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{"created":"2022-01-31T14:54:58.233479+00:00","id":"lit33566","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Stilling, J.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 44: 371-427","fulltext":[{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"371\n\u2022 *\nUber Entstellung und Wesen der Anomalien des\nFarbensinnes.\nVon\nProf. J. Stilling in Strafsburg.\n(Mit 1 Farbentafel.)\nWir unterscheiden einfache Farben und zusammengesetzte Farben. An einer und derselben Stelle des Raumes kann ein \u00e4ufserer Gegenstand zwei verschiedene Farben zu gleicher Zeit der Wahrnehmung darbieten, ganz \u00e4hnlich wie wir zwei verschiedene T\u00f6ne zugleich zu vernehmen imstande sind. Bis ins einzelne l\u00e4fst sich diese Parallele aber nicht weiter durchf\u00fchren, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Form der Farbe der Raum und die des Tones die Zeit ist. Das sogenannte Farbenklavier war eben deshalb ein entschiedener Mifsgriff, besonders weil wir nur zwei Farben, aber sehr viel mehr T\u00f6ne zugleich wahrzunehmen imstande sind.\nDie Mannigfaltigkeit der Farben selbst ist keine sehr grofse, nur durch die Kombination mit Schwarz, Weifs und Grau, also durch die Verschiedenheit der Lichtst\u00e4rke und der S\u00e4ttigung bekommt ihre Variabilit\u00e4t ein grofses Feld. Die Zahl der eigentlichen Arten der Farbenwahrnehmung l\u00e4fst sich hingegen mit Leichtigkeit auf vier einfache zur\u00fcckf\u00fchren, n\u00e4mlich Rot, Gr\u00fcn, Blau, Gelb. Auf diese vier f\u00fchrt unmittelbar die psychische Analyse, welche naturgem\u00e4fs mit der k\u00fcnstlerisch intuitiven \u00fcbereinstimmt. Seit Leonardo da Vinci bis heute bezeichnen daher die Maler diese vier Farben als Grundfarben.\nDer Psychologe mufs sich darauf beschr\u00e4nken, seine Wahrnehmungen unmittelbar zu analysieren, ohne sie erkl\u00e4ren zu wollen, er will nur das Gesetz feststellen, nach welchem seine Wahrnehmungen untereinander Zusammenh\u00e4ngen. Er versteht\nZeitschr. f. Sinuesphysiol. 44.\t24","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nJ. Stilling.\ndaher unter Grundfarben diejenigen Arten der Farbenwahrnehmung, welche psychisch auf keine anderen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, deren Kombinationen mithin die Mannigfaltigkeit der farbigen Gegenst\u00e4nde, welche er als seine Erscheinungen betrachtet, m\u00f6glich macht. Diese Wahrnehmungsarten sind ihm ein Teil seines anschaulichen Erkenntnisverm\u00f6gens, daher in ihrem Wesen unerkl\u00e4rlich, nach dem philosophischen Fachausdruck \u201etranszendent\u201c.\nAnders dagegen der Physiologe, der es f\u00fcr die Aufgabe seiner Wissenschaft h\u00e4lt, unsere Wahrnehmungsarten durch nerv\u00f6se Energien, durch sogenannte psychophysische Prozesse in Sinnesorgan und Gehirn zu erkl\u00e4ren. Er nimmt die Art unserer Anschauung und Wahrnehmung nicht als psychische Tatsache einfach hin, er will nicht einfach die zusammengesetzte Wahrnehmung reduzieren auf die Grundarten, sondern er will sie insgesamt auf die geringste m\u00f6gliche Zahl der nerv\u00f6sen Energien zur\u00fcckf\u00fchren und sie auf diesem Wege auch erkl\u00e4ren. Dies war schon die Denkungsweise von Thomas Young und sie ist in unseren Tagen die von Helmholtz und seinen Anh\u00e4ngern.\nDer Physiologe stellt sich die schwierigere Aufgabe. Denn er stellt sich zwei Aufgaben statt einer einzigen. Er mufs in jedem Falle dieselbe Aufgabe l\u00f6sen wie der Psychologe, er mufs seine Wahrnehmungsarten studieren ehe er an ihre Erkl\u00e4rung geht, an die L\u00f6sung der zweiten Aufgabe, wobei der Psychologe ihm nicht mehr folgt, Die psychologische Analyse mufs auch f\u00fcr den Physiologen das Erste sein, weil seine Reduktionsarbeit sonst in keinem Falle einen Sinn haben k\u00f6nnte.\nDie rein psychologische Untersuchung und Zerlegung unserer Farbenwahrnehmungen lehrt dals sich ihre Mannigfaltigkeit auf vier Wahrnehmungsarten reduziert, denen die vier Grundfarben Leonardo da Vincis entsprechen. Durch ihre Mischung, nicht in materiellem Sinne, sondern in dem der kombinatorischen T\u00e4tigkeit zweier Arten der Wahrnehmung entstehen die \u00fcbrigen Farben. Die Zahl der Mischfarben aber wird sehr beschr\u00e4nkt durch das eigent\u00fcmliche Verh\u00e4ltnis, welches als Antagonismus der Grundfarben in die Erscheinung tritt. Wir machen die merkw\u00fcrdige Erfahrung, dafs zwar Rot und Gr\u00fcn in dem verschiedensten Verh\u00e4ltnis sich mit Gelb und Blau mischen l\u00e4fst> aber niemals Rot mit Gr\u00fcn und ebensowenig Gelb mit Blau. Ein und derselbe Punkt im Raum kann uns ebensowenig in","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 373\ndiesen beiden Farben zugleich erscheinen, wie wir etwa an ein und derselben Stelle unserer Haut zugleich K\u00e4lte und Hitze empfinden k\u00f6nnen. Dies ist eine psychische Erfahrungstatsache, mit der wir uns zun\u00e4chst ohne jede weitere Erkl\u00e4rung ab finden m\u00fcssen. Unser Wahrnehmungsverm\u00f6gen, m\u00f6gen wir es psychisch oder physiologisch zu begreifen suchen, ist einmal so beschaffen, ohne dafs sich dieses merkw\u00fcrdige Verh\u00e4ltnis irgendwie logisch begr\u00fcnden liefse. Es ist durchaus denkbar, dafs es uns sonst \u00e4hnliche intelligente Wesen gibt, f\u00fcr die jenes Gesetz vom Antagonismus unserer Grundfarben keine G\u00fcltigkeit hat, die somit imstande w\u00e4ren rot und gr\u00fcn oder blau und gelb im verschiedensten Verh\u00e4ltnis gemischt an ein und derselben Stelle des Raumes wahrzunehmen, sowie wir rot mit blau oder gelb, gr\u00fcn mit blau oder gelb.\nDie vier Grundfarben k\u00f6nnen sich in den verschiedensten Verh\u00e4ltnissen mit Weifs, Schwarz und Grau mischen. Es gibt aber keinen guten Sinn auch diese zu den Farben zu rechnen, wie wenn z. B. Hering, er sie als \u201etonfreie\u201c Farben bezeichnen will. Denn diese Arten der Wahrnehmung entsprechen doch nur den verschiedenen Lichtst\u00e4rken, mit denen die Farbenwahr nehmung vergesellschaftet ist. Licht schlechthin ohne jede weitere Beimischung ist eben nichts anderes als Weifs oder Grau, Dunkel dagegen ohne weitere Beimischung in der Wahrnehmung ist schwarz. Grau ist der unmittelbare Gegensatz von Farbe, und als sprachlicher Ausdruck identisch mit farblos.\nLichtwahrnehmung und Farbenwahrnehmung sind nur insofern miteinander vergesellschaftet, als die zweite ohne die erste nicht sein kann. Wohl aber kann die erste sein ohne die zweite. Sie verhalten sich zueinander ganz \u00e4hnlich wie Tastsinn und Temperatursinn, die Analogie ist eine so grofse, dafs Preyer die Farbe die Temperaturempfindung der Retina genannt hat, ja sie geht bis ins einzelne, wie die k\u00fcnstlerische Erfahrung zeigt, die f\u00fcr diesen Vergleich mafsgebend ist. Donders hat die Einteilung in warme und kalte Farben, die von den Malern herr\u00fchrt, in die Wissenschaft her\u00fcbergenommen, mit vollkommenem Recht. Die K\u00fcnstler bezeichnen Rot und Gelb als die warmen, Gr\u00fcn und Blau als die kalten Farben, und zwar entspricht das Gelb genau dem Heifs, das Rot dem Warm, das Gr\u00fcn dem K\u00fchl und das Blau dem Kalt.\nWir k\u00f6nnen demnach sagen, dafs ein normales Farbensystem\n24*","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nJ. Stilling.\nans zwei Paar Gegenfarben besteht, die sich in der Wahrnehmung nicht mischen lassen, sondern sich darin aufheben. Ein jedes solches Paar besteht aus einer warmen und einer kalten Farbe. Wir k\u00f6nnen eine warme Farbe mit einer zweiten warmen, oder mit einer kalten mischen, wir k\u00f6nnen auch zwei kalte Farben mischen, aber niemals das warme Rot mit dem kalten Gr\u00fcn oder das warme Gelb mit dem kalten Blau. Genauer ausgedr\u00fcckt ist der analoge Gegensatz zu Pot\u2014Gr\u00fcn: Warm\u2014K\u00fchl, der zu Gelb\u2014Blau: Heifs\u2014Kalt; ebensowenig wie die Farben k\u00f6nnen die entsprechenden Temperaturen als Gegens\u00e4tze zugleich an einer und derselben Stelle des \u00e4ufseren Raumes oder der \u00e4ufseren Haut gleichzeitig in die Wahrnehmung fallen, sondern sie m\u00fcssen sich zu einer neutralen Wahrnehmung zerst\u00f6ren, die keine von beiden ist, was dem Auge grau ist, das ist dem W\u00e4rmesinn lau. Wenn diese Art der Licht- und Farbenwahrnehmung nicht dem gr\u00f6fsten Teil der Menschen gemeinsam w\u00e4re, so w\u00fcrden wir uns niemals \u00fcber unsere Aufsenwelt verst\u00e4ndigen k\u00f6nnen. Gibt es aber Systeme, welche von dem normalen System der Farbenwahrnehmung irgendwie abweichen, so m\u00fcssen diese gleichwohl aus dem normalen irgendwie abzuleiten und zu erkl\u00e4ren sein, widrigenfalls uns die Einsicht in ein solches System auf immer verschlossen bleiben m\u00fcfste.\nEin anomales Farbensystem wird schwerlich ganz anders geartete Farben enthalten k\u00f6nnen, als die, welche im normalen enthalten sind. Eine derartige Annahme ist der allgemeinen Erfahrung zuwider, und g\u00e4be es nachweislich dennoch solche Systeme, so w\u00fcrden wir Normalen uns niemals davon eine anschauliche Vorstellung zu machen verm\u00f6gen. Auch eine zweite logische M\u00f6glichkeit ist zur\u00fcckzuweisen, n\u00e4mlich die, dafs ein anomales System zwar dieselben Farben enthielte wie ein normales, innerhalb desselben aber eine Farbe so erschiene, wie uns Normalen die Gegenfarbe, also etwa das gr\u00fcn w\u00e4re, was f\u00fcr uns rot ist, und vice versa. Auch eine derartige Voraussetzung w\u00fcrde unseren allgemeinen Erfahrungen \u00fcber unsere Empfindungen und die Arten unserer Wahrnehmung in den verschiedenen Sinnesgebieten widersprechen. Solange nicht beobachtet werden kann, dafs es normale Individuen gibt, denen etwa Zucker bitter schmeckt, oder denen ein Durakkord so klingt wie ein Mollakkord, werden wir schwerlich an Ausnahmen von der allgemeinen Erfahrung glauben k\u00f6nnen, dafs die Empfindungs- und Wahr-","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Entstellung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 375\nnehmungsarten aller menschlichen Individuen in ihren wesentlichen Grundbestimmungen gleichartig sind, weil sonst ein gegenseitiges Verst\u00e4ndnis nicht zustande zu bringen w\u00e4re. So k\u00f6nnen wir uns auch nicht denken, dafs das, was f\u00fcr den Normalen eine\nwarme Farbe ist, f\u00fcr den Anomalen eine kalte sein k\u00f6nne.\n\u2022 \u2022\nEs bleibt nach diesen \u00dcberlegungen nur noch eine dritte M\u00f6glichkeit, n\u00e4mlich die, dafs in nicht normalen Systemen der Wahrnehmungsarten eine oder die andere Qualit\u00e4t fehlt, welche das normale System charakterisiert, also die Annahme, dafs ein anomales System ein mangelhaftes sei. Ein solches System w\u00fcrde nat\u00fcrlich ein Normaler vollst\u00e4ndig begreifen und sich auch ohne allzu grofse Schwierigkeiten eine anschauliche Vorstellung davon bilden k\u00f6nnen.\nDafs es Farbensysteme gibt, welche von dem normalen abweichen, und sogar dafs sie recht h\u00e4ufig sind, ist eine l\u00e4ngst bekannte Erfahrungstatsache. Man hat die Individuen, deren F\u00e4rb en Wahrnehmung von der normalen abwich, bis in die neueste Zeit als Farbenblinde bezeichnet, somit die letzte der a priori vorhandenen M\u00f6glichkeiten ohne weiteres als die richtige angenommen. In der neuesten Zeit jedoch, seit den Beobachtungen Lord Rayleighs, neigen manche Autoren auch zu anderen Annahmen, denen \u00e4hnlich, welche aus den oben dargelegten Gr\u00fcnden mindestens als sehr unwahrscheinlich bezeichnet werden m\u00fcssen. Da jedoch eine rein logische Betrachtung f\u00fcr die im Bereich der Untersuchung liegenden Probleme in keiner Weise ausreicht, so handelt es sich in erster Linie zur Erzielung eines exakten wissenschaftlichen Ergebnisses um die Methode der Untersuchung.\nWenn wir \u00fcber die Wahrnehmungen eines anderen etwas erfahren wollen, so kann das nur auf psychologischem Wege geschehen, und die stillschweigende Voraussetzung dabei ist, dafs die Art der Empfindung und der Wahrnehmung sowohl des Unter-suchers wie des Untersuchten im wesentlichen gleichartig sind. Der Untersucher k\u00f6nnte sonst nur zu dem Resultate kommen,, dafs der Untersuchte wesentlich abweichende Vorstellungen von den \u00e4ufseren Objekten h\u00e4tte als er selbst, aber er w\u00fcrde diese nicht begreifen und ihren Zusammenhang nicht gesetzm\u00e4fsig feststellen k\u00f6nnen.\nF\u00fcr das uns besch\u00e4ftigende Problem mufs das Untersuchungsverfahren so gew\u00e4hlt werden, dafs in den Aussagen einer Person mit einem anomalen Farbensystem ihr abstrahierendes Denk-","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nJ. Stilling.\nund Erinnerungsverm\u00f6gen m\u00f6glichst wenig in Anspruch genommen wird, damit das in Worten ausgedr\u00fcckte Urteil \u00fcber die Farbe soviel als irgend m\u00f6glich auf die unmittelbare Anschauung beschr\u00e4nkt ist. Denn Individuen mit anomalen Farbenwahrnehmungen m\u00fcssen sich in ihren Aussagen der sprachlichen Ausdr\u00fccke der Normalsichtigen bedienen, es entspringt daraus das allen Untersuchern bekannte, schon von Goethe beklagte Durcheinanderwerfen der Farbenbenennungen, welches selbst ge\u00fcbte Forscher mitunter noch in eine gewisse Verwirrung setzen kann. Ist der Untersucher selbst farbenblind, und unternimmt er, nicht nur seine eigenen, sondern auch die Wahrnehmungen anderer Farbenblinder oder Farbenschwacher zu analysieren, so wird es ihm sehr schwer fallen nicht in die Irre zu geraten, indem er von Farbenwahrnehmungen, die ihm fehlen, gleichwohl sich Vorstellungen bilden zu k\u00f6nnen glaubt.\nGl\u00fccklicherweise st\u00f6fst der Untersucher nicht im ganzen Umfang seines Forschungsgebiets auf diese Schwierigkeiten. F\u00fcr die anomalen Systeme, welche mit pathologischen Prozessen verkn\u00fcpft sind und diesen ihre Entstehung verdanken, fallen sie zum allergr\u00f6fsten Teil fort. Die Aussagen der Untersuchten sind klar und einfach, da sie wissen, wie die Farben ihnen erschienen, als ihre Augen noch normal w^aren. Nur in seltenen F\u00e4llen bem\u00fchen sich die Kranken die Farben zu erraten, deren normale Qualit\u00e4ten ihnen verloren gegangen sind, so dafs sich eine falsche Nomenklatur bei ihnen entwickelt. Aber auch unter den Personen mit angeborenen Anomalien des Farbensinnes spielen die besprochenen Schwierigkeiten sehr h\u00e4ufig keine grofse Rolle. Man trifft unter ihnen eine nicht unbetr\u00e4chtliche Zahl zuverl\u00e4ssiger, gebildeter und gelehrter Beobachter, die wie Dalton und William Pole gezeigt haben, imstande sind, sich von ihren von der Norm abweichenden Wahrnehmungen genaue Rechenschaft abzulegen, und mit scharfer Selbstkritik alle Farbenbenennungen zu vermeiden wissen, welche Qualit\u00e4ten bezeichnen, die ihnen fehlen oder wenigstens von der Norm ab weichen. Hat man einmal eine gr\u00f6fsere Anzahl solcher zuverl\u00e4ssigen Versuchspersonen genau pr\u00fcfen k\u00f6nnen, so f\u00e4llt es auch nicht schwer, die Aussagen\nweniger ge\u00fcbter Selbstbeobachter zu sichten und mit den sicheren\n\u2022 \u2022\nResultaten in \u00dcbereinstimmung zu bringen, welche die Untersuchung der ersten ergeben hat.\nDie Untersuchung mittels des Simultankontrastes ist diejenige","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 377\nMethode, welche am ehesten vermag, den Untersucher von den Aussagen des auf die Art seiner Farbenwahrnehmungen gepr\u00fcften unabh\u00e4ngig zu machen. Man hat diese Methode in neuerer Zeit viel zu sehr vernachl\u00e4ssigt. F\u00fcr offizielle Massenpr\u00fcfungen ungeeignet, weil die M\u00f6glichkeit des richtigen Ratens eine zu grofse ist, ist sie f\u00fcr rein wissenschaftliche Untersuchungen in erster Linie anzuwenden. Sie erfordert nichts als eine grofse Sorgfalt in der Auswahl der farbigen Gl\u00e4ser und der Regulierung der Beleuchtung, um die farbigen Schatten zu erzeugen.\nIn allen F\u00e4llen, in denen eine Kontrastfarbe \u00fcberhaupt nicht wahrgenommen werden kann, in denen daher die f\u00fcr das normale Auge so deutlich farbigen Schatten nur als Schatten schlechthin erscheinen, ist der Untersucher ganz und gar unabh\u00e4ngig von dem Urteil des Untersuchten \u00fcber die Natur der Farben, denn dieser hat nur anzugeben, ob er eine Farbe wahrnimmt oder nicht. Wir zwingen durch den Kontrastversuch das Auge, seine (sagen wir der K\u00fcrze halber) farbigen Energien in T\u00e4tigkeit zu setzen, und d\u00fcrfen folglich aus dem Fehlen eines Kontrastes auch auf das Fehlen oder mindestens auf die Schw\u00e4che der entsprechenden Energie schliefsen. Auf diese Weise k\u00f6nnen wir das Farbensystem des Auges in allen F\u00e4llen, in denen das fehlen einer oder mehrerer Energien festzustellen ist, unmittelbar bestimmen. Man erh\u00e4lt auf diese Weise einen sicheren Boden, von dem man ausgehen kann, wenn man nunmehr andere Untersuchungsmethoden anschliefst, bei welchen man sich auf das Urteil und die Intelligenz der Untersuchten mehr oder weniger zu verlassen gen\u00f6tigt ist, beim Vergleichen von Pigmenten und Spektralfarben, bei der Aufstellung von Verwechslungsgleichungen.\nKlare und unzweideutige Ergebnisse mittels aller dieser Untersuchungsmethoden liefert das Studium der erworbenen St\u00f6rungen der Farbenwahrnehmung auf dem Gebiete der ophthal-mologischen Pathologie. Wir finden hier sehr viele F\u00e4lle, in denen die anomale Farbenwahrnehmung nur das Zentrum des Sehfeldes betrifft, die unmittelbare Umgebung aber normale Wahrnehmungen vermittelt, hier ist also jeder Irrtum ausgeschlossen, der aus falschen Farbenbenennungen der Untersuchten entstehen k\u00f6nnte. Aber auch in fast allen F\u00e4llen von erworbener Farbensinnst\u00f6rung, die das ganze Sehfeld begreifen, sind die Angaben durchaus klar, unzweideutig und zuverl\u00e4ssig, weil die Kranken zwischen dem, was sie wahrzunehmen f\u00e4hig","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nJ. Stilling.\n*\nwaren, solange ihr Sehverm\u00f6gen normal war, und dem, was ihnen verloren gegangen ist, sehr wohl zu unterscheiden wissen.\nEs ist den Augen\u00e4rzten schon seit einem halben Jahrhundert und l\u00e4nger bekannt, dafs im Verlaufe der progressiven Sehnervenatrophie Farbenblindheit entsteht, die, anfangs partiell, in den sp\u00e4teren Stadien total wird. Die Untersuchung ergibt nun, dafs die partielle Farbenblindheit dieser Kranken konstant sich auf Rot und Gr\u00fcn, niemals aber auf Blau und Gelb erstreckt. Die Kontraste f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn sind erloschen, es kommt niemals vor dafs auf den roten und gr\u00fcnen Schatten \u00fcberhaupt eine F\u00e4rbung bemerkt wird, w\u00e4hrend die blauen und gelben vortrefflich erkannt werden. Das Auge kann somit aus sich heraus nur Gelb und Blau erzeugen.\nIm Spektrum werden nur Gelb und Blau gesehen. Das spektrale Rot erscheint durchweg als Gelb in verschiedenen Nuancen, der verschiedenen Lichtst\u00e4rke entsprechend, Gr\u00fcn erscheint gelb bis zur Thalliumlinie, diese mit eingeschlossen, von da ab erscheint es bl\u00e4ulich, Violett erscheint blau und blaugrau. Die hellen roten und gr\u00fcnen Linien der Metallspektren werden miteinander verwechselt, sie erscheinen in der gleichen Farbe, gelb, und unterscheiden sich von der Natriumlinie h\u00f6chstens in der Lichtst\u00e4rke.\nNeben der Farbenblindheit entwickelt sich im Verlaufe der progressiven Sehnervenatrophie regelm\u00e4fsig die eigentliche Lichtblindheit. Jedoch sinkt die Empfindlichkeit ganz ungleichm\u00e4fsig f\u00fcr die verschiedenen Brechbarkeitsstufen, sie sinkt immer mehr f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn, w\u00e4hrend sie f\u00fcr Blau und Gelb am l\u00e4ngsten erhalten bleibt. Diese Art und Weise der Entwicklung der Lichtblindheit ist durchaus charakteristisch f\u00fcr Sehnervenaffektionen der verschiedensten Entstehung, denn bei allen anderen inneren Augenleiden, welche die Sehsch\u00e4rfe beeintr\u00e4chtigen, wie Chorioiditis, Retinitis, Glaucom, sinkt dieselbe gleichm\u00e4fsig f\u00fcr jedes farbige Licht. Der Grund dieses merkw\u00fcrdigen Verh\u00e4ltnisses, welches f\u00fcr die differentielle Diagnose pathognostisch ist, liegt wohl darin, dafs bei den eben aufgez\u00e4hlten Affektionen nur die Endorgane in der Retina, nicht aber die Fasern des Sehnerven selbst, unmittelbar betroffen werden.\nEs ist also f\u00fcr Sehnervenatrophie, ja f\u00fcr Sehnervenleiden im allgemeinen charakteristisch, dafs die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr eine oder die andere Brechbarkeitsstufe stark sinken kann, w\u00e4hrend sie","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 379\nf\u00fcr die \u00fcbrigen noch relativ gut, ja f\u00fcr die gew\u00f6hnlichen klinischen Sehpr\u00fcfungen noch normal sein kann. Bei der progressiven Atrophie kann nun das Sinken der Lichtempfindlichkeit f\u00fcr bestimmte Brechbarkeitsstufen leicht soweit gehen, dafs eine wirkliche Amaurose f\u00fcr eine oder die andere homogene Lichtart zustande kommt. Damit \u00e4ndert sich das Spektrum, es verk\u00fcrzt sich damit nach einer oder der anderen, ja auch nach beiden Seiten zugleich, es k\u00f6nnen mitten im Spektrum L\u00fccken auf-treten und endlich kommt es sogar vor, dafs das Spektrum durch einen breiten dunklen Streifen in zwei H\u00e4lften getrennt wird.\nEs kann also in solchen F\u00e4llen nicht nur die F\u00e4higkeit verloren gehen, Bot und Gr\u00fcn als solches wahrzunehmen, sondern spektrales Rot und Gr\u00fcn rufen dabei nicht einmal mehr einen einfachen Lichteindruck hervor. Aber selbst, wenn weder die Lithionlinie noch die Thalliumlinie \u00fcberhaupt wahrgenommen werden k\u00f6nnen, so kann dennoch die Natriumlinie sehr wohl erkannt wTerden, und selbst bei hochgradiger Verk\u00fcrzung des Spektrum nach links sind die Kontraste f\u00fcr Gelb und Blau normal.\nInnerhalb weiter Grenzen ist die Lichtempfindlichkeit unabh\u00e4ngig von der Farbenempfindlichkeit und umgekehrt. Bei der progressiven Sehnervenatrophie sinkt keineswegs die erste in unmittelbarem Verh\u00e4ltnis zur zweiten, vielmehr kann wirkliche Farbenblindheit bei relativ guter Sehsch\u00e4rfe bestehen, und normaler Farbensinn bei bereits sehr gesch\u00e4digter Lichtempfindlichkeit. Die am raschesten progressiven und die schlechteste Prognose gebenden F\u00e4lle sind sogar gerade diejenigen, in welchen das Gesichtsfeld und die Lichtempfindlichkeit stark eingeschr\u00e4nkt sind, w\u00e4hrend im Zentrum noch vollkommen intakte Farben-w7ahrnehmung vorhanden ist. Doch kann nach den gew\u00f6hnlichen klinischen Methoden gepr\u00fcft die Sehsch\u00e4rfe noch beinahe normal und doch f\u00fcr homogenes Rot (oder Gr\u00fcn) bereits sehr stark gesunken sein, da nur f\u00fcr ein einziges homogenes Licht die Empfindlichkeit normal zu sein braucht, ohne dafs f\u00fcr die gew\u00f6hnlichen Bestimmungen der Sehsch\u00e4rfe mittels der SsELLEx\u2019schen Buchstabentafeln diese einen Defekt erkennen l\u00e4fst. Wenn ein Normalsichtiger sich ein dunkelrotes Kupferoxydulglas vorsetzt und sein Spektrum dadurch so stark nach links verk\u00fcrzt, dafs es kaum \u00fcber die D-Linie hinausreicht, so bleibt seine Seh-","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nJ. Stilling.\nsch\u00e4rfe f\u00fcr die klinische Bestimmung, des starken Kontrastes der SNELLENsehen Tafeln halber, immer noch gleich Eins.\nDie Farbensinnst\u00f6rungen, welche durch entz\u00fcndliche Prozesse entstehen, zeigen in allen wesentlichen Punkten ganz dieselben Merkmale wie die progressive Atrophie, und das gleiche gilt auch von den sogenannten zentralen Skotomen, wie sie so h\u00e4ufig im Gefolge von lokalen pathologischen Ver\u00e4nderungen verschiedener Art sowohl im Sehnerven selbst, als in den weiter zentral-w\u00e4rts gelegenen Hirnpartien auf treten. Bei allen diesen Prozessen kann sich, wie bei der genuinen Atrophie der Sehnervenfasern, totale wTie partielle Farbenblindheit entwickeln. Im ersten Falle kann die Farben empfindlichkeit g\u00e4nzlich verloren sein, ohne dafs jedoch die Lichtempfindlichkeit in gleicher Weise gesch\u00e4digt wird. Es kann fernerhin zwar die Sehsch\u00e4rfe sehr sinken, allein das Spektrum kann dabei seine normale L\u00e4nge behalten, so dafs die Metallspektren die hellen Linien durchweg, wenn auch ohne Farbe, erkennen lassen. Ist die Farbenblindheit eine partielle, so erstreckt sie sich immer auf Rot und Gr\u00fcn zugleich; ist ein zentrales Skotom vorhanden, so werden diese Farben in der unmittelbaren Umgebung des Defektes vollkommen normal gesehen. Die relative Unabh\u00e4ngigkeit der Farbenwahrnehmung von der LichtwTahrnehmung und umgekehrt ist noch viel deutlicher und st\u00e4rker ausgepr\u00e4gt als bei den fr\u00fcher besprochenen pathologischen Ver\u00e4nderungen. Nach der Heilung eines neuritischen Prozesses kann ein Skotom Zur\u00fcckbleiben, innerhalb dessen nur Farbenblindheit besteht, w\u00e4hrend die Sehsch\u00e4rfe klinisch vollkommen normal geworden ist, und auf der anderen Seite gibt es sogar F\u00e4lle, in welchen innerhalb des Skotoms eine stark herabgesetzte Lichtempfindlichkeit besteht, ohne dafs die Farbenwahrnehmung auch nur verringert erscheint. In diesen F\u00e4llen sieht bei der perimetrischen Untersuchung Weifs innerhalb des Skotoms grau aus, s\u00e4mtliche Farben aber erscheinen in ihrer normalen Qualit\u00e4t, nur etwas dunkler als in der Umgebung, es werden sogar die pseudo-isochromatischen Tafeln entziffert, welche sonst ein sehr sicheres Mittel zur Diagnose der zentralen Skotome abgeben.\nSeitdem es den Ophthalmologen, zuerst durch die Forschungen von Benedict, bekannt geworden ist, dafs Farbenblindheit durch Sehnervenleiden entsteht, haben alle darauf gerichteten Untersuchungen keinerlei andere Ursache erkennen","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 381\nlassen. Man hat zwar bei Abl\u00f6sung der Netzhaut, bei Retinitis albuminurica u. dgl. Farbenst\u00f6rungen beobachtet und sogar die seltenere Form der Blau-Gelbblindheit dabei gesehen. Jedoch ist es ungewifs, inwieweit physikalische Einfl\u00fcsse dabei mitspielen, \u00e4hnlich wie etwa bei stark gelber F\u00e4rbung der Linse im Alter Unempfindlichkeit f\u00fcr Blau zustande kommen kann, vor allem aber k\u00f6nnen auch bei den eben angef\u00fchrten Affektionen die Endigungen der Nervenfasern in der Netzhaut in ihrer Funktion so gest\u00f6rt sein, dafs sich die St\u00f6rung der Farbenwahrnehmung daraus erkl\u00e4ren l\u00e4fst.\nIch f\u00fchre noch an, dafs ich nach einem entz\u00fcndlichen Prozefs, der zu einem zentralen Skotom f\u00fchrte, nach der Heilung eine Farbensinnst\u00f6rung Zur\u00fcckbleiben sah, die als Blaublindheit bezeichnet werden mufste, und endlich, dafs ich transitorische Rot-Gr\u00fcnblindheit durch Erm\u00fcdung entstehen sah. Man hat auch die Entstehung von Farbenblindheit nach Apoplexien beobachtet, bei denen also die zentralen Sehnervenbahnen betroffen sein mufsten, und somit darf man ganz allgemein sagen, dafs Farbensinnst\u00f6rungen und Farbenblindheit auf eine gemeinsame Ursache zur\u00fcckgef\u00fchrt werden m\u00fcssen, n\u00e4mlich auf Sehnervenkrankheiten und auf Atrophie von Sehnervenfasern.\nEs liegen die Verh\u00e4ltnisse der erworbenen St\u00f6rungen des Farbensinnes nach allem Vorhergehenden sowohl psychologisch wie physiologisch klar und einfach.\nDie rein psychologische Untersuchung zeigt, dafs zwar in der Regel die St\u00f6rung der Farbenempfindlichkeit mit einer St\u00f6rung der Lichtempfindlichkeit verkn\u00fcpft, dafs jedoch dieses Verh\u00e4ltnis ein sehr lockeres ist.\nDie Natur der Farbensinnst\u00f6rung, wenn sie h\u00f6here Grade erreicht, also zur partiellen Farbenblindheit wird, besteht offenbar darin, dafs zwei Grundempfindungen, n\u00e4mlich Rot und Gr\u00fcn fehlen, das ganze System folglich nur noch aus Gelb und Blau besteht. Der wirklichen Blindheit f\u00fcr diese Farben geht aber bei der progressiven Sehnervenatrophie ein Stadium voraus, in welchem nur eine herabgesetzte Empfindlichkeit, eine Farbenamblyopie sich findet. Noch ehe diese in wirkliche Blindheit f\u00fci die Farben \u00fcbergeht, k\u00f6nnen dann im lichtstarken Spektrum z. B. des Magnesium, die Farben noch wahrgenommen werden, welche f\u00fcr das Spektrum des diffusen Tageslichtes schon verloren gegangen sind. Die Farben erscheinen aber, obwohl in ihrei","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nJ. Stilling.\nrichtigen Art, sehr abgeblafst, wie aus den Angaben intelligenter Kranker entnommen werden kann.\nObwohl die Kegel ist, dafs die St\u00f6rung der Farbenempfindlichkeit sich immer auf ein Farbenpaar erstreckt, so kommt es in selteneren F\u00e4llen doch vor, dafs die Empfindlichkeit f\u00fcr Kot und Gr\u00fcn (in den sp\u00e4teren Stadien der Sehnervenatrophie auch f\u00fcr Blau und Gelb) ungleich sinkt. So wird angegeben, dafs die Thalliumlinie einen gr\u00fcnlichen Schimmer habe, w\u00e4hrend sonst im Spektrum nur Gelb und Blau erkannt werden kann, oder es wird im Magnesiumspektrum noch Blau oder Gelb erkannt, w\u00e4hrend sonst f\u00fcr Kontraste, Pigmente, Spektralfarben totale Farbenblindheit besteht. Am auffallendsten habe ich eine ungleiche Herabsetzung der Empfindlichkeit f\u00fcr Kot und Gr\u00fcn in dem bereits oben kurz erw\u00e4hnten Fall von transitorischer Farbenblindheit infolge von Erm\u00fcdung beobachtet. Der betreffende Gelehrte wurde regelm\u00e4fsig auf einem Auge farbenblind und zwar mit gleichzeitiger Herabsetzung der Sehsch\u00e4rfe, wenn er l\u00e4ngere Zeit mikroskopierte. Er hielt dann z. B. Gr\u00fcn f\u00fcr Dunkelblau und erkl\u00e4rte einmal deshalb das Werk eines ber\u00fchmten Malers f\u00fcr eine Pfuscharbeit. Die Untersuchung w\u00e4hrend eines solchen Anfalles ergab, dafs er die Kontrastfarben Kot und Gr\u00fcn nicht mehr wahrnahm. Bei der spektralanalytischen Pr\u00fcfung wulste er die Lithionlinie nicht zu klassifizieren und war sehr erstaunt dar\u00fcber, als er sie mit dem normalen Auge kontrollierte. Dagegen erkannte er die Thalliumlinie sofort auch mit dem farbenblinden Auge.\nMan sollte nach derartigen Beobachtungen denken, es m\u00fcsse auch \u00cf \u00e4lle geben, in denen das Auge auch nur f\u00fcr eine einzige Farbe unempfindlich werden k\u00f6nne. Allein die Erfahrung lehrt durchaus das Gegenteil, so grofs sie auf dem Gebiete der erworbenen Farbenblindheit auch ist. Die F\u00e4higkeit Kot wahrzunehmen ist immer an die der Wahrnehmung der Gegenfarbe Gr\u00fcn gekettet, ist die eine vorhanden, so ist es auch die andere, geht die eine verloren, so kann auch die andere nicht erhalten bleiben, wenn auch in jenen seltenen F\u00e4llen die Empfindlichkeit ungleich sinkt, so sinkt sie dennoch immer f\u00fcr beide zugleich.\nEs er\u00fcbrigt noch die Art und Weise kurz zu besprechen, in welcher die Pigmentfarben gesehen werden. Sie folgt unmittelbar aus der Art, wie die Spektralfarben erscheinen. Je nach der Menge der von farbigen Stoffen reflektierten Licht-","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 383\nmengen erscheint Rot in gelben, blauen oder grauen T\u00f6nen, und zwar heller oder dunkler je nach dem Grade der gesunkenen Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr homogenes Rot. F\u00fcr Gr\u00fcn gilt dasselbe.\nHiermit w\u00e4re die psychologische Seite dieser Aufgabe ersch\u00f6pft. Die physiologische ist uns der Hauptsache nach in der Tatsache gegeben, dafs Farbenblindheit mit vorausgehender Farbenamblyopie entsteht durch Atrophie der Optikusfasern, und dafs diese Ursache die einzige ist, welche wir kennen. Die oph-thalmologische Pathologie lehrt jede andere Ursache, wie oben auseinandergesetzt worden ist, fast mit absoluter Sicherheit aus-schliefsen. Es fragt sich nunmehr, ob auf Grund der gefundenen Tatsachen, der psychologischen Angaben der untersuchten Kranken, die an Sehnervenaffektionen leiden, wir Schl\u00fcsse auf die Einzelheiten der physiologischen Verh\u00e4ltnisse zu schliefsen berechtigt sind, die k\u00fcnftigen weiteren Forschungen auf dem Gebiete der Physiologie der Farben n\u00fctzliche Fingerzeige erteilen k\u00f6nnten.\nDie, wie wir gesehen haben, innerhalb sehr weiter Grenzen festgestellte, relative Unabh\u00e4ngigkeit des Farbensinnes vom Lichtsinn zwingt zu der Annahme verschiedener Fasersysteme f\u00fcr diese beiden Wahrnehmungsarten, ebenso wie die Sinnesphysiologie solche f\u00fcr die Tast- und die Temperaturwahrnehmung voraussetzt (auch besondere Fasern f\u00fcr die Schmerzempfindung statuieren mufs). Es ist schon im Eingang auf die Analogien zwischen den beiden Gebieten hingewiesen worden, die auch darin zum Ausdruck kommen, dafs die Lichtw^ahrnehmung wde das Tastgef\u00fchl unmittelbar der Erkenntnis der \u00e4ufseren Objekte dienen, Farben- und Temperaturwahrnehmung (wie die Schmerzgef\u00fchle) gewissermafsen nur mittelbar dazu beh\u00fcflich sind, indem ihre Qualit\u00e4ten sozusagen in die bereits fertigen r\u00e4umlichen Vorstellungen eingetragen wrerden.\nDa bei allen Affektionen des Sehnerven niemals Blindheit f\u00fcr eine Farbe allein auf tritt, sondern immer f\u00fcr mindestens ein Paar, so mufs f\u00fcr die Gegenfarben Rot und Gr\u00fcn einerseits, Blau und Gelb andererseits, wie dies psychologisch Erfahrungstatsache ist, auch physiologisch ein innerer Zusammenhang vorhanden sein, f\u00fcr den einmal ein anatomischer Ausdruck und damit auch eine physiologische Erkl\u00e4rung gefunden werden mufs, die vorl\u00e4ufig freilich in Dunkel geh\u00fcllt bleiben wird.\nImmerhin sind wir gezwungen, auch innerhalb der die","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nJ. Stilling.\nFarbenwahrnehmung vermittelnden Fasern zwei Systeme anzunehmen, eins f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn, ein zweites f\u00fcr Blau und Gelb. Denn auf andere Weise ist keinerlei physiologisch-anatomische Erkl\u00e4rung f\u00fcr die unbestreitbare Erfahrungstatsache m\u00f6glich, dafs nicht nur die Wahrnehmungsf\u00e4higkeit f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn als Farben, sondern zugleich die Lichtempfindlichkeit f\u00fcr die entsprechenden Brechbarkeitsstufen verloren gegangen ist, eine wirkliche Amaurose f\u00fcr rotes und gr\u00fcnes Licht bestehen kann, ohne dafs dennoch die F\u00e4higkeit verloren geht, Blau und Gelb wahrzunehmen,dafs die Kontraste f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn fehlen, aber f\u00fcr Blau und Gelb vollkommen normal bleiben. Wenn man die Kontraste, wie sie die farbigen Schatten zeigen, nicht eigens durch besondere Regulierung der Beleuchtung abschw\u00e4cht, um eine untere Reizschwelle zu bestimmen, so sind sie so intensiv, dafs selbst Personen mit stark herabgesetzter Farbenempfindlichkeit sie vortrefflich wahrnehmen. So weifs ich durch den Berner Physiologen Prof. L. Asher, dafs sein Farbensinn f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn stark herabgesetzt ist. W\u00e4hrend er aber pseudo-isochromatische Tafeln, welche die sch\u00e4rfsten Kontraste von grellem Gr\u00fcn und Rot zeigen, nur mit M\u00fche entziffern kann, nimmt er die farbigen Schatten mit der gr\u00f6fsten Deutlichkeit wahr und demonstriert sie in seinen Vorlesungen. Kann also das Auge mittels des simultanen Kontrastes Rot und Gr\u00fcn nicht mehr aus sich selber hervorbringen, wohl aber Blau und Gelb, so mufs geschlossen werden, dafs die Energien f\u00fcr die beiden ersten verloren, f\u00fcr die beiden letzten aber erhalten geblieben sind, und das beweisen besonders zwingend jene F\u00e4lle, in denen selbst die Lichtempfindlichkeit f\u00fcr das reinste spektrale Rot und Gr\u00fcn verloren gegangen, f\u00fcr Blau und Gelb aber erhalten geblieben ist. Und da ferner diesem Verhalten die progressive Atrophie der Sehnervenfasern zugrunde liegt, so mufs doch notwendig ein bestimmtes Fasersystem zugrunde gegangen und ein anderes noch \u00fcbrig geblieben sein. Ebenso, wenn nach entz\u00fcndlichen Prozessen im Sehnerven volle oder nahezu normale Sehsch\u00e4rfe besteht, aber Farbenblindheit zur\u00fcckgeblieben ist, mufs man den Schlufs ziehen, dafs bestimmte Fasern atrophisch geworden sein m\u00fcssen, welche nicht dem f\u00fcr die Lichtempfindung dienenden System angeh\u00f6ren, sondern dem der Farben Wahrnehmung entsprechenden, f\u00fcr die partielle Farbenblindheit aber gelten dieselben Schl\u00fcsse wie bei der genuinen Atrophie.","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 385\nAuch die Pathologie der optischen Zentralteile liefert Belege f\u00fcr die Existenz getrennter Fasersysteme. So ist beobachtet worden, dafs nach apoplektischem Anfall totale Farbenblindheit zustande kam, welche mit der Heilung des Prozesses in Rot-Gr\u00fcnblindheit \u00fcberging, w\u00e4hrend die Sehsch\u00e4rfe von Anfang an so gut wie normal geblieben war. Im geraden Gegensatz hierzu habe ich bei einem zentralen pathologischen Prozefs feststellen k\u00f6nnen, dafs bei fast vollkommener Blindheit, die dem Patienten, einem Gelehrten, auf dessen Aussagen vollkommener Verlafs war, nicht einmal mehr selbst\u00e4ndige F\u00fchrung erlaubte, und der kaum noch Finger in n\u00e4chster N\u00e4he z\u00e4hlen konnte, dennoch so lange dieser Zustand anhielt, qualitativ vollkommen normaler Farbensinn bestand. Er verhielt sich wie Kranke mit Glaukom, die ebenfalls nur noch Finger z\u00e4hlen k\u00f6nnen, aber zu ihrer eigenen V er-wunderung die Farben der \u00e4ufseren Gegenst\u00e4nde sehr gut wahrnehmen. Die F\u00e4higkeit der Lichtwahrnehmung ist demnach so unabh\u00e4ngig von der der Farbenwahrnehmung und umgekehrt, dafs man fast das Paradoxon aufzustellen versucht ist, selbst ein Blinder k\u00f6nne noch normalen Farbensinn haben.\nWas f\u00fcr die Sehnervenfasern, das periphere wie das zentrale System gilt, mufs schon aus rein psychologischen Gr\u00fcnden auch f\u00fcr die Endorgane in der Retina gelten. Wenn Lichtsinn und Farbensinn durch verschiedene Fasersysteme im Sehnerven selbst vertreten sind, so mufs dasselbe Verh\u00e4ltnis sich auch in den Endorganen vorfinden. Hier\u00fcber bestehen ja auch keine Differenzen in den Ansichten der Forscher, die im allgemeinen geneigt sind, nach dem Vorgang von v. Kries in den Zapfen die peripheren Organe f\u00fcr die Farbenwahrnehmung zu suchen. Die ophthalmologische Pathologie beweist indessen, dafs diese Annahme in jedem Falle irrig ist. Denn es ist eine unbestreitbare Tatsache, dafs bei allen Prozessen, welche die musivische Schichte auch in hohem Grade sch\u00e4digen, der Farbensinn intakt bleibt, was doch undenkbar ist, wenn jene Hypothese \u00fcber die Funktion der Zapfen richtig w\u00e4re. Da nun die Fovea centralis die Stelle der gr\u00f6fsten Licht- wie der gr\u00f6fsten Farbenempfindlichkeit ist, und auch pathologische Prozesse, welche die zentrale Sehsch\u00e4rfe durch entz\u00fcndliche Vorg\u00e4nge oder auch durch Blutungen aufserordentlich heruntersetzen, dennoch die Farbenempfindlichkeit qualitativ intakt lassen, so m\u00fcssen die Endorgane f\u00fcr diese in der \u00e4ufseren K\u00f6rnerschichte zu suchen sein. Denn aufser dieser","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nJ. Stilling.\nfindet sich an der Fovea nur noch die Schichte der Nervenfasern.\nWenn die rein psychologische Beobachtung zu dem Ergebnis gelangt, dafs man vier Grundfarben annehmen m\u00fcsse, n\u00e4mlich Rot, Gr\u00fcn, Blau und Gelb, und von ihnen je zwei und zwei zusammengeh\u00f6ren, allemal eine warme und eine kalte Farbe, so hat die ophthalmologische Pathologie, welche auf dem Gebiete des Farbenproblems die Experimentalphysiologie vollst\u00e4ndig zu vertreten vermag (wenigstens bei der gegenw\u00e4rtig noch so wenig entwickelten Sinnesphysiologie), f\u00fcr die Richtigkeit dieser beiden Grunds\u00e4tze den physiologischen Beweis geliefert. Sie hat, um einen ganz speziellen, in der modernen Literatur viel umstrittenen Punkt hervorzuheben, bewiesen, dafs Gelb zu den Grundfarben auch in physiologischer Hinsicht gez\u00e4hlt werden mufs, und nicht eine Kombination der \u201eroten und gr\u00fcnen Energien\u201c ist.\nWir gelangen nunmehr zu dem schwierigeren Teil der Untersuchung, der die angeborenen Anomalien des Farbensinnes um-fafst.\nDie Untersuchung der angeborenen Farbensinnanomalien bietet die bei weitem interessantere Aufgabe sowohl wegen ihrer grofsen praktischen Wichtigkeit f\u00fcr Eisenbahn und Marine, als auch rein theoretisch. Denn bei ihnen liegt weder die Ursache und die Art ihrer Entstehung klar zutage, noch ist es auch bisher gegl\u00fcckt, eine allgemeine \u00dcbereinstimmung der Forscher \u00fcber die Art und Weise der Farbenwahrnehmung zustande zu bringen.\nEs hat dies seinen Grund darin, dafs die Wahrnehmungen von Personen mit angeborenen Farbensinnanomalien nicht so leicht zu analysieren sind, als dies bei den erworbenen der Fall ist. Sie sind eben von Kind auf gen\u00f6tigt gewesen, auf ihre von der Norm abweichenden Wahrnehmungen die sprachliche Ausdrucksweise der Normalsichtigen anzuwenden. Best\u00fcnde ein anormales Farbensystem nun \u00fcberhaupt aus ganz anderen Qualit\u00e4ten der Wahrnehmung, so w\u00e4re \u00fcberhaupt nicht einzusehen, wie jemals die sprachlichen Ausdr\u00fccke der Anormalen einem Normalsichtigen Einsicht in das anormale System zu verleihen verm\u00f6chten. Enthielte aber das System der Anormalen zwar dieselben Farben wie das normale, vermittelten aber die verschiedenen spektralen Lichter deren Wahrnehmung nicht in der derselben Reihenfolge wie den Normalsichtigen, etwa so, dafs, was dem Normalen rot erscheint, dem Anormalen gr\u00fcn erschiene","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 387\noder blau, so k\u00f6nnte man sich das allenfalls als M\u00f6glichkeit logisch vorstellen, aber es ist nicht einzusehen, wie wrir die Existenz eines solchen Systems wissenschaftlich beweisen k\u00f6nnten. Denn beim Versuch dazu w\u00e4ren wir doch lediglich auf die sprachlichen Bezeichnungen angewiesen. Diese m\u00fcfsten sich aber doch bei den Anormalen, die ihre Wahrnehmungen in der Sprache der Normalen auszudr\u00fccken gezwungen sind, von Kindheit an in so hohem Grade verwirrt haben, dafs kaum etwas damit anzufangen w\u00e4re. Auch w\u00e4re ein Farbensystem, in dem etwa da gr\u00fcn oder blau gesehen w\u00fcrde, wTo der Normale rot oder gelb sieht, einem System von Temperaturwahrnehmungen zu vergleichen, in dem, wTas der Normale f\u00fcr warm h\u00e4lt, von dem Anormalen f\u00fcr k\u00fchl erkl\u00e4rt w\u00fcrde, oder was dem einen heifs, dem anderen kalt vork\u00e4me. Es widerspricht der allgemeinen Erfahrung, dafs derartige Systeme innerhalb des Kreises menschlicher Individuen Vorkommen k\u00f6nnten, und w\u00e4re es dennoch der Fall, so k\u00f6nnten solche Systeme f\u00fcr den normal empfindenden Forscher kein Interesse aufser dem an ihrer Existenz bieten, weil sie ihm unbegreiflich bleiben m\u00fcfsten.\nWie bei den erworbenen Anomalien bleibt zun\u00e4chst auch f\u00fcr die angeborenen nur die M\u00f6glichkeit, dafs es sich auch bei ihnen nicht um andersartige, sondern um unvollkommene Farbensysteme handle, dafs also eine oder die andere, oder auch mehrere Farben zu gleicher Zeit in einem anomalen System fehlen, \u00fcber welche der Normalsichtige verf\u00fcgt. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Normale sich eine Vorstellung von dem anormalen System bilden und dieses wissenschaftlich analysieren.\nDie verwirrende Nomenklatur erkl\u00e4rt sich bei dieser Voraussetzung einfach dadurch, dafs, wenn in einem System eine oder mehrere Farben fehlen, Blindheit f\u00fcr sie besteht, mehr sprachliche Ausdr\u00fccke zur Verf\u00fcgung stehen und von Kindheit auf dem Ged\u00e4chtnis eingepr\u00e4gt werden m\u00fcssen, als Wahrnehmungsarten vorhanden sind. Die Untersuchungsmethode kann nur eine psychologische sein, und sie kann nicht wie bei der erworbenen Farbenblindheit durch eine physiologische Methode Unterst\u00fctzung finden. Es kann sich nur darum handeln, das Urteil der Versuchspersonen \u00fcber Farben soviel als m\u00f6glich einzuschr\u00e4nken und von ihrer Bezeichnungsweise unabh\u00e4ngig zu machen.\nGenau wie bei den erworbenen, mufs auch bei den angeborenen Anomalien die Methode des Simultankontrastes den\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 44.\t25","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nJ. Stilling.\nWeg zeigen. Die Untersuchten haben dabei nur darauf zu achten, ob sie eine wirklich deutliche Schattenfarbe sehen oder nicht, wobei es auf den Namen, der einer Kontrastfarbe beb gelegt wird, eben ganz und gar nicht ankommt. Wird wirklich eine deutliche Farbe wahrgenommen, so kommt dem Auge die F\u00e4higkeit zu, sie aus sich heraus zu erzeugen, erscheint aber der Schatten farblos, so mufs auch die entsprechende Energie ausgefallen sein.\nPr\u00fcft man nun mit diesem Verfahren eine m\u00f6glichst grofse Anzahl zuverl\u00e4ssiger Versuchspersonen (ich habe in meinen Reihen \u00c4rzte, Ingenieure, Lehrer), so heben sich aus der Menge scharf zwei Gruppen heraus. Eine grofse, welcher die Energien Rot und Gr\u00fcn, eine bei weitem kleinere, welcher die Energien Blau und Gelb fehlen.\nDie der ersten Gruppe angeh\u00f6rigen Personen sehen zum Teil die roten und gr\u00fcnen Schatten unter keinen Umst\u00e4nden farbig. Auf die Namen, welche den f\u00fcr sie eine deutliche Farbe zeigenden Kontrasten beigelegt werden, kommt nat\u00fcrlich gar nichts an, immerhin ist es der M\u00fche wert zu konstatieren, dafs die Farbenbenennungen bei blauer und gelber Induktion ganz exakt mit den normalen \u00fcberein stimmen.\nBenutzt man f\u00fcr die Kontrastversuche gef\u00e4rbtes Lampenoder Gaslicht, und als zweite Lichtquelle nicht einfaches Licht derselben Art, sondern l\u00e4fst diffuses Tageslicht zutreten, so erscheinen vielen Personen der ersten Gruppe jetzt auch die vorher einfach grauen oder schwarzen Schatten farbig, und zwar geben sie \u00fcbereinstimmend an, sie seien bl\u00e4ulich oder blau. Nach den Angaben eines meiner gelehrten Farbenblinden, den ich besonders sorgf\u00e4ltig daraufhin pr\u00fcfte, ist unter diesen Beleuchtungsverh\u00e4ltnissen das Blau des Schattens bei roter Induktion nur sehr schwach im Vergleich zu dem Blau bei gelber Induktion, bei gr\u00fcner Induktion ist das Blau deutlicher als bei roter.\nEs leuchtet ein, dafs in diesen F\u00e4llen auf Rot und Gr\u00fcn so reagiert wird, als ob es Gelb sei, und dafs diese Reaktion sich mit dem Verhalten des normalen Auges deckt, f\u00fcr welches bei Tageslicht als zweiter Lichtquelle die Schatten blauer aussehen, als wenn auch die zweite Lichtquelle gelb gef\u00e4rbt ist.\nEs ist nicht ganz mit Sicherheit zu sagen, wovon es abh\u00e4ngt, dafs Personen dieser Gruppe von Farbenanomalen auch bei","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstellung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 389\ndiffusem Tageslicht keinen Kontrast wahrzunehmen imstande sind, ob Zuf\u00e4lligkeiten der Beleuchtung dabei im Spiel sind, ob die schwache Kontrastfarbe nur bei sehr sorgf\u00e4ltiger Beobachtung wahrzunehmen ist und f\u00fcr gew\u00f6hnlich unter der Schwelle bleibt, oder endlich ob in diesen F\u00e4llen aufser dem Fehlen der roten und gr\u00fcnen Energien auch eine Herabsetzung der Farbenempfindlichkeit f\u00fcr Blau und Gelb besteht. F\u00fcr eine gewisse Anzahl\nvon F\u00e4llen bin ich wegen der Zuverl\u00e4ssigkeit meiner Versuchs-\n\u25a0 \u2022\npersonen der \u00dcberzeugung, dafs das letzte angenommen werden mufs.\nDa die roten und gr\u00fcnen Gl\u00e4ser, auch wenn man sie so ges\u00e4ttigt und rein wie nur m\u00f6glich w\u00e4hlt, doch in jedem Falle noch gelbe resp. blaue Strahlen durchlassen, so sollte man genau genommen erwarten m\u00fcssen, dafs selbst bei Fehlen von Rot und Gr\u00fcn dennoch Kontraste wahrgenommen werden m\u00fcfsten, auch wenn kein diffuses weifses Licht als zweite Lichtquelle benutzt wird. Da nun die Erfahrung dieser Annahme widerspricht, so bleibt in jedem Fall die Wahrnehmung der Kontrastfarbe unter der Schwelle und verliert damit ihre Bedeutung.\nEs gibt freilich F\u00e4lle genug, in welchen bei zweifellos bestehender Anomalie der Farbenwahrnehmung behauptet wird, dafs Kontraste da seien. Allein es handelt sich dabei um nicht zuverl\u00e4ssige Versuchspersonen, die die Farbenausdr\u00fccke, mit denen sie die Schatten bezeichnen, so durcheinanderwerfen, ja f\u00fcr einen einzigen Kontrast manchmal drei Ausdr\u00fccke zugleich verwenden, dafs sie klar zu erkennen geben, wie unf\u00e4hig sie sind, an ihren Wahrnehmungen Selbstkritik zu \u00fcben und die Farbenbenennungen zu vermeiden, deren entsprechende Qualit\u00e4t ihnen fehlt.\nBei dem so aufserordentlich h\u00e4ufigen Vorkommen der angeborenen Farbensinnst\u00f6rungen ist es aber nicht allzu schwer, eine grofse Anzahl von zuverl\u00e4ssigen Versuchspersonen zu finden. Auf ihren Angaben fufsend, k\u00f6nnen wir dann noch andere Methoden anwenden, mittels deren auch die Wahrnehmungen wenig oder gar nicht zuverl\u00e4ssiger Personen gepr\u00fcft und mit den sicheren Resultaten, welche die Untersuchung der ersten geliefert hat, in \u00dcbereinstimmung gebracht werden k\u00f6nnen.\nEs bleibt freilich noch eine kleine Zahl von F\u00e4llen \u00fcbrig,\nin denen gerade wegen der Gelehrsamkeit der Untersuchten die\nAnalyse auf grofse Schwierigkeiten st\u00f6fst. Es gibt farbenblinde\n25*","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nJ. Stilling.\nGelehrte, die sich nur ungern von ihrer mangelhaften Wahrnehmungsf\u00e4higkeit \u00fcberzeugen lassen. Sie haben sich sehr ge\u00fcbt durch die Differenzen der Lichtst\u00e4rke, der Nuancen und vermittels sonstiger mnemonischer Br\u00fccken, welche eine lange Erfahrung liefert, ihren mangelhaften Wahrnehmungsf\u00e4higkeiten zu Hilfe zu kommen, und auf diese Weise gelernt, vielfach Farben richtig zu benennen, f\u00fcr welche sie gleichwohl blind sind. Sie gelangen auch unter Umst\u00e4nden dazu, f\u00fcr die verschiedenen Farben verschieden zu akkommodieren, und dabei besonders eine vorhandene Refraktionsanomalie zu benutzen, und so die einzelnen T\u00f6ne zu unterscheiden. Je mehr sie aber auf solche Weise dazu gelangen, ihren Fehler zu verdecken, um so ungeeigneter werden sie zugleich, von ihrem denkenden Urteil zu abstrahieren, die sprachlichen Ausdr\u00fccke zu sondern und m\u00f6glichst auf die unmittelbare Wahrnehmung zu beschr\u00e4nken. Ja sie k\u00f6nnen auf diesem Wege dazu gelangen, sich einzubilden, dafs ihr Farbensystem, wenn auch von der grofsen Mehrzahl abweichend, also zwar anormal sei, dafs ihnen aber die einzelnen Qualit\u00e4ten der normalen Wahrnehmung keineswegs fehlten. Sie schreiben dann auch gelegentlich gelehrte Arbeiten \u00fcber vermeintlich von ihnen entdeckte neue Farbensysteme. Sie vergessen, dafs ihre Angaben f\u00fcr einen normalen Untersucher, der ihre abnormen Eindr\u00fccke zu analysieren weifs, von grofsem Wert sind, dafs sie selbst aber niemals eine Vorstellung von Wahrnehmungen zu bilden verm\u00f6gen, die ihnen fehlen, so dafs sie als selbst\u00e4ndige Untersucher nur zu leicht in die Irre geraten m\u00fcssen.\nEs wird sich im Verlauf der Untersuchung zeigen, dafs es Mittel gibt, auch die scheinbar den Angaben der zuverl\u00e4ssigen Versuchspersonen der ersten Art widersprechenden Resultate mit ihnen in vollkommene \u00dcbereinstimmung zu bringen. Um die gr\u00f6fste erste Gruppe der angeborenen Farbensinnst\u00f6rungen dreht sich unter den Physiologen der Streit um die theoretischen Fragen, der Anh\u00e4nger der verschiedenen Hypothesen, welche dazu dienen sollen, die Farben Wahrnehmung und ihre Varianten zu erkl\u00e4ren.\nWir verlassen an diesem Punkte der Untersuchung das psychologische Gebiet nicht. Wir haben nur die Aufgabe, die Wahrnehmungen jener Individuen zu ergr\u00fcnden, deren Farbensinn nicht mit dem der Normalen \u00fcbereinstimmt, fragen daher nach nichts weiter, als danach, welche von den Farben, Rot,","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstellung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 391\nGr\u00fcn, Gelb, Blau gesehen werden und welche nicht, und wie die \u00e4ufseren Objekte in den verschiedenen F\u00e4llen gef\u00e4rbt erscheinen. Aber wir fragen zun\u00e4chst durchaus nicht danach ob und wie dies physiologisch zu erkl\u00e4ren sei.\nWir haben gesehen, dafs alle zuverl\u00e4ssigen Versuchspersonen, welche der ersten gr\u00f6fsten Gruppe zugeteilt werden m\u00fcssen, die roten und gr\u00fcnen Kontraste nicht wahrnehmen, sondern nur die blauen und gelben. Ohne uns f\u00fcrs erste auf die Einzelheiten einzulassen, stimmt diese Art von anomalem Farbensinn mit der erworbenen partiellen Farbenblindheit bei Sehnervenatrophie oder Sehnervenentz\u00fcndungen, wie dort so ist auch hier das Auge nur f\u00e4hig aus sich heraus die beiden Farben Blau und Gelb hervorzubringen, die Energien f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn aber fehlen oder sind mindestens stark geschw\u00e4cht.\nBei der zweiten kleineren Gruppe der partiellen Farbenblindheit fehlen die Energien f\u00fcr blau und gelb, und nur die roten und gr\u00fcnen Kontraste werden vom Auge hervorgebracht. In allen von mir beobachteten F\u00e4llen, und diese machen bei weitem die gr\u00f6fste Zahl der \u00fcberhaupt gesehenen aus, wurde den gelben und blauen Kontrasten \u00fcberhaupt keinerlei Farbenbenennung beigelegt, nur in einem Falle wurde bei Tageslicht als zweiter Lichtquelle der blaue Schatten als gr\u00fcn bezeichnet. Diese Angabe mufs auch als eine ganz richtige angesehen werden, da blaue Gl\u00e4ser noch rote Strahlen in gen\u00fcgender Menge durchlassen, um unter der beschriebenen Bedingung gr\u00fcnen Kontrast zu erzeugen.\nDie zweite Art der angeborenen Farbenblindheit hat kein solches Analogon auf dem Gebiete der erworbenen St\u00f6rungen wie die erste. Aber doch nur darum weil sie bis jetzt nur selten, und auch dann nicht so charakteristisch als isolierte partielle Farbenblindheit, hat beobachtet werden k\u00f6nnen. Aber im Verlaufe der progressiven Sehnervenatrophie schliefst sich doch an den Verlust von Rot und Gr\u00fcn der von Blau und Gelb an, und es sinkt im allgemeinen auch f\u00fcr diese Farben die Wahrnehmungsf\u00e4higkeit gleichm\u00e4fsig.\nUm so gr\u00f6fser ist die Verwandtschaft zwischen den angeborenen und erworbenen St\u00f6rungen bei der kleinsten dritten Gruppe, zu welcher wir jetzt gelangen, der der totalen Farbenblindheit.\nDie angeborene partielle Farbenblindheit unterscheidet sich","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nJ. Stilling.\nyon der erworbenen durch die Intaktheit der Sehsch\u00e4rfe. Erworbene Farbenblindheit ist in der Regel zugleich mit verminderter Lichtempfindlichkeit verkn\u00fcpft, obgleich, wie wir bereits gesehen haben, nach der Heilung eines Sehnervenleidens wieder volle Sehsch\u00e4rfe bestehen kann, w\u00e4hrend Farbenblindheit zur\u00fcckgeblieben ist. Aber in der \u00fcbergrofsen Mehrzahl der F\u00e4lle, bei der progressiven Sehnervenatraphie wohl immer, besteht neben der Farbenblindheit mehr oder weniger hochgradige Schwachsichtigkeit. Dasselbe aber beobachtet man bei der angeborenen totalen Farbenblindheit. Ich habe nur einen einzigen Fall beobachtet , in welchem nach der gew\u00f6hnlichen klinischen Bestimmung volle Sehsch\u00e4rfe vorhanden war. In einigen wenigen F\u00e4llen ist von anderen Autoren beobachtet, dafs die Sehsch\u00e4rfe, ebenfalls klinisch bestimmt, wenn auch nicht ganz so doch beinahe normal war. In allen \u00fcbrigen F\u00e4llen aber bestand eine mehr oder weniger hochgradige Schwachsichtigkeit.\nWenn man nun aber die Verh\u00e4ltnisse der Lichtempfindlichkeit genauer untersucht, so stellt sich mit grofser Sicherheit heraus, dafs alle diese Unterschiede nur graduelle sind. Es ist schon im Eingang darauf hingedeutet worden, dafs die gew\u00f6hnliche ophthalmologisch-klinische Sehpr\u00fcfung nur ganz unvollkommen die Lichtempfindlichkeit bestimmen l\u00e4lst. Ganz anders werden die Resultate, wenn man die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr farbiges Licht untersucht. Ich habe hierf\u00fcr schon vor langen Jahren Tafeln konstruieren lassen, welche verschieden farbige Buchstaben auf schwarzem Grunde zeigen, sonst nach dem Snellen\u2019sehen Prinzip angeordnet sind. Diese nun zeigen bei vielen Farbenblinden, deren Sehsch\u00e4rfe nach den gew\u00f6hnlichen Bestimmungen ganz normal ist, mehr oder weniger starke Herabsetzung f\u00fcr eine einzelne oder auch f\u00fcr zwei, ja f\u00fcr drei Farben. Ich habe gefunden, dafs die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Rot auf zwei Siebentel herunter gehen kann, und ebenso f\u00fcr die \u00fcbrigen Farben. Untersucht man derartige F\u00e4lle mit dem Spektroskop, so zeigt sieh diese Herabsetzung der Empfindlichkeit f\u00fcr Licht bestimmter Brechbarkeit noch deutlicher, es besteht in vielen F\u00e4llen eine wirkliche Amaurose f\u00fcr rotes, blaues oder auch gr\u00fcnes Licht, das Spektrum ist nach der einen oder der anderen Seite hochgradig verk\u00fcrzt, die hellen Linien der Metalle werden \u00fcberhaupt nicht wahrgenommen und selbst im lichtstarken Magnesiumspektrum (sowie","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 393\nin dem des elektrischen Lichtes) bleibt das Gesichtsfeld innerhalb des ausfallenden Teils absolut dunkel.\nAuch f\u00fcr die totale angeborene Farbenblindheit gilt dasselbe. Die Sehsch\u00e4rfe kann f\u00fcr die gew\u00f6hnlichen Bestimmungen noch nahezu normal, f\u00fcr die einzelnen Farben aber mehr oder weniger betr\u00e4chtlich herabgesetzt sein. So ist mir vor kurzem ein Fall aus der Praxis von Prof. Hans Landolt bekannt geworden, in dem die Sehsch\u00e4rfe nach Snellen sechs Achtel der normalen bei einer schwachen Myopie betrug, also noch normal genannt werden mufste, dagegen betrug sie f\u00fcr Rot nur die H\u00e4lfte, f\u00fcr Gelb und Gr\u00fcn zwei F\u00fcnftel, f\u00fcr Blau nur zwei Siebentel der normalen. Die spektroskopische Untersuchung vollends weist nach, dafs ebenfalls wirkliche Amaurose und damit Verk\u00fcrzung des Spektrum nach einer oder nach beiden Seiten vorhanden sein kann, ja in einem Falle (Raehlmann) war das Spektrum durch eine schmale schwrarze Linie in zwei H\u00e4lften geteilt, welche der D-Linie entsprach, so dafs eine ganz beschr\u00e4nkte Amaurose f\u00fcr homogenes Gelb bestand, bei im \u00fcbrigen nahezu normaler Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Schwarz auf Weifs.\nNach allen diesen Ergebnissen sind wir berechtigt zu sagen, dafs im allgemeinen, sowohl was die St\u00f6rung der Farbenwahrnehmung wie die der Lichtempfindlichkeit anlangt, zwischen der erworbenen und der angeborenen Farbenblindheit keine wesentlichen Unterschiede bestehen.\nSchon Dalton kam durch die Analyse seiner eigenen mangelhaften Farbenwahrnehmungen zu dem Resultat, dafs er nur zwei Farben sehe, und dafs diese gelb und blau seien. Sp\u00e4ter (1859) beschrieb William Pole seine Farbenblindheit auf das sorgf\u00e4ltigste und kam zu demselben Ergebnis. Er gelangte dazu freilich erst \u201eafter a long and careful investigation\u201c. Fast 30 Jahre lang, erz\u00e4hlt Pole, ehe ihm dies klar wurde, glaubte er fest, dafs was er nunmehr als Unterschiede im Tone kenne, wirklich verschiedene Farben seien, und dafs er von Rot, Scharlach, Gr\u00fcn, Braun, Purpur, Rosa, Orange usw. zwar nicht mit derselben Sicherheit wie ein Normaler gesprochen habe, aber doch in der sicheren \u00dcberzeugung, diese Farben zu unterscheiden. H\u00e4tte ihn zu jener Zeit ein Gelehrter untersucht, so w\u00fcrde er ihm eine ganz falsche Beschreibung seines Zustandes gegeben haben, indem er ihn z. B. versichert h\u00e4tte, dafs er ges\u00e4ttigtes Rot vollkommen richtig s\u00e4he, auch h\u00e4tte er diese Behauptung dadurch st\u00fctzen","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nJ. Stilling.\nk\u00f6nnen, dafs er eine grofse Zahl verschieden gef\u00e4rbter Gegenst\u00e4nde ganz richtig benannt h\u00e4tte.\nMit diesen Angaben stimmen die Angaben anderer zuverl\u00e4ssiger Versuchspersonen, wie sie sich in meinen Beobachtungsreihen, wie in denen anderer Autoren finden. Sie sehen im Spektrum nur gelb und blau, und die roten und gr\u00fcnen Spektral- ! linien der Metalle scheinen ihnen identisch gef\u00e4rbt, allenfalls von verschiedener Intensit\u00e4t und S\u00e4ttigung. Da ihnen die roten und gr\u00fcnen Kontraste fehlen, so ist nicht wohl einzusehen, warum man nicht der Meinung sein sollte, dafs die von ihnen gelb und blau genannten Farben nicht mit den normalen \u00fcbereinstimmen sollten. Daf\u00fcr erscheint auch beweisend, dafs in einem von v. Hippel beschriebenen Falle einseitiger angeborener Farbenblindheit nur Gelb und Blau gesehen wurden.\nDafs diefse einfachen Vorstellungen vom Sehen der Farbenblinden, die sich nach dem Vorhergehenden darauf reduzieren w\u00fcrden, dafs entweder alles farblos gesehen w\u00fcrde, oder nur rot und gr\u00fcn, oder nur gelb und blau, noch immer keine allgemeine Zustimmung finden und durch die kompliziertesten Annahmen verdr\u00e4ngt worden sind, hat verschiedene Gr\u00fcnde. Es liegt zum Teil eben daran, dafs die Zahl der zuverl\u00e4ssigen Versuchspersonen im Vergleich zu der grofsen Menge der Farbenblinden eine kleine Minderheit bildet, und dafs durch die konfusen Angaben der Mehrzahl Zweifel an der Richtigkeit derer der Minderzahl erregt werden k\u00f6nnen. Es liegt aber auch daran, dafs eine Anzahl von Schriftstellern auf diesem Gebiete die psychologischen Probleme 1 nicht scharf genug von den physiologischen zu trennen sich be-\tj\nm\u00fchen, und dafs besonders die Physiologen unter ihnen die Er-\t!\nfahrungstatsaehen, welche die ophthalmologische Pathologie liefert, wenig oder gar nicht ber\u00fccksichtigen. Es ist aber schon im Eingang darauf hingedeutet, dafs die physiologischen Probleme erst dann Ber\u00fccksichtigung verlangen k\u00f6nnen und d\u00fcrfen, wenn zuvor die psychologischen ihre Erledigung gefunden haben, deren Boden wir noch nicht verlassen k\u00f6nnen.\nEs stellt sich folglich die Aufgabe, das Sehen der Individuen mit angeborener Farbenblindheit bis ins einzelne zu untersuchen und m\u00f6glichst unabh\u00e4ngig vom Urteil und den Erinnerungsvorstellungen der Untersuchten danach zu trachten, ihre Wahrnehmungen unter allgemein g\u00fcltige Gesetze zu bringen.\nDie L\u00f6sung dieser Aufgabe mufs angebahnt werden durch","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 395\nein genaues Studium der Verwechslungsfarben, welche f\u00fcr jede gr\u00f6fsere und kleinere Gruppe der von der Norm abweichenden Farbenwahrnehmungssysteme genau bestimmt werden m\u00fcssen.\nMan hat verschiedene Methoden zur Verf\u00fcgung, um Farbengleichungen zu finden, die beste und sicherste, zugleich auch die einfachste ist die, sie durch direkte Mischung von Malerfarben zustande zu bringen. Benutzt man den Farbenkreisel, so ist die Bestimmung weitl\u00e4ufiger und damit schwieriger, auch bietet die erste Methode den grofsen Vorteil, dafs man die Gleichung ein f\u00fcr allemal fixiert hat, folglich verschiedene Gleichungen auch auf das bequemste und vor allem auf das anschaulichste zusammenstellen und miteinander vergleichen kann. Apparate zur Mischung von Spektralfarben, obgleich die Bestimmungen, welche sie ergeben, wegen des mathematischen Anstrichs und der Kurvenkonstruktionen ein viel gelehrteres Ansehen haben, erf\u00fcllen gleichwohl die beabsichtigten Aufgaben am wenigsten. Dafs die Farben im Spektrum im Gegensatz zu den Malerfarben homogen sind, bringt keinerlei nennenswerten Vorteil, denn da es sich immer noch um die rein psychologische Qualit\u00e4t der Farbe handelt, ist es ganz gleichg\u00fcltig, wie diese der Wahrnehmung geboten wird. Im Spektrum finden wir aber eine ganze Reihe f\u00fcr die Untersuchung wichtiger Farbent\u00f6ne, wie braun, rosa, graugelb usi. \u00fcberhaupt nicht vertreten, und man erh\u00e4lt demzufolge am Spektralapparat nur zweigliedrige Verwechslungsgleichungen, w\u00e4hrend man auch drei- und viergliedrige n\u00f6tig hat, man m\u00fcfste denn ad hoc ganz besondere, sehr komplizierte und sehr kostspielige Spektralapparate konstruieren. Aber auch dann noch w\u00fcrde man die Gleichungen nicht anschaulich fixieren k\u00f6nnen, und schliefslich auch keine wesentlich anderen Ergebnisse bekommen, als bei der einfachen Methode der unmittelbaren Mischung von Malerfarben. Was insbesondere die Konstruktion von Erregbarkeitskurven betrifft, so hat schon Doxders gesagt, dafs die von mir gegebenen Reihen der Verwechslungsgleichungen in Farben ausdr\u00fccken, was er selbst in Kurven darstelle. Dafs die erste Methode anschaulichere Resultate gibt als die letzte wird sich wohl nicht bestreiten lassen, und die Erregbarkeitskurven sind in jedem Falle leichter aus den Reihen der Farbengleichungen herzuleiten als umgekehrt.\nNach den Ergebnissen der Kontrastmethode kann ein anormales System nur aus einem Paar Gegenfarben bestehen, Gelb","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nJ. Stilling.\nund Blau, dies bei den meisten, oder aus Rot und Gr\u00fcn bei einer kleineren Anzahl, oder endlich es werden \u00fcberhaupt keine Farben mehr wahrgenommen, sondern nur Lichtintensit\u00e4ten.\nDie Kontrastmethode kann nur allgemeine Fingerzeige geben und sagt nichts aus in Beziehung auf die Einzeleindr\u00fccke. Sind ihre Resultate richtig, dann mufs das gesamte Farbensystem der Farbenblinden anschaulich darzustellen sein f\u00fcr die erste Gruppe nur durch Mischung von Blau und Gelb, f\u00fcr die zweite nur von Rot und Gr\u00fcn. Es mufs aber zugleich auch nachgewiesen werden k\u00f6nnen, dafs die Farben, welche das System der Farbenblinden ausmachen, den normalen gleich sind.\nIch habe schon vor langen Jahren einen Atlas der Verwechslungsfarben hergestellt, auf den ich bez\u00fcglich der Einzelheiten verweisen mufs, und habe dieser vorliegenden Arbeit nur die wichtigsten Gleichungen beigegeben, deren Einzelglieder ich jedoch in m\u00f6glichst intensiven T\u00f6nen frisch mit Hilfe einiger zuverl\u00e4ssigen Farbenblinden entworfen habe.\nEntwirft man sich eine vollst\u00e4ndige Farbenskala, die vom tiefsten Karminrot allm\u00e4hlich durch Gelbrot zum reinen Gelb, von da an durch Gelbgr\u00fcn zu reinem Gr\u00fcn, weiterhin durch Gr\u00fcnblau zum reinen Blau geht, und schliefslich durch die verschiedenen blauroten T\u00f6ne wieder zum reinen Rot zur\u00fcckf\u00fchrt, so findet man f\u00fcr die erste Klasse der Farbenblinden die Verwechslungst\u00f6ne, indem man durch verschiedene Mischung von Gelb und Blau (aufser Schwarz und Weifs) mit jedem Einzelgliede der Normalskala eine Gleichung herstellt. Man hat in der Doppelreihe auf der Tafel, welche die intensivsten roten und gr\u00fcnen T\u00f6ne enth\u00e4lt, sich nur die \u00dcberg\u00e4nge zu denken um auf die vollst\u00e4ndige Verwechslungsskala zu kommen, welche ich in dem Atlas gegeben habe. Die Tafel gibt in den Kolumnen 1 und 2 eine Reihe von zweigliedrigen Verwechslungsgleichungen, aus denen sich sehr leicht sofort dreigliedrige ableiten lassen, indem f\u00fcr jedes Rotgelb ein Gr\u00fcngelb vorhanden ist, welches mit demselben die gleiche Verwechslungsfarbe, Mattgelb oder Braun, je nachdem, gemeinsam hat, und ebenso gibt es f\u00fcr jedes Rotblau ein Gr\u00fcn oder Gr\u00fcnblau, welches als gemeinsame Verwechslungsfarbe Grau oder Blaugrau zeigt, usf. Die untere Reihe mufs demnach zeigen wie die Farbenblinden die obere sehen. Denn da die s\u00e4mtlichen T\u00f6ne der oberen Skala mit den entsprechenden der unteren verwechselt werden, so sind nur drei F\u00e4lle m\u00f6glich : Entweder erscheint die","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstellung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 397\nobere Reihe wie die untere, oder die untere wie die obere, oder beide Reihen erscheinen in ganz anderen T\u00f6nen. Der letzte Fall ist unmittelbar auszuschliefsen, weil es sich dabei nur um ein System handeln k\u00f6nnte, von dem auch der Normalfarbensichtige keinen Begriff h\u00e4tte. Erschiene aber dem Anormalen die untere Reihe so wie uns die obere, so w\u00fcrden diesem durchweg Farben, welche uns einen matten kaum farbig zu nennenden Eindruck machen, sehr lebhaft aussehen, und damit w\u00e4ren die Normalsichtigen die Farbenblinden. Ja unter diesen Umst\u00e4nden k\u00f6nnten die beiden Skalen auch schwerlich \u00fcberhaupt identisch erscheinen, da was uns Normalen schon eine lebhafte Farbe ist, den Anormalen noch viel lebhafter aussehen m\u00fcfste. Es bleibt also nur noch der erste von drei F\u00e4llen \u00fcbrig, dafs den Anormalen die obere Reihe so aussieht wie den Normalen die untere, dafs somit eine wirkliche Blindheit f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn besteht, und dafs diese beiden in gelblichen, bl\u00e4ulichen oder dem reinen Grau sich ann\u00e4hernden T\u00f6nen erscheinen, je nach der Menge des von den Farbstoffen reflektierten andersfarbigen Lichtes.\nEinen besonders zwingenden Beweis f\u00fcr diesen Satz liefern die viergliedrigen Verwechslungsgleichungen, wie sie auf der Tafel dargestellt sind. Das intensivste Gr\u00fcn ist dem Farbenblinden der ersten Klasse identisch mit einem ganz matten, schon dem Grau sich n\u00e4herndem Gr\u00fcn, zugleich aber mit einem intensiven Rot und einem Grau, welches ein wenig ins Gelbe f\u00e4llt. Dem ganz entsprechend zeigt die zweite viergliedrige Gleichung dieser Tafel ein sehr lebhaftes Rot identisch mit einem ganz schwachen Rot, welches in Braun f\u00e4llt, zugleich identisch mit einem sehr lebhaften Gr\u00fcn und endlich mit einem ganz matten, dunklem Gelb. Diese viergliedrigen Verwechslungsgleichungen k\u00f6nnen nur m\u00f6glich sein, wenn Rot und Gr\u00fcn im System \u00fcberhaupt fehlen und nur einen Lichteindruck zu machen imstande sind, dafs der gleichwohl farbige Eindruck, den rote und gr\u00fcne Pigmente her vorruf en nur danach sich richtet, welche andersfarbigen Strahlen von ihnen aufser Rot und Gr\u00fcn zur\u00fcckgeworfen werden. Die Methode des Simultankontrastes hat demnach den richtigen Weg gezeigt, ihr Ergebnis, dafs zwei Farbenenergien fehlen, stimmt genau mit dem Resultat, welches die Konstruktion der Verwechslungsgleichungen liefert. Es erhellt auch die \u00dcberlegenheit dieser einfachen Methode \u00fcber die mittels der Apparate zur Mischung von Spektralfarben, welche die wirklichen \"V eiwechs-","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nJ. Stilling.\nlungsgleichungen, i. e. diejenigen, welche die T\u00f6ne enthalten, in welchen die Farbenblinden die Normalfarben sehen, gar nicht liefern k\u00f6nnen.\nDie bisher aufgestellten Verwechslungsgleichungen haben nicht nur f\u00fcr eine beschr\u00e4nkte Anzahl zuverl\u00e4ssiger Versuchspersonen Geltung, deren Mithilfe man sich bei ihrer Herstellung zu bedienen gen\u00f6tigt ist. Sie gelten vielmehr f\u00fcr den bei weitem gr\u00f6fsten Teil derjenigen, welche Hot oder Gr\u00fcn nicht in normaler Weise wahrnehmen. Dies zu beweisen, gen\u00fcgt daran zu erinnern, dafs die pseudoisochromatischen Tafeln zur Diagnose der Farbenblindheit den Reihen dieser Verwechslungsgleichungen entnommen sind, deren Zuverl\u00e4ssigkeit sich seit mehr als dreifsig Jahren allgemein bew\u00e4hrt hat. Es ist damit klar gestellt, dafs auch alle in die erste Klasse geh\u00f6renden Farbenblinden, welche weniger zuverl\u00e4ssige Angaben machen, die sprachlichen Ausdr\u00fccke bunt durcheinander werfen, bei der Kontrastpr\u00fcfung auch die roten und gr\u00fcnen Schatten farbig zu sehen angeben, ganz denselben Gesetzen der mangelhaften Wahrnehmung unterworfen sind, wie die ersten, und sich von diesen nicht durch die Art der Wahrnehmung, sondern nur die mangelnde Beobachtungsf\u00e4higkeit und Selbstkritik unterscheiden.\nDie bei weitem gr\u00f6fste Zahl der Personen, welche der ersten Klasse angeh\u00f6ren, sind nur blind f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn als Farben, ihre Lichtempfindlichkeit aber ist vollkommen normal f\u00fcr alle homogenen Licht arten, sie kann sogar \u00fcbernormal (gr\u00f6fser als Eins nach der klinischen Ausdrucks weise) sein. Jedoch kommt es oft genug vor, wenn im ganzen diese F\u00e4lle auch nur eine Minderheit ausmachen, dafs die Unempfindlichkeit f\u00fcr die Farben verkn\u00fcpft ist mit einer verminderten Empfindlichkeit f\u00fcr homo- ! genes Licht, die sich bis zu einer vollkommenen partiellen Amaurose, einer teilweisen wirklichen Lichtblindheit steigern kann, wie ! bereits oben gesagt wurde. Wirkliche Lichtblindheit (und damit Verk\u00fcrzung des linken Spektralendes) ist in der ersten Klasse nicht selten f\u00fcr rotes Licht. F\u00fcr gr\u00fcnes Licht ist sie dagegen bisher noch nicht festgestellt, und ist in jedem Falle ein \u00e4ufserst j seltenes Vorkommnis. Allein sie kommt, wie ich glaube, vor, da ich in einem Falle von Rot- und Gr\u00fcnblindheit beim Entwerfen der Farbengleichungen fand, dafs obwohl die \u00fcbrigen Verwechslungsfarben die allgemein g\u00fcltigen waren, ein bestimmtes inten- 1 sives Gr\u00fcn als Verwechslungston ein tiefes dem Schwarz sich\ni","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 399\nn\u00e4herndes Dunkelgran hatte. (\u00c4ufserer Gr\u00fcnde halber konnte ich diesen Fall nicht mit dem Spektralapparat untersuchen.)\nIn einer Anzahl von F\u00e4llen ist die Farbenblindheit nicht mit partieller Lichtblindheit, sondern nur mit einer partiellen Amblyopie verkn\u00fcpft, \u00f6fter f\u00fcr Rot als f\u00fcr Gr\u00fcn, doch kommt auch das letztere ohne Zweifel vor. Zwischen den beiden Unterabteilungen, wrelche dadurch entstehen, dafs bei der ersten das Spektrum von normaler L\u00e4nge, bei der zweiten dagegen stark verk\u00fcrzt ist, bestehen demnach zahlreiche \u00dcberg\u00e4nge.\nDadurch, dafs zu einer bestehenden Blindheit f\u00fcr ein Farbenpaar eine partielle Lichtamblyopie oder partielle Lichtblindheit hinzutritt, \u00e4ndern sich auch die Verwechslungsgleichungen, indem Rot und Gr\u00fcn in dunkleren T\u00f6nen erscheinen m\u00fcssen, als bei intakter Lichtempfindlichkeit, gr\u00fcnblaue und rotblaue T\u00f6ne ein wenig blauer gesehen werden. Auch die mit reinem Grau verwechselten T\u00f6ne sind verschieden, da bei verk\u00fcrztem Spektrum in reinem Grau das von dem Pigment reflektierte Rot ganz fortf\u00e4llt und es demnach bl\u00e4ulich aussehen mufs. Aber selbst die extremsten F\u00e4lle haben eine so grofse Zahl von gemeinsamen Verwechslungsgleichungen, dafs selbst die meisten pseudo-isochromatischen Tafeln f\u00fcr sie und f\u00fcr alle Zwischenstufen gelten. Auf Reihe 6 der Tafel sind die gr\u00f6fsten Unterschiede in den Verwechs-lungst\u00f6nen fixiert. Das grellste und intensivste Rot hat bei normaler Lichtempfindlichkeit ein ziemlich intensives gelbliches Gr\u00fcn, bei verk\u00fcrztem Spektrum das daneben gesetzte dunklere Gr\u00fcn als Verwechslungsfarbe. Vergleicht man die Skalen im Atlas, so zeigt sich leicht, dafs im ersten Fall das Gr\u00fcn matt gelb, im zweiten braun (also dunkelgelb) erscheint. Reines Karmin erscheint bei normaler Lichtempfindlichkeit dunkelbraun, bei Amaurose f\u00fcr rotes Licht schwarz. Das sind die gr\u00f6fsten Differenzen, intensives Orange, desgleichen Gelbgr\u00fcn, die sich mit mattem Gelb zu einer dreigliedrigen Gleichung erg\u00e4nzen, erscheint schon f\u00fcr die extremsten F\u00e4lle gleich. Auch diese letzten Gleichungen beweisen besonders auff\u00e4llig, dafs in den Zusammenstellungen der Skalen die untere Reihe von den Farben-blinden so gesehen wird, wie von den Normalsichtigen die obere, sonst m\u00fcfste man annehmen, dafs was f\u00fcr uns schwarz ist, f\u00fcr die Rot-Gr\u00fcnblinden mit verk\u00fcrztem Spektrum karminrot w\u00e4re, diese demnach die Normalen nicht nur an Farbenempfindlich-","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nJ. Stilling.\nkeit, sondern auch an Lichtempfindlichkeit \u00fcbertreffen m\u00fcfsten, was doch widersinnig ist.\nMan hat bekanntlich aus der eben beschriebenen Klasse zwei machen wollen und eine von der Rotblindheit gesonderte Gr\u00fcnblindheit angenommen, die man aus der physiologischen Dreh faserhypothese herleitete. Es mufs deshalb an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen werden, dafs wir uns bei der Untersuchung der angeborenen Anomalien des Farbensinnes immer noch durchaus auf dem psychologischen Boden befinden, und irgendwelche physiologische Erkl\u00e4rungsversuche uns nichts an-gehen. Alle bisher betrachteten F\u00e4lle von angeborener Farben-blindheit haben das Gemeinsame, dafs von den vier Grundfarben in rein psychologischem Sinne zwei fehlen, n\u00e4mlich Rot und Gr\u00fcn. Unterschiede im Farbensehen innerhalb der ganzen grofsen Gruppe der Rot-Gr\u00fcnblindheit entstehen lediglich dadurch, dafs sich mit der Blindheit f\u00fcr die beiden Farben eine partielle Lichtamblyopie oder partielle Amaurose vergesellschaften kann. Diese Unterschiede sind, wie gezeigt worden ist, durchweg von keiner wesentlichen Bedeutung.\nDie zweite Form der partiellen angeborenen Farbenblind-heit ist im ganzen selten. Ich selbst habe im ganzen neun F\u00e4lle beobachtet, von anderen Autoren ist nur hier und da noch ein Fall beschrieben, in denen irgendwelche wesentliche Verschiedenheiten von meinen F\u00e4llen nicht zu finden sind. Scheinbare Differenzen erkl\u00e4ren sich durch ungen\u00fcgende Zuverl\u00e4ssigkeit der Versuchspersonen, sowie mangelhafte Herstellung der Verwechslungsgleichungen.\nSo klein die Beobachtungsreihen im Vergleich zu den so ungemein zahlreichen der ersten Klasse sind, so gen\u00fcgen sie dennoch vollst\u00e4ndig, das analoge Verh\u00e4ltnis von Farbenempfindlichkeit und Lichtempfindlichkeit zu konstatieren. Die Sehsch\u00e4rfe kann f\u00fcr alle farbigen Lichter vollkommen normal sein, oder es kann partielle Lichtamblyopie und partielle Amaurose bestehen. Von meinen F\u00e4llen hatten drei ein Spektrum von normaler L\u00e4nge, bei den \u00fcbrigen fand ich eine hochgradige Verk\u00fcrzung nach rechts, welche nicht nur das gesamte Violett, Blau, Gr\u00fcnblau umfafste, sondern sich selbst in das Gr\u00fcn hinein bis zur Linie b (der des Thalliums) erstreckte, welche die genaue Grenze bildete.. Die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Blau war nat\u00fcrlich in allen diesen F\u00e4llen f\u00fcr farbige Buchstaben stark herabgesetzt. Auch f\u00fcr Gelb und Gr\u00fcn","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 401\nfand ich sie herabgesetzt, w\u00e4hrend sie f\u00fcr Rot normal war, doch fand ich sie auch f\u00fcr Gelb wie Blau in anderen F\u00e4llen normal. Die Unabh\u00e4ngigkeit der Farbenwahrnehmung von der Lichtwahrnehmung geht mithin soweit, dafs eine teilweise Lichtblindheit bestehen kann, ohne dafs die Empfindlichkeit f\u00fcr die entsprechende Farbe irgendwie gest\u00f6rt ist.\nEs wurde schon oben angef\u00fchrt, dafs die Kontraste f\u00fcr Blau und Gelb in allen meinen F\u00e4llen v\u00f6llig fehlten, f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn aber normal waren und auch fast immer richtig benannt wurden. Auch die Konstruktion der Verwechslungsgleichungen beweist, dafs die zweite Klasse die v\u00f6llige Kehrseite der ersten darstellt.\nIch habe in f\u00fcnf F\u00e4llen die Verwechslungsgleichungen nach nach dem beschriebenen Verfahren hergestellt und fixiert. Jedoch sind nur zwei von ihnen mit unverk\u00fcrztem Spektrum und normaler Empfindlichkeit auch f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn. In den \u00fcbrigen F\u00e4llen dagegen, wie in allen seither von anderen Autoren mitgeteilten war entweder das Spektrum stark verk\u00fcrzt, und aufser der partiellen Lichtamblyopie f\u00fcr Gelb und Gr\u00fcn und der wirklichen Blindheit f\u00fcr homogenes Blau und sogar einen Teil des Gr\u00fcn, auch nicht in allen F\u00e4llen die Farbenempfindlichkeit f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn ganz normal. In dem letzten Fall, den ich gesehen habe, war zwar die Lichtempfindlichkeit normal, auch die f\u00fcr farbiges Licht, allein die Farbenempfindlichkeit f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn so stark herabgesetzt, dafs man hierin einen wirklichen \u00dcbergang zur totalen Farbenblindheit sehen mufste.\nAuf Reihe 4 und 5 der Tafel habe ich die Hauptverwechslungsgleichungen jener beiden F\u00e4lle fixiert, welche bisher allein ganz rein und ohne wesentliche Komplikation seitens der Lichtempfindlichkeit f\u00fcr homogenes Blau und Gelb, sowie der Farbenempfindlichkeit f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn bekannt geworden sind. F\u00fcr die volle Zahl der Gleichungen verweise ich auf den angef\u00fchrten Atlas sowie auf die Dissertation von Uhry,1 f\u00fcr den vorliegenden Zweck ist es gen\u00fcgend, die Gleichungen zu fixieren, welche die intensivsten gelben und blauen T\u00f6ne sowie che wichtigsten \u00dcberg\u00e4nge zwischen ihnen enthalten.\nWie bei der Rot-Gr\u00fcnblindheit zeigt die Reihe der Verwechslungsfarben auch hier lauter matte T\u00f6ne, und dieselben Schl\u00fcsse\n1 Beitr\u00e4ge zur Kasuistik der Blau-Gelbblindheit. Saargem\u00fcnd 1894.","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nJ. Stilling.\nwie dort sind auch hier g\u00fcltig. Gerade so wie dort kann man auch hier aus der Reihe der zweigliedrigen Gleichungen sich die drei- und viergliedrigen konstruieren, und damit beweisen, dafs Blau und Gelb im System fehlen und die obere normale Reihe von den Blau-Gelbblinden so gesehen wird, wie von den Normalen die untere.\nDie Verwechslungsgleichungen meiner beiden F\u00e4lle von reiner Blau-Gelbblindheit zeigen unter sich keine Differenzen, indem die Reihen des ersten Falles, die schon im Jahre 1878 gefunden waren, 1894 von meinem zweiten, \u00e4ufserst zuverl\u00e4ssigen gelehrten Blaublinden als ebenso f\u00fcr ihn g\u00fcltig versichert wurden. Aber auch die \u00fcbrigen F\u00e4lle, in denen die Farbenblindheit durch Lichtblindheit kompliziert ist, zeigen sich von den ersten nicht wesentlich verschieden, so dafs auch hier f\u00fcr die extremsten F\u00e4lle eine Anzahl gleicher Verwechslungsfarben vorhanden sind.\nSo fand ich die Gleichung Blau-Gr\u00fcn, Gelb-Rot, Violett-Rotgrau f\u00fcr alle F\u00e4lle so gut wie identisch. Die gr\u00f6fsten Unterschiede fand ich bei den mit reinem Grau verwechselten T\u00f6nen. Bei reiner Blau-Gelbblindheit f\u00e4llt das mit Grau identisch gesehene Gelb stark ins Gr\u00fcne, in dem oben erw\u00e4hnten Falle, in welchem auch eine starke Herabsetzung der Farbenempfindlichkeit f\u00fcr Rot-Gr\u00fcn da war, wurde ein reines Gelb mit Grau identisch gesehen, die entsprechend blauen oder vielmehr violetten T\u00f6ne jedoch sind f\u00fcr diese beiden F\u00e4lle ebenfalls vollkommen gleich. Ich konnte daher auch f\u00fcr diese Abart der partiellen Farbenblindheit trotz der geringen Kasuistik im Vergleich zur ersten Klasse, pseudo-isochromatische Tafeln anfertigen. Trotzdem diese sich im Jahre 1878 nur auf die Fixierung von Gleichungen bezogen, die von zwei F\u00e4llen mit stark verk\u00fcrztem Spektrum herr\u00fchrten, fand ich dennoch damit auch die beiden unkomplizierten heraus. Auch die Blaublinden der anderen Autoren, welche genaue Beschreibungen geliefert haben, waren meistens nicht imstande, jene Tafeln s\u00e4mtlich zu entziffern, im einzelnen habe ich herausgefunden, dafs die erste dieser Tafeln in Mattblau und Gr\u00fcngelb nur f\u00fcr verk\u00fcrztes Spektrum gilt, w\u00e4hrend f\u00fcr unverk\u00fcrztes Spektrum der blaue Ton viel mehr in das Violette f\u00e4llt. Dagegen scheint die Verwechslungsgleichung Gelb-Rosa auch f\u00fcr die extremsten F\u00e4lle G\u00fcltigkeit zu haben, ebenso die von Blau-Gr\u00fcn usw.\nEine so genaue Vergleichung wie zwischen angeborener und","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"\u00bb \u2022\nUber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 403\nerworbener Rot-Gr\u00fcnblindheit l\u00e4fst sich f\u00fcr die zweite Art der partiellen Farbenblindheit nicht ziehen, weil die ophthalmologische Pathologie zu wenig genaue Beobachtungen auf dem Gebiete der zweiten aufweist. Aber die ganze zweite Abart hat etwas durchaus Pathologisches an sich, weil die partielle Lichtamblyopie und Amaurose sich mit ihr so weitgehend vergesellschaftet, und das in den meisten bisher beobachteten F\u00e4llen, wie dies bei der Rot-Gr\u00fcnblindheit, ja selbst bei der angeborenen totalen Farbenblindheit gar nicht vorkommt, bei welchen eine so enorme Verk\u00fcrzung\ndes Spektrum nicht beobachtet worden ist. Auch in bezug auf\n\u2022 *\ndas Farbensystem allein bildet die zweite Abart den \u00dcbergang zur totalen Farbenblindheit, indem sich zu der Blindheit f\u00fcr Blau und Gelb herabgesetzte Empfindlichkeit f\u00fcr das \u00fcbrig bleibende Farbenpaar in so deutlich hervortretender Art gesellen kann, wie dies bei der Rot-Gr\u00fcnblindheit nicht zu finden ist.\nDie angeborene totale Farbenblindheit endlich ist von der erworbenen in nichts unterschieden, und tr\u00e4gt den Charakter des pathologischen um so mehr an sich, als in den meisten F\u00e4llen angeborene totale Farbenblindheit mit einer mehr oder weniger hochgradigen Schwachsichtigkeit verbunden ist. In den F\u00e4llen, in denen die Sehsch\u00e4rfe noch beinahe oder ganz normal war, ist die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr farbiges Licht nicht untersucht worden. Ich habe schon oben einen Fall erw\u00e4hnt, in dem die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Schwarz und Weifs zwar normal, f\u00fcr farbiges Licht aber stark gesunken war, und so kann es auch in anderen F\u00e4llen gewesen sein. So habe ich in meinem Atlas einen Fall von angeborener totaler Farbenblindheit mit normaler Sehsch\u00e4rfe aber mit betr\u00e4chtlich gesunkener Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Blau. Jedoch mag auch das Gegenteil ausnahmsweise Vorkommen, so habe ich einen Fall von erworbener totaler Farbenblindheit beschrieben, in dem die Sehsch\u00e4rfe noch zwei Drittel der Norm betrug, die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr farbiges Licht aber ganz gleichm\u00e4fsig gesunken war. Was vollends der angeborenen Farbenblindheit, wenn sie total ist, den Stempel des Pathologischen aufdr\u00fcckt, sind ihre Begleiterscheinungen, wie Nystagmus, der sehr h\u00e4ufig dabei beobachtet ist, und zweifellos auf ein w\u00e4hrend der F\u00f6talperiode \u00fcberstandenes Gehirnleiden zur\u00fcckweist. Manche Autoren haben zentrale Skotome beobachtet, auch Spuren von Sehnervenatrophie ophthalmoskopisch gesehen, wogegen von anderer Seite Widerspruch erhoben ist. So hat v. Hippel bei angeborener totaler\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 44.\t26","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nJ. Stilling.\nFarbenblindheit trotz- bestehender Amblyopie den Augenhintergrund vollkommen normal gefunden. Es ist wohl anzunehmen, dafs beide Recht haben, weil nach Entz\u00fcndungsprozessen im Sehnerven sowohl v\u00f6llige Heilung eintreten, wie auch ein Skotom Zur\u00fcckbleiben kann, und ebenso kann das ophthalmoskopische Bild mit vollst\u00e4ndiger Regeneration und Wiederherstellung normaler Zirkulation normal werden, oder es kann ein oder die andere Spur eines \u00fcberstandenen entz\u00fcndlichen Vorgangs Zur\u00fcckbleiben.\nUnter den Ophthalmologen hat sich wohl stillschweigend die allgemeine Ansicht gebildet, dafs die totale angeborene Farbenblindheit als etwas Pathologisches angesehen werden m\u00fcsse. Doch kann man dabei nicht annehmen, dafs es sich um zentrale Prozesse in der Sehsph\u00e4re, ja nicht einmal in den weiter peripher gelegenen grofsen Ganglien, Vierh\u00fcgel und Sehh\u00fcgel, handle, weil in diesem Falle isolierte (allenfalls mit motorischen St\u00f6rungen wie Nystagmus kombinierte) Sehst\u00f6rungen kaum entstehen k\u00f6nnten. Es k\u00f6nnte sich h\u00f6chstens um seltene Ausnahmen handeln, etwa wie sie nach Apoplexien Vorkommen, sonst aber m\u00fcfste die St\u00f6rung der Funktionen des Auges mit anderen zentralen St\u00f6rungen, vor allem der Intelligenz einhergehen. Es gen\u00fcgt daher vollst\u00e4ndig, wenn man als Ursache ein in der F\u00f6talperiode \u00fcberstandenes entz\u00fcndliches Sehnervenleiden in der Gegend des Chiasma oder peripher von diesem annimmt.\nIst man aber zu der \u00dcberzeugung gelangt, dafs die totale angeborene Farbenblindheit auf ein \u00fcberstandenes intrauterines Sehnervenleiden zur\u00fcckzuf\u00fchren sei, so ist auch kein Grund vorhanden, nicht auch einen Schritt weiter zu gehen und die angeborene partielle Farbenblindheit ebenfalls auf ein solches, oder wenn das besser klingt, allgemeiner gesagt auf eine Entwicklungshemmung zu beziehen, die jedoch nach unseren heutigen Anschauungen in jedem Falle auf eine nicht physiologische St\u00f6rung sich gr\u00fcndet.\nAtrophie von Sehnervenfasern ist die einzige bekannte Ursache von Farbenblindheit, sie f\u00fchrt auch zu gleicher Zeit zu partieller Lichtblindheit, die in einer Verk\u00fcrzung oder einer Kontinuit\u00e4tsunterbrechung des Spektrum ihren Ausdruck findet. Da d\u00fcrfte denn auch der umgekehrte Schlufs richtig sein, dafs wo Farbenblindheit und partielle Lichtblindheit ist, diese durch Atrophie von Sehnervenfasern entstanden sei. Oder wenigstens,","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 405\ndafs ein Teil der Sehnervenfasern sich \u00fcberhaupt nicht habe bilden k\u00f6nnen, was aber im Grunde dasselbe ist. In der Tat, wie soll man sich die enorme Verk\u00fcrzung des Spektrum bis zur Thalliumlinie und die totale Unempfindlichkeit f\u00fcr die entsprechenden homogenen Lichter, die auch f\u00fcr das lichtst\u00e4rkste Spektrum besteht, anders erkl\u00e4ren, als durch den Mangel an Sehnervenfasern? Was aber f\u00fcr die Verk\u00fcrzung nach rechts gilt, das wird auch f\u00fcr die nach links gelten, wie sie so h\u00e4ufig bei der angeborenen Rot-Gr\u00fcnblindheit besteht. Wie grofs die \u00dcbereinstimmung in den Erscheinungen der erworbenen und angeborenen Farbenblindheit ist, habe ich mich ausf\u00fchrlich darzulegen bem\u00fcht. Sie wird noch in die Augen fallender durch die Existenz einzelner F\u00e4lle, in denen es geradezu unm\u00f6glich ist, den strikten Beweis zu liefern, ob die Anomalie angeboren oder erworben ist. Ich habe einen in dieser Beziehung besonders interessanten Fall beobachtet. Es bestand eine Rot-Gr\u00fcnblindheit mit Herabsetzung der Sehsch\u00e4rfe seit der Kindheit, und es bestand dieselbe falsche Terminologie wie in den meisten F\u00e4llen von angeborener Farbenblindheit. Die Untersuchung mit dem Augenspiegel ergab aber unzweideutig in beiden Augen Reste von Neuroretinitis, und die Anamnese, dafs in fr\u00fcher Kindheit eine Meningitis \u00fcberstanden war, womit denn auch klar wurde, dafs die Anomalie des Farbensinnes als eine erworbene angesehen werden mufste. Es ist aber gewifs gleichg\u00fcltig, ob eine Meningitis und eine konsekutive Neuroretinitis (oder auch eine einfache Neuritis) in fr\u00fcher Kindheit oder noch fr\u00fcher, w\u00e4hrend der F\u00f6talzeit, auftritt, auch ist es einleuchtend, dafs, je fr\u00fcher ein solcher Prozefs Platz greift, desto gr\u00f6fser die Chance ist, dafs er vollkommen ausheilt, der Sehnerv sich besser regeneriert, und vor allem, dafs die Zirkulation wieder normal wird. Es erkl\u00e4rt sich daher sehr leicht, dafs sowohl bei Blaublindheit mit sehr starker spektraler Verk\u00fcrzung wie auch bei totaler angeborener Farbenblindheit der Augenhintergrund normal gefunden worden ist.\nBetrachtet man also im allgemeinen Farbenblindheit als\nFolge von Sehnervenleiden, so ist damit das gesamte Gebiet der\nLehre von den St\u00f6rungen des Farbensinnes in die ophthal-\nmologische Pathologie verlegt und der rein physiologischen\nForschung entzogen. Hierdurch wird die ganze Lehre in der\nw\u00fcnschenswertesten Weise vereinfacht. Handelt es sich bei den\nAnomalien der F\u00e4rb en Wahrnehmung um die Folgen krankhafter\n26*","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nJ. Stilling.\nVorg\u00e4nge, so k\u00f6nnen die anomalen Systeme nicht physiologische und folglich auch nicht psychologische Variet\u00e4ten darstellen. Es kann sich vielmehr die Beziehung zwischen normalen und anormalen Systemen nur so verstehen lassen, dafs dem letzten Qualit\u00e4ten der Wahrnehmung fehlen, welche dem ersten eigen sind.\nVon diesem Gesichtspunkt aus wird man auch jene anormalen Systeme untersuchen m\u00fcssen, welche man seit den Untersuchungen Loed Rayleighs als \u201eanomale Trichromasien\u201c in die moderne Lehre von der Farbenblindheit eingef\u00fchrt hat, und welche in hohem Mafse dazu beitragen, die schon ohnehin hier und da unklaren Vorstellungen \u00fcber die Farbenwahrnehmung und ihre Anomalien noch mehr zu verwirren. Dies um so mehr, als es zum grofsen Teil Schriftsteller mit anormalem Farbensinn sind, welche dieses Gebiet bearbeiten.\nDie \u201eFarbenanomalen\u201c, wie sie ganz speziell von den modernen Autoren genannt werden, charakterisieren sich bekanntlich dadurch, dafs sie bei Mischungsversuchen spektraler Lichter, welche dahin zielen, aus Rot und Gr\u00fcn ein Gemisch herzustellen, welches einem homogenem Gelb gleich ist, dazu entweder mehr Rot als die Normalen, oder auch mehr Gr\u00fcn dazu brauchen, und die man demgem\u00e4fs in \u201eRotanomale\u201c und in \u201eGr\u00fcnanomale\u201c eingeteilt hat.\nDokdees, der die Untersuchungen von Loed Rayleigh nachpr\u00fcfte, fand, dafs derartige Personen einen sogenannten schwachen Farbensinn hatten.\nEs ist den Ophthalmologen schon lange bekannt, dafs es eine Anzahl Personen gibt, welche, ohne wirklich farbenblind zu sein, sich doch unter gewissen Umst\u00e4nden wie Farbenblinde verhalten, dann n\u00e4mlich, wenn es sich darum handelt, Farben in diluierteren T\u00f6nen oder (was dasselbe ist) in gr\u00f6fseren Entfernungen zu unterscheiden. Sie sind also farbenschwachsichtig und man sollte sie deshalb als Farbenamblyopen bezeichnen. Diese Farbenamblyopie zeigt sich am h\u00e4ufigsten f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn, seltener f\u00fcr Blau und Gelb oder f\u00fcr alle Farben, das Gesetz der Gegenfarben gilt aber ebenso wie bei der Farbenblindheit. Pathologische Erfahrungen deuten darauf hin, dafs einer jeden erworbenen Farbenblindheit eine Farbenamblyopie vorausgeht, so dafs auch die angeborene Farbenschwachsichtigkeit in die Ophthalmopathologie verwiesen werden mufs : sie","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 407\nhat ein Analogon in der angeborenen Lichtamblyopie, die so h\u00e4ufig vorkommt, bei der aber der Farbensinn vollkommen ungest\u00f6rt ist, eine Tatsache, welche ebenfalls die Unabh\u00e4ngigkeit der Farbenwahrnehmung von der blofsen Lichtwahrnehmung beweist.\nBei den Farbenamblyopen sind die Farbenfelder bei der perimetrischen Untersuchung mehr oder weniger eingeengt und im Zentrum ist die Intensit\u00e4t der Farbe schw\u00e4cher gegen die Norm. Dies zeigt sich eben darin, dafs die Farbe in Entfernungen, in welchen sie das normale Auge ohne Schwierigkeit wahrnimmt, nicht differenziert wird, es handelt sich sozusagen um eine Farbenblindheit \u201ein distans.\u201c Die Farbenamblyopen verraten sich sofort dadurch, dafs sie die pseudo-isochromatischen Tafeln nicht entziffern, obwohl sie die einzelnen farbigen T\u00fcpfel ohne grofse Schwierigkeit, ja oft mit grofser Sicherheit herauszufinden verm\u00f6gen und eben deshalb auch die NAGELsche Probe meistens ganz richtig bestehen. Ihr Verhalten erkl\u00e4rt sich aus dem Hereinr\u00fccken der schon normal farbenblinden Felder der Netzhautperipherie gegen den Fixierpunkt, die Farbenwahrnehmung im Zentrum ist qualitativ intakt, aber es fehlt der \u00dcberblick \u00fcber eine gr\u00f6fsere Fl\u00e4che. Die Kontraste dagegen, wenn man sie nicht etwa ausdr\u00fccklich abschw\u00e4cht, nehmen sie, wie bereits oben angef\u00fchrt wurde, sehr gut wahr. Dies gilt allerdings zun\u00e4chst f\u00fcr die grofse Menge der Farbenamblyopen, also f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn. Dagegen fand ich die Farbenamblyopie \u00fcberhaupt zuerst f\u00fcr Blau und Gelb, und zwar dadurch, dafs die Schatten farblos gesehen wurden, obgleich lebhafte Pigmente und Spektralfarben richtig erkannt wurden.\nDondebs fand zuerst die Amblyopie f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn und stellte genauere Untersuchungen dar\u00fcber an. Er stellte unter anderem fest, dafs zwischen dieser Anomalie und der Norm keine \u00dcberg\u00e4nge zu finden sind, wohl aber zwischen ihr und der Rot--und Gr\u00fcnblindheit, ein Verh\u00e4ltnis, welches ebenfalls zu beweisen scheint, dafs es sich dabei um etwas handelt, was auf das Gebiet der Ophthalmopathologie geh\u00f6rt, und nicht etwa um Differenzen\ninnerhalb der normalen Breite.\nAls Dondees sp\u00e4ter die Angaben von Lobd Rayleigh nachpr\u00fcfte, fand er, dafs jene Personen, die bei spektralen Mischungen,, um eine Gleichung mit Gelb zu bilden, bald zuviel Rot, bald zuviel Gr\u00fcn verwandten, zu den Farbenschwachen geh\u00f6rten.","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nJ. Stilling.\nSeine Erkl\u00e4rung lautet dahin, dafs bei ihnen die beiden Valenzen f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn lediglich als Farben ungleich gesunken seien, und die Intensit\u00e4t des homogenen Lichtes nichts damit zu tun habe. Die Farbenamblyopie hielt er dadurch f\u00fcr erwiesen, dafs die pseudo-isochromatischen Tafeln nicht entziffert werden konnten, und auch aufserdem sich diese Personen als farbenschwach zeigten, wor\u00fcber er sich nicht weiter ausl\u00e4fst, weil er den ersten Beweis schon f\u00fcr gen\u00fcgend hielt.\nGegen diese Auffassung von Donders erhoben mehrere andere Autoren scharfen Einspruch. Diese Autoren rechneten sich selbst zu den \u201eAnomalen\u201c und legten ihre Beobachtungen in zwei unter v. Kries ausgearbeiteten Dissertationen1 nieder, der ihnen ausdr\u00fccklich beipflichtet.\nDie Meinung dieser Forscher geht dahin, dafs ihre Farbensysteme bisher unbekannte Varianten des normalen Wahrnehmungssystems vorstellen, derart, dafs sie v\u00f6llig die eigentlichen Qualit\u00e4ten der normalen Wahrnehmung besitzen, dafs aber die einzelnen Farben infolge \u201eeiner abweichenden Reizverteilung\u201c ihnen anders erschienen als den Normalen, und diese abweichende Reizverteilung so weit gehen k\u00f6nne, dafs sie in vieler Beziehung den Farbenblinden \u00e4hnlich w\u00fcrden.\nUnter einer \u201eabnormen Reizverteilung\u201c kann doch nur zweierlei verstanden werden. Einmal die verschiedene Empfindlichkeit f\u00fcr homogenes Licht als Licht schlechtweg, und das andere Mal die verschiedene Empfindlichkeit f\u00fcr die Farbe als solche f\u00fcr sich allein. Es liefse sich, obgleich Donders diese M\u00f6glichkeit in Betracht gezogen hat und abweisen zu m\u00fcssen der Meinung war, bei der geringen Zahl seiner Versuchspersonen dennoch sehr wohl vorstellen, dafs es eine Amblyopie oder auch eine wirkliche Amaurose f\u00fcr Strahlen bestimmter Brechbarkeit gebe, ohne dafs die F\u00e4higkeit die entsprechende Farbe wahrzunehmen, qualitativ irgendwie beeintr\u00e4chtigt sei, ja bei der Blaublindheit kommt es in der Tat vor, dafs die Lichtempfindlichkeit f\u00fcr einen Teil der gr\u00fcnen Strahlen ausf\u00e4llt, und dennoch Gr\u00fcn als Farbe wie in der Norm wahrgenommen wird. Es w\u00e4re demnach durchaus denkbar, dafs es Personen gebe mit einer partiellen\n1 Artur Lotze, Untersuchungen eines anom. trichrom. Farbensystems. Freiburg 1898. Max Levy, \u00dcber einen zweiten Typus des anomal, trichrom. Farbensystems. Freiburg 1903.","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 409\nLichtamblyopie oder partiellen Lichtamaurose, aber mit normalem Farbensinn. In solchen F\u00e4llen k\u00f6nnte intensives Rot oder Gr\u00fcn z. B. viel dunkler als dem Normalen erscheinen, und daher k\u00f6nnte sich ein solcher partiell Lichtblinder besonders kleinen Objekten gegen\u00fcber wie ein Farbenblinder verhalten. Es lassen in der Tat die Erregbarkeitskurven der \u201eanomalen Trichromaten\u201c Lotze und Max Levy deutlich erkennen, dafs der erste eine stark herabgesetzte Lichtempfindlichkeit f\u00fcr Gr\u00fcn, der zweite eine noch st\u00e4rkere f\u00fcr Rot hat.\nIch habe, indem ich diese M\u00f6glichkeit ins Auge fafste, die anomale Trichromasie zu erkl\u00e4ren, eine grofse Reihe von Untersuchungen vorgenommen, welche die Bestimmung der Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr verschiedenfarbiges Licht bezweckte, bin aber zu dem Ergebnis gelangt, dafs eine solche partielle Lichtamblyopie oder Lichtblindheit, wie man sie sich aprioristisch wohl vorzustellen berechtigt ist, innerhalb der normalen Breite der Lichtempfindlichkeit nicht vorkommt, das heilst nicht isoliert vorkommt. Sobald die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr eine Farbe mefsbar sinkt, besteht auch zugleich Farbenblindheit, sinkt die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr eine Farbe, in specie f\u00fcr Rot, wobei dies am h\u00e4ufigsten vorkommt, nur auf die H\u00e4lfte der normalen, so besteht nicht nur zugleich Rot-Gr\u00fcnblindheit, sondern das Spektrum ist auch dabei nach links verk\u00fcrzt. Niemals habe ich gesehen, dafs eine derartige starke Herabsetzung der Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr farbiges Lieht nur mit Farbenamblyopie verkn\u00fcpft gewesen w\u00e4re, sondern ausschliefslich mit Farbenblindheit.\nAber ganz abgesehen von diesen Ergebnissen w\u00fcrde eine auf die H\u00e4lfte und mehr gesunkene Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr ein farbiges Licht eine abweichende Wahrnehmung der Farbe nicht zu erkl\u00e4ren imstande sein. Denn die Erfahrungen der ophthalmo-1 ogis eh en Pathologie zeigen, dafs die Lichtempfindlichkeit auf geradezu verschwindende Werte sinken kann, ohne dafs die Farbenwahrnehmung darunter leidet. Selbst bei zentralen Skotomen, also bei Sehnervenleiden, habe ich die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr farbiges Licht auf ein Achtzehntel der normalen (bei der Pr\u00fcfung mit wirklich homogenem Licht wT\u00fcrde der Wert nat\u00fcrlich noch viel geringer sein) sinken sehen, und dennoch wurden die Farben zentral richtig erkannt. Vollends bei Amblyopia congenita kann die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr farbiges Licht auf weniger als ein Hundertstel der normalen sinken, und dennoch werden selbst die i.arbigen T\u00fcpfel der pseudo-isochromatischen Tafeln richtig differenziiert.","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nJ. Stilling.\nAus einer partiellen Lichtamblyopie oder selbst partiellen Amaurose kann daher die abweichende Wahrnehmungsart jener \u201eanomalen Trichromaten\u201c nicht erkl\u00e4rt werden, so dafs auf die Erkl\u00e4rung von Donders zur\u00fcckgegriffen werden mufs. Donders sucht, wie wir wissen, die Erkl\u00e4rung der Ph\u00e4nomene in einer ungleichen Valenz f\u00fcr ein Farbenpaar, betont aber dabei, dafs f\u00fcr zwei Farben die Empfindlichkeit mehr oder weniger herabgesetzt ist, also eine Farbenamblyopie bestehe. Nach Donders w\u00e4ren auch die \u201eanomalen Trichromaten\u201c A. Lotze und M. Leyy Farbenschwache, da sie die pseudo-isochromatischen Tafeln nicht entziffern konnten. Aber diese beiden behaupten gegen Donders, es sei kein Beweis f\u00fcr einen schwachen Farbensinn, wenn diese Probe nicht bestanden w\u00fcrde. Einen irgendwie einleuchtenden Beweis f\u00fcr diese wunderliche Behauptung k\u00f6nnen sie freilich nicht erbringen, und die Beschreibung welche sie von ihren Farbenwahrnehmungen geben, l\u00e4fst keine andere Annahme zu, als dafs es sich hier um zwei gelehrte Farbenblinde handele, welche sich gern einreden m\u00f6chten, dafs ihr Farbensinn mehr oder weniger normal sei, eine Erscheinung, die gar nicht so sehr selten ist. Wenn Max Levy erz\u00e4hlt, er sehe unter dem Mikroskop mit Karmin gef\u00e4rbte Tuberkelbazillen entweder \u00fcberhaupt nicht, oder wenn er darauf aufmerksam gemacht werde, nur als schwarze St\u00e4bchen, auch k\u00f6nne er die Roseolen bei Typhus nicht unterscheiden , so sind das charakteristische Zeichen f\u00fcr Farbenblindheit. Und wenn man mit diesen Angaben seine von ihm entworfenen Energiekurven vergleicht, so kann es kaum einem Zweifel unterliegen, dafs man es hier mit einem gew\u00f6hnlichen Rot-Gr\u00fcnblinden zu tun hat, dessen Lichtempfindlichkeit f\u00fcr Rot dazu noch sehr herabgesetzt ist (wie er denn auch selbst bemerkt dafs seine Kurve der eines \u201eProtanopen\u201c, wie die neueren Chromatologen die Rot-Gr\u00fcnblindheit mit nach links verk\u00fcrztem Spektrum bezeichnen, sehr \u00e4hnlich sei), der sich aber im Erkennen von Farben sehr ge\u00fcbt hat. Ganz analog verh\u00e4lt es sich mit der Beschreibung von A. Lotze, der ein Rot-Gr\u00fcnblinder ohne spektrale Verk\u00fcrzung ist, aber allem Anschein nach im Gegensatz zu dem ersten eine verminderte Lichtempfindlichkeit f\u00fcr Gr\u00fcn hat.\nAber auch v. Kries1, der mit seiner Autorit\u00e4t diese Unter-\n1 Zeitschr. f. Physiol, d. Sinnesorgane 19, S. 69.","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 411\nsuchungen deckt, behauptet, dafs es kein sicheres Zeichen von schwachem Farbensinn sei, wenn jemand eine f\u00fcr den Normalen leicht lesbare pseudo-isochromatische Tafel nicht entziffern k\u00f6nne. Er sagt w\u00f6rtlich folgendes: \u201eAm Spektralapparat k\u00f6nnen wir Farben hersteilen, die dem Normalen gleich, dem Anomalen verschieden erscheinen. W\u00e4re zuf\u00e4llig in einer Tafel eine Kombination solcher Art getroffen, so k\u00f6nnten die Anomalen uns f\u00fcr farbenschwach zu erkl\u00e4ren geneigt sein. Eine derartige einzelne Tatsache ist also nicht mafsgebend, man wird die Unterschiedsempfindlichkeiten direkt oder auf Grund der mittleren Fehler vergleichen missen.\u201c Nun ist aber die Unterschiedsempfindlichkeit der partiell Farbenblinden der normalen \u00fcberlegen, ihr System besteht nur aus einem Paar Gegenfarben, so dafs die \u00dcberg\u00e4nge viel unvermittelter sind, ein Verhalten, welches den Farbenblinden sehr dazu verhilft, die Farben richtig zu erraten. Die Differenz der Norm gegen\u00fcber kann so grofs werden, dafs (wie die Skalen f\u00fcr die Blaublindheit zeigen) benachbarte Farbent\u00f6ne, wie Gelb und schwach Gr\u00fcngelb, f\u00fcr den Normalen nur sehr wenig verschieden, dem Farbenblinden in antagonistischen T\u00f6nen erscheinen. Wie sollen pseudo-isochromatische Tafeln in irgend einem Falle dem Normalen in gleichen T\u00f6nen f\u00fcr Figur und Grund erscheinen, da sie doch dann schon gar nicht zu brauchen w\u00e4ren? Mir bleibt in der Tat nichts \u00fcbrig als zu gestehen, dafs dieser Satz von Kries in mir die Vermutung erweckt, dafs er selbst vielleicht in geringem Grade farbenamblyopisch ist und sich irrt\u00fcmlich bisher f\u00fcr ganz normalsichtig gehalten hat. Vollends, wenn A. Lotze1 sagt: \u201eDabei ist zu bedenken, dafs bei diesen Tafeln der Farbensinn des Anfertigers sehr in Betracht gezogen werden mufs, denn es kann Vorkommen, dafs solche Zusammenstellungen von einem anomalen Trichromaten gemacht werden, und dafs ein normaler Beobachter dem sie falsch erscheinen, in den Verdacht kommt, dafs sein Farbensinn eine Anomalie darbiete\u201c, so wird, denke ich, ein jeder Ophthalmologe mit mir der Meinung sein, dafs nur ein Farbenblinder, der sich \u00fcber seine und anderer Wahrnehmungsarten nicht klar ist, solche S\u00e4tze aufstellen kann, in die doch kein Sinn hineinzubringen ist.\nGleichviel worauf die sogenannte anomale Trichromasie beruhen k\u00f6nnte, auf einer partiellen Lichtamblyopie oder Licht-\n1 a. a. 0.","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nJ. Stilling.\nblindheit, oder auf einer herabgesetzten Empfindlichkeit f\u00fcr eine einzige Farbe, oder endlich auf einem ganz abweichenden Farbensystem \u2014 in keinem Falle w\u00fcrde man zu ihrer Diagnose die pseudoisochromatischen Tafeln benutzen k\u00f6nnen. Beruhte die Anomalie auf einer Lichtamblyopie, so liefse sich vielleicht zur Not erkl\u00e4ren, dafs dann eine Tafel in Dunkelrot und Schwarz nicht gelesen werden k\u00f6nnte, allein die Tafeln in Rot und Gr\u00fcn, in Gelb und Gr\u00fcn, in Grau und Rosa m\u00fcfsten wegen der gr\u00f6fseren Intensit\u00e4tsunterschiede noch besser als von Normalsichtigen gelesen werden. Nun gar, wenn die Farbenwahrnehmungen der Anomalen auf einer \u201eungleichen Reiz Verteilung\u201c der Art beruhten, dafs die eine oder die andere Farbe in einer irgendwie ver\u00e4nderten Qualit\u00e4t erschiene, so m\u00fcfsten die Tafeln entziffert werden wegen der gr\u00f6fseren Unterschiedsempfindlichkeit, weil die geringste Abweichung von der festgestellten Verwechslungsskala eine Tafel unbrauchbar macht. Nun stimmen aber alle Autoren darin \u00fcberein, dafs die pseudo-isochromatischen Tafeln sehr gut zur Diagnose der \u201eanomalen Trichromasie\u201c sich eignen, ja dafs es charakteristisch f\u00fcr die anomalen Trichromaten ist, diese Tafeln nicht entziffern zu k\u00f6nnen. Es bleibt nichts, als die Richtigkeit der Ansicht von Dokders anzuerkennen, dafs es sich bei der anomalen Trichromasie um nichts weiter handelt, als um eine ungleiche Herabsetzung zweier antagonistischer farbiger Valenzen.\nSehr selten ist diese Abart nicht. Ich habe unter etwa 80 Studenten und Assistenten, die ich mit dem NA&ELschen Anomaloskop die RAYLEiGH-Gleichung einstellen liefs, drei \u201eanomale\u201c gefunden, zwei Rot- und einen Gr\u00fcnanomalen. Sie konnten die pseudo-isochromatischen Tafeln f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn nicht entziffern, hatten aber f\u00fcr farbiges Licht durchweg gleiche und vollkommen normale Sehsch\u00e4rfe. Sie fallen also v\u00f6llig unter die Erkl\u00e4rung von Dokders.\nNach Nagel sollen sich die Anomalen dadurch auszeichnen, dafs sie viel leichter als andere Kontraste sehen. Dann ist es aber durchaus unverst\u00e4ndlich, dafs sie gerade die Tafeln, welche ausgepr\u00e4gte Kontrastfarben zeigen, nicht entziffern k\u00f6nnen. Ich kann nicht umhin, diese Meinung f\u00fcr einen Irrtum zu halten, in den ein farbenblinder Gelehrter, der andere Farbenblinde untersucht, leicht verfallen kann. Wie will jemand, der selbst rot-gr\u00fcnblind ist, wdssen, ob ein anderer rote und gr\u00fcne Kontrastfarben sieht? Ich selbst habe einen jungen ophthalmologischen","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstellung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 413\nKollegen ebenfalls behaupten h\u00f6ren, dafs er beim Schattenversuch ganz schwache Kontrastfarben wahrnehme, w\u00e4hrend er im Spektralapparat die f\u00fcr Rot-Gr\u00fcnblindheit charakteristischen Verwechslungsgleichungen einstellte, sich \u00fcberhaupt als rotgr\u00fcnblind (nach der KsiESschen Nomenklatur \u201edeuteranop\u201c) ohne Lichtamblyopie herausstellte, aber eine ziemlich grofse \u00dcbung im Erkennen der einzelnen - Farben besafs. Er stellte seine Akkommodation genau auf die verschiedenen Farben ein, und benutzte dabei seine etwas h\u00f6hergradige Myopie, so dafs er auf den Tafeln zwar die Zahlen gar nicht oder nur mit M\u00fche zusammensetzen konnte, die einzelnen T\u00fcpfel aber am Zei-streuungsbilde gegen die des Grundes herausfand, ein von mir schon seit langer Zeit beschriebenes Hilfsmittel, dessen sich einzelne besonders intelligente und ge\u00fcbte Farbenblinde zu bedienen lernen. In einem anderen Falle von \u201eanomaler Trichromasie\u201c, und zwar bei dem Bruder des Dr. Max Levy, dessen dieser in seiner Arbeit erw\u00e4hnt, fand ich, dafs keine einzige pseudo-isochromatische Tafel f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn entziffert werden konnte, obwohl die roten T\u00fcpfel selbst auf den allerschwierigsten Tafeln ganz genau bezeichnet wurden. Dies Verhalten ist aber charakteristisch f\u00fcr schwachen, jedoch qalitativ normalen Farbensinn. Auch hat der Berliner Ophthalmologe Guttmaxn vor einiger Zeit \u00fcber seine eigene anomale Trichromasie geschrieben und ist zu dem Ergebnis gelangt, dafs sein Farbensinn herabgesetzt sei. Einer meiner Rotanomalen, ein zuverl\u00e4ssiger Assistent, den ich ebenfalls mit Kontrastfarben pr\u00fcfte, konnte auf den Schatten schwache F\u00e4rbung nicht mehr wahrnehmen, die f\u00fcr mich nicht allein, sondern auch f\u00fcr Prof. Hertel noch sehr deutlich war. Ich glaube kaum, dafs das bei den \u00fcbrigen sich anders verh\u00e4lt.\nNach alle dem kann es sich nicht um abweichende Farbensysteme hierbei handeln, sondern nur um quantitative Unterschiede in der Empfindlichkeit f\u00fcr Farben. Die pathologischen Tatsachen bei der erworbenen Farbenblindheit bieten die analogen Erscheinungen in Hinsicht auf eine ungleich herabgesetzte Empfindlichkeit f\u00fcr ein Farbenpaar; ich erinnere an die Beobachtungen bei progressiver Sehnervenatrophie, sowie an jenen interessanten oben beschriebenen Fall von transitorischer Farbenblindheit infolge von Erm\u00fcdung, der meines Wissens bis jetzt einzig in der Literatur dasteht.","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nJ. Stilling.\nDie Beobachtungen von Lord Rayleigh, und alle die sich an diese anschliefsenden anderer Autoren, zeigen gar nichts, was aus dem Rahmen der ganzen Betrachtung herausf\u00e4llt, deren Zweck kein anderer ist, als der \u00dcberzeugung den Weg zu bahnen, dafs s\u00e4mtliche Anomalien des Farbensinnes in das Gebiet der ophthalmologischen Pathologie geh\u00f6ren.\nDas Interesse, welches der Physiologe an dem Studium der Farbensinnst\u00f6rungen nimmt, wird hierdurch nicht beeintr\u00e4chtigt werden k\u00f6nnen. Denn f\u00fcr diesen liefert bei dem gegenw\u00e4rtigen Stande der Wissenschaft die ophthalmologische Pathologie allein das wichtigste experimentelle Material f\u00fcr theoretische Schlufs-folgerungen, welche etwa geeignet w\u00e4ren, Vorstellungen \u00fcber die normalen Funktionen der die Farbenwahrnehmung vermittelnden Organe zu bilden. Bislang haben sich die Physiologen um die Erfahrungstatsachen der ophthalmologischen Pathologie viel zu wenig gek\u00fcmmert, was sicherlich ein grofser Fehler gewesen ist.\nDie theoretischen Schlufsfolgerungen, zu welchen die pathologischen Erfahrungen Veranlassung geben, sind oben am Schl\u00fcsse der Beschreibung der erworbenen Farbensinnst\u00f6rungen schon gezogen worden. Sie f\u00fchren dazu, f\u00fcr Lichtsinn und Farbensinn getrennte Fasersysteme anzunehmen. Das Studium der angeborenen Farbenblindheit und der mit dieser verbundenen partiellen Lichtblindheit zwingt allem Anschein nach zu der weiteren Annahme besonderer getrennter Fasersysteme f\u00fcr die verschiedenen Spektrallichter. Es ist sonst nicht zu verstehen, wie es eine so eng begrenzte Blindheit f\u00fcr rotes oder gr\u00fcnes und blaues Licht geben, wie sogar bei totaler angeborener Farbenblindheit in dem von Raehlmann beschriebenen Fall mitten im gelben Teil des Spektrums eine schmale schwarze Unterbrechungsstrecke entstehen kann. Es kann kein Bedenken erregen, dafs nach dieser Annahme eine sehr grofse Zahl von Einzelfasern vorhanden sein mufs, da der Optikus der volumin\u00f6seste Hirnnerv ist und ein sehr ausgedehntes Ursprungsgebiet, aber nur ein sehr eng begrenztes Endigungsgebiet besitzt, die anatomischen Verh\u00e4ltnisse sind im Gegenteil einer solchen Annahme g\u00fcnstig.\nDafs auch innerhalb des Gebietes der die Farbenwahrnehmung vermittelnden Fasern getrennte Systeme angenommen werden m\u00fcssen, n\u00e4mlich eines f\u00fcr Rot-Gr\u00fcn, ein zweites f\u00fcr Blau-Gelb, dazu zwangen bereits die Erscheinungen der erworbenen Rot-Gr\u00fcnblindheit bei Sehnervenatrophie. Es ist nicht anders zu","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 415\nerkl\u00e4ren, dafs die Wahrnehmungen Blau und Gelb erhalten bleiben k\u00f6nnen, w\u00e4hrend f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn infolge von Faseratrophie nicht nur die Farbenwahrnehmung, sondern auch die Lichtempfindlichkeit verloren gegangen ist. Es folgt daraus die unbedingte Notwendigkeit, Gelb als vierte Grundfarbe nicht nur in psychologischer, sondern auch in rein physiologischer Beziehung anzuerkennen. Die angeborene partielle Farbenblindheit liefert dazu den Erg\u00e4nzungsbeweis, indem mit der Blindheit f\u00fcr Blau die von Gelb verbunden ist, obgleich die Erregbarkeitskurven f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn ganz normal sein k\u00f6nnen. Dies wai auch der Fall in dem Beispiel von Max Levy \\ in welchem nicht nur Blindheit f\u00fcr Blau als Farbe, sondern auch hochgradige Verk\u00fcrzung des Spektrums nach rechts bestand (f\u00fcr die \u00fcbrigen von den Autoren beschriebenen F\u00e4lle mit spektraler Verk\u00fcrzung gilt dasselbe), so dafs es nicht einmal m\u00f6glich ist, durch Modifikation der drei Erregbarkeitskurven der HELMHOLTzschen Hypothese zu versuchen, den Ausfall von Gelb zu erkl\u00e4ren. Im \u00fcbrigen ist die Konstruktion von Erregbarkeitskurven nicht viel mehr als eine gelehrte Spielerei, sie ist die graphische Darstellung der Empfindlichkeit f\u00fcr die einzelnen homogenen Lichter, eine Bestimmung, f\u00fcr die es eine einfache klinische Methode gibt, und die in bezug auf die eigentliche Farbenwahrnehmung nichts aussagt, da sie nur zweigliedrige Verwechslungsgleichungen erzielen kann. Atrophie, teilweiser Mangel von Sehnervenfasern, das ist die einzige uns genau bekannte Ursache der Farbenblindheit, und es ist gezeigt worden, dafs man von der zweiten auf die erste schliefsen mufs. Diese Annahme geht unmittelbar aus den Erfahrungen der ophthalmologischen Pathologie hervor, sie l\u00e4fst ungezwungen die Vorstellung entstehen, dafs die verschiedenen Fasersysteme innerhalb des Sehnerven und des Tractus opticus sowohl gleichzeitig und gemeinsam, wie auch unabh\u00e4ngig voneinander, erkranken k\u00f6nnen, und dafs auf diese Weise die verschiedenen Formen und Varianten der erworbenen wie auch dei angeborenen Anomalien des Farbensinnes zustande kommen. Dies scheint auch durch die Konstanz der Erscheinungen der angeborenen Farbensinnanomalien eine Best\u00e4tigung zu finden. Die Abarten derselben werden zwar durch die Vergesellschaftung mit partieller Lichtblindheit und partieller Lichtamblyopie variiert,\n1 A. f. 0. 62, Abt. 3, S. 473.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nJ. Stilling.\nauch kann sich zu der Blindheit f\u00fcr ein Paar Gegenfarben eine herabgesetzte Empfindlichkeit f\u00fcr das zweite Paar gesellen. Nichts-destoweniger sind die einer Hauptgruppe angeh\u00f6rigen Farbenblinden gewissermafsen \u00fcber einen Leisten geschlagen, indem selbst f\u00fcr die extremsten F\u00e4lle, also sowohl f\u00fcr normale Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr homogenes Licht wie auch f\u00fcr starke Spektralverk\u00fcrzung, die Verwechslungsfarben zum grofsen Teil vollkommen identisch sind. F\u00fcr die grofse Menge der F\u00e4lle aber sind s\u00e4mtliche Verwechslungsgleichungen identisch. Dies zu beweisen gen\u00fcgt die Brauchbarkeit der pseudo-isochromatischen Tafeln. Die Verwechslungst\u00f6ne derselben sind zwar an einer an und f\u00fcr sich nicht kleinen Zahl von Farbenblinden gefunden, allein diese Zahl ist sehr klein im Vergleich zu der Menge der Farbenblinden \u00fcberhaupt, f\u00fcr die sie gleichwohl passen. Es ist somit klar, dafs wenn man die Verwechslungsgleichungen nur eines einzigen Farbenblinden genau bestimmt hat, man damit die einer ganzen Gruppe bestimmt. Handelte es sich bei den angeborenen Anomalien um rein physiologische Differenzen, so w\u00fcrde eine solche \u00dcbereinstimmung, die sich bis auf die Farbenamblyopie erstreckt, kaum vorhanden sein. Auch stimmt die erworbene Bot-Gr\u00fcnblindheit bei Sehnervenleiden hinsichtlich der Verwechslungsgleichungen ganz genau mit der angeborenen, indem die pseudo-isochromatischen Tafeln auch f\u00fcr die erstere G\u00fcltigkeit haben.\nWie wenig sich die Physiologie der Farben Wahrnehmung um die Erfahrungen der ophthalmologischen Pathologie gek\u00fcmmert hat, geht auch aus dem Streite hervor, der dar\u00fcber gef\u00fchrt worden ist, ob die Farbenblindheit aus physikalischen Ursachen zu erkl\u00e4ren sei. Bekanntlich glaubte Dalton (zu dessen Zeiten es keine ophthalmologische Farbenpathologie gab) dafs die F\u00e4rbung des Glask\u00f6rpers die Farbenblindheit erkl\u00e4ren k\u00f6nne, und die neueren Physiologen haben dem Maculapigment eine \u00e4hnliche Polle zuschreiben wollen. Hering hat sogar behauptet, man k\u00f6nne die eine Gruppe der Rot-Gr\u00fcnblinden durch Vorsetzen eines gelben Glases in die andere verwandeln. Dies ist schon aus dem Grunde falsch, weil man durch Vorsetzen eines gelben Glases wohl eine Verk\u00fcrzung des Spektrums nach rechts, aber nie nach links bekommen kann, und im \u00fcbrigen hat man,, wie v. Kries gezeigt hat, nach einigermafsen komplizierten Versuchen sich dahin geeinigt, dafs eine Absorption durch das","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstellung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 417\nMaculapigment die Erscheinungen nicht erkl\u00e4ren k\u00f6nne. Es ist durchaus noch nicht sicher, ob nicht die Maculaf\u00e4rbung ihre Entstehung einer kadaver\u00f6sen Ver\u00e4nderung verdankt, ja dies ist sogar sehr wahrscheinlich. Denn abgesehen von den Untersuchungen Gullst\u00e4ands, und der Beobachtung von Michel, der an den Augen eines Hingerichteten die gelbe F\u00e4rbung erst lange nach dem Tode sich bilden sah, ist es sehr schwer zu begreifen, wie Blau \u00fcberhaupt in seiner normalen Intensit\u00e4t erscheinen k\u00f6nne, wenn es ein so intensiv gelbes Medium wie das Maculapigment zu passieren h\u00e4tte, da doch ein ganz schwach gelb gef\u00e4rbtes Glas schon das Spektrum nach links verk\u00fcrzt.\nSomit sind \u00fcbrigens die Physiologen wenigstens insofern mit den ophthalmologischen Tatsachen, welche den Wert physiologischer Experimente mit vollem liecht zu beanspruchen haben, einverstanden, als sie die Anomalien des Farbensinnes auf anormale Zust\u00e4nde und Vorg\u00e4nge im Sehnerven zur\u00fcckzuf\u00fchren bestrebt sind.\nEs bleibt demnach noch die Frage zu er\u00f6rtern \u00fcbrig, wie man sich die normalen Vorg\u00e4nge, und ihr Verh\u00e4ltnis zu denen bei Anomalien des Farbensinnes, vom rein physiologischen Standpunkt aus vorzustellen habe.\nDer Physiologe stellt sich die Aufgabe, die Mannigfaltigkeit der Farben Wahrnehmungen auf m\u00f6glicht wenige nerv\u00f6se Energien zur\u00fcckzuf\u00fchren und sie damit zu erkl\u00e4ren. Diese Aufgabe, so formuliert, schliefst die Annahme in sich ein, dafs die ner\\\u00f6se Energie und die Wahrnehmung in einem engen Kausalzusammenhang stehen, dafs die erste die Ursache und die zweite die Wirkung sei. Es wird damit nichts geringeres vorausgesetzt, als dafs ein physischer Prozefs innerhalb der Sinnesorgane und der Sinnesnerven die Ursache einer psychischen Erscheinung sein k\u00f6nne, ja sein m\u00fcsse. Das Studium der Farbenfrage versetzt uns unmittelbar auf den Boden der Erkenntnistheorie, und zwar auf das schwierige Gebiet des Zusammenhangs zwischen Geist und Materie. Dieser enge Konnexus gibt uns das Verst\u00e4ndnis f\u00fcr das grofse Interesse, welches von jeher Psychologen und Philosophen an der Farbenwahrnehmung ebenso wie die Physiologen an den Tag gelegt haben, sowie f\u00fcr die heftigen Streitigkeiten, welche sich von jeher auf diesem Gebiete abspielten, und noch immer abspielen.\nEs ist einzig und allein die kritische Philosophie Kants,","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nJ. Stilling.\nwelche uns in den Stand setzen kann, das Verh\u00e4ltnis von Materie und Psyche zu begreifen. Diese Philosophie hat uns gelehrt, dafs wir keine Dinge erkennen k\u00f6nnen, wie sie an sich, unabh\u00e4ngig von den Formen unserer untersuchenden Vernunft sind, sondern dafs sie lediglich unsere Erscheinungen sind, ganz gleich ob sie in die Materie oder in die Psyche geh\u00f6ren. Die Dinge, die von uns erkannt werden, sind Objekt, wir selbst aber, indem wir sie erkennen, sind Subjekt. Das Erkennende kann in seinem Wesen, wie sich von selbst versteht, nicht erkannt werden, somit sind alle unsere psychischen F\u00e4higkeiten transzendent. Aber eben diese F\u00e4higkeiten k\u00f6nnen r\u00e4umliche Form annehmen und damit Objekt, d. h. der Erkenntnis zug\u00e4nglich werden. Denn der Mensch ist Objekt und Subjekt zugleich, wie er innerlich, rein psychisch in der Zeit f\u00fcr sich ist, so ist er f\u00fcr andere (ja auch f\u00fcr sich selber) \u00e4ufserlich physisch im Raum. Wenn wir Schmerz und Lust empfinden, so repr\u00e4sentiert sich das alles in dem anatomischen Bau und den physiologischen Vorg\u00e4ngen, die sich in den einzelnen Organen abspielen, der Trieb zur Lebenserhaltung dr\u00fcckt sich aus in den Organen der Ern\u00e4hrung, der Respiration und Zirkulation, der Trieb zum Erkennen und Wahrnehmen objektiviert sich in Sinnesorganen und Gehirn. Wieso das erkennende Subjekt selbst Objekt in r\u00e4umlicher Form werden kann, ist eine Frage, auf die kein Vern\u00fcnftiger Antwort verlangt \u2014 sie ist das R\u00e4tsel unserer Existenz, aber darum doch eine, uns nun einmal gegebene, unbestreitbare Tatsache. Unser Gehirn einschliefslich der Sinnesorgane objektiviert den Trieb zur Erkenntnis, und besteht f\u00fcr unser eigenes Erkenntnisverm\u00f6gen, d. h. als \u00e4ufsere r\u00e4umliche Erscheinung im Gegensatz zu der uns innerlich zeitlich unmittelbar wohl bekannten, aber dem reinen Erkennen gegen\u00fcber transzendenten, psychischen Ausdrucksweise, aus organischen Apparaten, welche Abbilder der Aufsenwelt zu liefern bestimmt sind. Nach dem KAPPsehen Gesetz der Organprojektion m\u00fcssen wir zuerst einen Apparat erfinden, der ein Abbild der Aufsenwelt liefert und ihn hinterher im eigenen K\u00f6rper entdecken. So haben wir erst die Konvexlinse geschliffen und dann im Auge gefunden, die Camera ob-scura und die photographische Kammer konstruiert, und entdeckt, dafs Sehen nat\u00fcrliche Photographie und Kinematographie bedeutet. So wird H\u00f6ren nat\u00fcrliche Telephonie und zentral vermutlich nat\u00fcrliche Phonographie, Tasten nat\u00fcrliche Telegraphie","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\nUber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 419\nbedeuten. Eine solche Entdeckung erregt jedesmal das gr\u00f6fste Aufsehen und die gr\u00f6fste Verwunderung, sie verf\u00fchrt zu dem Glauben, man habe mit der Entdeckung des organischen Apparates auch nun die Erkl\u00e4rung der Empfindung und Wahrnehmung herausbekommen. In diesen Irrtum darf der philosophisch denkende Naturforscher nicht verfallen. Er mufs sich dar\u00fcber klar sein, dafs so ungeheuer wichtig eine derartige Entdeckung f\u00fcr das Leben und seine praktischen Zwecke ist, f\u00fcr die reine Erkenntnis nichts gewonnen sein kann. Denn das Subjekt der reinen Erkenntnis ist transzendent, d. h. einer Analyse seines Wesens nicht zug\u00e4nglich, es vermag sich nur als \u00e4ufsere r\u00e4umliche Erscheinung zu objektivieren. Die denkende Vernunft kann daher den Menschen in Subjekt und Objekt, aber nicht in Geist oder Materie zerlegen, denn die Materie ist nichts anderes als Subjekt, das in Form r\u00e4umlicher Vorstellung Objekt geworden ist. Es kann somit keinen urs\u00e4chlichen Zusammenhang zwischen einem sogenannten Sinnesreiz und einer Empfindung oder Wahrnehmung geben, sowenig es einen zwischen Subjekt und Objekt \u00fcberhaupt gibt, ein kausaler Zusammenhang kommt nur Objekten untereinander zu. Wenn eine Nadel in meine Haut sticht und ich Schmerz f\u00fchle, so scheint dazwischen freilich f\u00fcr die oberfl\u00e4chliche Betrachtung ein kausaler Zusammenhang zu bestehen. Aber das ist falsch, weil wir niemals imstande sein werden, weder logisch noch anschaulich aus dem Nadelstich das Schmerzgef\u00fchl abzuleiten. Denn die Ber\u00fchrung der Haut mit der Nadel und das was in den sensiblen Nerven und dem Zentralorgan darauf folgt, das sind alles objektive, speziell r\u00e4umliche, Erscheinungen, der Schmerz aber ist subjektiv und hat eine ganz andere wesentliche Wahrnehmungsform, n\u00e4mlich die Zeit. Dinge aber, denen nicht die gleiche Erscheinungsform eigen ist, k\u00f6nnen nicht in einen Zusammenhang gebracht werden, der dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen ist, denn dieses Gesetz kann doch nur der Erkenntnis innerhalb derselben Form der Erscheinung dienen.\nWir lernen eben erst im Laufe der Erfahrung, wie das Subjektive, Empfindung und Wahrnehmung, objektiv zu fassen ist. Ist die F\u00e4higkeit, in einer bestimmten Art zu empfinden oder wahrzunehmen, f\u00fcr unsere r\u00e4umliche, also physiologische Erkenntnis als Sinnesorgan mit Zentralteilen Objekt geworden, so finden wir weiter im Lauf der Erfahrung, dafs die Beziehung\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 44.\t27","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nJ. Stilling.\nder \u00e4ufseren Objekte zu unserem eigenen Organismus (unserem unmittelbaren r\u00e4umlichen, \u00e4ufseren Objekt) als Ursache der Empfindung und Wahrnehmung erscheint. Damit ist f\u00fcr uns die Empfindung und die Wahrnehmung als Wirkung objektiviert. So lange wir jedoch unseren eigenen Organismus nicht genau genug kennen, kann auch diese Auffassung nicht geschehen, denn Empfindung und Wahrnehmung geben in erster Linie nur die Erkenntnis irgend eines Daseins ohne jede n\u00e4here Bestimmung oder gar urs\u00e4chliche Beziehung. Die eigentliche Aufgabe der Physiologie ist nunmehr die Aufdeckung des kausalen Zusammenhanges zwischen den Objekten der Aufsenwelt und unserem eigenen Organismus, also zwischen gleichartigen, i. e. r\u00e4umlichen Objekten. Wenn aber die Wissenschaft die Empfindung als eine Wirkung der Dinge auf unsere Sinnesorgane aufzufassen bestrebt ist, so ist diese Auffassung durch einen allerletzten be-wufsten Schlufs bedingt, und nicht, wie man durchaus irrt\u00fcmlicherweise angenommen hat, durch einen allerersten unbewufsten. Haben wir auf dem Wege der physiologischen Forschung endlich die Beziehung eines Objektes zu unserem Sinnesorgan begriffen, so d\u00fcrfen wir uns nicht verleiten lassen zu glauben, dafs wir damit die wirkliche Erkl\u00e4rung von Empfindung und Wahrnehmung in den H\u00e4nden h\u00e4tten, weil das eine grobe Verwechslung des erkennenden Subjektes mit seiner \u00e4ufseren r\u00e4umlichen Erscheinung, n\u00e4mlich der Sinnesorgane mit ihren Zentralteilen sein w\u00fcrde.\nEs existiert somit zwischen Subjekt und Objekt \u2014 oder wie man das popul\u00e4r auszudr\u00fccken pflegt, zwischen Geist und Materie \u2014 kein kausaler Zusammenhang. Die Beziehung zwischen beiden ist transzendent und f\u00fcr die analysierende Vernunft lediglich durch das Verh\u00e4ltnis gekennzeichnet, welches wir seit Fechner unter dem Namen des psycho-physischen Parallelismus begreifen, dessen Gesetze zuerst von Schopenhauer durch die Weiterentwicklung der Philosophie Kants gefunden und klargestellt worden sind.\nNach diesen Gesetzen entspricht einem jeden Subjektiven in der inneren psychischen Erscheinungswelt ein Objektives physisches (oder physiologisches) in der Welt der r\u00e4umlichen Dinge. Einer Empfindung oder Wahrnehmung entspricht ein bestimmter Vorgang in den Sinnesnerven und im Zentralorgan, der seinerseits eine \u00e4ufsere Ursache hat. Aber dieser Vorgang erkl\u00e4rt die","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Entstellung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 421\nEmpfindung und die Wahrnehmung nicht, er steht in keinem kausalen Zusammenhang mit ihr, sondern er objektiviert sie nur. Es ist also von vornherein verkehrt, sich vorzustellen, dafs Empfindungen und Wahrnehmungen in ihrer Mannigfaltigkeit reduziert werden k\u00f6nnten auf wenige Sinnesenergien, dafs es mehr psychisch einfache, nicht weiter zu zerlegende Vorstellungs- oder Wahrnehmungsarten geben k\u00f6nne als es nerv\u00f6se Energien gibt. Das aber ist, wie zuletzt noch Dondees, der wie alle derartigen grofsen Forscher so klar schreibt, dafs auch seine Irrt\u00fcmer leicht zu erkennen sind, auseinandergesetzt hat, das Prinzip der Hypothese von Young. Dies Prinzip ist falsch, weil es den Grundgesetzen der Erkenntnislehre widerspricht. Aber zu Zeiten Thomas Youngs waren die Entdeckungen Immanuel Kants unbekannt in den Kreisen der Naturforscher.\nDie Zahl der Energien, auf welche die Mannigfaltigkeit der Farben zu reduzieren ist, mufs nach erkenntnistheoretischen Grunds\u00e4tzen ganz genau der Zahl von Wahrnehmungsarten entsprechen, auf welche sie schon psychisch zu reduzieren ist. Ehe man die physiologischen Vorg\u00e4nge zu erforschen sich anschickt, mufs jene Deduktion rein psychologisch gemacht werden, denn die Prozesse in den Sinnesnerven objektivieren die Farben nur, aber sie erkl\u00e4ren sie nicht, weil der Zusammenhang zwischen ihnen nicht urs\u00e4chlich sein kann. Aus demselben Grunde ist es ein den Grunds\u00e4tzen der Erkenntnistheorie widersprechendes Bestreben, durch Mischung objektiver Farben die einfachen Energien bestimmen zu wollen, m\u00f6gen diese nun Pigmente, Spektralfarben, oder auch supponierte nerv\u00f6se farbige Energien sein. Denn wenn irrt\u00fcmlicherweise angenommen wird, es liefse sich zwischen \u00e4ufseren r\u00e4umlichen Erscheinungen und der Empfindung und Wahrnehmung ein kausales Verh\u00e4ltnis auffinden, so ist es auch v\u00f6llig einerlei, ob ich eine materielle Mischung mit objektiven farbigen Lichtern oder mit nerv\u00f6sen Prozessen herstelle, da diese doch chemische oder elektrische Vorg\u00e4nge sind, aber keine Empfindungen noch Wahrnehmungen.\nNun hebt der Streit \u00fcber die Zahl und die Art der Grundfarben freilich schon bei der psychologischen Analyse an. Die einen sagen mit Lionakdo da Vinci, ihre Grundfarben, n\u00e4mlich die, welche sich rein psychisch nicht weiter zerlegen lassen, seien Kot, Gr\u00fcn, Blau, Gelb. Die anderen, welche der Young-Helmholtz-\nschen Lehre anh\u00e4ngen, sagen aber, Gelb sei auch f\u00fcr ihr Emp-\n27*","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nJ. Stilling.\nfinden keine einfache Farbe, sondern aus Rot und Gr\u00fcn zusammengesetzt. Sie haben ber\u00fchmte Vorg\u00e4nger in Goethe und Schopenhauer, welche behaupteten, f\u00fcr sie sei Gr\u00fcn keine einfache Farbe, sondern setze sich aus Gelb und Blau zusammen, noch Brewster war derselben Meinung.\nDie meisten K\u00fcnster und Gelehrten, welche \u00fcber die Farbenwahrnehmung nachgedacht und Untersuchungen dar\u00fcber angestellt haben, sind wohl der Ansicht von Lionardo. Wenn nun jemand behauptet, f\u00fcr ihn sei Gelb keine einheitliche Farbe, so sind da nur zwei Erkl\u00e4rungen m\u00f6glich. Entweder verh\u00e4lt sich das wirklich so, dann ist sein ganzes System ein von der \u00fcbergrossen Mehrzahl abweichendes, es ist dann weder dar\u00fcber zu streiten, noch ein Verst\u00e4ndnis davon zu erreichen. Oder sein Urteil \u00fcber Farben ist durch falsche wissenschaftliche Spekulation pervertiert, weil er die Ursache der Wahrnehmung mit ihr selbst verwechselt. Dies aber d\u00fcrfte wohl zutreffen, wenn jemand im Sinne der HELMHOLTzschen Hypothese behauptet, dafs Gelb keine einfache Farbe sei. Denn die Begr\u00fcndung ist die, dafs man aus spektralem Rot und Gr\u00fcn Gelb mischen k\u00f6nne, und sie ist nicht von der Goethes unterschieden, der Gr\u00fcn nicht als Grundfarbe anerkennen wollte, weil er aus Malerfarben, aus Blau und Gelb sie gemischt hatte. Behauptet jemand ernstlich, dafs er im Gelb sowohl Rot wie auch Gr\u00fcn sehe, so hat er eben ein von der Norm abweichendes System, nicht allein deswegen, weil er ein gr\u00fcnliches Rot oder ein r\u00f6tliches Gr\u00fcn sehen k\u00f6nnte, sondern auch weil die f\u00fcr uns w\u00e4rmste Farbe f\u00fcr ihn aus einer warmen und kalten bestehen m\u00fcfste, es w\u00e4re somit eine jede Verst\u00e4ndigungsm\u00f6glichkeit zwischen ihm und uns anders Empfindenden ausgeschlossen. Allein derartige Dinge laufen der allgemeinen menschlichen Erfahrung dermafsen zuwider, dafs man kaum sie ernstlich zu diskutieren braucht.\nDonders, der die HELMHOLTzsche Theorie aufrecht zu erhalten w\u00fcnschte, f\u00fchlte gleichwohl die in ihr enthaltenen Widerspr\u00fcche. Er modifizierte sie daher, indem er teilweise auf die urspr\u00fcngliche Idee von Young zur\u00fcckgriff, der seine drei Grundenergien noch in das Gehirn verlegt hatte. Donders nahm f\u00fcr die zentralen Prozesse, welche die Grundempfindungen objektivieren m\u00fcssen, die Vierzahl an, wollte aber f\u00fcr die leitenden Fasern die Dreizahl beibehalten wissen, mit der besonderen Bestimmung, dafs das Rot Gelbrot sei. Aber auf diese Weise","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstellung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 423\nwerden die Widerspr\u00fcche nur gr\u00f6fser, weil man sich nicht vorstellen kann, dafs peripher zusammengesetzte Vorg\u00e4nge einfache zentrale bedingen sollen. Die physiologischen Erscheinungen folgen immer dem Kausalgesetz. Haben wir also vier verschiedene Hirnprozesse vor uns, welche vier verschiedene Wahrnehmungsarten objektivieren, so m\u00fcssen diese vier, einmal objektiviert, auch vier verschiedene physiologische Ursachen haben, oder das Kausalgesetz und damit die physiologische Forschung verl\u00f6ren ihre G\u00fcltigkeit.\nAuch dem anderen Hauptverteidiger der HELMHOLTzschen Theorie, v. Kries, scheinen die Widerspr\u00fcche, die in ihr liegen, nicht verborgen geblieben. Aber die Hilfshypothese, auf die er geriet, nachdem seine eigenen Forschungen ihn zu dem Resultate gef\u00fchrt hatten, dafs man wenigstens f\u00fcr die reine Lichtwahrnehmung eine besondere nerv\u00f6se Substanz innerhalb des Sinnesorgans annehmen m\u00fcsse, kann nur einen kleinen Teil der Schwierigkeiten beseitigen. Den n\u00e4mlich, dafs, wenn es nach v. Kries zweierlei Weifs gibt, erkl\u00e4rt werden kann, warum bei Farbenblindheit die Lichtempfindlichkeit nicht gesch\u00e4digt zu sein braucht. Eine grofse \u00dcberzeugungskraft hat diese Hilfshypothese nicht*, um der Natur eine farbige Energie zu sparen, mutet man ihr zu, die einfache Licht Wahrnehmung zweimal zustande zu bringen, wodurch doch die Kraftersparnis mindestens aufgehoben werden mufs. Den \u00fcbrigen Schwierigkeiten sucht v. Kries dadurch zu begegnen, dafs er nicht eine Erregbarkeitskurve einfach fehlen l\u00e4fst, sondern den Verlauf derselben modifiziert. Er n\u00e4hert sich dadurch der Viergrundfarbenlehre, insofern er auf das gleiche dichromatische System kommt \\ so kommt eine notd\u00fcrftige Erkl\u00e4rung der Rot-Gr\u00fcnblindheit zustande, die aber sofort sich als unrichtig erweist sowohl den Erfahrungen der erworbenen Farbenblindheit bei progressiver Sehnervenatrophie gegen\u00fcber, wie auch bei der angeborenen. W\u00fcnn bei der ersten die Lichtempfindlichkeit f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn verloren geht, und dennoch Gelb noch gesehen wird, so kann dieses nicht durch das Zusammenwirken der beiden ersten entstehen. Und wenn bei Blau-Gelbblindheit das Spektrum bis zur Thalliumlinie verk\u00fcrzt ist, also die Blaukurve \u00fcberhaupt fehlt, so m\u00fcfste dennoch bei der Intaktheit der roten und gr\u00fcnen Energien und ihrer Erregbarkeitskurven Gelb gesehen werden. Im ersten Falle fehlen die Kurven f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn, und dennoch wird Gelb gesehen, im zweiten fehlt die","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nJ. Stilling.\nKurve f\u00fcr Blau, die f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn sind intakt und dennoch fehlt das Gelb; es besteht nicht einmal die M\u00f6glichkeit, durch Modifikation der Kurven diese Widerspr\u00fcche zu beseitigen. Schliefslich sind aber derartig modifizierte Kurvenkonstruktionen nichts anderes als die graphische Darstellung einer unbewiesenen Hypothese.\nWas die immer noch viel diskutierte Einteilung der ersten Gruppe der angeborenen Farbenblindheit in gesonderte Rot- und Gr\u00fcnblindheit betrifft, so d\u00fcrfte der Streit erledigt sein, wenn man die Sache rein psychisch auffafst. Denn auch die Anh\u00e4nger der Dreifarbentheorie, soweit sie der Lehre von v. Kries folgen, nehmen f\u00fcr beide Formen ein dichromatisches System an, das aus Gelb und Blau besteht. Sonst aber handelt es sich freilich auch f\u00fcr v. Kries und seine Schule um die Erkl\u00e4rung psychologischer Vorg\u00e4nge durch physiologische, also um den urspr\u00fcnglichen Gedanken von Thomas Young, der den erkenntnistheo-retischen Grundgesetzen widerspricht. Die Aufgabe der Physiologie ist nicht, die Wahrnehmungsarten aus nerv\u00f6sen Prozessen in Sinnesorganen und Gehirn zu erkl\u00e4ren, sondern einfach zu den uns a priori rein seelisch wohlbekannten Wahrnehmungsarten die physiologischen Korrelate aufzusuchen, mit anderem Ausdruck \u2014 das Subjektive zu objektivieren.\nBetrachten wir das Tats\u00e4chliche allein, was in den Beobachtungen von Donders, v. Kries und ihren Anh\u00e4ngern \u00fcber die Rot- und Gr\u00fcnblindheit niedergelegt ist, so zeigen die Energiekurven in \u00dcbereinstimmung mit den in diesen Bl\u00e4ttern beschriebenen Tatsachen, dafs die Unterschiede der beiden Abarten im wesentlichen darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren sind, dafs Blindheit f\u00fcr die Farben sich mit partieller Blindheit f\u00fcr dasselbe farbige Licht verbinden kann. Was der Anh\u00e4nger der Dreifarbenlehre Gr\u00fcnblindheit nennt, ist f\u00fcr denjenigen, der vier Grundfarben annimmt, Rot-Gr\u00fcnblindheit mit normaler Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Rot und Gr\u00fcn, und was dem ersten Rotblindheit ist, ist f\u00fcr den zweiten Rot-Gr\u00fcnblindheit mit nach links verk\u00fcrztem Spektrum. Die Verwechslungsfarben sind f\u00fcr beide Klassen im wesentlichen gleich und die \u00dcberg\u00e4nge zwischen ihnen werden hergestellt durch jene F\u00e4lle, in denen eine mehr oder weniger ausgesprochene Amblyopie f\u00fcr rotes oder gr\u00fcnes Licht besteht. Es handelt sich demnach eigentlich nur um einen Streit um Worte, um die Art","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes. 425\nund Weise wie der Begriff der Grundfarbe zu definieren sei, ob psychisch oder physiologisch.\nEs ist noch zu erw\u00e4hnen, dafs es nach der Behauptung von Nagel Farbenblinde gibt, deren Dichromasie sich nur auf das Zentrum des Gesichtsfeldes erstreckt, die aber bei groisem farbigem Gesichtsfelde das Rot wahrnehmen. Er rechnet sich selbst zu diesen Farbenblinden, und ein solches Verhalten ware f\u00fcr die angeborene Farbenblindheit denkbar, da es bei erworbener Farbenblindheit sehr h\u00e4ufig ist, dafs im Zentrum (innerhalb eines Skotoms) Dichromasie oder sogar Achromasie vorhanden ist w\u00e4hrend peripher die Farbenwahrnehmung sich ganz norma verh\u00e4lt. Indessen ist mir in meiner doch sehr ausgedehnten Erfahrung niemals vorgekommen, dafs eine angeborene\t\u00aen\nblindheit auf ein zentrales Farbenskotom h\u00e4tte zur\u00fcckgefuhrt werden k\u00f6nnen, obgleich dies a priori als m\u00f6glich angesehen werden m\u00fcfste. In jedem Falle ist nicht einzusehen, wie solche Personen sich als Farbenblinde zu erkennen geben sollten, auiser bei einer genauen perimetrischen Untersuchung, im \u00fcbrigen w\u00fcrden sie die Farben von Kind auf wie die Normalen wahrgenommen und richtig zu benennen gelernt haben, und erst se r sp\u00e4t oder gar nicht w\u00fcrden sie dahinter kommen, dafs ihre Farbenwahrnehmung nicht ganz normal sei. Ich glaube daher nicht fehl zu gehen, wenn ich jene Meinung Nagels fur einen jener Irrt\u00fcmer halte, denen farbenblinde Forscher, die sich un andere untersuchen, sehr leicht verfallen k\u00f6nnen. Er halt sich obwohl er es bestreitet, dennoch an Intensit\u00e4tsdifferenzen, auc m\u00fcfste er nicht nur Rot, sondern auch Gr\u00fcn bei grofsem Gesic s-feld erkennen, denn nach allem, was man dar\u00fcber hat feststellen k\u00f6nnen gibt es keine isolierte Blindheit f\u00fcr eine einzige Farbe.\nWollen wir wenigstens vorl\u00e4ufig die Frage zu beantworten versuchen, welche zu der Aufstellung so verschiedener Theorien und zu so vielen und verwickelten Streitigkeiten Veranlassung gewesen ist, die n\u00e4mlich, was denn die Farbe als physiologischer Vorgang sei so m\u00fcssen wir uns dar\u00fcber klar geworden sein, dafs unser Gehirn als die Erscheinung des Strebens die Aufsenwelt zu erkennen, aus organischen Apparaten besteht, deren Funktion keine andere sein kann, als ein Bild oder, allgemeiner gesagt, erne Reproduktion der Aufsenwelt zu liefern. Was wurde der Forsc wahrnehmen, wenn er ein lebendes Gehirn in allen seinen mze t\u00e4tigkeiten beobachten k\u00f6nnte? Diese Frage kennzeichnet die","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nJ. Stilling.\nAufgabe und das ideale Endziel der Physiologie der Sinnesorgane. Sehen ist, nach allem was wir dar\u00fcber schon wissen, nat\u00fcrliche Photographie und Kinematographie, k\u00f6nnten wir das lebende Gehirn beobachten, so w\u00fcrden wir, wenn sein Besitzer sieht nichts anderes wahrnehmen k\u00f6nnen, als dafs die im Auge erzeugten Photogramme durch den Sehnerven auf elektrischem Wege auf die Endfelder in der Hirnrinde \u00fcbertragen werden. Was kann nun in diesen Photogrammen die Farbe repr\u00e4sentieren wenn es nicht die Farbe selber ist, denn andernfalls h\u00e4tten wir doch nur die Aussicht, einen f\u00fcr uns g\u00e4nzlich unverst\u00e4ndlichen chemischen oder elektrischen Prozefs zu finden, der eben keine Farbe w\u00e4re. . Nach dem Gesetz der Organprojektion, das uns die photographische Kammer im Auge entdecken liefs, werden wir die wirkliche Farbenphotographie erfinden m\u00fcssen, und werden sie schhefslich als nat\u00fcrliche Farbenphotographie in Auge und Gehirn in einer Form entdecken, \u00fcber die sich jetzt nur vage ermutungen auf stellen lassen. Unter diesen ist die plausibelste noch die von Classen, dafs es sich, soweit das Auge in Betracht kommt, um elektrische Bewegungen in der K\u00f6rnerschicht handelt, enn die Kontrasterscheinungen erinnern gewifs an derartige org\u00e4nge, und dafs Lichteinfall elektrische Str\u00f6mung im Sehnerven hervorruft, ist durch die Entdeckung Holmgbens seit langer Zeit erwiesen.\nAngesichts dieser Aufgabe, deren Erf\u00fcllung erst eine ferne /elt bringen kann, erscheinen alle Farbentheorien mehr oder weniger bedeutungslos, und wir sind gen\u00f6tigt uns mit den Tatsachen zu begn\u00fcgen, welche die ophthalmologische Pathologie in erster Lime, die Untersuchung der angeborenen Farbensinnanomalien m zweiter geliefert hat. Was aber die beiden Haupt-e ren, um die unter den Gelehrten heute noch sich der Streit dreht, betrifft, so kann man Heeing das Verdienst nicht ab-streiten dafs er versucht hat, der Lehre des psychophysischen Parallelismus auf dem Gebiete der Farbenlehre Geltung zu verschaffen, das rein Psychische scharf vom Physiologischen getrennt zu haben, w\u00e4hrend die HELMHOLTzsche Theorie die Probleme miteinander vermischt. Die Anschauung Lionaedo da Vincis von den vier Grundfarben und das von Goethe entdeckte Gesetz des Antagonismus haben in der Lehre Heeings einen neuen Ausruck erhalten, der jedenfalls den Vorzug hat, mit den Tatsachen, wie sie das Studium der erworbenen wie der angeborenen","page":426},{"file":"p0426table0001.txt","language":"de","ocr_de":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologi e. Band 4 5.\nTafel 1.\nJ. Stilling.\nVerlag von Johann Ambrosius Barth, Leipzig.\n","page":0},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes.\t427\nAnomalien des Farbensinnes geliefert hat, in \u00dcbereinstimmung zu sein. Das ist genug, solange wir, wie bis heute, eigentlich nur eine Psychologie, aber keine ihr ad\u00e4quate Physiologie der Farbenwahrnehmung besitzen.\nErkl\u00e4rung der Farbentafel.1\nReihe 1 und 2 zeigen die wichtigsten zweigliedrigen Verwechslungsgleichungen der Rot-Gr\u00fcnblinden, denen die Reihe 1 so erscheint wie dem Normalsichtigen die Reihe 2.\nReihe 3 enth\u00e4lt die beiden Verwechslungst\u00f6ne, welche mit den in derselben Kolumne befindlichen dreigliedrige Verwechslungsgleichungen bilden. Da in der Reihe 2 der zweite und vierte Ton identisch sind, so entstehen zwei viergliedrige Verwechslungsgleichungen, indem der zweite Ton der Reihe 1 identisch gesehen wird mit dem vierten Ton derselben Reihe. Dasselbe gilt von dem ersten und letzten Ton der Reihe 1, so dafs die beiden wichtigsten viergliedrigen Verwechlungsgleichungen der Rot-Gr\u00fcnblinden entstehen f\u00fcr\n1.\tIntensives Gelbrot, intensives Gr\u00fcn, Mattgelb, Mattgr\u00fcn.\n2.\tReines Rot, intensivstes Gr\u00fcn, Mattgelb, Mattrot.\nDiese Gleichungen beweisen, wie im Text auseinandergesetzt ist, dafs das intensivste Rot wie Gr\u00fcn nur farbig erscheinen, weil sich in der Mischung gelb befindet, Rot und Gr\u00fcn selbst daher nur einen Lichteindruck hervorrufen.\nReihe 4 und 5 zeigen die wichtigsten Verwechslungsgleichungen der Blau-Gelbblinden. Reihe 4 erscheint diesen wie den Normalsichtigen Reihe 5. Die Gleichung Rosa-Blau ist identisch mit der der Rot-Gr\u00fcnblinden.\nReihe 6 zeigt die Verwechslungst\u00f6ne der extremsten Gruppen der Rot-Gr\u00fcnblinden mit dem intensivsten Zinnoberrot. Bei normaler Lichtempfindlichkeit f\u00fcr Rot wird das hellere Gr\u00fcn, bei Amaurose f\u00fcr rotes Licht das etwas dunklere Gr\u00fcn mit dem Rot verwechselt.\n1 Anmerkung des Autors. Diese Tafel ist nur zur Orientierung des Lesers bestimmt und beansprucht nicht die Genauigkeit der pseudoisochromatischen Tafeln.","page":427}],"identifier":"lit33566","issued":"1910","language":"de","pages":"371-427","startpages":"371","title":"\u00dcber Entstehung und Wesen der Anomalien des Farbensinnes","type":"Journal Article","volume":"44"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:54:58.233484+00:00"}