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{"created":"2022-01-31T15:17:01.498752+00:00","id":"lit33578","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Sternberg, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 45: 71-86","fulltext":[{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"71\nDie physiologische Grundlage des Hungergef\u00fchls.\nVon\nDr. Wilhelm Sternberg in Berlin.\nDie moderne Klinik und die allgemeine Physiologie bringen der allgemeinen Symptomatologie, zumal den Allgemeingef\u00fchlen wenig Interesse entgegen. Das eingehende Studium der speziellen objektiven und daher exakt nachkontrollierbaren Symptome seitens der exakten Spezialdisziplinen hat die Ergr\u00fcndung der allgemeinen subjektiven Empfindungen ganz in den Hintergrund gedr\u00e4ngt. Auch die moderne Ern\u00e4hrungslehre hat \u00fcber der Erforschung des objektiven Nahrungs be darf s die der subjektiven Nahrungsbed\u00fcrf nisse vollkommen vernachl\u00e4ssigt, wie ich1 nachweise. Diese Nahrungsbed\u00fcrfnisse sind erstlich der Appetit und sodann der Hunger. So kommt es, dafs, wie ich2 bereits hervorgehoben habe, wohl der Hungerstoffwechsel und der Wasserstoffwechsel, der Gewebehunger und die Wasserverarmung exakt erforscht sind, aber die subjektiven Gef\u00fchle des Durstes oder des Hungers ihre physiologische Begr\u00fcndung bisher noch nicht erhalten haben. Wohl verwendet auch die moderne Medizin den Hunger sogar zu therapeutischen Zwecken, da sie Hungerkuren und Hungertage vorschreibt. Aber die Diagnostik des Hungers, soweit wenigstens die \u00c4tiologie in Betracht kommt, hat noch nicht einmal die ersten Anf\u00e4nge wissenschaftlicher Erkenntnis erlangt. Dieses Vorgehen ist gerade entgegengesetzt dem allgemeinen exakten Entwicklungsgang, nach dem die moderne Therapeutik auf Vertiefung der Diagnostik zur\u00fcckgef\u00fchrt wird. Dabei sind die Erscheinungen des Hungers so sinnf\u00e4llig und allt\u00e4glich, dafs schon die Philo-\n1\t\u201eNahrungsbedarf und Nahrungsbed\u00fcrfnis.\u201c Ztschr. /'. physik. a. di\u00e4t. Therapie. 1910.\n2\t\u201eStoffwechsel, Verdauung und Ern\u00e4hrung.\u201c Zentralbl. f. Physiologie u. Pathologie des Stoffwechsels. 1909 Nr. 16 S. 5.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 45.\n5","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nWilhelm Sternberg.\nsophen des Altertums diese Empfindung geradezu als dankbares Mittel benutzen, um die allgemeinen Lust- und Unlustempfindungen \u00fcberhaupt zu erl\u00e4utern. Am deutlichsten befolgt diese Art Plato1 im Zwiegespr\u00e4ch des Sokeates mit Peotarchos:\nSokrates : Nun, wir verstehen doch das Allt\u00e4gliche und Augenf\u00e4llige am leichtesten?\nPeotarchos: Was meinst Du?\nSokrates: Der Hunger ist doch wohl eine solche Aufl\u00f6sung der Harmonie in uns und darum eine Unlust?\nPeotarchos: Ja.\nSokrates: Das Essen aber, als wiederentstehende Anf\u00fcllung Lust? Peotarchos: Ja.\nSokrates: Hinwiederum der Durst St\u00f6rung, Unlust und Aufl\u00f6sung (32), dagegen die Wirkung des Feuchten, indem das Vertrocknete durch dringt, Lust.\nOvxovv tcc \u00f6r^iooid 7t ov xccl Tte\u00e7icpavrj q\u00e4otov avvvoeiv ; Iloia ;\nJJetvri (.i\u00e9v itov Ivotg nal IvTtrj;\nNaL\n3E\u00f4co\u00f4\u00ef] \u00f4\u00e9, TtlrjQWOi\u00e7 yLyvo^i\u00e9vr] Tt\u00e0hv, rj\u00f6ovrj;\nNaL\nJlipo\u00ff \u00f41 au (pd-og\u00e0 y.c\u00f9 IvTtri (x\u00abt Mais), fj \u00f4'e % ov vy\u00e7ov naUv ib ^rjQav&'ev nh-\u00e7ovaa (32) \u00f4\u00f4vaui\u00e7 rj\u00f4ovrj.\nUm so merkw\u00fcrdiger ist daher die Tatsache, dafs von allen den Hypothesen und Theorien \u00fcber das Wesen des Hungers, so zahlreich sie auch sind, keine einzige eine allseitig befriedigende\nErkl\u00e4rung gibt. Und doch ist schon die blofse Zusammenfassung der allt\u00e4glichen Beobachtungen ausreichend, um zur L\u00f6sung des Problems zu f\u00fchren. Ist das richtig, dann d\u00fcrfte diese Tatsache grunds\u00e4tzliche Bedeutung f\u00fcr die Methodik physiologischer Forschung beanspruchen.\nDie Erkl\u00e4rung des Hungergef\u00fchls setzt die Zusammenfassung der tats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnisse voraus. Diese Tatsachen, die ich2 3 bereits gesammelt habe, sind folgende :\nDer Hunger ist ein Allgemeingef\u00fchl. Denn er erinnert uns* wrie schon Homer8 bemerkt, an uns selber:\n1\tPhilebos S. 31 e \u00a7 61, S. 32.\n2\t\u201ePer Hunger\u201c, Zentralbl. f. Physiol. 23. Nr. 4.\n3\tOdyssee, VII, 216.","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Grundlage des Hungergef\u00fchls.\n73\n\u201eDer z\u00fcrnende Hunger,\nDer mit tyrannischer Wut an sich die Menschen erinnert\u201c ;\nyaortQt\netcIeto, fj % \u00efx\u00e9levos so nvfjoao&ca avdyyij).\nDaher ist das Bed\u00fcrfnis nach seiner Befriedigung ein so \u00fcberaus dringliches. Darauf weist bereits die S p r a c h e hin. Was zun\u00e4chst die deutsche Sprache betrifft, so dr\u00fcckt der eingeschobene Buchstabe \u201er\u201c in dem unpers\u00f6nlich gebrauchten Verbum \u201ees hungert mich\u201c ebenso wie in anderen unpers\u00f6nlichen Verben, deren Zahl bezeichnenderweise recht begrenzt ist, nach Jacob Grimm 1 und W. Wilmanns 2 den unwiderstehlich sich immer wieder meldenden Drang nach Befriedigung aus. Darauf deutet ferner die medizinische Terminologie hin, welche gerade den Hungerzustand seit jeher mit den verschiedensten Tieren in Zusammenhang bringt, wie Hund, Wolf, Rind, Elster; Fames canina, Kynorexie, Farnes lupina, Lykorexia, Bulimia, Pica.\nDie Unertr\u00e4glichkeit des Hungers zeigt sich in der Tatsache, dafs Menschen und selbst Tiere eher als durch Hunger selbst durch die Art seiner Befriedigung umkommen. So fressen viele Tiere aus Hunger lieber eine ihnen ganz unzutr\u00e4gliche ungewohnte Nahrung, bevor sie den Hunger aushalten. Das Hungergef\u00fchl ist so unertr\u00e4glich, dafs das Gesetz sogar darauf R\u00fccksicht nimmt, und den Mundraub straffrei l\u00e4fst. Denn Ovids 3 Ansicht ist ganz zutreffend :\n\u201eHungrige werden sich schwer des gedeckten Tisches enthalten\u201c.\nNon facile esuriens posita retinebere mensa.\nWas die Qualit\u00e4t der qu\u00e4lenden und peinlichen Unlust des Hungers anlangt, so steht das Allgemeingef\u00fchl des \u201enagenden\u201c, \u201edr\u00fcckenden\u201c Hungers \u2014 \u201edura fames\u201c, sagt Horaz 1 2 3 4, \u2014 dem Schmerze nahe. Jedenfalls kann der Hunger in Schmerz \u00fcbergehen. Bereits den Neugeborenen beunruhigt der Hunger und veranlafst ihn zu seinen Schmerzens\u00e4ufserungen. Mit Recht spricht man daher vom \u201eStillen\u201c.\n1\tJacob Grimm, Deutsche Grammatik. Zweiter Teil, 2. Kapitel, 138, S. 133.\n2\tW. Wilmanns, Deutsche Grammatik, 2. Aufl., Bd. II, 8. 95.\n3\tOvids \u201eHeilmittel der Liebe\u201c, Remedia amoris. 631.\n4\tH\u00f6r. Sat. I, 2, 6, \u201eDie Extreme der Leidenschaften\u201c.\n5*","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nWilhelm Sternberg.\nDer Ort, von dem ans das Allgemeingef\u00fchl erregt wird, ist der Magen. Die Funktionen von seiten der oberhalb des Magens gelegenen Organe beeinflussen den Hunger fast gar nicht. Die Sinnesempfindung im Munde, der Geschmack, \u00fcbt auf den Hungrigen keinen Einflufs aus. Weder der Wohlgeschmack, der f\u00fcr die Erregung des Appetits von entscheidender Bedeutung ist, wirkt auf den Hunger, noch die Geschmacklosigkeit, der Ungeschmack oder gar der Ekelgeschmack, der f\u00fcr die Verlegung des Appetits von entscheidender Bedeutung ist. Dies beweist tausendf\u00e4ltige Erfahrung und regelm\u00e4fsige Beobachtung in der\nLiteratur. So fragt Horaz 1 2 3\nErfafst beim Hunger Dich Ekel etwa vor jeglicher\nSpeise\nAufser der Butt und dem Pfau?...........\u201c\n. . num esuriens fastidis omnia praeter Pavonem rhombumque?\u201c\nAndererseits hebt Horaz 2 auch die erg\u00e4nzende Beobachtung hervor :\n\u201eBrot wird Dir und Salz dann Bestens den bellenden Magen beschwichtigen. Wie und von wannen\nK\u00e4me das wohl? Nicht liegt ja in kostbarem Duft des Genusses\nH\u00f6hepunkt, nein, in Dir selbst : Du schaffe mit Schweifs Dir die Zukost.\u201c\n\u201e. . . cum sale panis\nLatrantem stomachum bene leniet. Unde putas aut Qui partum? Non in caro nidore voluptas Summa, sed in te ipsost. Tu pulmentaria quaere Sudando.\u201c\nDiese Beobachtung kehrt in der Literatur aufserordentlieh h\u00e4ufig wieder. Ciceeo 3 legt dem Scyten Anarcharsis die Worte in den Mund: \u201eMeine Leckerbissen sind der Hunger. \u201eIllius epistula fertur his verbis: ,Anarcharsis Hannoni salutem. Mihi amictui est Scythicum tegimen, calciamentum solorum callum,\n1\tSat. I, 2, 115.\n2\tSat. II, 2, 17. \u201eLob anst\u00e4ndiger M\u00e4fsigkeit.\u201c\n3\tTusculanarum Disputationum ad M. Brutum lib. V Qui docet vir tutem ad beate vivendum se ipsa esse contentain cap. 32 (90).","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Grundlage des Hungergef\u00fchls.\n75\ncubile terra, pulpamentum fames, lact\u00e9, caseo, carne vescor4.\u201c Ebenso erz\u00e4hlt Cicero1 weiter: \u201eDareios bekam auf seiner Flucht einmal tr\u00fcbes, durch Leichen besudeltes Wasser zu trinken und doch sagte er, dafs er nie mit mehr Vergn\u00fcgen getrunken h\u00e4tte: sehr nat\u00fcrlich, er hatte eben nie mit Durst getrunken. Ebenso\nhatte Ptolemaios wohl nie mit Hunger gegessen : Als er auf\n_ \u2022 \u2022\nseinem m\u00fchsamen Zuge durch \u00c4gypten allein blieb, weil seine Begleiter ihm nicht mehr folgen konnten, erhielt er in einem Bauernhause etwas Arbeiterbrot und erkl\u00e4rte, nichts h\u00e4tte ihm je so kr\u00e4ftig geschmeckt wie dieses Brot. Sokrates soll oft bis zur sp\u00e4ten Abendstunde anstrengende FufsWanderungen ausgef\u00fchrt haben; fragte man ihn, warum er das t\u00e4te, so gab er zur Antwort: um besser zur Nacht zu speisen, besorgte er sich zu seinem St\u00fcck Brot mittels des Spazierganges die Zukost, n\u00e4mlich den Hunger. Und die Laced\u00e4monier ? Kennen wir nicht den Verlauf ihrer Liebesmahle? Als der Tyrann Dionysius bei ihnen gespeist hatte, sagte er, jene schwarze Suppe, die an der Mahlzeit die Hauptsache war, h\u00e4tte ihm nicht geschmeckt. Darauf bemerkte ihm der Spartaner, der sie gekocht hatte : ,Das wundert mich gar nicht; Dir fehlen ja alle Gew\u00fcrze!4 ,Was f\u00fcr Gew\u00fcrze denn?4 fragte der andere. ,Die Arbeit auf der Jagd, M\u00fche und Anstrengung, Wettl\u00e4ufe am Eurotas, Hunger und Durst; mit diesen Dingen n\u00e4mlich w\u00fcrzen sich die Laced\u00e4monier ihre Mahlzeiten4\u201c. \u201eDarius in fuga cum aquam turbidam et cadaveribus inquinatam bibisset, negavit umquam bibisse iucundius. Nuinquam videlicet sitiens biberat. Nec esuriens Ptolemaeus ederat; cui cum peragranti Aegyptum comitibus non consecutis cibarius in casa panis datus esset, nihil visum est illo pane iucundius. So-cratem ferunt, cum usque ad vesperum contentius ambulare quaesitumque esset ex eo, quare id faceret, respondisse se, quo melius cenaret, obsonare: ambulando famem. Quid? victum Lacedaemoniorum in philitiis nonne videmus? Ubi cum tyrannus cenavisset Dionysius, negavit se iure illo nigro, quod cenae caput erat, delectatum. Tum is, qui ilia coxerat: ,Minime mirum ; condimenta enim defuerunt.4 ,Quae tandem?4 inquit ille. ,Labor in venatu, sudor, cursus ad Eurotam, fames, sitis. His enim rebus Lacedaemoniorum epulae condiuntur.444\nDiese alte Erfahrung, dafs Arbeit das beste Mittel ist, um","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nWilhelm Sternberg.\nAppetit und Hunger zu machen, ist f\u00fcr die physikalische Therapie der Entfettungskuren in doppeltem Sinne beachtenswert und nicht minder f\u00fcr die Therapie der Mastkuren. Denn \u201eHunger ist der beste Koch\u201c. \u201eIdque Socratem qui voluptatem nullo loco numerat, audio dicentem, cibi condimentum esse famem, potionis sitim\u201c, sagt Cicero.1 Daher ist es physiologisch unrichtig, wollte man etwa mit dem Genufs des Nachtisches die Mahlzeit beginnen. Denn der Hungrige verliert keine Zeit mit dem Schmecken. Es hat also die allgemein \u00fcbliche Reihenfolge der Mahlzeiten, wie ich2 im Gegensatz zu Alb\u00fc 3 annehme, ihre physiologische Berechtigung. Ebenso ist es aber auch ein grunds\u00e4tzlicher Fehler, Geschmacksproben etwa im hungrigen Zustand anstellen zu wollen, worauf ich4 bereits aufmerksam gemacht habe. Selbst Tiere nehmen die ihnen \u00fcbel schmeckende und nicht zusagende Nahrung, die sie heute zur\u00fcckweisen, morgen mit allen Zeichen des Wohlbehagens, vorausgesetzt, dafs ihr Hunger inzwischen nicht anderweitig befriedigt worden ist. Darauf beruht ein Teil der Erziehung von Tieren, aber auch von Kindern.\nSo kommt es, dafs der Hungrige die Nahrung, ohne mit Schmecken und Kauen viel Zeit zu verlieren, m\u00f6glichst schnell aus der Mundh\u00f6hle in die Magenh\u00f6hle zu transportieren sucht, um seinen Hunger zu beschwichtigen. Daher kann es der Zuschauer dem Essenden, wie bereits5 bemerkt, objektiv ansehen, ob er mit Appetit ifst, ohne Appetit oder gar mit Hunger. Je schneller die Nahrung in den Magen gelangt, desto eher wird der Schmerz des Hungers bes\u00e4nftigt. Die griechische Sprache umfafst also recht treffend mit der Bezeichnung f\u00fcr den Magen zugleich den Hunger. So sagt Homer 6 :\n\u201e . . . ihn spornet der Hunger\u201c\n. . . t\u00e9lexai d\u00e9 \u00e8 yaaxi]\u00e7\n1\tDe finibus bonorum et malorum. II, cap. 28, \u00a7 90.\n2\t\u201eGeschmack und Appetit.\u201c Ztschr. f. Sinnesphysiologie 43, 1908, S. 342.\n3\t\u201eEinige Fragen der Krankenern\u00e4hrung.\u201c Berliner Klinik. Heft 115, 1898, 8. 3.\n4\t\u201eDie K\u00fcche im Krankenhaus \u201c Stuttgart, F. Enke. 1908, S. 21/22. \u201eDie Alkoholfrage im Lichte der modernen Forschung.\u201c Leipzig, \\ eit & Co. 1909, S. 38.\n5\t\u201eDer Hunger.\u201c Zentralbl. f. Physiol. 23, Nr. 4, S. Hl.\n6\tOdyssee, YI, 133:\nSelbst in verschlofsne H\u00f6fe, ein kleines Vieh zu erhaschen.\njurjlcon TietgrjOOVTa xai es Ttvv.ivbv doyov ekd'slv.","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Grundlage des Hungergef\u00fchls.\n77\nDas schmerzliche Allgemeingef\u00fchl des Magens, das wir Hunger nennen, ist von zwei Bedingungen abh\u00e4ngig. Diese sind einerseits die Magenleere und andererseits das F\u00fcllmaterial f\u00fcr dieses Hohlorgan. Der Hunger, der Nahrungstrieb, das Nahrungsbed\u00fcrfnis ist geradezu die subjektive Empfindung des zwingenden Bed\u00fcrfnisses zur Anf\u00fcllung des leeren Hohlorgans. Es ist zwar richtig, dafs der n\u00fcchterne Magen im anatomischen Sinne blofs einen schlaffen, faltigen Schlauch ohne Lumen darstellt; allein in physiologischem Sinne ist er doch ein Hohlorgan.\nWas zun\u00e4chst die Magenleere betrifft, so tritt das Hungergef\u00fchl nur dann auf, wenn der Magen leer ist. Bei vollem Magen stellt sich der Hunger nicht ein. Der Hunger ist beseitigt bei gef\u00fclltem Magen. Deshalb ist der Hunger im Gegensatz zum Appetit das Bed\u00fcrfnis in quantitativer Richtung. Aber die Leere allein bedingt doch noch nicht das Hungergef\u00fchl. Die Annahme von Albu 1 ist irrig, dafs der Hunger durch die Magenleere erzeugt ist. Denn nicht immer verursacht Magenleere schon Hunger. Andererseits wird das Hungergef\u00fchl durch Anf\u00fcllung des Magens beseitigt. Aber nicht jede F\u00fcllung der Magenh\u00f6hle befriedigt den Hunger. Die Angabe von Albu1 * 3: \u201eDie Befriedigung des Hungers ist von der Qualit\u00e4t der Nahrung unabh\u00e4ngig,\u201c beruht auf einem weiteren Irrtum. Vielmehr ist die Beseitigung des Hungers wiederum an gewisse Eigenschaften des F\u00fcllmaterials gekn\u00fcpft. Das Material mufs ganz bestimmte Qualit\u00e4ten besitzen. Diese sind einmal chemische, gewissermafsen innere resorptive, h\u00e4matogene, humorale, indirekte, \u201eentfernte Wirkungen\u201c und sodann physikalische, gewissermafsen \u00e4ufsere, direkte, \u00f6rtliche Eig enschaften in den \u201eersten Wegen\u201c.\nBez\u00fcglich des Chemismus mufs das Material chemischen N\u00e4hrwert besitzen, wenn anders das Hungergef\u00fchl auf l\u00e4ngere Zeit befriedigt bleiben soll. Bisher hat sich die wissenschaftliche\nDi\u00e4tetik ausschliefslich auf diesen einen Gesichtspunkt infolge\n\u2022 \u2022\nder allgemeinen \u00dcbersch\u00e4tzung der Chemie in der Ern\u00e4hrungslehre beschr\u00e4nkt. Allein von weitaus grofserer Wichtigkeit f\u00fcr das subjektive Hungergef\u00fchl und seine Befriedigung sind doch die physikalischen Faktoren. Diese sind Temperatur, Volumen und Aggregatzustand.\n1 \u201eGrundz\u00fcge der Ern\u00e4hrungstherapie.\u201c 26. Heft d. Physikal. Therapie\nin Einzeldarstellungen von J. Marcuse u. H. Strasser. Stuttgart, F. Enke.\n1908. S. 44.","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nWilhelm Sternberg.\nDie Temperatur beeinflufst das Hungergef\u00fchl au\u00dferordentlich. Seltsamerweise ist diese Tatsache der exakten Physiologie der Ern\u00e4hrung bisher ganz entgangen, so dafs man in der Literatur selbst ihre Erw\u00e4hnung vermifst. Und doch lehrt schon die blofse allt\u00e4gliche Erfahrung den Laien, dafs die warme K\u00fcche den Hunger schneller und leichter befriedigt, kalte K\u00fcche den Hunger weniger und langsam lindert. Dies hebt bereits Aristoteles 1 hervor: rcelva de xal diipa erciS'e^ia, xai rj /tev rcelva \u00c7rjQOu v.c\u00e0 d\u2019eqj.iov, fj de diipa xpv%QOv Kal vyqov.\nEin gewisses Volumen der Nahrung ist ferner unerl\u00e4fslich, den Schmerz des Hungers zu mildern. Darauf beruht die Tatsache, dafs Vegetabilien und alle Wasser absorbierenden Nahrungsmittel leichter und schneller s\u00e4ttigen als Fleisch- oder gar Fischspeisen. Gleichfalls ist hierauf auch die Tatsache zur\u00fcckzuf\u00fchren, dafs bei Magenerweiterung das Hungergef\u00fchl zugleich mit dem Durstgef\u00fchl vermehrt ist.\nVor allem ist es aber der physikalische Aggregatzustand, welcher aufser dem chemischen N\u00e4hrwert den Hunger beeinflufst. Wie ich1 2 bereits ausgef\u00fchrt habe, ist es der feste Aggregatzustand des F\u00fcllmaterials, welcher den Hunger beseitigt. So kommt es, dafs selbst der schwerste Diabetiker, der Amylaceen wie Kartoffeln, Mehlspeisen u. a. m. zwar verdaut und resorbiert aber gar nicht mehr verbrennt, mit ihnen doch seinen Hunger sehr gut stillen kann, wenigstens f\u00fcr einige Zeit. Selbst ganz unverdauliches Material von festem Aggregatzustand ist sehr wohl geeignet, den Hunger, der aus Mangel des Blutes an N\u00e4hrstoff erregt wrar, doch zu beseitigen. Sogar der mit einer offenen, schmerzenden Wunde (ulcus perforans) behaftete Magen w\u00fcrde eher und lieber mit festem, allem N\u00e4hrwert baren Material seinen Hunger befriedigen wollen, als mit den nahrhaftesten Fl\u00fcssigkeiten, so sehr auch die festen Stoffe, die jedes N\u00e4hrwertes entbehren, das Schmerzgef\u00fchl der Wunde erh\u00f6hen. Es wirkt das feste Material auf die vor Hunger schmerzende Oberfl\u00e4che des Magens wie ein Pflaster auf die Wunde. Und tats\u00e4chlich hat sich die Beobachtung des Laien dieses Bildes bereits bem\u00e4chtigt. Denn Plutarch3 sagt: \u201eDer Hunger wird wie ein aufgeregter\n1\tIleg\u00ef xjwyjrjs Bd. III, 414 b, 10 De anima.\n2\t\u201eDer Hunger.\u201c Zentralbl. f. Physiol. 23, Nr. 4, S. 110.\n3\tMor. 134 b. De tuenda sanitate praecepta. 1TIEINA IIAP Al IEA* MATA.","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Grundlage des Hungergef\u00fchls.\n79\nStrom wild und tobend, er greift mit Gewalt an sich, keineswegs einer Begierde \u00e4hnlich, die der Speise, sondern einer Entz\u00fcndung, welche der Arzneien und Pflaster bedarf.\u201c\nyiyvovxat yaq ai retirai xa&arctQ xa xorcx6[itra gelffga xQayelat Kal yaQa\u00f4\u00e7co\u00f4ei\u00e7, xal \u00dfiq xrjv xQOcpijv elxovoiv \u00e2tl Xvxxwoac, ovx og\u00e9^eotv toixvlai glxlcov \u00f4to^\u00e9rai\u00e7 afl\u00e0 cpleyfiora\u00ef\u00e7 (pao^taxtov xal xaranXaa-(.idicov.\nEs wird also das Hungergef\u00fchl offenbar von zwei wesentlich und \u00f6rtlich verschiedenen Seiten beeinflufst. Einmal wird das Hungergef\u00fchl ebenso wie die subjektive Empfindung des Appetits vom Blut aus vermittelt, wie ich 1 hervorgehoben habe, also durch die inneren h\u00e4matogenen, resorptiven Einfl\u00fcsse des quantitativen oder qualitativen Nahrungsmangels im Blute oder in den zentral, zentripetal, proximal gelegenen Teilen. Aber ebenso wird der Hunger auch noch durch \u00e4ufsere, \u00f6rtliche, direkte Einfl\u00fcsse in den peripheren, zentrifugalen oder distalen Organen beherrscht. Dabei ist das Eine h\u00f6chst bemerkenswert, dafs die \u00e4ufsere \u00f6rtliche periphere, direkte Einwirkung der Aufnahme von Nahrung oder von irgendwelchem unn\u00fctzen Ballast in den Magen selbst dann heilsam eintritt und das Hungergef\u00fchl beseitigt, auch wenn die subjektive Empfindung des Hungers durch die entferntere innere, indirekte Bedingung des Nahrungsmangels im Blute erzeugt ist. Das Hungergef\u00fchl ist ja auch allgemein viel fr\u00fcher beseitigt, bevor die Resorption erfolgt, bevor also die physiologische Ursache des Hungers tats\u00e4chlich beseitigt ist, jedenfalls aber, bevor der Gewebehunger gewichen ist. Freilich h\u00e4lt das S\u00e4ttigungsgef\u00fchl doch nicht solange vor, wenn das Material des N\u00e4hrwertes ermangelt.\nZur vollkommenen Befriedigung f\u00fcr l\u00e4ngere Zeit bedarf es vielmehr der Kombination der beregten Bedingungen des F\u00fcllmaterials, der inneren sowie der \u00e4ufseren. Bisher hat die theoretische und gleichermafsen die praktische Di\u00e4tetik die eine Seite dieser Eigent\u00fcmlichkeiten \u00fcber der anderen ganz \u00fcbersehen. Lediglich die inneren entfernteren Wirkungen finden Beachtung, die \u00e4ufseren \u00f6rtlichen Eigenschaften in den ersten Wegen hingegen nicht. Das ist ein ganz allgemeiner prinzipieller Fehler der Ern\u00e4hrungslehre, welcher sich noch auf einem ganz anderen Gebiete wiederholt. Dieses ist die allgemeine Bewertung der\n1 \u201eArznei und Appetit.\u201c Ther. d. Gegenw. Dezember 1907, S. 534.","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nWilhelm Sternberg.\nLebens- und Genufsmittel in der theoretischen Wissenschaft \u00fcberhaupt. Denn indem die Physiologie der Ern\u00e4hrung ihre Betrachtungen lediglich auf die entfernten resorptiven, sog. Wirkungen beschr\u00e4nkt, vergifst sie die direkten Eigenschaften in den ersten Wegen. Das sind die Wirkungen auf den Mund und auf die Mundh\u00f6hle, welche die Mundk\u00fcche erzielt, indem sie die Nahrungsmittel zur mundgerechten Nahrung herstellt, so dafs diese uns auch mundet. Dabei hebt ebenso wie die deutsche schon die griechische Sprache diese Wirkungen auf den Mund besonders hervor, indem sie von evorouia spricht. Der Reichtum des Griechischen \u00fcbertrifft sogar den deutschen Sprachgebrauch, da er auch f\u00fcr den gegenteiligen Fall die Beziehungen mit dem Mund in dem Ausdruck aaro^ia aufrecht erh\u00e4lt. Es ist klar, dafs man mit der einseitigen Betrachtung der modernen Di\u00e4tetik auch hier nicht zur wahren Erkenntnis gelangen konnte, worauf ich 1 2 wiederholt hingewiesen habe.\nSind das die Tatsachen, so fragt es sich, wie sind sie zu deuten und zu erkl\u00e4ren. Der Fragen sind eine grofse Zahl. Zu alledem ist die Schwierigkeit ihrer Behandlung eine betr\u00e4chtliche. Dies hebt auch Gr\u00fcnhagen 2 schon hervor. Wenn n\u00e4mlich der Hunger, so f\u00fchrt er aus, zeitweilig auch durch Einf\u00fchrung unverdaulicher und unresorbierbarer Substanzen gestillt wird, so bleibt dies eben zu erkl\u00e4ren. Die Frage, wie die Anwesenheit indifferenter Fremdk\u00f6rper im Magen als mechanisches Reizmittel zur Beruhigung der das Hungergef\u00fchl wachrufenden Magennerven beitragen soll, ist ebenso mifslich zu beantworten wie die, in welcher Weise die Leere des Magens einen reizenden Einflufs auf die ruhenden Nerven auszu\u00fcben vermag.\nGerade wegen der zahlreichen Schwierigkeiten und der aufser-ordentlichen Mifslichkeit f\u00fcr die L\u00f6sung der verschiedenen Fragen d\u00fcrfte es sich empfehlen, Kunst, Sprache und Literatur der Klassiker nicht zu vernachl\u00e4ssigen, wie ich 3 dies bereits angeraten habe. Im Gegensatz zu Valenti4 bin ich der Ansicht, dafs man sich hier nicht auf die bequeme tierexperimentelle Methode be-\n1\t\u201eGrunds\u00e4tze f\u00fcr den Genufs der Genufsmittel.\u201c Ther. d. Gegenw. M\u00e4rz 1909. \u2014 \u201eGenufs und Genufsmittel.\u201c Ther. d. Gegenw. April 1910. S. 158.\n2\tLehrbuch der Physiologie. 1885. S. 197.\n3\t\u201eDer Hunger.\u201c Zentralbl. f. Physiol. 23, Nr. 4, S. 3.\n4\tA. Valenti, Sulla genesi delle sensazioni di fame e di sete. Arch, di Farmacol. sperim. VIII. 1909.","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Grundlage des Hungergef\u00fchls.\n81\nschr\u00e4nken darf, zumal da diese ja gar nicht zum Ziele f\u00fchrt. Die\n\u2022 \u25a0\n\u00dcbersch\u00e4tzung der tierexperimentellen Methodik wird nachgerade zu einer Hemmung des Fortschritts. Dem modernen \u201eexaktem\u201c Forscher f\u00e4llt die Erkenntnis gar zu schwer, dafs es manche Probleme gibt, die sich eben nicht durch den tierexperimentellen Schematismus einfach l\u00f6sen lassen, ebensowenig wie jede geometrische Aufgabe schon blofs durch Algebra und allein durch Arithmetik zu l\u00f6sen ist.\nDas Problem ist demnach folgendes : Ist eine subjektive Empfindung bekannt,\n1.\twelche durch das dringlichste Bed\u00fcrfnis nach Befriedigung ausgezeichnet ist,\n2.\twelche sich leicht bis zum Schmerz steigern kann,\n3.\twelche ihre Ursachen sowohl in \u00e4ufseren, peripheren wie in h\u00e4matogenen inneren Bedingungen hat,\n4.\twelche aber selbst bei Erregung durch innere Ursachen doch auch durch \u00e4ufsere Mafsnahmen beschwichtigt werden kann,\n5.\twelche uns an die Leere eines Hohlorgans mahnt,\n6.\twelche zur F\u00fcllung dieses leeren Hohlorgans veranlafst, welche zu einem unabweisbaren Bed\u00fcrfnis nach Ber\u00fchrung der schmerzenden oder das Unlustgef\u00fchl tragenden Oberfl\u00e4che f\u00fchrt,\n7.\twelche im Gegensatz zum Schmerzgef\u00fchl \u2014 denn dieses Gef\u00fchl l\u00e4fst jede Ber\u00fchrung des schmerzenden Organes, zumal mit Fremdk\u00f6rpern von festem Aggregatzustande \u00e4ngstlich vermeiden \u2014 zu einem unabweisbaren Bed\u00fcrfnis nach Ber\u00fchrung der das schmerzliche Unlustgef\u00fchl empfindenden Oberfl\u00e4che gerade mit Fremdk\u00f6rpern von festem Aggregatzustande f\u00fchrt ?\nMan sollte nicht glauben, dafs es eine subjektive Empfindung gibt, welche all diesen Anforderungen gen\u00fcgt. Und doch ist dem so. Ein solches Allgemeingef\u00fchl ist jedem Laien hinl\u00e4nglich bekannt. Das ist der Kitzel.\n1. Denn erstlich ist der Kitzel, wie ich1 hervorgehoben habe, dadurch ausgezeichnet, dafs er zu einem unabweisbaren Bed\u00fcrfnis nach Befriedigung dr\u00e4ngt. Diese \u201eSucht\u201c ist so grofs, dafs das\ni\n\u201eDie Kitzelgef\u00fchle.\u201c Zentralbl. f. Physiol. 23, Nr. 24, S. 2.","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"82\nWilhelm Sternberg.\nKratzen als motorische Reflexerscheinung aufzufassen ist. Die Unterdr\u00fcckung der Hemmung dieses Dranges ist unertr\u00e4glich, so dafs in fr\u00fcheren Zeiten das Kitzeln ohne Zulassung der Befriedigung zu den h\u00e4rtesten Strafen geh\u00f6rte.\n2.\tAuch steigert sich der Kitzel leicht bis zum Schmerz. Goldscheidee 1 behauptet sogar, dafs das Jucken \u2014 Juck- und Kitzelgef\u00fchl ist ein und dieselbe Empfindung, wie ich1 2 zu beweisen versuche, \u2014 selber blofs eine eigent\u00fcmliche F\u00e4rbung des Schmerzes sei. Deshalb spricht er vom \u201ejuckenden Schmerz\u201c. Demgegen\u00fcber mufs freilich hervorgehoben werden, dafs Kitzel und Schmerz doch ganz heterogene Empfindungen, ja vollkommene Gegens\u00e4tze sind, so zwar, dafs die Beseitigung des Kitzelgef\u00fchls durch das schmerzhafte Kratzen aus diesem Gegensatz heraus zu erkl\u00e4ren ist.\n3.\tEbenso wird der Kitzel oder das Juckgef\u00fchl der Haut und Schleimhaut durch \u00e4ufsere und gleichermafsen durch innere h\u00e4matogene Bedingungen beeinflufst. Bekannt ist der Pruritus, hervorgerufen blofs durch die physikalische Bewegung von Parasiten pflanzlicher und tierischer Art auf der \u00e4ufseren Haut. Jucken ist das h\u00e4ufigste Symptom von Hautkrankheiten. Es wird der Pruritus aber auch durch h\u00e4matogene Einfl\u00fcsse erzeugt, durch innere chemische Stoffe, die in den K\u00f6rpers\u00e4ften zirkulieren, so bei Ikterus oder nach Einnahme von gewissen Arzneien und von gewissen Speisen. Die Ern\u00e4hrung, die Aufnahme von fremdem Material, irgendwelche gastrischen, intestinalen oder resorptiven, h\u00e4matogenen und humoralen Ver\u00e4nderungen, S\u00e4fteanomalien k\u00f6nnen zu Jucken f\u00fchren, und zwar, ohne dafs es zu objektiv wahrnehmbaren Hautanomalien kommt, so dafs man Autointoxikationen als Ursache des Pruritus ansieht. In der Zoologie und in der Veterin\u00e4rmedizin ist die Tatsache l\u00e4ngst bekannt, dafs manche Tiere in der Hauszucht bei ver\u00e4nderter Lebensweise von heftigem Hautjucken geplagt werden, ohne dafs man bisher die Ursache f\u00fcr das Jucken ausfindig machen konnte. Es bleibt gar keine andere Annahme \u00fcbrig als die, dafs auch dieses Juckgef\u00fchl durch die ver\u00e4nderte Nahrungsweise bedingt ist. \u00dcberhaupt hat die Ern\u00e4hrung, die Nahrungsver\u00e4nderung und\n1\t\u201e\u00dcber den Schmerz in physiologischer und klinischer Hinsicht.\u201c Berlin 1894. S. 40.\n2\t\u201eKitzel- und Juckgef\u00fchl.\u201c Zeitschr. f. Sinnesphysiol. 1910.","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Grundlage des Hungergef\u00fchls.\nder Nahrungsmangel nach der quantitativen und sogar nach der qualitativen Richtung viel innigere und mannigfachere Beziehungen mit der Erregung des Juckgef\u00fchls, als man in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, in der praktischen Di\u00e4tetik, in der modernen Dermatologie und in der Neurologie, wohl vermuten m\u00f6chte. Sogar das bisher unerkl\u00e4rte, ja unerkl\u00e4rliche Ph\u00e4nomen einer gewissen Idiosynkrasie, der krankhaften Sucht der Efs-gel\u00fcste, picae, wird durch diese Erkenntnis zum ersten Male der L\u00f6sung zug\u00e4nglich gemacht.\n4.\tDabei ist folgende Tatsache leicht bemerkbar. Wenn auch der Pruritus durch innere Ursachen bedingt ist, z. B. bei Ikterus, kann das Juckgef\u00fchl doch durch \u00e4ufsere Mafsnahmen, z. B. Kratzen der Haut, zeitweise gelindert werden.\n5.\tDer Kitzel ist aber auch die subjektive Empfindung, welche uns auf die Leere von Hohlorganen aufmerksam macht und uns zur F\u00fcllung dieser leeren Hohlorgane auffordert, worauf ich1 schon hingewiesen habe. So k\u00f6nnen innere Ursachen in dem Meatus externus auris, im After (Pruritus ani), im Rectum, in der Vulva und anderen Hohlorganen Jucken erregen.\n6.\tDieses Juckgef\u00fchl bedingt das Bed\u00fcrfnis nach Ber\u00fchrung und Ausf\u00fcllung solcher leeren Hohlorgane. Beseitigt wird das Jucken nur dann, wenn die Hohlorgane vollkommen mit einem pessar\u00e4hnlichen Fremdk\u00f6rper von festem Aggregatzustande ausgef\u00fcllt werden, so dafs die das Unlustgef\u00fchl tragende Oberfl\u00e4che in all ihren Punkten gedr\u00fcckt und gerieben wird. Es wirkt also das Juckgef\u00fchl gewissermafsen wie die Anziehungskraft im anorganischen Reich, weshalb ich den Kitzel als biologische Anziehungskraft ansehe.\n7.\tDen Gegensatz hierzu bildet der Schmerz. Das Unlustgef\u00fchl des Schmerzes l\u00e4fst an allen K\u00f6rperteilen bei allen Tieren, auch bei den neugeborenen schon, vorsichtig und \u00e4ngstlich jede Ber\u00fchrung vermeiden. Das Schmerzgef\u00fchl wirkt \u00e4hnlich dem Ekelgef\u00fchl wie die abstofsende Kraft im anorganischen Reiche. Es verh\u00e4lt sich Schmerz zum Ekel und Kitzel wie null zu negativ und positiv. Ganz besonders tritt dieser Gegensatz von Kitzel und Schmerz hervor hinsichtlich der Ber\u00fchrung mit K\u00f6rpern\n1 \u201eDer Appetit und die Appetitlosigkeit.\u201c Ztschr. f. klin. Med. 1909. Bd. 67. \u2014 \u201eDie Kitzelgef\u00fclile.\u201c Ztbl. f. Physiol. 23, Nr. 24.","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\nWilhelm Sternberg.\nvon festem Aggregatzustande. Nichts vermeiden die Lebewesen mehr als die Ber\u00fchrung des schmerzenden K\u00f6rperteils mit Gegenst\u00e4nden von festem Aggregatzustande. Der Kitzel hingegen stellt die Anziehungskraft dar zu K\u00f6rpern von festem Aggregatzustande. Seit den \u00e4ltesten Zeiten reiben sich die zahnenden Kinder das Zahnfleisch, um das \u00fcnlustgef\u00fchl zu beseitigen, mit harten Gegenst\u00e4nden. Aus dieser altbekannten Tatsache habe ich 1 2 3 entnommen, dafs dieses \u00fcnlustgef\u00fchl der Kitzel sein mufs, eine Ansicht, die bereits Hippokkates 2 und Plato 8 ge\u00e4ufsert haben. Ebenso suchen sich Tiere und Menschen seit den \u00e4ltesten Zeiten die juckenden Teile an K\u00f6rpern von festem Aggregatzustande zu reiben und sogar \u201ewund\u201c zu kratzen. Homee4 5 sagt bereits:\ndg noXXffii (fkiffii naouGt\u00e0\u00e7 (pXitptica w/jovg Welcher von T\u00fcr zu T\u00fcr an dem Pfosten die Schultern sich reibet.\nSo gen\u00fcgt allen den gestellten Bedingungen die eine und nur die eine Empfindung des Kitzels. Demnach ist der Hunger nichts anderes als ein Kitzelgef\u00fchl. Der Hunger ist der Pruritus stomachi. Ebenso hatte ich6 auch den Appetit, das Bed\u00fcrfnis nach fremdem Material in qualitativer Richtung, als Kitzel des Gaumens angesehen und in gleicher Weise wie diese Nahrungsbed\u00fcrfnisse oder Nahrungstriebe sogar das Geschlechtsbed\u00fcrfnis oder den Geschlechtstrieb, die Liebe, den Appetitus coeundi, als Kitzel der Genitalien aufgefafst, eine Ansicht, die bereits Spinoza in seinem Urteil zum Ausdruck bringt: Amor est titillatio quaedam.\nDieser physiologische Nachweis, dafs der Hunger nichts weiter ist als ein Kitzelgef\u00fchl, ist bereits im Altertum von nichtmedizinischen Klassikern angedeutet worden. So l\u00e4fst Pl\u00fctaech 0 in seinen Tischreden den einen Gast die Behauptung des Arztes Philo widerlegen : \u201eErstlich scheinen die gesalzenen und durch ihre Sch\u00e4rfe dem Gaumen behaglichen Speisen nicht sowohl den\n1\t\u201eDie Kitzelgef\u00fchle.\u201c Ztbl. f. Physiol. 23, Nr. 24.\n2\tIII. Abschnitt d. Aphorismen, 25. Absatz.\n3\tPh\u00e4dros XXXII, 251 c.\n4\tOdyssee XVII, 221.\n5\t\u201eDie K\u00fcche in der modernen Heilanstalt.\u201c Stuttgart, F. Enke. 1909.\n6\tMor. 688 B, lib. VI Quaestionum convivalium. Tischreden zweite Frage: \u201eWird Hunger und Durst durch den Mangel der Nahrung oder durch die Ver\u00e4nderung der Poren verursacht?\u201c JJPOBAHMA B. \u00fc\u00f6teqov %v8eia tzoisi\nto iteivfjv y.ai Sapfjp 7] TIO\u00c7COV [iETao%rigaTiog6s\\","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Grundlage des Hungergef\u00fchls.\n85\nAppetit zu erwecken, sondern nur in den zur Aufnahme der Nahrung bestimmten Teilen einen Reiz hervorzubringen, der dem Kitzel oder Jucken auf der \u00e4ufseren Haut \u00e4hnlich ist.\u201c\ntcl /uev y\u00e0q evOTOf.ilav eyovra xal \u00d6QL/LimrjTa tccya fiihv ovx oge^iv, \u00e0Xkcc \u00f4rjyjiibv ef.iTtoi8\u00ef tolg \u00f6exzixolg ^l\u00e9qeot zfjg Tqocpfjg, oiov xvrjouol xara PPgiv iviiov auvooovrcov.\nUnd Plutaech 1 f\u00fchrt bei einer anderen Gelegenheit noch deutlicher aus, dafs sogar zwischen der Liebe, dem Gaumenkitzel und dem Hautkitzel bei der Kr\u00e4tze kein wesentlicher Unterschied ist: \u201eDenn was ist es auch in Wahrheit f\u00fcr ein Unterschied, ob man durch Kraut der Wollust Begierde rege macht oder den Geschmack durch wohlriechende Gew\u00fcrze reizt oder die kr\u00e4tzigen Teile, die ein best\u00e4ndiges Jucken und Kitzeln erfordern?\u201c %i yaq iog \u00e0Xrjd'C\u00fcg diacp\u00e9qet oarvqia Ttqooayovra xiveiv xcd Ttaqo^vvttv %o \u00e2x\u00f4laorov stc\u00ef jccg fj\u00f6ovag, fj ttjv yevotv \u00f4o^ia\u00efg xal xaqvxelcug etHtetv w07t8Q Tct jpcoqiC\u00fcv%a xvrjO(.iC\u00fcV \u00e2el de\u00efui\u00efai xal yagyaliOf-iCov ;\nZugegeben aber schon, dafs die theoretische Grundlage des Hungers blofs auf den Kitzel zur\u00fcckzuf\u00fchren ist, so wird es sich doch fragen, was damit f\u00fcr die Praxis gewonnen ist. Jede Erkenntnis eines physiologischen Ph\u00e4nomens erweist sich f\u00fcr die therapeutische Praxis von Nutzen. Das d\u00fcrfte auch hier zutreffen. Einmal kann man nun erst zur rationellen Di\u00e4totherapie schreiten, wenigstens zu der rationellen Entwicklung der wichtigsten Di\u00e4tkuren, der Entfettungs- und Mastkuren. Denn bisher konnte es sich, wie ich 1 2 des \u00f6fteren beklagt habe, leicht ereignen, dafs bei Entfettungskuren die Kranken gar nicht abnehmen, sondern zunehmen und trotzdem das l\u00e4stige Hungergef\u00fchl, \u00fcberdies noch in h\u00f6chst schmerzlicher Weise, empfinden. Sodann wird es sich fragen, ob man nicht durch zarte und leichte \u00e4ufsere Reize, durch welche die Erregung des gew\u00f6hnlichen Kitzels ausgezeichnet ist, auch das Hungergef\u00fchl hervorrufen kann. Das ist in der Tat der Fall. Das Hungergef\u00fchl zu erregen, sind gerade die leichtesten Reize bef\u00e4higt. Das sind geringe Gaben alkoholischer Genufs-mittel, lokale Magenduschen, die Acria, Gew\u00fcrze, vor allem Koch-\n1\tMor. 126 B De tuenda sanitate praecepta. Di\u00e4tvorschriften. 2TIEESA 12APA FEE AM A TA\n2\t\u201eKrankenern\u00e4hrung und Krankenk\u00fcche.\u201c 1806 Stuttgart, F. Enke, S. 13. \u2014 \u201eK\u00fcche f\u00fcr Entfettungskuren.\u201c Dtsch. med. Wochenschr. 1907, Nr. 47. \u2014 \u201eGrunds\u00e4tze der Ern\u00e4hrung f\u00fcr die Krankenk\u00fcche.\u201c Ther. d. Gegenw. August 1908. \u2014 \u201eDer Hunger.\u201c Ztbl. f. Physiol. 23, Nr. 4. S. 106.","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nWilhelm Sternberg.\nsalz, dessen physiologische Wirkung null ist, so dafs man diese L\u00f6sung als physiologische L\u00f6sung verwendet. Mit Recht heifst daher die Pharmakologie die K\u00fcchengew\u00fcrze \u201eMagenmittel\u201c, \u201eStomachica\u201c. Mit Recht verwendet der Laie seit jeher die Gew\u00fcrze zu diesem Zweck. F\u00fcr die Physiologie der Ern\u00e4hrung tritt aber die wissenschaftliche Frage nach dem Wesen in der Wirkung der K\u00fcchengew\u00fcrze nunmehr in ein ganz neues Stadium. F\u00fcr die Praxis ist die L\u00f6sung dieses Problems von besonderer Bedeutung deshalb, weil die Gew\u00fcrze erstlich den Appetit und sodann auch den Hunger erregen k\u00f6nnen. Da aber diese Empfindungen in allen Krankheiten schwinden oder sich doch ver\u00e4ndern, so verdient das wissenschaftliche Studium dieser theoretischen Fragen f\u00fcr die gesamte Krankenern\u00e4hrung, ja sogar f\u00fcr die ganze Krankenbehandlung aufserordentliche praktische Beachtung.","page":86}],"identifier":"lit33578","issued":"1911","language":"de","pages":"71-86","startpages":"71","title":"Die physiologische Grundlage des Hungergef\u00fchls","type":"Journal Article","volume":"45"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:17:01.498758+00:00"}