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{"created":"2022-01-31T16:47:35.040857+00:00","id":"lit33559","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Sternberg, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 44: 254-268","fulltext":[{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nV\nV>\nPhysiologische Psychologie des Appetits.\nVon\nDr. Wilhelm Sternberg, Berlin.\nDie Tatsache, dafs der Appetit die Sekretion des Speichel-und auch des Magensaftes erregt, und die Appetitlosigkeit die Absonderung hemmt, ist bereits geraume Zeit bekannt. Soweit die Dr\u00fcsent\u00e4tigkeit innerhalb der Mundh\u00f6hle vor sich geht, ist die sekretionsf\u00f6rdernde Wirkung des Appetits und der sekretionshemmende Einflufs der Appetitlosigkeit sogar schon dem Laien eine l\u00e4ngst gel\u00e4ufige Erfahrungstatsache. Erh\u00e4lt sich doch deren Erkenntnis selbst im Volksmund und gibt sich sogar im Sprachgebrauch f\u00fcr die \u00fcbertragene Bedeutung im Bilde kund. Wie die deutsche Sprache auch im fig\u00fcrlichen Sinne sagt: \u201eder Mund w\u00e4ssert mir danach\u201c, \u201ejemandem den Mund nach etwas w\u00e4sserig machen\u201c, \u201ejemandem die Zunge herausziehen\u201c, so benutzt auch die englische Sprache dasselbe Bild: \u201eto make one\u2019s teeth or mouth water\u201c, \u201eto make one\u2019s mouth water\u201c und gleichfalls die franz\u00f6sische Sprache: \u201el\u2019eau m\u2019en vient \u00e0 la bouche\u201c u. a, m. Auch f\u00fcr die H\u00f6hle des Magens hatte man die aktive Einwirkung des Appetits und den gegenteiligen Einflufs der Appetitlosigkeit auf die sekretorischen Elemente bereits im vorigen Jahrhundert mehrfach objektiv festgestellt, wenn auch blofs gelegentlich und mehr beil\u00e4ufig darauf hingewiesen wurde. Pawlows Verdienst ist es, das Problem vom Wesen des Appetits und der Appetitlosigkeit f\u00fcr den modernen Standpunkt er\u00f6rtert zu haben. Denn einmal hat er Appetit und Saftsekretion zu identifizieren gesucht,1 w\u00e4hrend die fr\u00fcheren Forscher, welche das Ph\u00e4nomen auch schon beobachtet hatten, wie Schief, Herzen, Bidder und Schmidt, Beaumont, Voit u. a. m., doch nicht wie die PAWLOwsche Schule die Schlufsfolgerung aus der Beobachtung gezogen haben, dafs\n1 Pawlow, \u201eDie Arbeit der Verdauungsdr\u00fcsen\u201c 1898 Wiesbaden S. 99.","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Psychologie des Appetits.\n255\nAppetit Saft sei. Sodann hat der russische Physiologe auch die exakteste Methode in der genialsten und vollkommensten Anordnung des Experimentes zur Erforschung der Frage in Anwendung gebracht. Freilich d\u00fcrften sich dabei doch schon die grunds\u00e4tzlichen Fragen aufdr\u00e4ngen: Kann denn eine Wahrheit noch wahrer als wahr sein? Vermag denn \u00fcberhaupt die Eleganz der vom exakten Forscher angewandten Methodik den Wert der Beweisf\u00fchrung f\u00fcr die Wissenschaft so erheblich zu erh\u00f6hen? Tr\u00e4gt denn selbst in der exaktesten aller Wissenschaften, in der Mathematik, die Eleganz, die man hier doch ebenfalls gern mit der L\u00f6sung der Aufgaben verbindet, irgend etwas Wesentliches zur Hebung der Richtigkeit und Wahrhaftigkeit der gefundenen L\u00f6sungen bei?\nIst all dies auch gewifs nicht anzunehmen, so bleibt es doch das Ziel der exakten Wissenschaften, die Probleme mit allen Mitteln der exakten Forschung auf mathematische Formeln rechnerisch zur\u00fcckzu f\u00fchren. Zahlen beweisen. Um so mehr ist man dann aber andererseits berechtigt, die Probe aufs Exempel zu machen, n\u00e4mlich nachzurechnen, ob auch wirklich alle Momente in Rechnung gezogen sind. Hier fragt es sich, ob die PAWLOwsche Theorie auch jeder ^Anforderung in der Praxis standh\u00e4lt. Ist die PAwnowsche Hypothese vom Appetit f\u00fcr die Forderungen der Praxis, n\u00e4mlich die der Therapie, der Klinik und der erkenntnistheoretischen Prinzipien, ausreichend und ersch\u00f6pfend ? Oder sollte dies etwa doch nicht zutreffen ?\nFolgende Fragen harren jedenfalls der Beantwortung:\n1.\tWenn man wirklich experimentell Saft durch den Appetit k\u00fcnstlich erregen kann, kann man auch im umgekehrten Sinne den Appetit durch Saft k\u00fcnstlich anregen?\n2.\tIst die Saftsekretion wirklich nur beschr\u00e4nkt auf die Reize des Appetits? Findet sie sich nicht vielleicht auch bei ganz anderen Veranlassungen, m\u00f6glicherweise gar bei psychischen Empfindungen, welche dem Appetit diametral entgegengesetzt sind?\n3.\tZeigen sich andererseits bei der psychischen Empfindung des Appetits gar keine anderen physiologischen Reiz Wirkungen wie blofs Saftsekretionen?\nIst bei Appetitlosigkeit hinwiederum nichts weiter nachweisbar wie blofs die Hemmung der Sekretion?\n4.\tEntsprechen \u00fcberhaupt die Beobachtungen am Tier-","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nWilhelm Sternberg.\nJ\nexperiment g\u00e4nzlich den klinischen Erfahrungen am Menschen bei Appetit und Appetitlosigkeit?\n5. Ist vollends die psychische Empfindung des Appetits g\u00e4nzlich identisch mit der physiologischen Funktion der Saftsekretion ?\nIst die psychische Empfindung der Appetitlosigkeit v\u00f6llig identisch mit der physiologischen Funktion der Hemmung der Sekretion ?\nWas die erste Frage betrifft:\n1. Wenn man wirklich experimentell Saft durch den Appetit k\u00fcnstlich erregen kann, kann man auch im umgekehrten Sinne den Appetit des Menschen durch den Saft k\u00fcnstlich anregen?\nso ist es bekannt, dafs Speichel- und Magensaft nicht imstande sind, Appetit zu erregen. Gelegentlich der Untersuchungen1 \u00fcber die Frage, ob der Geschmack des Speichels im Falle von subjektiver S\u00fcfsempfindung bei Frau M. A. auch objektiv s\u00fcfs sei, hatte ich mich davon \u00fcberzeugt, dafs wieder Speichel- noch Magensaft irgendwie den Appetit hervorzurufen verm\u00f6gen. W\u00e4re wirklich Appetit nichts wreiter wie Saft, dann w\u00e4re auch nichts einfacher und bequemer als die Bek\u00e4mpfung der Appetitlosigkeit. Und doch ist tats\u00e4chlich nichts schwieriger f\u00fcr den praktischen Therapeuten, als die Appetitlosigkeit zu beseitigen und einen appetitlosen Kranken zu erhalten. Darin eben und nur darin liegt die ganze Unheilbarkeit der b\u00f6sartigen Krankheiten begr\u00fcndet und die Ohnmacht aller Therapie ihnen gegen\u00fcber z. B. im Fall der Krebsleiden. Denn gel\u00e4nge es, dem schwerkranken Krebsleidenden die Appetitlosigkeit zu benehmen und Appetit zu erregen, dann w\u00e4re der Krebskranke geheilt. Dies tr\u00e4fe freilich noch nicht zu im pathologisch-anatomischen Sinne, wrohl aber in klinischem Sinne. Und darauf ganz allein kommt es doch an, wenigstens f\u00fcr uns Praktiker, Humanmediziner wie Veterin\u00e4r\u00e4rzte. Wer uns daher lehrt, die Appetitlosigkeit erfolgreich zu bek\u00e4mpfen und mit Sicherheit Appetit zu erwecken, der lehrt nichts Geringeres als die Heilbarkeit der Krebskrankheit und aller b\u00f6sartigen Leiden. In klinisch-praktischer Bedeutung ist das Krebsproblem und das Problem vom Appetit im letzten Grunde das n\u00e4mliche.\n1 Zeitschrift f\u00fcr Hin. Medizin 59. \u201eSubjektive Geschmacksempfindungen (Glycogeusia subjectiva, Kakogeusia subjectiva)\u201c.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Psychologie des Appetits.\n257\nW\u00e4re Appetit wirklich nichts weiter wie Saft, dann d\u00fcrfte wohl auch zu erwrarten sein, dafs die moderne, schon so weit vorgeschrittene Organtherapie wahrlich schon gelehrt h\u00e4tte, auf diese Weise den Appetit zu beeinflussen.\nDie Saftsekretion ist aber auch nicht einmal auf die Regungen des Appetits allein beschr\u00e4nkt.\n2. Ist die Saftsekretion wirklich nur beschr\u00e4nkt auf die Reize des Appetits? Findet sie sich nicht vielleicht auch bei ganz anderen Veranlassungen, m\u00f6glicherweise gar bei psychischen Empfindungen, welche dem Appetit diametral entgegengesetzt sind?\nPawlowt hat bei seinen Hunden einen Reflex vom Rektum auf die Magenschleimhaut nicht nach weisen k\u00f6nnen. F\u00fcr den Menschen hingegen hat Umber 1 einen solchen festgestellt, eine Tatsache, die ich bereits als Einwand gegen die Richtigkeit der pAWLOwschen Hypothese benutzt habe.2 C. Michael3 hat zwar durch Magenausheberung bei zehn Magenkranken und drei Gesunden mit der Schlundsonde 1/2 bzw. 1 Stunde nach Verabfolgung von einem rektalen N\u00e4hrklysma keinen reflektorischen Magensaft gewinnen k\u00f6nnen. Allein Umber4 hat endg\u00fcltig und ganz einwandfrei den nochmaligen Beweis an einem Fisteltr\u00e4ger geliefert, dafs ein N\u00e4hrklysma unmittelbar nach der Einverleibung eine wirksame Saftsekretion in die Magenh\u00f6hle ausl\u00f6st. Neuerdings hat auch Levison5 an einer gesunden Frau mit einer Magenfistel festgestellt, dafs durch die \u00fcblichen N\u00e4hrklystiere die Menge des Magensaftes und namentlich der Salzs\u00e4uregehalt gesteigert wird, das Maximum der Sekretion war */2 Stunde nach der Darreichung des Klystiers.\nUm nun aber die Nahrung, die ins Rektum oder in die Blase oder unter die Haut gespritzt ist, in den K\u00f6rper aufzunehmen, dazu bedarf es nicht erst des Appetits. Wird ja der Appetit auch nicht gestillt durch die k\u00fcnstliche Einverleibung von Nahrungsmaterial, vollends dadurch etwa, dafs diese Ein-\n1\tF. Umber, \u201eDie Magensaftsekretionen des (gastrotomierten) Menschen bei Scheinf\u00fctterung und Rektalern\u00e4hrung\u201c. Perl. klin. Wochenschr. 1905 Nr. 3.\n2\t\u201eGeschmack und Appetit\u201c. Zeitschr. f. phys. u. di\u00e4t. Ther. 1907/08.\n3\tC. Michael, Berl. klm. Wochenschr. 1907 Nr. 45.\n4\tF. Umber, \u201eMagensaftsekretion bei Rektalern\u00e4hrung\u201c. Berl. klin. Wochenschr. 1907 Nr. 48.\n5\t\u201eEinflufs von N\u00e4hrklystieren auf die Magensaftsekretion\u201c. Journ. of Americ. Assoc. 1908 Nr. 4.","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nWilhelm Sternberg.\nVerleihung in andere Leibesh\u00f6hlen wie die Mundh\u00f6hle erfolgte. Es w\u00e4re dies geradezu dieselbe Situation hier, wie wenn k\u00fcnstlich die einfache Injektion von Sperma, obendrein in eine andere Leibesh\u00f6hle als die Yaginalh\u00f6hle erfolgte. Es ist dasselbe Verh\u00e4ltnis wie bei der k\u00fcnstlichen Ern\u00e4hrung auch bei der k\u00fcnstlichen Befruchtung. Durch diese k\u00fcnstliche Injektion von Sperma wird auch nicht der Appetitus coeundi gestillt.\nDas n\u00e4mlich, was stets vergessen wird, ist folgende Tat-\n\u2022 \u2022\nsache. Der Appetit beschr\u00e4nkt sich auf eine einzige \u00d6rtlichkeit und auf eine einzige Art der Nahrungsaufnahme, n\u00e4mlich auf die, bei welcher die Nahrung in nat\u00fcrlicher Weise in den Mund und nur in den Mund gelangt. Mundgerecht die Nahrung zu machen, damit sie uns mundet, das ist die Aufgabe der Kochkunst. Daher ist die Erregung des Appetits der erste und vornehmste Zweck der K\u00fcche. Indem man diese scheinbar triviale Wahrheit ganz unbeachtet liefe, verkannte man g\u00e4nzlich den wichtigen Anteil, welcher der K\u00fcche an den allgemeinen Aufgaben der Ern\u00e4hrung des Menschen zukommt. Denn man kam dadurch noch zu weiteren Irrt\u00fcmern, ja zu den verh\u00e4ngnisvollsten Mifsverst\u00e4ndnissen in der ganzen Lehre der Ern\u00e4hrung. Diese sind die irrt\u00fcmliche Auffassung,1 der nat\u00fcrlichen Ern\u00e4hrung, die mittels der Kunst der K\u00fcche erreicht wird, d\u00fcrfe man jede k\u00fcnstliche Ern\u00e4hrung gleichstellen, sowie die seltsame Verkennung des Unterschiedes zwischen den nat\u00fcrlichen N\u00e4hrmitteln und den k\u00fcnstlichen N\u00e4hrpr\u00e4paraten.\nJedenfalls war mit jenen Einwirkungen vom After auf den Magensaft bewiesen, dafs die Magensaftsekretion keinesfalls blofs durch den Appetit hervorgerufen sei.\nDie Saftsekretion ist so wenig identisch mit dem Appetit, dafs sie sich auch in Zust\u00e4nden zeigt, die mit dem Appetit gar nichts gemein haben. Sie ist ferner sogar bei solchen psychischen Empfindungen zu beobachten, die mit dem Gemeingef\u00fchl vom Appetit geradezu im \u00e4ufsersten polaren Gegensatz stehen.\nDie Empfindung n\u00e4mlich, welche sich dem Appetit entgegengesetzt verh\u00e4lt, ist die Ekelempfindung. Diese Voraussetzung ist in demselben Mafse als objektiv richtig anzusehen, wie die\n1 \u201eErn\u00e4hrungslehre u. Ern\u00e4hrungstechnik\u201c Zeitschr. f. physik. u. di\u00e4t. Ther. 1909.","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Psychologie des Appetits.\n259\nGrunds\u00e4tze in der Mathematik apodiktische Gewifsheit haben, und die mathematischen Axiome objektive G\u00fcltigkeit besitzen.\nNun regen aber alle die Mittel, welche Ekelgef\u00fchl hervor-rufen, ebenso die Magensaftsekretion an, wie die antagonistischen Appetitmittel und Geschmacksmittel dies auch tun.\nAlle Brechmittel erzeugen n\u00e4mlich in kleinen Gaben, welche noch nicht hinreichend sind, um Erbrechen hervorzurufen, \u00dcbelkeit und Ekelgef\u00fchl, Nausea (Schiffskrankheit). In dieser Beziehung wirken also kleine Dosen der Emetika und kleine Dosen der bitteren Geschmacksmittel, Amara, Stomachica antagonistisch; jene erzeugen n\u00e4mlich Ekel, diese Appetit. Bei gr\u00f6fseren Dosen jedoch ist die Wirkungsweise beider Gruppen die gleiche. Denn in gr\u00f6fseren Dosen erzeugen auch die Amara Ekelgef\u00fchl, selbst Brechneigung und Erbrechen. Die Nauseosa rufen Vermehrung der Sekretionen hervor, zumal der Speichel- und Schleimabsonderung. Diese bekannte Nebenwirkung der nauseosen Gaben aller Brechmittel wTird sogar therapeutisch ausgenutzt. Zu Heilzwecken werden die Emetika geradezu als Expektorantien bei akuten katarrhalischen Prozessen der Schleimhaut des Larynx, der Trachea, insbesondere bei Bronchialkatarrhen angewendet. Man bezweckt damit, die Entleerung z\u00e4hen Schleims durch Husten und R\u00e4uspern zu erleichtern. Diese expektorierende Wirkung bringt man mit der Vermehrung der Sekretionen in Zusammenhang, welche in dem Stadium der Nausea auftritt und auch die Schleimsekretion in den Luftwegen betrifft.\nAlso auch bei der psychischen Empfindung, die dem Appetit am meisten entgegengesetzt ist, zeigt sich genau derselbe physiologische Vorgang der Saftsekretion des Speichels.\n3. Zeigen sich andererseits bei der psychischen Empfindung des Appetits gar keine anderen physiologischen Reizwirkungen wie blofse Saftsekretionen?\nIst bei Appetitlosigkeit hinwiederum nichts weiter nachweisbar wie blofs die Hemmung der Sekretion?\nEbensowenig, wie die Saftsekretion auf die psychische Empfindung des Appetits beschr\u00e4nkt ist, ebensowenig ist auch im entgegengesetzten Falle die physiologische Reizwirkung des Appetits auf die Saftsekretion beschr\u00e4nkt. Es l\u00e4fst sich weder der Appetit mit der Saftsekretion allein, noch die Appetitlosig-","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nWilhelm Sternberg.\nkeit mit der Hemmung der Saftsekretion allein erkl\u00e4ren, wie ich 1 dies mehrfach nachgewiesen habe.\n4. Entsprechen \u00fcberhaupt die Beobachtungen am Tierexperiment bei Appetit und Appetitlosigkeit g\u00e4nzlich den klinischen Erfahrungen am Menschen?\nDie Laboratoriumsversuche und die Beobachtungen am Tierexperiment entsprechen durchaus nicht den klinischen Erfahrungen.\nZun\u00e4chst mufs die prinzipielle Frage doch einmal aufgeworfen werden, ob denn \u00fcberhaupt die Versuche am Tier allein oder doch vorzugsweise zur L\u00f6sung dieser Probleme \u00fcber das Wesen des Appetits geeignet sind.\nSchon das, was wir \u201eAppetitliehkeiV, und das, wTas wir \u201eUnappetitlichkeit\u201c nennen, Begriffe, die man seltsamerweise noch gar nicht mit in Rechnung gezogen hat, ja noch nicht einmal zu erkl\u00e4ren versucht hat2, das also, wras Appetit erregend, und das, wras Appetit verlegend wirkt, ist etwas, w7as ausschliefs-lich auf den Menschen beschr\u00e4nkt ist und niemals f\u00fcr das Tier irgendwelche besondere Bedeutung erlangt.\nDenn auf die Tiere macht es gar keinen Eindruck, ob ihnen die Nahrung in besonderer Weise vorgesetzt wird oder nicht* Das gegenteilige Verhalten sogar wie beim Menschen ist beim Tier oft zu beobachten. Das Tier verschm\u00e4ht n\u00e4mlich h\u00e4ufig das gereinigte und nach unseren Begriffen appetitlicher zubereitete Futter und zieht dasselbe Futter vor, falls es sich ihm auf andere Weise bietet, die uns unappetitlicher d\u00fcnkt, wenn es ihm gewissermafsen nat\u00fcrlicher erscheint. Das Tier nimmt z. B. oftmals nicht das Futter, das ihm in feinem und sauberem Napf gereicht wird, sondern nur das, was herausgefallen ist und draufsen liegt, oder wenigstens zuerst das, was draufsen liegt, weil ihm das nat\u00fcrlicher vorkommt. Selbst gut gef\u00fctterte und reinlich gehaltene Schofshunde3, deren Pflege die einzige Sorge reicher Familien bildet, sind manchmal ganz unbez\u00e4hmbar, wenn sie einen vollkommen schmutzigen Knochen im gr\u00f6fsten Unrat auf der Strafse finden, und es ist v\u00f6llig unm\u00f6glich, ihnen diesen\n1\t\u201eDer Appetit in der Theorie und in der Praxis.\u201c Ztbl. f. Physiol. 22, 1908, Nr. 11. \u201eDer Appetit in der experimentellen Physiologie u. in der klinischen Pathologie\u201c. Ztbl. f. Physiol. 1909.\n2\t\u201eAppetitlichkeit und Unappetitliehkeit\u201c. M\u00fcnch, med. Wochen sehr. 1908 Nr. 23.\n3\t\u201eKochkunst und \u00e4rztliche Kunst\u201c 1907. F. Enke S. 95.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Psychologie des Appetits.\n261\nwieder zu entreifsen. Gibt man G\u00e4nsen sauberen Hafer, so fressen sie ihn oftmals nicht, aber denselben Hafer suchen sie sich mit Gier schmutzig aus dem gr\u00f6fsten Unrat heraus. Es reizt sie diese Art offenbar mehr. Dieses Verhalten des Tieres ist dem unserigen etwa zu vergleichen, wenn wir Grofsst\u00e4dter mehr Appetit auf das Obst haben, das am Baum h\u00e4ngt, als auf die Fr\u00fcchte in der Fruchtschale, wenn wir also vom Obstbaum das unsaubere Obst gern oder lieber wenigstens und mit mehr Appetit verzehren als das gereinigte, auf dem Teller gereichte. Es ist offenbar jene Art f\u00fcr die Tiere nat\u00fcrlicher. Der Erwerb steht den Tieren n\u00e4her. Also das gerade Gegenteil von dem, was war Appetitlichkeit nennen, \u00fcbt auf das Tier den Reiz aus zur Erregung seines Appetites.\nNoch mehr zeigt sich der Unterschied in der Wirkung der Appetitlichkeit und Unappetitlichkeit beim Menschen und beim Tiere, wenn man die Wirkungen von dem h\u00f6chsten Grad der Unappetitlichkeit, n\u00e4mlich von der Ekelhaftigkeit, einmal vergleicht.\nDen Menschen erscheinen alle Sekrete nicht nur unappetitlich , sondern sogar ekelhaft. \u201eAlle Exkretionsverrichtungen,\u201c sagt der witzige Hyrtl x, \u201evom l\u00e4cherlichen und anst\u00f6fsigen Niesen und Spucken bis zur Stuhlentleerung, haben etwas H\u00e4fsliches, ja Ekelerregendes an sich. Aufser Kranken und \u00c4rzten spricht deshalb, trotz ihrer Unentbehrlichkeit, niemand von ihnen. Der wohltuende Eindruck, welchen der Anblick einer vollendet sch\u00f6nen Menschengestalt in uns hervorzurufen pflegt, verliert sich augenblicklich, wenn man ihn mit einer Exkretion in Verbindung bringt. Man denke an Apoli auf dein Leibstuhl, an eine sich in die Finger schneuzende Juno, an Zeus Olympius mit dem Spucknapf statt dem Donnerkeile, an einen schwitzenden Vulkan, an Herkules im Pissoir besch\u00e4ftigt, an einen mit hartem Stuhlgang ringenden Achilles, an einen schlafenden Endymion, cum profluvio seminis nocturno, an eine von Bl\u00e4hungen heim gesuchte Pallas Athene, an die jungfr\u00e4uliche K\u00f6nigin der Nacht im Wochenbette, mit str\u00f6menden Lochien, an Venus Anadyoinene mit men-struentrieienden Schamteilen, usw. \u00c4sthetischer w\u00e4re es gewesen, wenn die Funktionen von dem Ebenbilde Gottes h\u00e4tten weg-bleiben k\u00f6nnen. Aber es geschah, was geschehen mufste, und\n\n1 Hyrtl\nLehrbuch der Anatomie des Menschen\u201c 1885 Wien, 8. 265.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nWilhelm Sternberg.\nso ist nicht weiter \u00fcber sie zu klagen, und Gott zu danken, wenn sie regelm\u00e4fsig vonstatten gehen.\u201c\nSelbst die Sekrete des eigenen K\u00f6rpers wirken auf jeden Ekel erregend, zumal aber dann, wenn wir sie mit dem Munde auch nur ber\u00fchren, geschweige denn in die Mundh\u00f6hle hineinnehmen und \u00fcber die Lippen bringen sollten. Vollends dann ist dies der Fall, wTenn sie unserer Nahrung zugef\u00fcgt w\u00fcrden, wenigstens dann, wenn dies gesehen oder berichtet wird. Und diese Wirkung tritt auch noch ein, \u2014 h\u00f6chst merkw\u00fcrdig ! \u2014 selbst wenn erst nachtr\u00e4glich die Ekelhaftigkeit bekannt gegeben wird. Bereits Shakespeare 1 zieht diese Beobachtung zum Vergleich heran. Mit Recht ahndet darum schon die juristische Praxis 1 2 derartige Vergehen, durch welche erst hinterdrein, auf nachtr\u00e4gliche Berichte hin, Ekel erregt werden k\u00f6nnte.\nSolcherlei Einwirkungen der Ekelhaftigkeit fehlen natur-gem\u00e4fs beim Tier v\u00f6llig.\nEs l\u00e4fst sich diese Beobachtung noch weiter verfolgen. Das, was von allen Sekreten und Exkreten beim Menschen am meisten Ekel erregt, das sind die Faces. Hieran \u00e4ndert die Tatsache nichts, dafs ja Schnepfendreck, Vogelnester, Schnepfenpasteten, in welchen die Eingeweide mit ihrem Inhalt hineingehackt sein sollen, die \u201eMaccaroni piatti\u201c, die \u201evers blancs\u201c, welche die Riemenw\u00fcrmer aus der Leibesh\u00f6hle von Fischen angeblich enthalten, die Suppen aus Muscheln, Seespinnen und anderen \u201eFrutti di Mare\u201c usf. sogar f\u00fcr moderne Gourmets anerkannte Delikatessen bedeuten.\nBeim Tier ist nicht einmal dieser Abscheu vor den F\u00e4ces,\n1\t(The winter\u2019s tale\u201c, Akt II, Scene 1.)\n\u201eThere may be in the cup A spider steep\u2019d, and one may drink, depart,\nAnd yet partake no venom ; for his knowledge\nIs not infected; but of one present Th\u2019 abhorr\u2019d ingredient to his eye, make known\nHow he hath drunk, he cracks his gorge, his sides,\nWith violent hefts.\u201c\n2\t\u201eAppetitliehkeit u. Unappetitlichkeit in der Hygiene u. in der K\u00fcche\u201c. Zeitsehr. f. jphys\u00efk. u. di\u00e4tet. Ther. 1909.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Psychologie des Appetits.\n263\nauch nicht in ann\u00e4hernd \u00e4hnlichem Mafse zu beobachten. Beim Tier ist ja die Appetitlosigkeit \u00fcberhaupt nicht so leicht wie beim Menschen bis zum Ekel und zur Brechneigung steigerungsf\u00e4hig.\nFreilich vermeiden auch viele Tiere, selbst im Hunger, ihren eigenen Kot zu verzehren. Die meisten Tiere verabscheuen sogar ihren eigenen Kot dermafsen, dafs sie selbst im Hunger sich weigern, das verunreinigte Futter oder auch blois die in der N\u00e4he der Verunreinigung befindliche Nahrung zu fressen. Die Nachtigall und die meisten Weichfresser vermeiden selbst das Futter, das sich in der Umgebung der Verunreinigung befindet. Das ist besonders noch deshalb bemerkenswert; weil hierbei die Mitwirkung des Geruchs ausgeschlossen ist, in doppeltem Sinne sogar. Denn weder riecht der Kot der V\u00f6gel, noch auch riecht der Vogel selbst, Das Geruchsverm\u00f6gen der V\u00f6gel ist gar nicht fein ausgebildet. Trotzdem verschm\u00e4hen sie aber die Verunreinigung. Mit der Ern\u00e4hrung von Nachtschwalben hat man daher oft grofse Not in dieser Beziehung, da sie in sehr weitem Umkreise die Stelle des verunreinigten Futters vorsichtig umgehen. Dabei ist es nat\u00fcrlich nicht etwa die Intelligenz, welche die Tiere hierbei leitet. Denn so intelligent ist kein Tier, dafs es im Freien lebend, mit Bewufstsein die Dejektion freiwillig zu vermeiden sucht. Auch K\u00fche scheinen in dieser Beziehung besonders empfindlich zu sein. Merkw\u00fcrdig ist das \\ erhalten von gefangenen Drosseln. Diese fressen sogar mit \\ orliebe ihren eigenen Kot, aber nur bei ganz bestimmter Nahrung. Wenn n\u00e4mlich das Futter aus Mohrr\u00fcben, Semmeln, Weichfutter usw. besteht, dann verschlingen sie den Kot mit Appetit. Form und Konsistenz der Nahrung ist dann im Kot nur wenig ver\u00e4ndert. Aber bei Fleisch-, W\u00fcrmernahrung, bei der der Kot fast nur aus\nHarns\u00e4ure besteht, verschm\u00e4hen sie ihn.\nDagegen fressen Karpfen niemals, auch wenn sie lange Zeit, selbst wochenlang gehungert haben, Kot von ihresgleichen. Sogar der Kot gef\u00fctterter Tiere wurde, wie Knauthe 1 berichtet, sofort, wenn er vom Fisch \u00fcberhaupt in den Mund genommen wurde, wieder ausgestofsen. Ohnehin scheint der Geschmack dieser \u201eSchweine unter den Fischen\u201c h\u00f6her ausgebildet zu sein,\n1 Knauthe, Fischerei-Ztg. Nr. 17 u. 18 Bd. 1. \u201e\u00dcber die \\erdauung\nbeim Karpfen.\u201c\nZeitsehr. f. Sirmespliysiol. 44.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nWilhelm Sternberg.\nals man im allgemeinen anzunehmen geneigt ist. Es spricht daf\u00fcr auch der Umstand, dafs man die Tiere durch Vers\u00fcfsen ihrer Nahrung mittels Melasse, Zucker, Syrup oder Dulcin zu erh\u00f6hter Nahrungsaufnahme geradezu anregen kann.\nSchleie hingegen fressen den Kot der gef\u00fctterten Karpfen mit Vorliebe.\nIn zoologischen G\u00e4rten kann man auch beobachten, dafs einige Tiere ihren eigenen Kot mit Appetit fressen, z. B. Esel, Nilpferd, Straufs, selbst Pferde, wenn sie mit dem Futter zu knapp gehalten werden. Dieses Verhalten d\u00fcrfte jedoch hlofs als eine Gefangenschaftserscheinung anzusehen sein. Allein auch bei manchen in der Freiheit lebenden Tieren kommt in gesunden Tagen zeitweise das Kotfressen vor. Von den V\u00f6geln fressen mitunter die Alten den Kot der Jungen mit Appetit und selbst mit Begierde. Die Jungen fressen n\u00e4mlich aufserordentlich viel quantitativ und nutzen dabei qualitativ die Nahrung nicht vollkommen aus. Dieses Wiederkauen ist demnach in teleologischem Sinne ebensosehr verst\u00e4ndlich wie verst\u00e4ndig. Andererseits gibt es unter den frei lebenden V\u00f6geln auch viele, bei denen die Jungen den Kot der Alten mit Appetit verzehren. Im allgemeinen freilich ist das Kotfressen, abgesehen von den F\u00e4llen, in denen es als Krankheits- oder Gefangenschaftserscheinung anzusehen ist, doch nicht eben h\u00e4ufig.\nAuch abgesehen von dieser Seltenheit ist jedenfalls die Un-appetitlichkeit und die Ekelhaftigkeit beim Tier durchaus nicht mit den Einwirkungen beim Menschen zu vergleichen. Dio psychische Reflexerregbarkeit ist beim Menschen nach dieser Richtung naturgem\u00e4fs in hohem Mafse gesteigert.\nEs ist also der gesamten Methodik gegen\u00fcber, allein mit Tierexperimenten und Laboratoriums versuchen dem Problem des Appetits beizukommen, die Erkenntnis entgegenzuhalten : Ist auch naturgem\u00e4fs allen Tieren der Appetit und die Appetitlosigkeit eigen, so ist doch Appetitlichkeit und Unappetitlichkeit etwas, was den Tieren abgeht. Ebenso ist auch die folgende Tatsache nicht aus dem Gesichtskreis zu verlieren: Wenngleich manchen Tieren das Erbrechen und sicher der Ekel nicht abgeht, so gibt es doch f\u00fcr die meisten selbst h\u00f6chststehenden Tiere, vielleicht gar f\u00fcr alle, keine Ekelhaftigkeit, also nicht den h\u00f6chsten Grad der Unappetitlichkeit.\nEin weiterer tiefgehender Unterschied besteht zwischen","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Psychologie des Appetits.\n265\nMenschen und Tier hinsichtlich der Reinlichkeit, die mit der Appetitlichkeit in nahem Zusammenhang steht, da sie sich auf alles das bezieht, was das Organ der Nahrungsaufnahme betrifft, n\u00e4mlich den Mund und die Zunge. Der Mensch \u00fcbt die gr\u00f6fste und peinlichste Sauberkeit all dem gegen\u00fcber aus, was er \u00fcber die Lippen bringt, selbst den Efsutensilien gegen\u00fcber. Deshalb ist die Nachricht von Papellier 1 bemerkenswert, dafs die Frauen des weitaus reinlichsten Volkes, der Japaner, die geringste Reinlichkeit beim Reinigen der Efsutensilien \u00fcben. Tiere hingegen waschen und reinigen ihre Jungen gleich nach der Geburt mit ihrer Zunge durch Belecken, ebenso wie sie mit ihrer Zunge auch die Exkretionsorgane der Jungen kitzelnd belecken, um sie so an die Entleerung der Exkrete zu mahnen. Der Mensch allein nimmt kein einziges Organ mehr in acht als den Mund. Daher bedeutet die Darbietung des Mundes zum Kufs1 2 den h\u00f6chsten Grad der psychischen Gunsterweisung, ja meist sogar schon den ersten Beweis der sexuellen Hingebung. So kommt es, dafs die gr\u00f6fsten K\u00fcnstler sich gerade dieses Vorwurfs bem\u00e4chtigen, um die Hingabe zur innigsten Liebe zu schildern: Canova, Sinding: \u201eUn homme et une femme\u201c, Auguste Rodin: \u201eLe baiser\u201c, Feed. Lepke : \u201eWiedersehen\u201c, Feed. Lepke: \u201e\u00dcberrascht\u201c, Reinhold Begas, Berlin: \u201eElektrischer Funke\u201c (\u201eEtin celle \u00e9lectrique\u201c), L. Alliot, Scysse, Louis Ouey, Laeche, L\u00e9-v\u00eaque, Rubens, Feitz Klimsch: \u201eDer Kufs\u201c, Ch. Lenoie: \u201eDer erste Kufs\u201c, Joe Fkappa, Josef Limbueg : \u201eDie Reue\u201c, A. Th. Scheeihm\u00fcllee : \u201eGermanenmutter\u201c, Feanz Doeeenbach: \u201eEine Mutter\u201c, Stuck : \u201eDie Sphinx\u201c, C. Bindee : \u201eL\u2019Etreinte\u201c, P. Beaecke : \u201eDie Verzeihung\u201c, A. Aignee: \u201eEros\u201c, R. Aignee: \u201eLiebes-fr\u00fchling\u201c, C. H. Bernewutz, Berlin: \u201eFille avec des Pigeons\u201c, L. B\u00e9eoud, Adeeoni: \u201ePrimo bacio\u201c (Galleria Andreoni, Rom), Jean v. Beees, Paris: \u201eII bacio\u201c, Theodoe Lundbeeg: \u201eWelle und K\u00fcste\u201c, I. H. Fragonaed: \u201eDer Kufs\u201c (Gem\u00e4lde in der Eremitage zu St. Petersburg), E. Schmitz: \u201eUm a Busserl\u201c, Hans Laewin: \u201eK\u00fcssen is ka S\u00fcnd\u201c (Pastell), Rogert Bloch: \u201eL\u2019en-fant\u201c, A. Cresswell, Gaston Gu\u00e9dy, G\u00e9rard, L\u00e9picier, Pegot-\n1\tPapellier, \u201eDie Badegewohnheiten und hygienischen Sitten des japanischen Volkes.\u201c M\u00fcnch, med. Wochenschr. 1909 S. 978.\n2\t\u201eDer Kufs. Eine physiologisch-psychologische Skizze\u201c. Der Zeitgeist 1906. \u2014 \u201eDer Appetit u. die Appetitlosigkeit\u201c. Zeitschr. f. klin. Med. 67. 1909.\n17*","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nWilhelm Sternberg.\nOgier, F. Desportes, F. Deully, Henry Perrault, Maurice Lard, V. de Parades u. a. m. Das Tier hingegen kennt nicht den Kufs, ebensowenig wie es \u00fcber die anderen psychischen Ausdrucks-mittel des Mundes oder selbst der Gesichtsmuskulatur, der Mimik und auch blofs des Lachens verf\u00fcgt. Es entsprechen also die Beobachtungen am Tierexperiment im Laboratorium durchaus nicht den klinischen Erfahrungen des Arztes am kranken Menschen oder den Ermittlungen der Psychologie am gesunden Menschen bei Appetit und Appetitlosigkeit.\nEs fragt sich:\n5. Ist vollends die psychische Empfindung des Appetits g\u00e4nzlich identisch mit der physiologischen Funktion der Saftsekretion ?\nIst die psychische Empfindung der Appetitlosigkeit v\u00f6llig identisch mit der physiologischen Funktion der Hemmung der Sekretion ?\nUnbestreitbar ist der Appetit eine subjektive Empfindung. Diese subjektive Empfindung kann nimmermehr auf der Sekretion von Speichelsaft oder Magensaft oder von beiden S\u00e4ften beruhen. Niemals ist \u00fcberhaupt irgendeine Saftsekretion identisch mit irgendwelcher subjektiven Empfindung. Wenn auch schon psychische Empfindungen die Sekretion von Saft zur Folge haben oder die Exkretion von Saft, dessen Sekretion bereits vordem vor sich gegangen war, so kann sich doch allein aus dieser Sekretion oder Exkretion nimmermehr das psychische subjektive Gemeingef\u00fchl erkl\u00e4ren. Und noch weniger kann sich die zweite subjektive Empfindung der Appetitlosigkeit, die sich ja bis zu einer eigenen selbst\u00e4ndigen subjektiven Empfindung des Ekels steigern kann, durch das Gegenteil erkl\u00e4ren, das Fehlen der Saftsekretion. Denn einmal kann ein Nichts, ein blofses Fehlen einer somatischen physiologischen Erscheinung eine psychologische Empfindung nicht erkl\u00e4ren. Wenigstens kann diese Art der Begr\u00fcndung einer psychologischen Empfindung durch das Fehlen einer physiologischen Funktion nicht als eine exakte wissenschaftliche Erkl\u00e4rung anerkannt werden. Aufserdem kann nicht ein und dasselbe Prinzip zwei verschiedene psychische Empfindungen und noch dazu entgegengesetzter Art erkl\u00e4ren. Es ist nicht zul\u00e4ssig, die eine psychische Empfindung des Appetits auf die physiologische Saftsekretion zur\u00fcckzuf\u00fchren und ebenso eine zweite psychische Empfindung, das Gegenteil der ersten, einfach","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Psychologie des Appetits.\n267\nauf das Ausbleiben der physiologischen Saftsekretion. Die physiologische Erscheinung der Saftsekretion oder Sekretionshemmung ist durchaus nicht identisch mit der subjektiven Empfindung des Appetits und der Appetitlosigkeit.\nDas, was bei diesen \u201eexakten\u201c Tierversuchen stets verkannt wird, das ist die Tatsache, dafs diese bisher \u00fcbliche Art, mit sogenannter \u201emathematischer Exaktheit\u201c durch Versuche am Tier im Laboratorium das Problem der Psychologie vom Wesen des Appetits zu l\u00f6sen, dem Versuch des A B C Sch\u00fctzen in der Mathematik gleichkommt, eine Gleichung mit zwei Unbekannten zur L\u00f6sung zu bringen. So wenig exakt ist tats\u00e4chlich die ganze so ger\u00fchmte \u201eExaktheit\u201c der PAwnowschen Schule hinsichtlich ihrer Studien \u00fcber den Appetit. Denn Appetit bedeutet nichts mehr und nichts weniger als die Lust zur Nahrungsaufnahme. Die Lust zu ergr\u00fcnden, ist ein eigenes psychologisches Problem; und die Nahrungsaufnahme ist ein physiologisches Problem. Wie verschieden ist aber schon die Art und Weise der Nahrungsaufnahme bei den verschiedenen Tieren! Ja, wie verschieden ist die Nahrungsaufnahme schon bei ein und demselben Tier, den verschiedenen Aggregatzust\u00e4nden der Nahrung gegen\u00fcber w\u00e4hrend des ganzen Lebens oder selbst beim Menschen in der ersten Zeit nach der Geburt und im sp\u00e4teren Leben! Schon das Gesch\u00e4ft des Saugens, welches einer ganzen Klasse aus der Tierreihe die wissenschaftliche Bezeichnung der \u201eS\u00e4ugetiere\u201c gegeben hat, ebenso wie auch dem Menschen f\u00fcr das erste Lebensjahr die Bezeichnung \u201eS\u00e4ugling\u201c, ist ein \u00e4ufserst komplizierter Mechanismus, der sich aus den verschiedensten nacheinander ablaufenden T\u00e4tigkeiten von verschiedenen synergistisch zusammenwirkenden Muskelzusammenziehungen und geordneten Reflexen zusammensetzt. Und doch versteht schon die Frucht im Mutterleibe zu saugen! Es ist geradezu wunderbar, wie regelm\u00e4fsig das Muttertier sogleich das Ges\u00e4uge den Jungen darzubieten weifs, und erstaunlich, wie die Jungen sofort nach der Geburt ausnahmslos ihren Appetit zu stillen verstehen, indem sie saugen und gerade an der richtigen Stelle zu saugen wissen. Nun ist aber schon die Art der physiologischen Nahrungsaufnahme schwierig und noch voll von ungel\u00f6sten Fragen. Noch mehr ist dies der Fall bez\u00fcglich des Problems der Psychologie \u00fcber die Lust. Gar so einfach also, wie die PAWLOWsche Schule sich die Aufgabe vorstellt, ist sie tats\u00e4ch-","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nWilhelm Sternberg.\nlieh doch nicht. Es k\u00f6nnen eben Tierexperimente allein diese gleichermafsen schwierigen wie praktisch wichtigen Fragen nicht l\u00f6sen, zumal blofs an der geringen Zahl, einer Handvoll von Haustieren der physiologischen Wissenschaft. Viel eher sind noch Beobachtungen dazu geeignet, die an den denkbar verschiedensten Tieren in den Zoologischen G\u00e4rten ohne jede experimentelle Entstellung und ohne jedes physiologische Instrument unter nat\u00fcrlichen Verh\u00e4ltnissen angestellt werden, worauf ich1 schon mehrfach hingewiesen habe. Aber auch mit diesen Tierstudien wird man niemals zur L\u00f6sung dieser Frage gelangen. Die L\u00f6sung dieser Probleme ist nur dann m\u00f6glich, wenn man sich endlich einmal anschickt, auch der klinischen Beobachtung und der \u00e4rztlichen Erfahrung am Bett des kranken Menschen und der psychologischen Erforschung des gesunden Menschen die ihnen durchaus geb\u00fchrende Stellung einzur\u00e4umen. Jedenfalls d\u00fcrfte nunmehr die Lehre der PAwnowschen Schule \u00fcber den Appetit nicht mehr als feststehend angesehen werden.\n1 \u201eDie Schmackhaftigkeit u. der Appetit\u201c. Zeitschr. f. Sinnesphysiol. 48, 1908. \u2014 \u201eGeschmack u. Appetit\u201c. Ebenda.","page":268}],"identifier":"lit33559","issued":"1910","language":"de","pages":"254-268","startpages":"254","title":"Physiologische Psychologie des Appetits","type":"Journal Article","volume":"44"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:47:35.040862+00:00"}