00e4ltiger Pflege gewesen ist. Jetzt d\u00fcrfen wir geradezu sagen: \u201eAppetit ist Saft\u201c.\n\u201eDeshalb sind wir berechtigt zu sagen,\u201c \u2014 so f\u00fchrt Pawlow 1 aus, \u2014 \u201edafs der Appetit der erste und m\u00e4chtigste Erreger der sekretorischen Nerven des Magens ist; dafs sich in ihm dasjenige Etwas verk\u00f6rpert, das bei der Scheinf\u00fctterung der Hunde den leeren Magen veranlafst, grofse Mengen des st\u00e4rksten Saftes abzusondern. Ein guter Appetit beim Essen ist von Anfang an gleichbedeutend mit einer ergiebigen Sekretion starken Saftes; wo kein Appetit ist, gibt es auch diesen Saft nicht; einem Menschen den Appetit wiedergeben, heilst ihm eine grofse Portion Magensaft zu Beginn der Mahlzeit sichern.\u201c\nDie Behauptung lautet also: Appetit ist Saft.\nDer Beweis f\u00fcr diese Behauptung ist von Pawlow und seiner Schule in der ihm eigenen klassischen Weise gef\u00fchrt worden, von dem gesicherten Boden der exakten Forschung, der experimentellen Physiologie und Pathologie. Dabei mufste aber naturgem\u00e4fs ganz besondere Obacht darauf gegeben werden, dafs die Forderungen der Klinik mit denjenigen der experimentellen Wissenschaften \u00fcbereinstimmen. Denn bei den Problemen der Psychologie und Klinik, wie es diese beregten Fragen vom Appetit doch sind, kann es sich gar zu leicht ereignen, dafs der Punkt, auf den es gerade ankommt, mit der experimentellen Begr\u00fcndung \u00fcberhaupt gar nicht getroffen oder doch nur nebenher ber\u00fchrt wird. Das hat auch Pawlow sehr wohl erkannt. Es gen\u00fcgt nicht, sagt Pawlow,2 \u201eklinische Beobachtungen dem Laboratorium zur experimentellen Pr\u00fcfung zu \u00fcberweisen; man mufs aufserdem die Garantie haben, dafs diese Pr\u00fcfung richtig ausgef\u00fchrt wird, d. h. gerade den Punkt betrifft, um welchen es sich in der Klinik handelt.\u201c\nPawlows Arbeiten haben f\u00fcr die ganze Frage vom Appetit dadurch eine entscheidende Bedeutung gewonnen, dafs sie den theoretischen Problemen ein gesichertes experimentelles Fundament geben, durch welches die subjektive Empfindung des Appetits in\n1\ta. a. O. S. 98.\n2\ta. a. O. S. 183.","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n317\ndem objektiven experimentellen Nachweis f\u00f6rmlich \u201eFleisch und Blut\u201c erh\u00e4lt:\n\u201eDurch den leidenschaftlichen Instinkt der Efslust hat die beharrliche und unerm\u00fcdliche Natur das Suchen und Finden der Nahrung mit dem Anfang der Verdauungsarbeit verkn\u00fcpft. Es ist leicht zu erraten, dafs diese nun genau analysierte Tatsache im engsten Zusammenhang mit einer allt\u00e4glichen Erscheinung des menschlichen Lebens \u2014 dem Appetit \u2014 steht. Dieses Agens, das im Leben so wichtig und f\u00fcr die Wissenschaft so geheimnisvoll ist, bekommt hier endlich Fleisch und Blut, verwandelt sich aus einer subjektiven Empfindung in eine pr\u00e4zise Tatsache des physiologischen Laboratoriums.\u201c1\nGegen diese Annahme aber, dafs das eigentliche Wesen des Appetits allein oder auch nur haupts\u00e4chlich in der Saftsekretion gelegen ist, habe ich wiederholt2 die verschiedensten Einw\u00e4nde erhoben. Am treffendsten ist dagegen schon die eine von Riegel 3 hervorgehobene Tatsache einzuwenden, dafs auch Menschen, bei denen ein fast v\u00f6lliges oder ein g\u00e4nzliches Fehlen der Saftabscheidung zu konstatieren ist, sich trotzdem eines guten Appetits und eines vollkommenen Wohlbefindens erfreuen.\nZudem besteht doch auch noch Appetit selbst nach der Exstirpation des Magens. Auch w\u00e4re die Anregung des Appetits, wenn das Appetit Reizende nur gezeigt, aber nicht gereicht wird, \u00e4ufserst gef\u00e4hrlich. Denn da auch normales lebendes Gewebe angedaut und verdaut wird,4 so w\u00e4re zu bef\u00fcrchten, dafs der Magen dann sich\n1\ta. a. O. S. 97.\n2\t1906. \u201eKochkunst und Heilkunst. Die Physiologie der Kochkunst.\u201c \u201eAppetit und Appetitlichkeit.\u201c S. 15. \u2014 1906. \u201eKrankenern\u00e4hrung und Krankenk\u00fcche. Geschmack und Schmackhaftigkeit.\u201c F. Enke, Stuttgart.\n\u2014\t1907. \u201eGeschmack und Appetit.\u201c Zeitschr. f. phys. u. di\u00e4t. Therapie XI.\n\u2014\t1907. \u201eKochkunst und \u00e4rztliche Kunst. Der Geschmack in der Wissenschaft und Kunst.\u201c F. Enke, Stuttgart. S. 86. \u2014 1908. \u201eDi\u00e4tetische Kochkunst. Gelatinespeisen.\u201c F. Enke, Stuttgart. S. IV. \u2014 1908. \u201eDie K\u00fcche im Krankenhaus, deren Anlage, Einrichtung und Betrieb.\u201c F. Enke, Stuttgart. S. XIII. \u2014 1908. \u201eSchmackhaftigkeit und Appetit.\u201c Zeitschr. f. Physiol, d. Sinnesorgane.\n3\tLeyden, Handb. d. Ern\u00e4hrungstherapie. II. Bd., 1. Abt. 6. Kapitel. V. A. Ern\u00e4hrungstherapie hei den organischen Erkrankungen der Speiser\u00f6hre und des Magens. 1898. S. 185.\n4\t\u201eDer Schutz des Magens gegen die Selbstverdauung.\u201c M. Katzenstein. Bert. Hin. Wochenschr. 1908. Nr. 39.\n21*","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nWilhelm Sternberg.\nselbst verdauen, oder dafs dies gar zum Ulcus \u201epepticum\u201c f\u00fchren k\u00f6nnte. Andererseits w\u00e4re es ja h\u00f6chst einfach, denen, die einen Widerwillen vor nahrhaften Speisen haben, damit Appetit zu machen, dafs man ihnen etwas anderes, worauf sie Appetit haben, blofs vorzuzeigen brauchte, um ihren Appetit zu erwecken, und um sie dann das Verschm\u00e4hte, da sie doch nun einmal Appetit haben, mit Appetit verzehren zu lassen.\nAuch darf nicht verkannt werden, dafs bei den Wiederk\u00e4uern selbst das Wiederk\u00e4uen, die Heraufbringung des Bissens aus dem Magen ins Maul, wohl auch schon die voraufgegangene Formung des Bissens, mit der Lustempfindung des Appetits verbunden ist. Damit hat doch wohl, wie ich 1 schon angef\u00fchrt habe, die Saftsekretion sicherlich nichts Wesentliches zu tun.\nSchlielslich sind aber auch zwei Tatsachen von grunds\u00e4tzlicher Bedeutung hervorzuheben.\nDie Beobachtung, dafs psychische Eindr\u00fccke die Speichelund Magensaftsekretion und auch den Appetit beeinflussen, war schon l\u00e4ngst bekannt.\nTrotzdem hatte man sich aber sehr wohl geh\u00fctet, den logischen Fehler2 zu begehen, Saftsekretion und Appetit zu identifizieren.\nLange ehe es eine experimentelle Physiologie und Pathologie, ja ehe es \u00fcberhaupt eine Wissenschaft der Medizin gab, wufste man schon, welchen m\u00e4chtigen Einflufs die Psyche auf den Appetit hat. Spiegelt sich doch diese uralte Erfahrung selbst in Sprache und Ausdruck, sogar f\u00fcr die bildliche Bedeutung wieder, z. B. in der jeder Sprache eigenen Wendung: \u201ees w\u00e4ssert ihm der Mund\u201c usf. Auch bei den Dichtern findet man dementsprechende Beobachtungen, wie denn \u00fcberhaupt die von dem wahren K\u00fcnstler behandelten psychologischen Probleme einer sp\u00e4teren wissenschaftlichen Analyse regelm\u00e4fsig durchaus standhalten, so dafs diese Art f\u00fcr die theoretische Erforschung psychologischer Probleme gewissermafsen als wissenschaftliches Hilfsmittel erfolgreich benutzt werden kann. Schon vor 300 Jahren l\u00e4fst Shake-\n1\t\u201eDi\u00e4tetische Kochkunst. I. Gelatinespeisen.\u201c F. Enke, Stuttgart 1908. S. IV. \u201eDer Appetit in der Theorie und in der Praxis.\u201c Zentralbl. f. Physiologie. 1908. Bd. XXII. Nr. 11.\n2\t\u201eDi\u00e4tetische Kochkunst\u201c. 1908, Ferdinand Enke, S. IV.","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n319\nspeare, \u2014 wie Ewald1 zuerst betont, \u2014 in Heinrich VIII.2 den K\u00f6nig zum Kardinal Wolsey die Worte sagen, als er ihm die Schriftst\u00fccke \u00fcberreicht, die seinen Sturz veranlassen:\n\u201eRead o\u2019er this;\nAnd after, this : and then to breakfast (;) with What appetite you have.\u201c\nEbenso hat auch Beaumont,3 wie gleichfalls Ewald1 betont, in seinen Versuchen mit dem Fisteltr\u00e4ger Alexis St. Martin bereits den Einflufs der Psyche auf die Magenverdauung hervorgehoben : \u201eThis experiment shows the effect of violent passion on the digestive apparatus. The presence of bile, in this instance, was believed to be the effect of anger.\u201c\nHie Physiologen Bidder und Schmidt4 hatten gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts beim Hunde, dem eine Magenfistel angelegt worden war, beobachtet, dafs, wenn man einem solchen im n\u00fcchternen Zustande ein St\u00fcck Fleisch vorhielt, ohne es ihm zu geben, pl\u00f6tzlich aus der Magenfistel Magensaft hervorquoll, der unter dem Einflufs der Frefslust frisch abgesondert wurde.\nDie gleiche Beobachtung hat Voit bei Magenfistelhunden gelegentlich gemacht und diese Versuche \u00f6fters in seiner Vorlesung demonstriert. Wenn er auch eine gr\u00f6fsere besondere Untersuchung dar\u00fcber nicht angestellt hat, so hebt Voit5 diese Tatsache doch mehrfach hervor:\n1\tEwald, Verein f\u00fcr innere Medizin in Berlin, 23. Oktober 1905. Diskussion zum Vortrag von A. Bickel: \u201eExperimentelle Untersuchungen \u00fcber den Einflufs von Affekten auf die Magensaftsekretion\u201c. Deutsche med. Wochenschr. 23. November 1805, Nr. 47 S. 1908.\n2\tKing Henry VIII. Act. III, Sc. 2.\n3\tWilliam Beaumont, \u201eNeue Versuche und Beobachtungen \u00fcber den Magensaft und die Physiologie der Verdauung.\u201c Deutsch von Dr. Bernhard Luden, Leipzig 1834. S. 108. \u201eExperiments and observations on the gastric juice and the Physiology of Digestion.\u201c Boston 1834. Exper. 32, S. 153.\n4\tBidder und Schmidt, \u201eDie Verdauungss\u00e4fte und der Stoffwechsel. Eine physiologisch-chemische Untersuchung.\u201c Mitau u. Leipzig 1852. S. 35.\n5\t\u201e\u00dcber die Kost in \u00f6ffentlichen Anstalten.\u201c Vortrag gehalten am 13. September 1875 in der ersten Sitzung des Kongresses f\u00fcr \u00f6ffentliche Gesundheitspflege zu M\u00fcnchen, von Prof. O. Voit. Nebst einem Anh\u00e4nge: Methode der Untersuchung der Kost auf die in ihr enthaltenen Nahrungsstoffe. M\u00fcnchen 1876. Druck und Verlag von R. Oldenbourg. S. 18.","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nWilhelm Sternberg.\n\u201eDiese Genufsmittel haben eine weittragende Bedeutung f\u00fcr die Vorg\u00e4nge der Verdauung und Ern\u00e4hrung. Schon die Vorstellung oder der Anblick eines uns angenehmen Gerichtes macht, dafs uns, wie man sagt, das Wasser im Munde zusammenl\u00e4uft, d. h., dafs die Speicheldr\u00fcsen reichlich Saft absondern, welcher gewisse Nahrungsstoffe um wandelt und sie f\u00fcr die Aufnahme in die S\u00e4fte vorbereitet. Das gleiche l\u00e4fst sich f\u00fcr die Magensaftdr\u00fcsen dartun; man kann an Hunden mit k\u00fcnstlich angelegten Magenfisteln zeigen, wie pl\u00f6tzlich an der Oberfl\u00e4che Saft hervorquillt, wenn man den n\u00fcchternen Tieren ein St\u00fcck Fleisch vorh\u00e4lt, ohne es ihnen zu geben ; vom Magen aus setzt sich die Wirkung weiter zu den Dr\u00fcsen und Blutgef\u00e4fsen des Darms fort. Erscheint uns dagegen eine Speise nicht begehrenswert und appetitlich, so treten jene Erscheinungen nicht mehr ein, und erfolgen St\u00f6rungen in der Verdauung.\u201c\nSechs Jahre darauf erw\u00e4hnt Voit1 diese Tatsache nochmals:\n\u00bbDas gleiche l\u00e4fst sich f\u00fcr die Magensaftdr\u00fcsen dartun; man ist imstande an Hunden mit k\u00fcnstlich angelegten Magenfisteln zu zeigen, wie pl\u00f6tzlich an der Oberfl\u00e4che Saft hervorquillt, wenn man den n\u00fcchternen Tieren ein St\u00fcck Fleisch vorh\u00e4lt, ohne es ihnen zu geben. Es setzt sich diese Wirkung wahrscheinlich vom Magen aus auch zu den Dr\u00fcsen und Blutgef\u00e4fsen des Darms fort.\u201c\nEs war also die Tatsache an sich, dafs die Frefslust die Saftsekretion anregt, bereits mehrfach und von den verschiedensten Seiten beobachtet. Aber keiner von allen Autoren hatte aus dieser Beobachtung den Schlufs gezogen, dafs Appetit Saftsekretion sei.\nIst aber diese Schlufsfolgerung von Pawlow nicht zutreffend, dann ist der innerste Nerv der ganzen Betrachtung des Problems vom Appetit noch gar nicht erfafst.\nWenn man das Wesen des Appetits ergr\u00fcnden will, dann mufs man notgedrungen von einer Voraussetzung ausgehen. So selbstverst\u00e4ndlich diese erscheint, und so praktisch wichtig sie ist, so oft ist sie vergessen worden. Diesen ersten Grundsatz mufs man sich aber doch einmal gr\u00fcndlich klar gemacht haben. Es ist folgender: Auf den Appetit \u00fcbt nichts einen derartigen\n1 Carl Voit, \u201ePhysiologie des allgemeinen Stoffwechsels und der Ern\u00e4hrung.\u201c Hermann, Handb. d. Physiologie, Bd. VI, 1, S. 422. Leipzig 1881.","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n321\nentscheidenden Einflufs aus wie der Geschmack und die Schmackhaftigkeit. Die unbedingte und unumst\u00f6fsliche Richtigkeit dieses Grundsatzes hat durch die tagt\u00e4gliche Erfahrung schon jeder Laie an sich selbst l\u00e4ngst beobachtet. Die praktische Tatsache erscheint an sich so selbstverst\u00e4ndlich, dafs einen jeden die Angabe von dem, was \u00fcberwunden werden mufste, um ihr auch in den theoretischen Wissenschaften Geltung zu verschaffen, ganz fremdartig anmutet. In der Literatur wird dieser \u00e4ufserst wichtige Zusammenhang h\u00f6chstens nur nebenher und blofs gelegentlich einmal erw\u00e4hnt. Bauer1 hebt folgendes hervor:\n\u201eBei heruntergekommenen Rekonvaleszenten, bei welchen die R\u00fcckkehr des Appetits geraume Zeit auf sich warten l\u00e4fst, ist es mitunter von \u00fcberraschendem Erfolge, wenn man ein ihrem Geschmacke besonders zusagendes Gericht ausfindig macht, so dafs dasselbe mit Behagen verzehrt wird.\u201c\nDettweiler2 macht folgende Ausf\u00fchrungen:\n\u201eAuf die Zubereitung der nur aus besten Materialien bestehenden Speisen soll die gr\u00f6fste Sorgfalt verwendet werden, mit ihrer Schmackhaftigkeit steigt der Appetit des Kranken.\u201c\nGegen diese Voraussetzung verst\u00f6fst aber schon Bickel,3 wie ich4 bereits mehrfach hervorgehoben habe. Denn er sieht diejenige physiologische Reiz Wirkung als Grundlage des Appetits an, die vollkommen gleichm\u00e4fsig auftritt, ganz gleichg\u00fcltig, welche Qualit\u00e4ten des Geschmackes, und ganz gleichg\u00fcltig, welche Modalit\u00e4ten des Geruches er als Reize w\u00e4hlen mochte.\n\u00dcberdies hatte Bickel nicht einmal den Ekelgeschmack als den ungeeignetsten Reiz erkannt und demgem\u00e4fs sich gar nicht gescheut, sogar Objekte solcher Qualit\u00e4t zu Sinnesreizen zu ver-\n1\tZiemssen, Handbuch der allgemeinen Therapie. Erster Band. Erster Teil. \u201e\u00dcber die Ern\u00e4hrung von Kranken und di\u00e4tetische Heilmethoden\u201c von Prof. J. Bauer. 1883. S. 242.\n2\tP. Dettweiler. Leyden, Handb. d. Ern\u00e4hrungstherapie II, 1, S. 27. Sechstes Kapitel. \u201eErn\u00e4hrungstherapie bei Lungenkrankheiten.\u201c\n3\tBickel, \u201eExperimentelle Untersuchungen \u00fcber die Magensaftsekretion beim Menschen.\u201c Vortrag, gehalten auf dem Kongrefs f\u00fcr innere Medizin 1906. Deutsche mediz. Wochenschrift. 1906. 16. August. S. 1323.\n4\t\u201eGeschmack und Appetit.\u201c Zeitschr. f. phys. u. di\u00e4t. Therapie. 1907 Bd. XI. \u201eSchmackhaftigkeit und Appetit.\u201c Zeitschr. f. Physiol, d. Sinnesorgane. 1908.","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nWilhelm Sternberg.\nwerten, nm deren Reizwirkungen \u00fcberdies noch f\u00fcr den somatischen Ausdruck des Appetits zu erkl\u00e4ren.\nDabei hatte schon Richet1 2 fast drei Jahrzehnte zuvor bei einem Patienten, dem man wegen einer Verengerung der Speiser\u00f6hl e eine Magenfistel zum Zwecke der Ern\u00e4hrung angelegt hatte, einen Unterschied in der Wirkung der Geschmacksqualit\u00e4ten beobachtet. So oft n\u00e4mlich dieser Kranke etwas S\u00fcfses oder Saures in den Mund nahm, konnte Richet die Absonderung reinen Magensaftes wahrnehmen:\nn Ainsi, si Ton fait m\u00e2cher \u00e0 Marcelin des substances sapid es et parfum\u00e9es, il y aura aussit\u00f4t un flux, relativement abondant, de suc gastrique. C\u2019est m\u00eame par ce proc\u00e9d\u00e9 tout physiologique que j\u2019obtenais du suc gastrique pur. Apr\u00e8s plusieurs lavages de 1 estomac, 1 eau qui en sort devient presque limpide. Alors, en vidant compl\u00e8tement 1 estomac, et en faisant m\u00e2cher \u00e0 Marcelin des g\u00e2teaux, ou du sucre, ou du citron etc., le suc gastrique se met \u00e0 couler lentement, goutte \u00e0 goutte.\u201c\nNochmals erw\u00e4hnt Richet 2 den Zusammenhang von Geschmack und Appetit:\n\u201eAinsi que le l\u2019ai mis \u00e0 profit chez M. pour obtenir du suc gastrique pur, il y aune sympathie entre l\u2019excitation gustative et la s\u00e9cr\u00e9tion stomacale, sympathie dont probablement la voie centrifuge est le nerf pneumogastrique. Le rapport est si intime que la m\u00eame quantit\u00e9 de suc gastrique est s\u00e9cr\u00e9t\u00e9e quand on met un aliment dans la bouche ou quand on le met dans l\u2019estomac. L\u2019odeur et la vue des aliments d\u00e9terminent le m\u00eame effet, et, si \u00e0 un chien porteur d\u2019une fistule stomacale on fait flairer un morceau de viande, la muqueuse gastrique rougit, et le suc gastrique s\u2019\u00e9coule au dehors.\u201c3 4\nAuch Pawlow 4 selber erkennt den hohen Einflufs des Wohlgeschmacks auf den Appetit schon an: \u201eDas Objekt unserer Verdauungst\u00e4tigkeit die Speise \u2014 befindet sich aufserhalb des K\u00f6rpers in der umgebenden Welt ; sie soll dem Organismus nicht nur durch Muskelkraft, sondern auch durch h\u00f6here Funktionen:\n.\t1 \u201dDu suc gastrique chez l\u2019homme et les animaux, ses propri\u00e9t\u00e9s chi-\nmiques et physiologiques.\u201c par Oh. Richet. Paris. Librairie Germer Bailli\u00e8re et Cie. 1878. p. 160.\n2\ta. a. O. S. 153.\n3\tLonget, Trait\u00e9 de phys. t. I. p. 203.\n4\ta. a. O. S. 97.","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n323\nVernunft, Willen, Begierde einverleibt werden. Deshalb ist die gleichzeitige Erregung der verschiedenen Sinnesorgane, des Gesichts, des Geh\u00f6rs, des Geruchs und Geschmacks, der st\u00e4rkste und erste Stimulus f\u00fcr die T\u00e4tigkeit der Magendr\u00fcsen ; besonders gilt dies von den letzteren zwei Sinnen, denn sie werden nur dann erregt, wenn die Speise sich schon im Organismus befindet oder doch nahe ist.\u201c\nPawlow sieht die Beeinflussung des Wohlgeschmacks darin, dafs die Schmackhaftigkeit auf die Psyche wirkt, und dafs diese erst den psychischen Appetitsaft hervorruft, Demnach w\u00e4re der Einflufs des Geschmacks auf den Appetit ein indirekter und zwar lediglich ein psychoreflektorischer. Gleichzeitig mit dieser Annahme glaubt Pawlow,1 auch die Frage \u00fcber den Einflufs der W\u00fcrze zureichend beantwortet zu haben, jene Frage, die bisher trotz aller darauf angewandten Methoden ungekl\u00e4rt geblieben war:\n,.Mit der Feststellung des Einflusses der Psyche auf die Absonderung des Saftes tritt die Frage von den W\u00fcrzstoffen in eine neue Phase. Wenn man schon fr\u00fcher empirisch zu dem Schluls gekommen war, dafs es f\u00fcr die Speise zu wenig sei, aus N\u00e4hrstoffen zu bestehen, sondern dafs sie auch schmackhaft sein m\u00fcsse, so wissen wir jetzt, warum dieses so ist. Deshalb soll auch der Arzt, der ja oft die Zweckm\u00e4fsigkeit der Ern\u00e4hrung einzelner Personen oder ganzer Gruppen von Leuten zu begutachten hat, best\u00e4ndig an die psychische Absonderung denken, d. h. zusehen und sich erkundigen, wie die gegebenen Speisen genossen werden, ob mit oder ohne Vergn\u00fcgen; wie oft aber richten sich die Leute, welche dem Verpflegungswesen vorstehen, lediglich nach dem N\u00e4hrwert der Speise, oder oktroyieren in ihrem Urteil allen \u00fcbrigen ihren Geschmack. Wir m\u00fcssen ferner im Interesse des \u00f6ffentlichen Wohls die Aufmerksamkeit besonders auf die Ern\u00e4hrung der Kinder lenken. Wenn diese oder jene Geschmacksneigung des Menschen sein Verhalten zur Speise bedingt, hiermit aber hinwiederum die Anfangsphase der Verdauung verkn\u00fcpft ist, so erscheint es unzweckm\u00e4fsig, die Kinder lediglich an feine und einf\u00f6rmige Geschmacksempfindungen zu gew\u00f6hnen; dieses w\u00fcrde ihre F\u00e4higkeit beeintr\u00e4chtigen, sich sp\u00e4ter den verschiedenen Lebenslagen anzupassen.\u201c\nFolgt man nun aber der Annahme von Pawlow, dafs der\n1 a. a. O. S. 181.","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nWilhelm Sternberg.\nZusammenhang von Geschmack und Appetit ein blofser psycho-reflektorischer sei, so dr\u00e4ngt sich sofort die Frage auf, warum denn nicht auch jede andere psychische Erregung appetiterregend wirkt, warum nur die psychische Erregung gerade von seiten des Geschmackes f\u00fcr die Appetitreizung so vonn\u00f6ten ist. Wenn es auch richtig ist, dafs \u00c4rger und Freude, jede psychische Erregung den Appetit beeinflussen kann, so ist doch immerhin auffallend, dafs die wesentliche und endg\u00fcltige Erregung des Appetits ganz besonders auf den einen Sinn des Geschmacks beschr\u00e4nkt ist, und die freudige Erregung auf anderen Sinnesgebieten f\u00fcr sich allein durchaus noch nicht imstande ist, bei Appetitlosen Appetit hervorzuzaubern.\nAndererseits tritt, wenn man einmal mit Pawlow lediglich\neinen psychoreflektorischen Zusammenhang von Geschmack und\nAppetit voraussetzen will, noch eine weitere Frage entgegen : Ist\ndenn dieser Reflex stets einzig und allein auf die angenehme\nEmpfindung beschr\u00e4nkt? Hat denn nur der Wohlgeschmack\nden Vorzug, einen psychoreflektorischen Vorgang einzuleiten?\nSollte man denn nicht wenigstens die Frage einmal auf werfen,\nob nicht auch das Gegenteil von Wohlgeschmack einen Reflex\n\u2022 \u00bb\nausl\u00f6st, der mit dem Appetit zusammenh\u00e4ngt? Ubt denn etwa der Ungeschmack, die Geschmacklosigkeit, das Unschmackhafte und Abgeschmackte gar keinen Reflex auf die Psyche aus ? Diese Fragen sind von Pawlow g\u00e4nzlich \u00fcbersehen worden. Ich habe unausgesetzt1 darauf hingewiesen, dafs tats\u00e4chlich eine psychoreflektorische Erscheinung auch vom Ungeschmack auf den Appetit nach der entgegengesetzten Seite statthat. Das physiologische Gegenteil vom Appetit ist n\u00e4mlich das Ekelgef\u00fchl. Ekel und Appetit verhalten sich zu einander wie positiv und negativ, wie polare Eigenschaften, wie die enantiomorphen Formen.\nPawlow er\u00f6rtert die Beziehungen des Geschmacks zum Appetit unter physiologischen und unter pathologischen\n1 \u201eKochkunst und Heilkunst. Die Physiologie der Kochkunst.\u201c 1906, \u201eKrankenern\u00e4hrung und Krankenk\u00fcche. Geschmack und Schmackhaftigkeit.\u201c 1906. S. 10. \u201eKochkunst und \u00e4rztliche Kunst.\u201c 1907. S. 91. \u201eDi\u00e4tetische Kochkunst. I. Gelatinespeisen.\u201c 1908. \u201eDie K\u00fcche im Krankenhaus.\u201c 1908. \u201eAppetitliehkeit und Unappetitlichkeit.\u201c M\u00fcnch, med. Wochenschrift. 1908. Nr. 23. \u201eDie Appetitlosigkeit.\u201c Zentralbl. f. Physiol. 1908. Bd. XXII. Nr. 8.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n325\nBedingungen. Was zun\u00e4chst diephysiologischenVerh\u00e4ltnisse betrifft, so macht Pawlow 1 folgende Angabe :\n,,Wie oft sehen wir nicht, dafs jemand, der sein gew\u00f6hnliches Mahl mit Gleichg\u00fcltigkeit begonnen, es sp\u00e4ter mit sichtlichem Vergn\u00fcgen verzehrt, nachdem er seinen Geschmack durch irgend etwas Scharfes, wie man sagt, Pikantes, gereizt hat. Es war also n\u00f6tig, dem Geschmacksapparat einen Anstofs zu geben, ihn in Bewegung zu setzen, damit sp\u00e4ter seine T\u00e4tigkeit durch minder starke Erreger unterhalten werden k\u00f6nne. F\u00fcr einen Menschen, der Hunger sp\u00fcrt, sind solche Extramafsregeln nat\u00fcrlich nicht n\u00f6tig, f\u00fcr ihn bietet die Stillung des Hungers an und f\u00fcr sich einen gen\u00fcgenden Genufs dar; nicht umsonst pflegt man zu sagen, der Hunger sei der beste Koch. Jedoch ist auch dieses nur bis zu einem gewissen Grade richtig, denn ein gewisses Quantum Wohlgeschmack der Speise wird von jedem Menschen, selbst vom Tiere verlangt. Sogar ein Hund, der stundenlang gehungert hat, wird nicht alles gleich freudig nehmen, was sonst wohl Hunde fressen, sondern die ihm behagenden Speisen aussuchen. Mithin ist die Gegenwart einer gewissen W\u00fcrze in der Speise ein allgemeines Bed\u00fcrfnis, obgleich nat\u00fcrlich im besonderen die G e -schmacksneigungen der einzelnen Individuen verschieden sind.\u201c\nDie Beziehungen des Geschmacks zum Appetit fafst Pawlow demnach in folgendem Sinne auf:\n\u201eEs ist n\u00f6tig, dem Geschmacksapparat einen Anstofs zu geben, ihn in Bewegung zu setzen, damit sp\u00e4ter seine T\u00e4tigkeit durch minder starke Erreger unterhalten werden k\u00f6nne.\u201c\nDieselbe Vorstellung wiederholt Pawlow1 2 noch ein zweites Mal :\n\u201eEs ist n\u00f6tig, dem Ge sch macks apparat einengeh\u00f6rigen Anstofs zu geben, damit wieder kr\u00e4ftige und normale Geschmacksempfindungen entstehen k\u00f6nnen.\u201c\nSchliefslich f\u00fchrt Pawlow 2 noch an :\n\u201eScharfe und unangenehme Geschmackseindr\u00fccke rufen durch Kontrastwirkungen die Vorstellung angenehmer Eindr\u00fccke wach, so dafs wieder kr\u00e4ftige und normale Geschmacksempfindungen entstehen k\u00f6nnen.\u201c\n1\ta. a. O. S. 176.\n2\ta. a. O. S. 182.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nWilhelm Sternberg.\nI.\tSchwer verst\u00e4ndlich ist schon die Vorstellung an sich, \u201edem Geschmacksapparat einen Anstofs zu geben\u201c, \u201eihn in Bewegung zu setzen\u201c.\nDabei ist es nicht etwa blofs die \u00dcbersetzung des russischen Originals ins Deutsche, welche diese Schwierigkeit bedingt, sondern lediglich die Vorstellung ist es, welche an und f\u00fcr sich unvergleichliche Schwierigkeiten bietet. Man \u00fcbertrage nur einmal eine solche Annahme auf andere Sinnesgebiete, und man wird sogleich erkennen, welche offensichtliche Unklarheit einer solchen Annahme zugrunde liegt. Man sage nur einmal, \u201eman mufs dem Auge, dem Ohr einen geh\u00f6rigen Anstofs geben,\u201c \u201edas Auge, das Ohr in Bewegung setzen,\u201c dies aber sei erforderlich, damit das Auge sehe, das Ohr h\u00f6re, damit \u201enormale Gesichtsempfindungen\u201c, \u201enormale Geh\u00f6rsempfindungen entstehen k\u00f6nnen\u201c!\nII.\tNoch schwieriger aber und jedenfalls ganz abweichend von den bisherigen Erfahrungen auf allen anderen Sinnesgebieten ist die Annahme von Pawlow, dafs \u201edie T\u00e4tigkeit des Geschmacksapparates durch geringere Beize sp\u00e4ter unterhalten werden kann, wenn vorher der Geschmacksapparat in Bewegung gesetzt ist\u201c.\nIII.\tWenn aber auch schon wirklich dem so w7\u00e4re, so bliebe ja immer noch die Frage offen, warum denn nicht alle salzig, alle sauer schmeckenden, alle s\u00fcfs schmeckenden Stoffe jenen \u201eAnstofs\u201c zum Appetit geben, warum gerade der bittere Geschmack so \u00fcberaus bevorzugt ist. Also selbst, wenn man schon die mir ganz unzutreffend erscheinende Annahme von Pawlow einmal wirklich akzeptieren wollte, selbst dann w\u00e4re mit ihr auch noch gar nichts erkl\u00e4rt.\nIV.\tW\u00e4re die Annahme von Pawlow zutreffend, dafs scharfe unangenehme Geschmackseindr\u00fccke die Vorstellung von angenehmen Eindr\u00fccken wachrufen, dann w\u00e4re ja nichts einfacher als die Erregung von Appetit bei appetitlosen Kranken, Dann w\u00e4ren ja alle Schwierigkeiten der Krankenk\u00fcche ebenso schnell wie leicht behoben. Tats\u00e4chlich ist aber das geiade Gegenteil der Fall.\nV.\tEs ist schon ganz richtig, dafs der Appetit oft erst beim Essen kommt, wie Pawlow hervorhebt. \u201eL\u2019app\u00e9tit vient en mangeant.\u201c Aber der Grund f\u00fcr diese Erscheinung ist ein anderer wie der, den Pawlow angibt. Es ist n\u00e4mlich die Tatsache, dafs der Appetit beim Essen kommt, darin begr\u00fcndet, dafs die Schmackhaftigkeit","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n327\ndes Essens das ist, was den Appetit \u00fcberhaupt erst hervorruft. \u201eWas der Bauer nicht kennt, das ifst er nicht\u201c ; das verschm\u00e4ht er aus dem sehr einfachen Grunde, weil er den Geschmack noch nicht kennt. Es darf n\u00e4mlich nicht \u00fcbersehen werden, dafs man unm\u00f6glich auf etwas Appetit haben kann, dessen Geschmack man noch nicht kennt. Einen solchen offensichtlichen Einflufs hat eben der Geschmack auf den Appetit, nach der positiven und nach der negativen Seite hin. Nun sind aber die chemischen Sinne vor den physikalischen Sinnen noch dadurch besonders ausgezeichnet, dafs sie eine Reproduktion ihrer Sinneseindr\u00fccke nicht gestatten. Mit der gr\u00f6fsten Leichtigkeit k\u00f6nnen wir uns die Farben der Blumen im Ged\u00e4chtnis sehr wohl reproduzieren, ebenso T\u00f6ne, Melodien, Musik, aber nimmermehr den Geschmack und Geruch. Daher kommt es eben, dafs wir vornehmlich auf das Gesicht angewiesen sind f\u00fcr die erste Erregung des Appetits, selbst bei denjenigen Geschmacksreizen, deren Geschmack uns schon bekannt ist, noch mehr also bei denjenigen, deren Geschmack uns noch unbekannt war. Das ist zugleich der Grund f\u00fcr die hohe Bedeutung des Gesichtes f\u00fcr die Erregung von Appetit, f\u00fcr die \u201eAppetitlichkeit\u201c. Darauf ist der hohe Wert der \u201eDekorationen\u201c und \u201eGarnituren\u201c der Speisen durch die K\u00fcche\nzur\u00fcckzuf\u00fchren.\n\u2022 \u2022\nUber die pathologischen Verh\u00e4ltnisse macht Pawlow 1 folgende Angaben :\n\u201eEin Mensch, der an einer Verdauungsst\u00f6rung leidet, hat zugleich einen abgestumpften Geschmack, einen gewissen Geschmacksindifferentismus. Die gew\u00f6hnlichen Speisen, die anderen Leuten genehm sind, und auch ihm, wenn er gesund ist, erscheinen ihm jetzt geschmacklos. Sie erwecken nicht nur keine Lu st zu essen, sondern rufen sogar ein Ekelgef\u00fchl hervor; es besteht eben keine, oder eine perverse, Geschmacksempfindung. Es ist n\u00f6tig, dem Geschmacksapparat einen geh\u00f6rigen Anstofs zu geben, damit wieder kr\u00e4ftige und normale Geschmacksempfindungen entstehen k\u00f6nnen. Dieses Ziel wird, wie die Erfahrung lehrt, am schnellsten durch scharfe unangenehme Geschmackseindr\u00fccke erreicht, die durch Kontrastwirkung die Vorstellung ange-\n1 a. a. O. S. 182.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nWilhelm Sternberg.\nne h mer Eindr\u00fccke wachrufen. Auf jeden Fall besteht kein Indifferentismus mehr, und dieses ist eine Grundlage, auf der der Appetit zu dieser oder jener Speise geweckt werden kann.\u201c\nPawlow setzt also drei verschiedene Zust\u00e4nde von Geschmacksanomalien durch die Krankheit voraus.\nEinmal nimmt er nur eine Hypogeusie an: \u201eEin Mensch, der an einer Verdauungsst\u00f6rung leidet, hat zugleich einen abgestumpften Geschmack, einen gewissen Geschmacksindifferentismus.\u201c\nSodann nimmt er eine Ageusie an: \u201eDie gew\u00f6hnlichen Speisen, die anderen Leuten genehm sind, und auch ihm, wenn er gesund ist, erscheinen ihm jetzt geschmacklos.\u201c\nSchliefslich nimmt er noch eine Parageusie an: \u201eEs besteht eben keine, oder eine perverse Geschmacksempfindung.\u201c\nDiese drei Annahmen von Pawlow (Ageusie, Hypogeusie, Parageusie) sind s\u00e4mtlich willk\u00fcrlich und ausnahmslos unzutreffend. Zudem bildet aber gerade derjenige Fall die gew\u00f6hnliche Regel in Krankheitszust\u00e4nden, der einzig und allein noch \u00fcbrig bleibt; das ist n\u00e4mlich die vierte M\u00f6glichkeit, die Pawlow \u00fcberhaupt ganz \u00fcbersieht und gar nicht erw\u00e4hnt, n\u00e4mlich die Hypergeusie. In den Voraussetzungen von Pawlow besteht also ein zwiefacher Irrtum der tats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnisse.\nEs ist durchaus nicht der Fall, dafs der an einer Verdauungsst\u00f6rung Leidende einen \u201eabgestumpften\u201c Geschmack und einen gewissen \u201eGeschmacksindifferentismus\u201c hat. Das gerade Gegenteil ist vielmehr der Fall. Nicht nur bei einer Verdauungsst\u00f6rung, sondern in fast allen Krankheitszust\u00e4nden ist die Empfindlichkeit des Geschmacks gesteigert. Freilich begegnet man in der Literatur merkw\u00fcrdigerweise immer wieder der Angabe, dafs die Empfindlichkeit unserer Sinne im Krankheitsfalle\nabnehme. Allein diese Annahme ist durchaus irrig. Gew\u00f6hnlich\n# \u2022\u2022\ntritt sogar eine Uberempfindlichkeit und eine allgemeine Hyper\u00e4sthesie ein. Nicht nur das Schmerzminimum tritt im Krankheitszustande fr\u00fcher als normal auf, sondern auch das Empfindungsminimum wird im pathologischen Zustande fr\u00fcher und eher als im normalen Zustande bemerkt, wie Leyden1 zuerst nachgewiesen\n1 E. Leyden, \u201eUntersuchungen \u00fcber die Sensibilit\u00e4t im gesunden und kranken Zustande.\u201c 1864. Virchows Archiv 30, S. 1\u201434.","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n329\nhat. In erh\u00f6htem Mafse steigert sich in Krankheiten jedenfalls die Empfindlichkeit des Geschmackssinnes bei Menschen und bei allen Tieren. Die Krankheit macht aus den Tieren naschhafte Leckerm\u00e4uler, aus den Menschen Feinschmecker, wie ich 1 dies mehrfach hervorgehoben habe. Darauf f\u00fchre ich eben auch die Notwendigkeit der sogenannten \u201efeinen\u201c Kochkunst f\u00fcr die Krankenk\u00fcche selbst in der Armenpraxis zur\u00fcck, die entsprechend der Arzneiverordnungslehre der Pharmacopoea elegans zu vergleichen w\u00e4re. Ist ja auch eine ausgesucht leckere und schmackhafte Kost sogar in der Veterin\u00e4rmedizin f\u00fcr die pathologischen Zust\u00e4nde vorgesehen.\nAlbu 2 steht freilich auf dem entgegengesetzten Standpunkt. Er beklagt sogar lebhaft jene andere Auffassung:\n\u201eF\u00fcr die Kochkunst ist ja leider oft mehr der Geschmack als die Zutr\u00e4glichkeit mafsgebend!\u201c \u2014 \u201eNur wenig ist \u00fcber die Pilze (Pfefferlinge, Champignons u. dgl. m.) zu sagen. Ihr Beispiel beweist abermals, welchen unberechtigt grofsen Einflufs der \u201eGourmet\u201c auf die K\u00fcche hat.\u201c\nAuch Gkassmanx3 meint, es erheische die Krankenk\u00fcche nicht \u201edie Einflechtung der detailliertesten K\u00fcchenfeinheiten f\u00fcr Gourmets.\u201c\nEs ist aber fernerhin nicht richtig, dafs Geschmacksindifferentismus auftritt, wie dies Pawlow annimmt. Dies ist weder der Fall in kranken Tagen noch in gesunden. S\u00e4mtliche Qualit\u00e4ten des Geschmackssinnes besitzen die entschiedenste Gef\u00fchlsbetonung unter allen Sinnen \u00fcberhaupt. Dadurch ist der Geschmackssinn vor allen \u00fcbrigen Sinnen ausgezeichnet. Es gibt daher auch keinen Geschmack, der indifferent ist und uns ganz gleichg\u00fcltig l\u00e4fst.\nWie ich4 bereits ausgef\u00fchrt habe, zeigte es sich, dafs selbst\n1\t1906. \u201eKochkunst und Heilkunst. Die Physiologie der Kochkunst.\u201c Leipzig. S. 108. 1906. \u201eKrankenern\u00e4hrung und Krankenk\u00fcche. Geschmack und Schmackhaftigkeit.\u201c F. Enke. S. 6. 1907. \u201eKochkunst und \u00e4rztliche Kunst. Der Geschmack in der Wissenschaft und Kunst.\u201c F. Enke. 1908. \u201eDie K\u00fcche im Krankenhaus.\u201c F. Enke. S. 11.\n2\t\u201eKochkunst und Hygiene\u201c. Hygienischer Hausfreund. 1903. S. 8 u. 9.\n3\tGrassmann-M\u00fcnchen, M\u00fcnch, med. Wochenschrift. S. 292, Nr. 6. 11. II. 08. Besprechung von: Wilhelm Sternberg, \u201eKochkunst und \u00e4rztliche Kunst\u201c. 1907.\n4\t\u201eSubjektive Geschmacksempfindungen (Glycogeusia subjectiva, Kako-geusia subjectiva).\u201c Zeitschr. f. klin. Med. 59.","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nWilhelm Sternberg.\nin Krankheitsf\u00e4llen, auch noch bei den zerst\u00f6rendsten pathologischen Ver\u00e4nderungen, auch dann noch, wenn der Geist v\u00f6llig umnachtet ist, das Bittere unangenehm, unertr\u00e4glich empfunden wird und leicht Brechen erregt, das S\u00fcfse hingegen absolut angenehm empfunden wird und gegenteilige Bewegungen erregt. Selbst der Anencephalus verh\u00e4lt sich, wie ich1 2 3 das nachweisen konnte, durchaus nicht indifferent gegen\u00fcber den Heizungen mit Schmeckstoffen. Offenbar handelt es sich um exakte reflektorische Vorg\u00e4nge sensuell-reflektorischer Art, die um so bemerkenswerter sind, als sie nicht nur so prompt auftreten, sondern auch in so hervorragend auff\u00e4lliger Weise entgegengesetzter Natur und sogar entgegengesetzter Richtung sein k\u00f6nnen. Denn schon das neugeborene, ja selbst ungeborene Kind reagiert einerseits mit aktiven Saugbewegungen, das soeben geborene Kind auf entgegengesetzte Schmeckreize mit den antagonistischen W\u00fcrg-und Brechbewegungen.\nBez\u00fcglich der Ageusia mufs es sogar auffallen, wie selten diese Anomalie im allgemeinen auftritt.\nPerverse Geschmacksempfindungen, P a r a g e u s i e n sind h\u00e4ufig angenommen worden.\nEulenburg 2 h\u00e4lt eine solche in gewissen F\u00e4llen von Hemi-kranie f\u00fcr wahrscheinlich :\n\u201eAuch der schlechte verdorbene Geschmack, \u00fcber den viele Kranke vor und in dem Anfalle klagen, ist wahrscheinlich eine Paralgie der Geschmacksnerven und h\u00e4ngt nicht, wie meist angenommen wird, mit gastrischen St\u00f6rungen zusammen.\u201c\nOft wird als Parageusie auch die unangenehme subjektive Geschmacksempfindung angesehen, die in manchen Krankheitszust\u00e4nden auftritt. Dies ist aber h\u00e4ufig der Fall, so schon in vielen F\u00e4llen l\u00e4ngerer Karenz, wo nach Boas 3 objektiv der Zungenbelag, subjektiv unangenehmer pappiger Geschmack auftritt. Erst j\u00fcngst weist v. Posthorn4 darauf hin, dafs sich schon bei Men-\n1\t\u201eGeschmacksempfindung eines Anencephalus.\u201c 1901. Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorg. 27.\n2\tEulenbubg, \u201eVasomotorisch-trophische Neurosen.\u201c ZiemsseN, Handb. d. spez. Pathol, u. Ther. 1877. Bd. 12. Zweite H\u00e4lfte. S. 11.\n3\tLeyden, Handbuch der Ern\u00e4hrungstherapie, II. Band, 1. Abt. S. 288. XXV. Kongrefs f. innere Med. 1908. Wien. \u201eDie Beziehungen der\nweiblichen Geschlechtsorgane zu inneren Erkrankungen/4","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n331\nstruation St\u00f6rungen des Geschmackes, Foetor ex ore und alle m\u00f6glichen Abstufungen finden.\nLiebeeich1 h\u00e4lt auch die Beeintr\u00e4chtigung des Geschmackes durch Nasenerkrankungen f\u00fcr echte Parageusie: \u201eSehr st\u00f6rend sind f\u00fcr eine gute Ern\u00e4hrung die Anosmie und Parosmie, welche besonders nach Influenza auftreten, da diese h\u00e4ufig auch mit j> er versen Geschmacksempfindungen einhergehen.\u201c Diese Erscheinungen sind aber keineswegs perverse Geschmacksempfindungen , so wie sie Liebeeich und auch wohl andere Autoren auffassen, vielmehr Hypogeusien indirekter Art.\nPerverse Sinnesempfindung darf man doch dann noch nicht annehmen, wenn die Stimmung, die Lust zur sinnlichen Wahrnehmung momentan ver\u00e4ndert ist. Wenn ein Musikliebhaber, ein Musikkenner auch bei wahrhafter Hochsch\u00e4tzung der klassischen Musik z. B. die neunte Symphonie trotzdem nicht ununterbrochen mit Vergn\u00fcgen h\u00f6ren will oder kann, daf\u00fcr hingegen lieber einmal einen Gassenhauer, einen Tanz, selbst schon in gesunden Tagen, noch mehr zu gewissen Zeiten einer besonderen Stimmung oder im Krankheitsfall, so wird doch niemand etwa behaupten wollen, es l\u00e4gen perverse Geh\u00f6rsempfindungen zugrunde. Wenigstens d\u00fcrfte doch solche Annahme nicht mehr eine exakte und wissenschaftliche genannt werden. Pervers ist nicht die Sinnesempfindung, pervers ist nicht einmal die psychische Vorliebe zu nennen, die ver\u00e4ndert ist.\nZudem ist der Zusammenhang von Ageusie oder von Beeintr\u00e4chtigung des Geschmackes durch Nasenerkrankungen mit dem Appetit ein grunds\u00e4tzlich anderer, als man nach Pawlows und Liebeeichs Schilderungen wohl vermuten m\u00f6chte.\nWie ich2 mehrfach hervorhebe, f\u00fchrt derjenige, dessen Geruchsverm\u00f6gen zeitweise herabgesetzt oder aufgehoben ist, gar nicht Klage \u00fcber die Einbufse dieses Sinnes. Desselben wird er sich sogar f\u00fcr gew\u00f6hnlich gar nicht einmal bewufst, Das, wor\u00fcber er Klage f\u00fchrt, ist vielmehr die Einbufse eines ganz anderen Sinnes, n\u00e4mlich des Geschmacks. Es ist h\u00f6chst bemerkenswert und bemerkbar, wie gerade demzufolge weiterhin auch der Verlust des Appetits eintritt. Weil dem Nasenkranken alles gleichartig zu schmecken scheint,\n1\tLeyden, Handb. d. Ern\u00e4hrungstherapie. I, S. 308.\n2\t1906. \u201eKrankenern\u00e4hrung und Krankenk\u00fcche. Geschmack und\n\u25a0Schmackhaftigkeit.\u201c S. 7.\t1907. \u201eGelatine-Gel\u00e9es in der Krankenk\u00fcche.\u201c\nZeitschr. f. physik. u. di\u00e4t. Therapie 11. 1907/08'\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 43.\t22","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nWilhelm Sternberg.\nempfindet er keine Freude mehr am Essen. Das ist der Grund, warum er nun auch keine Efslufst mehr hat, den Appetit verliert und weniger zu sich nimmt, so dafs er unter Umst\u00e4nden sogar abmagern kann. Wenn also die sinnliche und psychische Lustempfindung, die Freude am Essen nicht mehr empfunden wird, oder auch nur einigermafsen diese Freude durch etwas beeintr\u00e4chtigt ist, so verliert schon der Mensch, ebenso auch das Tier, den Appetit, die Neigung, \u00fcberhaupt Nahrung zu sich zu nehmen. Man verzichtet \u00fcberhaupt auf die Nahrungsaufnahme. Also die einfache Abwesenheit der Freude f\u00fchrt merkw\u00fcrdigerweise schon zu so bedeutsamen Folgen. Es ist h\u00f6chst interessant und aufserordentlich instruktiv, zu beobachten, wie selbst geistig hervorragende M\u00e4nner unzufrieden und unbefriedigt sind, wenn sie infolge von Erkrankungen auf den Genufs seitens des Geschmackssinnes auch nur zeitweise verzichten m\u00fcssen. Intelligente Kranke, die man mittels der Schlundsonde unter Umgehung des Geschmacks ern\u00e4hren mufs, sind trotz des vollkommen befriedigten S\u00e4ttigungsgef\u00fchls doch unzufrieden und empfinden den Verlust schmerzlich, den sie dadurch haben, dafs sie das Genossene nicht auch geschmeckt haben. So gebieterisch verlangt dieser Sinn den Genufs. Gerhardt erw\u00e4hnte \u00f6fters einen Lehrer der inneren Medizin, der durchaus nicht Feinschmecker oder gar Schlemmer war. Als er sich einmal ein Gebifs erneuern lassen mufste, klagte er sehr, dafs er von den Speisen keinen Geschmack mehr hatte, und dafs ihm das Essen kein Vergn\u00fcgen mehr bereite. Es ist also doch h\u00f6chst bezeichnend, wenn \u00fcberhaupt dar\u00fcber schon geklagt werden kann, dafs die Speisen, die doch lediglich n\u00e4hren sollen, nicht auch sinnlich wahrgenommen werden.\n\u00c4hnliche Beobachtungen macht Ackermann.1\nJeder Zahnarzt kennt derartige F\u00e4lle zur Gen\u00fcge.\nSchon wenn man jemandem, der den h\u00f6chsten Appetit hat, den Geschmack artefiziell ausschaltet durch Kokainisierung der Zunge, ja selbst dann schon, wenn man nur die eine, die s\u00fcfse Geschmacksmodalit\u00e4t experimentell durch Gymnemas\u00e4ure ausschaltet, wird der Appetit sofort verlegt, eine Tatsache, die sich sogar therapeutisch bei Entfettungskuren, bei Pica usf. verwerten l\u00e4fst. Ageusie wird sogar viel schwerer empfunden, als man\n1 \u201e\u00dcber die Geschmacksver\u00e4nderung oder Beeinflussung durch Gebifs-platten.\u201c Deutsche Monatsschrift f\u00fcr Zahnheilkunde. 1887. S. 259\u2014269.","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n333\ngemeinhin annimmt. \u201eEin Verlust des Geschmackssinnes soll einen unertr\u00e4glichen Zustand hervorrufen\u201c sagt Voit.1 Ebenso dr\u00fcckt sich Edinger2 3 aus.\nDer gegenteilige Endzweck ist die gew\u00f6hnliche therapeutische Mafsnahme, n\u00e4mlich durch sorgf\u00e4ltigste Zubereitung der K\u00fcche dem \u00fcberaus empfindlichen Geschmack des Kranken zu schmeicheln, um so den Appetit anzuregen.\nWenn also Liebreich 8 schon eine besondere Gefahr f\u00fcr die Nasenkranken darin sieht, dafs sie sich durch Genufs von zersetzten Eiern, Austern oder dergleichen, die sie zu erkennen nicht imstande sind; leicht eine Sch\u00e4digung zuziehen k\u00f6nnen, so ist demgegen\u00fcber noch viel bedeutsamer die di\u00e4tetische Mafsnahme gegen die Einbufse des Appetites.\nDasjenige, was bei Verdauungsst\u00f6rungen, ja bei fast s\u00e4mtlichen Krankheitszust\u00e4nden auftritt, ist nicht eine Perversit\u00e4t des Geschmacks, sondern eine ver\u00e4nderte Richtung des Appetits, nicht eine St\u00f6rung der sinnlichen Empfindung, sondern eine solche der Freude am Essen, die Efs lust verwandelt sich in ein bestimmtes Gel\u00fcst. Dasjenige, was tats\u00e4chlich bei den Kranken zu beobachten ist, ist das, was Pawlow auch hervorhebt, dafs n\u00e4mlich dem Kranken seine eigenen Lieblingsgerichte keine Lust mehr erwecken zur Nahrungsaufnahme. Auf diese Besonderheiten im Zusammenhang der normalen sinnlichen Geschmacksempfindungen mit dem Appetit sind die hochgradigen individuellen Verschiedenheiten zur\u00fcckzuf\u00fchren, die gerade auf diesem Gebiete so \u00fcberaus merkw\u00fcrdig sind. Es handelt sich hierbei um folgende Fragen:\nWarum fressen denn die einen Tiere nur ganz bestimmte Nahrungsmittel, verschm\u00e4hen dagegen andere ebenso nahrhafte und auch wohlschmeckende?\nWarum fressen denn andere Tiere wieder das, was die ersteren verschm\u00e4hen, und verabscheuen gerade diejenigen Nahrungsmittel, welche die ersteren mit Gier suchen?\nWarum verschm\u00e4hen viele Tiere schon den Ersatz von Fleischnahrung durch die ihr so nahe stehende Fischnahrung?\n1\tVoit, \u201e\u00dcber die Kost in \u00f6ffentlichen Anstalten.\u201c M\u00fcnchen 1876. S. 19\n2\tPenzoldt-Stintzing, Handb. d. Therapie innerer Krankheiten, 3. Aufl., V. Bd. S. 627: \u201eEine Geschmacks St\u00f6rung kann zu recht unangenehmen seelischen Depressionen f\u00fchren\u201c.\n3\t0. Liebreich, a. a. 0. I. S. 308.\n22*","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nWilhelm Sternberg.\nEs ist geradezu auffallend, wie konservativ sich die Tiere im einzelnen und im ganzen insgesamt ihren Nahrungsmitteln gegen\u00fcber verhalten. Gehen doch viele Tiere eher an Hunger zugrunde, bevor sie sich entschliefsen, eine, wenn auch nur geringf\u00fcgige, \u00c4nderung in ihrer Ern\u00e4hrung hinzunehmen.\nWarum fressen denn die freilebenden Tiere nicht auch giftige Pflanzen?\nWarum suchen aber die freilebenden, selbst die zahmen Weidetiere solche Pflanzen auf, welche sie andernfalls stehen lassen, dann wann sie krank sind, und kurieren sich gewisser-mafsen damit?\nEs ist klar, dafs das nicht auf Verstandest\u00e4tigkeit, sondern auf eine ver\u00e4nderte Geschmacksrichtung, auf eine \u00c4nderung der psychischen Frefslust hinweist, wie auch der Mensch in der Krankheit eine ganz andere Geschmacksrichtung zeigt, eine andere Richtung der psychischen Efslust, wie im gesunden Zustande. Vermittels der instinktiven, durch die chemischen Sinne geleiteten Nahrungs w\u00e4hl versteht also das Tier sich vor sch\u00e4dlichen Einwirkungen einerseits zu sch\u00fctzen, und andererseits, wenn es trotzdem krank wird, die richtige Arznei zu finden.\nDie biologische Bedeutung des Geschmackssinnes ist eben eine hervorragende und allen anderen Sinnen weit \u00fcberlegene.\nHier mufs aber ein doppelter Irrtum abgewehrt werden. Es\n\u2022 \u2022\nscheint n\u00e4mlich das Ubersehen von zwei Tatsachen und das Mifs-verst\u00e4ndnis von zwei Begriffen der Grundirrtum der ganzen Lehre vom Appetit zu sein.\nEs fragt sich zun\u00e4chst einmal:\nWas ist denn \u00fcberhaupt Geschmack?\nWas ist denn \u00fcberhaupt Lust, die in der Efslust, dem Appetit, gelegen ist?\nSo grofs auch das Erstaunen dar\u00fcber sein mag, dafs man scheinbar so selbstverst\u00e4ndliche Fragen \u00fcberhaupt noch aufwerfen will, so m\u00fcssen diese elementarsten Fragen doch in allererster Linie in Betracht gezogen werden. Denn sie sind von aufser-ordentlicher Wichtigkeit und bilden geradezu den Schl\u00fcssel zum Verst\u00e4ndnis der ganzen Probleme.\nWas zun\u00e4chst den Begriff vom Geschmack anlangt, so ist die richtige Auffassung dieses Begriffes der Angelpunkt des ganzen Vorwurfs. Das Wesen dieses Begriffes ist zugleich bestimmend f\u00fcr die Auffassung vom Appetit selbst und unumg\u00e4nglich n\u00f6tig","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n335\nf\u00fcr dessen Erforschung. An ihm hat man geradezu einen Mafs-stab, mit dem man die vielfachen Er\u00f6rterungen \u00fcber den Appetit auf ihren Gehalt pr\u00fcfen kann. Man hat nur n\u00f6tig, den Begriff vom Geschmack ins Auge zu fassen und nachzuschauen, ob und wie der einzelne Forscher dazu Stellung nimmt. Dann wird man auch beurteilen k\u00f6nnen, ob das Problem vom Appetit wirklich schon \u00fcberwunden ist, wie jetzt allgemein angenommen wird.\n\u201eGeschmack\u201c bezeichnet zwei verschiedene Begriffe, wie ich1 bereits hervorgehoben habe. Ebenso bezeichnet \u201eLust\u201c zwei verschiedene Begriffe. Die Schwierigkeit, die die Sprachbezeich-nung mit sich bringt, hat zu den seltsamsten Mifsverst\u00e4ndnissen sogar in der Wissenschaft gef\u00fchrt.\n\u201eGeschmack\u201c bezeichnet naturgem\u00e4fs den sinnlichen Eindruck. Aber aufserdem dr\u00fcckt \u201eGeschmack\u201c in \u00e4sthetischer Beziehung die F\u00e4higkeit aus, die Sch\u00f6nheiten in Natur und Kunst zu empfinden und zu geniefsen. Insofern sich diese F\u00e4higkeit lediglich der Gef\u00fchlsseite des Menschen zuwendet, glaubt man wohl, dem subjektiven Belieben, der subjektiven Vorliebe, dem \u201eGeschmack\u201c, gr\u00f6fseren Baum gestatten zu k\u00f6nnen. In diesem Sinne bezeichnet \u201eGeschmack\u201c die besondere Neigung, die subjektive Vorliebe f\u00fcr die Objekte; insofern l\u00e4fst sich tats\u00e4chlich nicht \u00fcber den \u201eGeschmack\u201c streiten, ebensowenig wie \u00fcber jede andere pers\u00f6nliche Neigung. In diesem Sinne ist das Wahre des Wortes zu verstehen, das s\u00e4mtliche Sprachen im Sprichwort fest-halten: \u201eII ne faut pas disputer des go\u00fbts\u201c, \u201eDe gustibus non est disputandum\u201c. So gelangt die Bezeichnung \u201eGeschmack\u201c* auch zu der Bedeutung \u201eVerst\u00e4ndnis\u201c, wie dies auch die Ausdr\u00fccke \u201esapientia\u201c, \u201ehomo sapiens\u201c usf. zeigen; \u201esapio\u201c ist stammverwandt mit \u201eooyog\u201c ; \u201enihil sapere\u201c heifst bei Cicero soviel wie \u201ekeinen Verstand haben, albern, dumm sein\u201c, \u201esine sapore\u201c \u201estumpfsinnig\u201c. \u201eSapienter sapit\u201c (Plaut.) heifst \u201eer ist gar schlau\u201c, \u201esapidus\u201c heifst \u201eschmackhaft\u201c und auch \u201eklug\u201c. \u201eSapor\u201c ist nicht nur der Geschmackssinn, sondern auch der \u201efeine Ton\u201c, \u201eder Sinn\u201c \u00fcberhaupt. Daher heifst es auch: \u201equinque genera saporum sunt, visus auditus odoratus tactus gustus\u201c (Schol. Bern, Verg. G\u00e9orgie. 2, 246).\nEine Schwierigkeit entsteht nun, wenn die Sprache den\n1 \u201eZur Physiologie des s\u00fcfsen Geschmacks.\u201c 1904 Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol, d. Sinnesorgane 35.","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"3 36\nWilhelm Sternberg.\nAusdruck \u201eGeschmack\u201c in der \u00fcbertragenen Bedeutung auch f\u00fcr Gelegenheiten der eigentlichen sinnlichen Bedeutung verwendet. Denn \u201eGeschmack\u201c bedeutet oft auch dann noch lediglich die psychische Vorliebe f\u00fcr etwas, selbst wenn es sich gar nicht mehr um ideelle Fragen, sondern um leibliche Gen\u00fcsse der Zunge handelt. Wenn jemand einem Objekt, das den Reiz auf das Sinnesorgan der Zunge aus\u00fcbt, nicht denselben \u201eGeschmack\u201c wie die anderen abgewinnen kann, wenn er etwas nicht ebenso \u201egeschmackvoll, weniger schmackhaft\u201c findet, so bedeutet auch hier \u201eGeschmack\u201c ausschliefslich die in mehr oder minder hohem Grade ausgesprochene psychische Vorliebe f\u00fcr die Auswahl dieses Geschmacks, dessen sinnliche Qualit\u00e4t die betreffende Versuchsperson gleichwohl genau so empfindet wie jeder andere.\nDiese scheinbare Schwierigkeit, die in der gleichzeitigen Verwendung des Wortes \u201eGeschmack\u201c gelegen ist, zur Bezeichnung der ideellen psychischen Empfindung und gleichzeitig f\u00fcr die tats\u00e4chliche, eigentliche sinnliche Geschmacksempfindung, hat MifsVerst\u00e4ndnisse, selbst in der Wissenschaft, veranlafst. Denn sogar in den Spezialwerken der Physiologie 1 findet sich bei den Ausf\u00fchrungen \u00fcber den Geschmackssinn der Satz \u201eDe gustibus non est disputandum\u201c. Allein dieser Satz hat ebensowenig G\u00fcltigkeit wie der, der etwa behaupten wollte: \u201eDe coloribus non est disputandum\u201c.\nTrotzdem ich mehrfach auf die irrt\u00fcmliche Auffassung dieses Satzes hingewiesen habe, erh\u00e4lt sich diese immer noch in der Theorie und in der Praxis. Erst neuerdings berufen sich wiederum mehrere der namhaftesten Spezialforscher auf den Satz, \u00fcberdies bei einer Frage, deren Entscheidung zum wesentlichsten Teil in der Geschmacksprobe belegen ist.\nProf. Rosenheim2 dr\u00fcckt sich folgendermafsen aus: \u201eIch will hiei von der Geschmacksfrage ganz absehen \u2014- de gustibus non est disputandum \u2014 und es nicht zu bezweifeln, dafs durch Anpassung jemandem etwas als ertr\u00e4glich oder gar als wohlschmeckend erscheinen kann, was beim ersten Genufs eher Ekel\nenegt; Absinth, Wacholder oder andere Schnapsarten sind daf\u00fcr ein Beispiel.\u201c\nJ. Munk, \u201ePhysiologie des Menschen und der S\u00e4ugetiere.\u201c 1899. 5. Aufl., S. 505.\n2 Gutachten, Berlin, 27. 12. 1907.","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n337\nProf. Bickel1 gibt folgendes Urteil in einem mit Anlagen und Gutachten reichlich ausgestatteten Sammelbericht ab :\n\u201eZuntz betont in seinem Gutachten (Anlage 26) mit Recht, dafs das Urteil \u00fcber den Geschmack ein rein subjektives ist, und dafs Dinge, die dem einen Genufs gew\u00e4hren, bei dem anderen ausgesprochenen Widerwillen hervorrufen k\u00f6nnen. Man darf also nicht, wenn einer Anzahl von Menschen der Zichoriengeschmack unangenehm ist, dieses Urteil verallgemeinern und etwa sagen, die Zichorie sei an sich ein ekelhafter Konsumartikel. Denn bei den Genufsmitteln besteht eben der Satz in ganz besonderem Mafse zu Recht: de gustibus non est disputa ndu m.\u201c \u2014 Sapienti sat !\nNun ist aber die Unterscheidung der beiden Begriffe \u201eGeschmack\u201c bei Geschmacksmitteln in Geschmacksfragen noch deshalb von so \u00fcberaus praktischer Wichtigkeit, weil es sich hier um tats\u00e4chliche Gutachten f\u00fcr die Verwendung vor Gericht handelt.\nPawlow selber macht jedenfalls keinen strengen Unterschied, sondern braucht wie Zuntz, Rosenheim, Bickel u. a. m. den n\u00e4mlichen Ausdruck stets f\u00fcr beide Begriffe. So kommt es, dafs er, ebenso wie jene Autoren, nicht nur beide Begriffe gleichzeitig verwendet und gegen\u00fcberstellt, sondern sogar Vergleiche anstellt, was bei diesen inkommensurabelen Begriffen naturgem\u00e4fs Trugschl\u00fcsse veranlassen mufs. So kommt Pawlow aber auch zu einem weiteren Fehler. Er \u00fcbersieht, dafs man unterscheiden mufs zwischen sinnlichem Genufs beim Geschmack und psychischem Genufs beim Geschmack. Genau ebenso wde in anderen Sinnesgebieten mufs man auch beim Geschmack zwischen sinnlichem Genufs und seelischem Genufs unterscheiden, Geschmack im engeren Sinne und Geschmack im weiteren Sinne. Pawlow identifiziert sinnlichen Genufs und psychischen Genufs. Das ist aber unrichtig.\nAuf diese Weise mag auch noch ein anderes Ergebnis zu erweitern sein. Pawlow \u00fcbersch\u00e4tzt die psycho-reflektorischen Erscheinungen und untersch\u00e4tzt die sensuell-reflektorischen. Es kommt jedoch nicht allein der psycho-reflektorische Saft, sondern auch der sensuell-reflektorische Saft in Betracht. Aber \u00fcberdies werden doch auch noch andere sensuell-reflektorische Reflexe\n1 Ob er gut achten von Adolf Bickel, erstattet am 2. 1. 1908 Berlin.","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nWilhelm Sternberg.\nz. B. nach, der motorischen Seite ausgel\u00f6st werden, die m\u00f6glicherweise noch viel wichtiger sind.\nWie die sensuellen Momente des Geschmackes beim Appetit noch eine Vertiefung unserer Erkenntnis zulassen, so d\u00fcrfte m\u00f6glicherweise ein Gleiches bez\u00fcglich der psychischen Momente der Lust zu erwarten sein.\nWas den Begriff der Lust betrifft, so bezeichnet die Lust in dem Worte \u201eEfslust\u201c die psychische Begierde, sinnliche Gier, Begehrlichkeit, den tierischen Trieb, Beiz, die Sucht, Leidenschaft, das Liebesverlangen, \u201efleischliche Lust\u20191, \u201eFleischeslust\u201c, \u201eapp\u00e9tit\u201c charnel, \u201eplaisir\u201c de la chair, \u201eapp\u00e9tit\u201c proprement dit und \u201eapp\u00e9tit v\u00e9n\u00e9rien\u201c, die L\u00fcsternheit, das L\u00fcsternsein, das Gelustigsein, die Gel\u00fcste, die L\u00fcste, die Sinnenlust. Der Lateiner hat daf\u00fcr den Ausdruck \u201ecupiditas\u201c und \u201ecupido\u201c von \u201ecupio\u201c. Er spricht von \u201ecupi-ditas cibi\u201c = Appetit: \u201esi cibi cupiditas est\u201c, \u201esi cibi cupiditas non est\u201c (Cels.), \u201ecibi cupiditatem excitare\u201c (Gels.), \u201equodsi cupiditas cibi reverterit\u201c (Cels.), \u201ecibi cupiditate reddita\u201c (Cels.), ebenso \u201ecupiditas dejectionis, dejiciendi\u201c (Cels.) = Drang zum Stuhlgang, \u201ecupiditas tussiendi (Cels.), Hustenkitzel, \u201ecrebra cupiditas urinae\u201c (Cels.) h\u00e4ufiger Harndrang. Ebenso wird die Bezeichnung \u201ecupido\u201c verwendet. \u201ecupido insatiabilis\u201c, \u201ecupido somni\u201c, \u201ecupido coeundi\u201c = Begattungstrieb, Brunst usf. Daher ist personifiziert \u201eCupido\u201c der Sohn der Venus, der Liebesgott, \u201eCupidines\u201c sind die Liebesg\u00f6tter, Amoretten. In dem gleichen Sinne ist dem Griechen personifiziert \u2018'Eqw\u00e7 der Sohn der Aphrodite, der Liebesgott Amor. Denn egdco = amo, cupio bedeutet leidenschaftliche Neigung haben, sich verlieben; i\u00e7co\u00e7, zog oder f'ooe, ov = amor die Lust, die Wollust,^ebenso zcoazog xal l\u00f6rjtvog sqo\u00e7 Appetit nach Speise und Trank, e\u00a7 eqov ea&ai den Appetit nach etwas vertreiben, sich s\u00e4ttigen an etwas. \u201eIch bin l\u00fcstern nach etwas\u201c, \u201ees l\u00fcstet mich\u201c, bezeichnet der Lateiner mit \u201econcupisco, appeto, appetens sum\u201c. Das Gel\u00fcst, das heftige Verlangen heifst neben appetentia und appetitus geradezu \u201elibido\u201c. \u201eIch habe Lust, es beliebt mir zu tun heifst \u201emihi libet\u201c, \u201ees beherrscht mich das heftige Verlangen\u201c, \u201ees gel\u00fcstet mich nach etwas\u201c, \u201etenet me libido\u201c. Die Bezeichnung \u201elibido\u201c ist keineswegs etwa, wie man aus der Verwendung der Mediziner zum Terminus technicus vermuten k\u00f6nnte, auf den Appetitus coeundi beschr\u00e4nkt, sondern der Lateiner verwendet den Ausdruck f\u00fcr die verschiedensten, freilich dem physiologischen Wesen nach gleichstehenden Empfindungen und","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n339\nVerrichtungen: \u201eLibido urinae lacessit\u201c (Aulii Gellii,1 Noctes Atticae lib. XIX, cap. IV) Harndrang, \u201eubi libido veniet nauseae\u201c (Cato, De re rustica 156, 4) Ekel, Brechneigung, \u201eiuventus magis in decoris armis et militaribus equis quam in scortis atque con-viyiis libidinem habebat\u201c (Sallust, Catil. 7).\u201c\nDiese \u201eLust\u201c, dieses \u201eWollen\u201c ist aber physiologisch und psychologisch im letzten Grunde nicht etwa eine \u201eLust\u201cempfindung, sondern das gerade Gegenteil. Es ist vielmehr eine \u201eUnlust\u201c-empfindung in physiologischer Hinsicht, mehr ein \u201eM\u00fcssen\u201c als ein \u201eWollen\u201c, wie ja schon an und f\u00fcr sich das Begehren keine Lust, sondern eine Unlust bedeutet, die oft noch bitterer empfunden wird, als das Bedauern. Auf anderen Gebieten bezeichnen wir diese \u201eLust\u201c mit \u201eBed\u00fcrfnis\u201c, \u201eNotdurft\u201c. Der Lateiner sagt \u201en\u00e9cessitas\u201c, \u201edas Ben\u00f6tigtsein\u201c, \u201edie Unausweich-lichkeit\u201c, \u201eUnvermeidlichkeit\u201c, \u201eNotwendigkeit\u201c, \u201eUnab\u00e4nderlichkeit\u201c, \u201edas Dr\u00e4ngen\u201c, Zwang\u201c; \u201eurgere\u201c \u201edr\u00e4ngen\u201c, \u201ezwingen\u201c, \u201em\u00fcssen\u201c, \u201ehart zusetzen\u201c, \u201ekeine Ruhe lassen\u201c, \u201enicht l\u00e4nger mehr aushalten, unterdr\u00fccken k\u00f6nnen\u201c, wie z. B. \u201equem morbus urget, aliquem fames\u201c. In diesem Sinne sagt die deutsche Sprache : ich mufs essen, ich mufs lachen, ich mufs harnen, ich mufs Notdurft verrichten usf.\nSo bezeichnet also der Ausdruck \u201eLust\u201c zwei Begriffe, und zwar zwei diametral entgegengetzte. Die Lust bezeichnet einmal die h\u00f6chste Lustempfindung, die Wollust, sodann die Unlustempfindung, die sich sogar bis zum Schmerz steigern kann. Im besonderen ist die Efslust, der Appetit, im letzten Grunde keine Lust empfindung, sondern eine Unlust empfindung.\nEs d\u00fcrfte sich daher f\u00fcr die L\u00f6sung der Probleme \u00fcber den Appetit empfehlen, zuvor einmal Bezeichnung, Begriff und Definition festzustellen und dann erst die physiologische Begr\u00fcndung dieser psychischen Gemeinempfindung experimentell zu beginnen. Dabei d\u00fcrften aber zum Ausgang dieser experimentellen Untersuchungen exakte Reizungen des Geschmackssinnes mit ausgesuchtesten Schmeckstoffen zu w\u00e4hlen sein.\nDie bisherigen Betrachtungen liefern schon jetzt folgendes Ergebnis :\nI. Das Problem vom Appetit d\u00fcrfte ein ganz anderes sein wie\n1 Aristoteles, Problemata Physica: \u201eItem quaerit, cur accidat, ut eum qui propter ignem diutius stetit, libido urinae lacessat.\u201c","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nWilhelm Sternberg.\ndas, das man bisher in der theoretischen Wissenschaft angenommen hat. Das Wesen des Appetits scheint noch ganz andere Deutungen zuzulassen. Auch der Ort, an dem sich die physiologische Bet\u00e4tigung des Appetits abspielt, ist wohl ein ganz anderer. Appetit heifst Lust zur Nahrungsaufnahme. Diese Nahrungsaufnahme findet bei allen Tieren im Gesicht statt, Daher d\u00fcrfte sich die physiologische Funktion der psychischen Gemeinempfindung auch im Gesichtsteil, jedenfalls im ersten Anfangsteil des Verdauungskanals zeigen und nicht erst im Magen.\nBez\u00fcglich der Art des Appetits weist manches auch auf die motorischen Funktionen hin, die ja vielfach unter dem Einflufs der Psyche stehen. Bez\u00fcglich des Ortes weist manches auf den Rachen oder den Mund der Speiser\u00f6hre 1 hin oder den Sphincter superior und Sphincter inferior 2 ventriculi.\nII.\tAm meisten beeinflufst den Appetit der Geschmackssinn und die Schmackhaftigkeit, im positiven und ebenso auch im negativen Sinne.\nIII.\tDurch keinen anderen sinnlichen Genufs ist diese Wirkung des Geschmacks auf die Erregung des Appetits zu ersetzen.\nIV.\tWie der Wohlgeschmack und die Schmackhaftigkeit den Appetit hervorruft, so f\u00fchrt Ungeschmack, Geschmacklosigkeit und Unschmackhaftigkeit oder auch nur Beeintr\u00e4chtigung des Geschmackes jeglicher Art zu Appetitmangel und Appetitlosigkeit,\nSchon Geschmackloses widersteht uns, daher die nat\u00fcrlichen Nahrungsstoffe und Nahrungsmittel, welche f\u00fcr sich geschmacklos sind, vollends die k\u00fcnstlichen N\u00e4hrpr\u00e4parate, wie Klemperer3 hervorhebt, f\u00fcr die Ern\u00e4hrung noch nicht ausreichen. Sie bed\u00fcrfen erst der Zubereitung zu Speisen durch die Kunst in der K\u00fcche, welche die Aufgabe hat, die Schmackhaftigkeit herzustellen.\nV.\tSchon Geschmackloses beeintr\u00e4chtigt den Appetit, noch mehr Schlechtschmeckendes. Schlechtschmeckendes erregt nicht den Appetit, sondern \u201everlegt\u201c ihn und f\u00fchrt zu Appetitlosigkeit, Diese kann sich sogar noch weiter steigern bis zum direkten\n1\tKillian, \u201e\u00dcber den Mund der Speiser\u00f6hre\u201c. Verein Freiburger Arzte. 19. 4. 07. \u201eThe Mouth of the Esophagus.\u201c The Laryngoscope, St. Louis. June 1907.\n2\tRichet, a. a. O. S. 161.\n3\tLeyden, Handb. d. Ern\u00e4hrungstherapie. I. S. 283.","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n341\n\u2022 \u2022\nGegenteil vom Appetit, n\u00e4mlich Widerwillen, Abscheu, \u00dcbelkeit, Ekel, dem Vorstadium des Erbrechens.\nVI.\tSoll der Appetit erregt werden, so gen\u00fcgt auch noch nicht der Wohlgeschmack allein. Man mufs vielmehr, um den Appetit zu erregen und zu erhalten, f\u00fcrs or glichst vermeiden, dafs auch beim h\u00f6chsten Wohlgeschmack und beim besten Appetit das Ekelgef\u00fchl, der h\u00f6chste Grad der Appetitlosigkeit, durch irgend etwas Unappetitliches wachgerufen werde. Appetitlichkeit ist daher eine der wichtigsten Aufgaben der K\u00fcche.\nVII.\tDer Wohlgeschmack ist nicht nur f\u00fcr die Erregung sondern schon f\u00fcr die blofse Erhaltung des Appetits w\u00e4hrend der ganzen Dauer des Essens bis zur S\u00e4ttigung so unbedingt notwendig, dafs er sogar f\u00fcr jeden einzelnen Bissen erforderlich ist. Es geht nicht etwa an, Geschmackloses zu sich zu nehmen auf die blofse Verheifsung hin, dafs sp\u00e4ter daf\u00fcr auch die Lieb-lingsspeise gereicht werde, sondern wir verlangen von jedem einzelnen Bissen, wenn wir ihn mit Appetit herunterschlucken sollen, dafs er dem Geschmack zusagt.\nVIII.\tNun entstehen aber auf dem Sinnesgebiete des Geschmackes auch Beeinflussungen der einzelnen Geschm\u00e4cke mannigfacher Art. Die bekanntesten sind die Geschmackskorrektionen, Erscheinungen, vergleichbar den Interferenzen in der Akustik und Optik. Zwei Geschmackseindr\u00fccke k\u00f6nnen sich in ihrer Wirkung gegenseitig abschw\u00e4chen. Davon macht die Pharmazie bei der Zubereitung der Heilmittel, ebenso in der Veterin\u00e4rmedizin wie in der Humanmedizin, mit der Verwendung der \u201eCorrigentien\u201c seit jeher ausgiebigen Gebrauch. Der Geschmackskorrektion steht die gegenteilige Erscheinung gegen\u00fcber. Gewisse Geschm\u00e4cke \u201evertragen\u201c sich nicht miteinander. W\u00e4hrend jeder f\u00fcr sich einen durchaus angenehmen Eindruck hervorbringt, ist der gemischte ein unangenehmer. Deshalb eignen sich auch nicht alle wohlschmeckenden Mittel zur Geschmackskorrektion. Mancher Schmeckstoff von Wohlgeschmack kann einem \u00fcbelschmeckenden Arzneimittel einen nur noch schlechteren Geschmack verleihen. Manche Bitterstoffe ber\u00fchren nach ihrer Kombination mit S\u00fcls-mitteln den Gaumen nur noch widerw\u00e4rtiger und beleidigen ihn dann nur noch empfindlicher. Deshalb ist eben die Aus\u00fcbung der K\u00fcche eine Kunst, welche es versteht, f\u00fcr die einzelnen Nahrungsmittel zwecks Zubereitung zu Speisen gerade die passenden Gew\u00fcrze auszuw\u00e4hlen, mit welchen sich deren Ge-","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nWilhelm Sternberg.\nschmack \u201evertr\u00e4gt\u201c. Andere bemerkenswerte Erscheinungen sind die Kontrastempfindungen, der Simultankontrast, den Tschermak1 2 auch f\u00fcr den Geschmack nachgewiesen hat u. a. m.\nDa sich nun alle diese Erscheinungen in ausgedehntem Mafse auf dem Gebiete des Geschmackssinnes zeigen, da zudem aber jeder einzelne Bissen f\u00fcr sich den Wohlgeschmack erfordert, so erkl\u00e4rt sich die Tatsache, dafs der Appetit in bester Weise erregt und erhalten wird, selbst bei einem lange ausgedehnten Mahl, wenn der Fachmann der K\u00fcche es nur verstanden hat, eine kunstgerechte Reihenfolge zu w\u00e4hlen, dafs hingegen nicht nur Appetitlosigkeit, sondern sogar der h\u00f6chste Widerwille bei demselben Mahle entstehen w\u00fcrde, wenn man die verschiedenen Speisen zu gleicher Zeit auf einem Teller mit einem Mal vorgesetzt erhielte, ohne dafs der Eigengeschmack einer jeden Speise f\u00fcr sich hervortreten k\u00f6nnte, oder auch schon dann, wenn man auch nur manche Speisen aus der richtigen Reihenfolge heraus in unpassender Kombination zu sich nehmen m\u00fcfste. Albu 2 freilich steht wiederum auf dem entgegengesetzten Standpunkt, wenn er sagt: \u201eDie gleiche Willk\u00fcr in der Auswahl und Zusammenstellung der Nahrungsmittel und der Mahlzeiten sehen wir auch in der Ern\u00e4hrung des einzelnen. Sie spottet oft geradezu aller Grunds\u00e4tze der physiologischen Ern\u00e4hrungslehre. Welcher Widersinn starrt uns z. B. aus jenen im grofsen und ganzen sich stets gleichbleibenden Speisekarten entgegen, wie sie auf den landes\u00fcblichen Fest- und Zweckessen dargeboten zu wTerden pflegen : Der Hummer oder der in Remouladensauce getauchte Lachs am Anfang, das Tr\u00fcffelfilet und der Gefl\u00fcgeloder Wildbraten in der Mitte, Eis und K\u00e4se am Ende! Wer h\u00e4tte je gelehrt, dafs diese Speisenfolge gesundheitsm\u00e4fsig sei?\u201c\nDagegen ist aber hervorzuheben: Einmal haben die \u00fcberall seit altersher eingeb\u00fcrgerten Br\u00e4uche in der Praxis und in der Erfahrung meist doch ihren triftigen Grund sehr wohl. Sodann hat der Forscher, auch wenn es ihm selber nicht gelingen will, diesen Grund ausfindig zu machen und zu erkennen, deshalb doch noch nicht die Berechtigung, ihn einfach zu leugnen oder gar das Gegenteil anzunehmen. Wenigstens der Gang der wahren\n1\t\u201eSimultankontrast auf verschiedenen Sinnesgebieten.\u201c Pfl\u00fcgers Archiv 122. 1908.\n2\tAlbu, \u201eEinige Fragen der Krankenern\u00e4hrung.\u201c Berliner Klinik. 1898. Heft 115, S. 3.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Geschmack und Appetit.\n343\nWissenschaftlichkeit erfordert dies. Die theoretische Wissenschaft hat auf diesem Gebiete vielfach erst die Begr\u00fcndung f\u00fcr die Kenntnisse einzuholen, welche die Erfahrung l\u00e4ngst mit sich gebracht hat. Deshalb bietet die Beachtung der Kochkunst seitens der Heilkunst der Wissenschaft viele Anregungen und Befruchtungen. Jedenfalls f\u00fchrt sie zur Einsicht von der Unhaltbarkeit der vorgefassten Ansicht von Albu. Der Grund vollends f\u00fcr die Richtigkeit vom Gegenteil ist der eben von mir angef\u00fchrte.\nIX. Fragt man aber nun wieder weiter, w^as denn im letzten Grunde das eigentliche Wesen der Beeinflussung des Appetits durch den Geschmack sein mag, so kommt man zu folgendem Ergebnis.\nOhne Wohlgeschmack ist der Appetit nicht wach zu halten, jeder einzehie Bissen erheischt schon f\u00fcr sich den Wohlgeschmack. Das Geschmackvolle, die \u201eZukost\u201c, die \u201eZuspeise\u201c, die \u201eBeilage\u201c, der \u201eBelag\u201c, das \u201eZubrot\u201c erm\u00f6glicht es \u00fcberhaupt erst, dafs wir mit jedem Bissen auch etwas Geschmackloses, also den geschmacklosen Nahrungsstoft, gewissermafsen das Konstituens, z. B. die Kartoffel, das Brot, mit Appetit zu uns nehmen und herunterschlucken, also auch dasjenige, was wir ohne den schmackhaften Belag nicht herunterschlucken, nicht einmal \u201eherunterw\u00fcrgen\u201c k\u00f6nnten. Es verh\u00e4lt sich also der Geschmack zum Appetit gegen\u00fcber dem Geschmacklosen wie der Billettkontrolleur gegen\u00fcber einer Person mit Billett, welches aber gestattet, zugleich eine Person, etw^a ein Kind, ohne Billett frei mit hindurchschl\u00fcpfen zu lassen. Der Geschmack ist also gewissermafsen der Schl\u00fcssel zum Schlofs, der Begleitbrief, die Legitimation, das Billett. Die Schmackhaftigkeit ist der W\u00e4chter, welcher \u00fcber der Rachenenge, dem Eingang zur Verdauung, wacht, den Engpafs kontrolliert, nur das hindurchl\u00e4fst, was ihm zusagt, und das Nichtzusagende abweist, Der Geschmack ist der Billettkontrolleur, der nur dasjenige durch die Enge hindurchl\u00e4fst, was sich legitimieren kann, w\u00e4hrend er alles andere nicht durchl\u00e4fst, abw^eist oder gar hinaus weist.\nSomit ist die Herstellung der Schmackhaftigkeit f\u00fcr die geschmacklosen Nahrungsmittel durch die K\u00fcche zwecks Erregung des Appetits und die dadurch \u00fcberhaupt erst geschaffene Erm\u00f6glichung der Aufnahme in den Verdauungskanal, dem Kunstgriff zu vergleichen, mittels dessen man ein Schlundrohr bei einem wider-","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nWilhelm Sternberg.\nwilligen Kranken nur dann in den Verdauungskanal einbringen kann, wenn man durch gleichzeitiges Schlucken von Fl\u00fcssigkeiten die Er\u00f6ffnung in den Oesophagus erm\u00f6glicht, um dann so, da doch nun einmal T\u00fcr und Tor ge\u00f6ffnet ist, auch dem Instrument Eintritt zu verschaffen, das mit Widerwillen, ja beim besten Willen nicht eintreten konnte.\nIst das richtig, dann ergibt sich daraus eine prinzipielle Forderung. Dann m\u00fcssen n\u00e4mlich mehr noch als die \u201eExakten\u201c mit ihren Laboratoriumsversuchen und mehr noch als die theoretischen Forscher mit ihrer experimentellen Pathologie wir prak-\n\u2022 \u2022\ntischen Arzte mit der \u00e4rztlichen Erfahrung in der medizinischen Pathologie und mit der klinischen Beobachtung zur L\u00f6sung der psychologisch bedeutsamen Probleme beitragen k\u00f6nnen. Und von ihnen ist wohl nicht das letzte, f\u00fcr Theorie und Praxis gleicher-mafsen, das Problem vom Geschmack und Appetit.\n(Eingegangen am 31. Juli 1908.)","page":344}],"identifier":"lit33537","issued":"1909","language":"de","pages":"315-344","startpages":"315","title":"Geschmack und Appetit","type":"Journal Article","volume":"43"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:13:23.223784+00:00"}